Paul Heyse

Troubadour-Novellen

Der lahme Engel

(1880)

Gegen Ende des zwölften Jahrhunderts war die Provence voll von dem Ruhm einer eben so weisen als schönen Dame, der Vizegräfin Beatrix von Beziers, Schwester des Vizegrafen Ademar, der nach dem Tode seines älteren Bruders Roger die Herrschaft über die lachenden Fluren und stolzen Schlösser seines Gebietes angetreten hatte. Er selbst war seit Jahren verwitwet, hatte seine beiden jungen Söhne an den Hof des Königs von Frankreich gesandt, dass sie dort frühzeitig ritterliche Künste und höfische Sitte lernten, und lebte mit der unvermählt gebliebenen Schwester auf der Burg von Beziers, die einsam zwischen dunklen Wäldern und zerstreuten Gehöften auf einer geringen Anhöhe lag und von ihren höchsten Turmzinnen nach Süden hinaus dem Blick bis ans Meer zu schweifen verstattete. Er war ein strenger, starrsinniger Herr, den man niemals lachen sah, außer über die Possen seines Narren, was er sich selber dann oft so übel nahm, dass er an dem armen Wicht, den er doch eigens zu solchem Dienste fütterte, seinen Ingrimm mit Peitschenhieben ausließ. Gesang und Tanz erschollen niemals auf der Burg von Beziers, obwohl die Provence von höfischen Sängern und Spielleuten wimmelte, und selbst als der Vizegraf noch ein jugendlicher Herr war, mied er die Weiber und schien auch seine eigene Schwester nur mit heimlichem Unmut neben sich zu dulden. Vor Jahren hatte er sie sehr geliebt und in Ehren gehalten, da sie ihm Hoffnung gab, mit einem Könige in nahe Blutsfreundschaft zu treten. Zwei Söhne mächtiger Fürsten warben damals um die Hand der Siebzehnjährigen, deren Schönheit, Sitte und heitere Klugheit weit über Frankreich hinaus gepriesen wurden: Heinrich’s II. von England zweitgeborener Sohn und der Erbe der Krone von Aragon. War es um der Nachbarschaft willen, oder weil der Sohn Peter’s von Aragon dereinst die Krone tragen sollte, genug, diesem Letzteren war das schöne Grafenkind verlobt worden; sie hatten bereits Briefe und Bildnisse getauscht, da machte ein Unfall die stolzen Hoffnungen zu Schanden: Beatrix stürzte mit dem Pferde auf der Reiherjagd, eine schwere Verletzung, die von unwissenden Ärzten falsch behandelt wurde, warf das junge Fräulein auf ein langwieriges Krankenlager, und als sie endlich, in ihrem zwanzigsten Jahre, für genesen erklärt ihre Marterstatt verlassen durfte, war das eine ihrer Beine gegen das andere so beträchtlich verkürzt, dass sie nur mit Hilfe eines Stabes zu gehen vermochte und jede Anstrengung des versehrten Gliedes mit großen Schmerzen bezahlen musste.

Eine andere Wunde, ihrem Stolze geschlagen, brauchte weit längere Zeit, um ganz zu vernarben. Aragon hatte an dem Gebrechen der jungen Braut, das einer künftigen Königin nicht wohl anzustehen schien, einen unholden Vorwand gesucht, das Verlöbnis, das aus Gründen der Staatsklugheit schon früher nicht mehr mit günstigen Augen betrachtet worden war, trotz des Widerstrebens von Seiten des Bräutigams zu lösen und ihr Bildnis zurückzuschicken. Dass nun der früher abgewiesene Werber der Prinz von England, sich seiner alten Neigung erinnern und zu der nun ihrerseits Verschmähten sich zurückwenden würde, konnte Niemand erwarten. Gleichwohl geschah es. Aber die hochgesinnte junge Dame, im Innersten verletzt durch die Absage ihres spanischen Bräutigams, erklärte, sie wolle sich nicht auf Krücken in ein Königshaus eindrängen, noch von Mitleid und Großmut annehmen, was sie der Liebe selbst zuerst geweigert habe; sie gedenke unvermählt zu bleiben und im Schatten, wie es einem krüppelhaften Weibe gezieme, zu sorgen, dass Niemand je ihrer spotten möge.

Diesen ihren festen Entschluss hatte der gestrenge Bruder ihr nie verziehen, und nachdem sie selber längst die ihr zugefügte Kränkung verwunden, saß der Wurm noch in seinem Herzen und vergiftete dasselbe gegen Diejenige, die mit ihm an Einer Mutterbrust gelegen hatte. Die Schwester aber, so schwer sie diesen unbrüderlichen Groll und Hass empfand, ließ es ihn nie entgelten, sondern zeigte ihm stets das gleiche helle und holdselige Gesicht, das sie auch nicht mit sonderlicher Mühe zu erheucheln brauchte. Denn als sie nur erst mit ihrem Gebrechen vertraut und, obwohl mit Schmerz und Not zu Anfang, doch mehr und mehr wieder Herrin ihrer Bewegungen geworden war, sah sie ihr Los gar nicht als ein so kümmerliches und beklagenswertes an, sondern als eines, das nur dazu dienen sollte, die Stärke ihres Geistes und die Heiterkeit ihres Gemüts desto siegreicher zu bewähren.

Sie hatte in den Jahren, die sie auf dem Siechenlager zugebracht, es sich angelegen sein lassen, mit mancherlei Wissenschaften vertraut zu werden, von denen sonst ein hochgeborenes Fräulein zu jener Zeit so wenig zu erfahren pflegte, als heutzutage. Was nämlich die graduierten Ärzte an ihrem armen jungen Leibe verpfuscht hatten, war durch die Hilfe einer einfachen Bäuerin in etwas wieder gebessert worden, die mit allerlei ererbter Geheimweisheit zwar den Hauptschaden nicht zu heilen, wohl aber die übelsten Folgen zu verhüten verstand. Da sie nun alle Tage um die Genesende war und sie lieber gewann, als eine eigene Tochter, die der Himmel ihr versagt hatte, weihte sie nach und nach die kluge junge Dame, die eine lebhafte Lernbegierde bezeigte, in ihr ganzes heimliches Wissen ein, wies ihr die Kräuter, aus denen sie die erfrischenden Tränke und heilsamen Salben bereitete, lehrte sie, wie man Wunden verbinden und innere Gebrechen erkennen möge, und als Beatrix erst wieder aufgestanden und kräftig genug war, einen mäßigen Ritt zu unternehmen, sah man das wunderliche Paar, die schöne Vizegräfin und das Bauernmütterchen, manchen Tag in den nächsten Dörfern zusammen herumziehen, die Alte mit flinken Schritten neben der Reiterin, zu der sie beständig hinaufsprach, ihr etwa ein Heilkraut, das am Wege wuchs, zu zeigen, oder auf eine ihrer Fragen zu antworten.

Auf diese Weise besorgten sie gemeinsam die ziemlich ausgebreitete Landpraxis der Mutter Anduse, wie die weise Alte genannt war, bis Vizegraf Ademar, durch eine Spottrede, die ihm zu Ohren kam, aufgereizt, seiner Schwester dies vergnügliche Werk der Barmherzigkeit mit heftigen Worten untersagte. Seitdem blieb Beatrix zu Haus, ohne doch des Unterrichts der Alten gänzlich zu entbehren. Sie hatte sich nahe den Zimmern, die sie sonst bewohnte, in einem der Schlosstürme ein festes, stark ausgewölbtes Gemach zu ihrem Laboratorium eingerichtet, den Kamin zu einem Herde umgeschaffen, auf welchem sie nach den Rezepten der Mutter Anduse die übelschmeckendsten, aber heilkräftigsten Säftchen und Pillen bereitete, sodass sie mit der Zeit einen schönen Vorrat davon aufspeicherte. Wurde nun Jemand vom Gesinde oder in den Hütten der föhnigen Leute krank, so wandte er sich an die junge Herrin um Hilfe, die sie auch bereitwillig spendete. Dass die Medizinen häufig nicht mehr ganz frisch und wohl gar schon vergoren und in Unheilsmittel verwandelt waren, schadete dem Erfolge nur selten. Das Siechtum schwand schon allein durch den Glauben an die tiefe Wissenschaft der vornehmen Ärztin, und die Knechte zumal würgten mit dem fröhlichsten Gesicht das heilloseste Zeug hinunter, nur um der Gunst teilhaftig zu werden, von so schönen weißen Händen und mit so gütigem Lächeln sich die zweifelhafte Wohltat reichen zu lassen.

Mit der Zeit aber bemächtigte sich die Leidenschaft, menschliche Leiden zu kennen und zu bekämpfen, dergestalt des jungen, einsamen Gemütes, dass sie Alles in ihrem Leben nur auf dies Eine bezog, sich einen Lehrmeister kommen ließ, der sie Lateinisch lehren musste, damit sie die Werke der alten Naturforscher und Heilkünstler verstehen könne, und selbst mit den berühmtesten Leuchten der Fakultät zu Paris sich in schriftlichen Verkehr einließ, um über die Fortschritte der Wissenschaft stetig unterrichtet zu werden. Halbe Nächte lang saß sie über den Büchern oder hantierte mit Tiegeln und Kolben an ihrem Laborierherde, und die Landleute, die das Licht im Schlossturm noch glimmen sahen, wenn sie selbst vor dem ersten Tau wieder aufs Feld zogen, zeigten einander mit Ehrfurcht das Fenster, hinter welchem die Herrin wachte, und erzählten von den Wunderkuren, die ihr schon gelungen, und dem Lebenselixier, dem sie auf der Spur sei.

Es hätte wenig gefehlt, dass durch dies seltsame Treiben und etliche Fälle von Heilungen, über die man billig erstaunen konnte, Beatrix in den Verdacht eines Einverständnisses mit bösen Mächten gekommen wäre. Aber das Helle und Heitere ihres Wesens und dass sie stets zu Scherz und Lächeln aufgelegt und Kranken wie Gesunden als ein Bild sonniger Unschuld erschien, ließ den Verdacht einer Teufelsgemeinschaft nicht aufkommen, sodass man sie vielmehr allgemein nicht anders als »den lahmen Engel« nannte. Die Kirche besuchte sie fleißig, zumal aber unterhielt sie eine gute und eifrige Freundschaft mit den Nonnen eines Servitinnenklosters, das ziemlich hoch im Gebirge über Stadt und Schloss Beziers in tiefer Einsamkeit gelegen war, aber allerlei Bäche von Segen in die Niederung hinabströmen ließ, da die Schwestern einer menschenfreundlichen Regel untertan waren und als Krankentrösterinnen, Pflegerinnen verwaister Kindlein und in anderen Werken der Nächstenliebe vielfach sich unter das niedere Volk mischten. Da hatte Beatrix Gelegenheit, ihren Schatz an Kenntnissen durch treue und sorgliche Hände unter die Armen und Hilfsbedürftigen auszuteilen, indem sie Rezepte zu neuen Heilmitteln angab, oder bei Seuchen, die hin und wieder auftraten, die kräftigsten Medikamente, mit eigenen Händen bereitet, der Äbtissin überlieferte, von der sie selbst wie eine junge Heilige betrachtet wurde. Es war dies ebenfalls ein Fräulein aus edlem Hause, welches durch Verrat in der Liebe der Welt entfremdet und ihrem Seelenbräutigam zugeführt worden war. So begegneten sich die beiden trefflichen Damen auch in ihrer Stimmung gegen die Männerwelt, nur dass Beatrix es unter ihrer Würde fand, in die oft sehr bitteren Schmähungen der Frau Äbtissin einzustimmen, sondern sich mit einem kühlen Rümpfen der Lippe begnügte und nur etwa die Worte fallen ließ: die hoffärtigen Herren bildeten sich ein, man könne sie nicht entbehren; aber Gottesdienst und Wissenschaft seien ein besserer Zeitvertreib, als das einfältige Gelispel höfischer Gecken und eitler Selbstanbeter.

Dergleichen Reden wurden in dem Klostergärtchen hoch oben am Fels oder in der Zelle der Frau Äbtissin geführt, da diese das Haus nur äußerst selten verlassen durfte, Vizegräfin Beatrix dagegen, seit sie in ihrer unantastbaren Tugend das dreißigste Jahr überschritten hatte, sich der launischen Tyrannei ihres Bruders nicht mehr so demütig unterwarf, sondern nach ihrem eigenen Kopfe handelte. Sie versagte sich’s daher auch nicht mehr, zu ihren Kranken herumzureiten oder, so oft ihr die Lust kam, ihre geistliche Freundin im Kloster droben zu besuchen, die um mehrere Jahre älter war und schon zu kränkeln anfing. Nun freilich trippelte Altmutter Anduse nicht mehr neben ihrem Tier, da sie längst an einem ihrer eigenen Elixiere, das sie in zu starker Dosis genommen, eines unsanften Todes verblichen war. Statt ihrer führte ein lang und hager aufgeschossener Knabe den Zügel des weißen Maultieres, wenn es die steilen Felspfade zum Kloster hinaufging; und auch auf anderen Wegen, oft stundenweit ins Land hinein, da die Vizegräfin die gesamte ärztliche Klientel der Alten übernommen hatte, begleitete der halbwüchsige Stallmeister rüstigen Schrittes die hohe Frau, hatte des Tieres Acht, so lange ihr Dienst bei einem Kranken sie verweilen ließ, musste ihr hin und wieder von den Pflanzen bringen, die am Wege wuchsen, oder einem Lahmen oder Blinden, der bettelnd am Wege saß, das Almosen in die Hand stecken. Es sah artig aus, die hohe, schmiegsame Gestalt der schönen Ärztin in schmucker Gewandung – denn sie liebte helle Farben und golddurchwirkte Tücher und Schleier – auf ihrem mutigen weißen Tiere daherkommen zu sehen, am Sattel allerlei Körbe voll Phiolen und Büchsen befestigt, die zu ihrem Berufe gehörten, neben ihr hinschreitend der schlanke junge Bursch in einfachem braunem Wams, ein schlichtes Hütchen mit einer kleinen Pfauenfeder nachlässig auf das krause schwarze Haar gedrückt. Uc Brunet war sein Name; den zweiten hatten ihm die Leute gegeben, da seine Haut, zumal in seinen früheren Knabenjahren, so dunkel war, wie die eines Mauren, sodass auch Viele glaubten, sein Vater, den Niemand gekannt, sei kein Christ gewesen. Als ein zehnjähriges Bübchen war er mit der Mutter, einem armen fahrenden Weibe, nach Schloss Beziers gekommen, in zerlumptem Kleide, mit hungerdürren Wangen, und hatte den fremdartigen Gesang seiner navarresischen Mutter, die der Langue d’oc nur zur Not mächtig war, auf einer kleinen schwarzen Geige begleitet, dabei aus seinen finsteren Knabenaugen scheue Blitze sprühend, wenn ein ungutes Wort an sein Ohr schlug. Dies armselige Duett im Burghofe sollte traurig enden. Ein Blutstrom war der Sängerin aus dem Munde gequollen, da sie eben die letzte Strophe ihres spanischen Liedchens beginnen wollte. Der junge Sohn hatte sie in seinen Armen aufgefangen und in einen Winkel neben der Hundehütte getragen. Alsbald war der »lahme Engel«, der von seinem Turmfenster aus dem Gesang zugehört, unten um die bewusstlose Landfahrerin bemüht, aber die kräftigsten Tropfen und Balsame hatten Nichts vermocht; in derselben Nacht war das Weib verschieden, und nur ein jammervoller Blick ihres schon umdunkelten Auges nach dem verwaisten Knaben hatte bei ihrer edlen Ärztin Fürsprache für ihn einlegen können.

Dies war geschehen, als Beatrix eben Dreißig geworden. Sie hatte es sofort bei ihrem Bruder erwirkt, dass der eltern- und heimatlose Fremdling im Hause behalten wurde. Ein alter Pferdeknecht fand Gefallen an ihm und nahm ihn in seine besondere Obhut, was Brunet, obwohl er in leidenschaftlichem Gram um die Mutter sich ziemlich fühllos gegen alles Andere zeigte und selbst seiner schönen Gönnerin eher abgeneigt, sich gleichwohl gefallen ließ, da er noch Kind genug war, mitten in seiner Trauer und Verwahrlosung sich der schönen Pferde im Stalle von Beziers zu erfreuen. Er blieb die ersten Monate so zurückgezogen, dass die meisten der Schlossbewohner sein Dasein völlig vergaßen und selbst Beatrix, nachdem sie zuerst sich Mühe gegeben, das Kind seiner trotzigen Scheu zu entwöhnen, ihn endlich sich selbst überließ. Mit der Zeit wurde er gefügiger und begegnete seiner Wohltäterin niemals, ohne dass er stehen blieb und sein Hütchen zog. Sie verweilte dann gewöhnlich ein paar Augenblicke bei dem dunkelwangigen Wildling, fragte, wie es ihm ergehe, ob er irgend etwas zu klagen oder zu wünschen habe, und nahm mit seinen einsilbigen, aber höflichen Antworten vorlieb. Nur die Frage, ob er sein Geigenspiel ganz verlernt habe, wiederholte sie nie wieder. Das erste Mal, da sie ihr entschlüpft, waren ihm die Tränen aus den Augen geschossen, obwohl er sich gewaltsam Mühe gab, seinen inneren Aufruhr zu bezwingen. Sie sah, wie schwer der Tod der Mutter noch auf ihm lastete. Halte dich brav, Ugonet! hatte sie mit ihrem gütigsten Lächeln gesagt, indem sie ihm sacht mit ihrem Tüchlein über die nasse Wange fuhr. Du sollst nicht heimatlos bleiben und, so lang ich lebe, nicht verderben.

Da hatte er ihre Hand mitsamt dem Tüchlein gehascht, sie an seinen Mund gezogen, ein paar verworrene Worte gestammelt und war mit glühendem Gesicht davongerannt, sich im dunkelsten Winkel des Marstalls zu verbergen.

Von diesem Tage an war Beatrix ihrem Schützling nie begegnet, ohne ein freundliches Wort an ihn zu richten; doch da sie beständig mit ihren hohen Wissenschaften, ihrem Briefwechsel mit gelehrten Doktoren und der Krankenpflege zu tun hatte, auch zur Lehrmeisterin eines wildaufgewachsenen Knaben nicht sonderliche Neigung und Gaben in sich verspürte, überließ sie ihn gänzlich jenem wackeren Knecht, der ihm beibrachte, was er selber verstand: waidmännische Künste und die Anfangsgründe in der Führung der Waffen, wozu Brunet so viel Begierde als Geschick zeigte. Nur dass es bei seinem stürmischen Blute nicht ohne allerlei Gefährde abging und er mehr als einmal sich bei tollen Ritten oder verwegenem Kampfspiel gegen Stärkere einen blutigen Kopf und scharfe Hieb- und Stichwunden holte. Mit diesen Denkzeichen aber und den trefflichen Pflastern, die sein Zuchtmeister darauf zu drücken pflegte, ließ er sich niemals vor seiner Gönnerin sehen, obwohl diese ihm weit lindere Heilsalben aufgelegt hätte, als der Knecht, der im Grunde nur Pferde zu behandeln verstand. Er schämte sich, da er sonst seinen jähen Trotz und Ungestüm gegen Jedermann ausließ, vor ihr allein seiner Unbändigkeit und hätte geglaubt, ein strafendes Wort von ihr nicht überleben zu können.

Da er fünfzehn Jahre alt geworden war, begann noch eine andere Lehrzeit für ihn. Der Vizegraf hatte einen Narren, Olivier genannt, ein zwerghaftes Männchen, nicht viel über drei Schuh hoch, mit einem kleinen, welken, greisenhaften Gesicht und einem dünnen Kinderstimmchen, schon über Vierzig alt, ein Geschenk des Grafen von Toulouse, dem dieser Mann nicht lustig genug gewesen war. Er hatte aber besseres Glück bei seinem neuen Herrn, dessen düsterer Sinnesart die bitteren, tiefsinnigen Späße dieses armen Freudlosen weit mehr einleuchteten, als die derben Possen seines Vorgängers. Olivier war der Einzige, der von dem Vizegrafen nie geschlagen wurde. Ein einziges Mal, da sich der Witz des Kleinen allzu dreist gegen den Herrn selbst gekehrt, hatte dieser die Hand aufgehoben mit einem knirschendem Fluch, sie aber gleich wieder sinken lassen, da sein Auge dem des Kleinen begegnete, aus welchem keine Furcht, nur eine seltsam traurige Verklärung ihm entgegenleuchtete. Und wie der feste Blick des Menschen ein Raubtier bezähmt, so war der Jähzorn des Vizegrafen alsbald gebändigt worden.

Dieser Olivier nahm sich des verwilderten Schößlings an und wusste bald so sehr ihn an sich zu ziehen, dass er sich noch mehr, als zu Lambert, dem Stallmeister, zu diesem wunderlichen Mentor hielt und man die Beiden, sobald der Herr des Schlosses nicht anwesend war, oft halbe Tage lang beisammenhocken sah, Olivier erzählend, Brunet zuhörend, wobei der Knabe immer sorgte, dass sein Freund einen weichen, bequemen Sitz in der Sonne hatte, da er gebrechlich zu werden anfing und Husten und Gliederweh ihm zusetzten. In diesen langen Plauderstunden lehrte der Narr den jungen Stallburschen unter anderen guten Dingen auch Lesen und Schreiben und sogar ein wenig Latein, das er selbst als ein aufgeweckter Knabe früh von einem Pfarrer gelernt, der immer noch hoffte, durch sein Gebet ihm zu einem regelmäßigen Wuchs zu verhelfen und dann ein rechtes geistliches Rüstzeug aus ihm zu erziehen. Diese Hoffnung war fehlgeschlagen, ohne dass der Kleine sich darum betrübt hätte. Denn er hatte große Lust zu allen weltlichen Dingen, und als seine Mutter ihn tröstete, um seiner Kleinheit willen werde er jetzt an den Hof vornehmer Herren taugen, hatte er einen Freudensprung getan. Wie schlecht seine Träume sich erfüllt, las man auf seiner wehmütig gespannten Stirne und in den früh ergrauten Härchen. Mehr als einmal sagte er seinem Zögling, dass er wenig so gute Stunden genossen, als wenn er mit ihm draußen auf dem grünen Wall am Schlossgraben unter dem Schlehenbusch sitzen und in sein Knabenherz all seine dunkle Weisheit ausschütten konnte. In einer dieser glücklichen Stunden berührte ihn ein sanfter Herzschlag. Brunet meinte nicht anders, als der Kleine sei eingenickt. Da er eine Stunde stille neben ihm gewartet hatte und das alte blasse Gesichtchen endlich einen ungewohnt spukhaften Ausdruck annahm, erschrak er heftig, rief und rüttelte eine Weile an dem stillen Mann und nahm endlich das Figürchen in die Arme, um es in den Schlosshof zu tragen. Aber selbst die Kunst und Weisheit der Vizegräfin Beatrix vermochten das entflohene Leben nicht mehr zurückzurufen.

Sein Nachfolger war leider in Allem sein Widerspiel, ein frecher höckriger Wicht von der ärgerlichsten Gemütsart, neidisch und hämisch, aber mit so ausbündig bösen Possen ausgerüstet, dass er sich rasch in die Gunst seines Herrn noch sicherer einnistete und ihm viel unentbehrlicher wurde, als der tiefsinnige Olivier. Er gedachte es auch bei der schönen Schwester des Vizegrafen dahin zu bringen, dass sie sich ihm huldreich bezeige. Diese aber, obwohl sie gern lachte, ja oft das Sprichwort anführte: Lachen macht gutes Blut, – von den Späßen dieses Buffone wendete sie sich mit unverhohlenem Verdrusse hinweg, während sie die schwermütigen Scherze des kleinen Olivier mit ihrem lieblichsten Lächeln zu belohnen pflegte.

Guigo – so hieß der Schelm – empfand dies um so bitterer, da er ein heißblütiger Gesell war, trotz seines Narrenhabits Frauengunst vielfach genossen und beim ersten Blick auf die stolze Frau, die eben jetzt, obwohl ihren Vierzig nicht mehr fern, im vollen Flor ihrer Schönheit stand, verwegene Wünsche in seiner missbildeten Brust empfangen hatte. Er warf von Stund an einen tiefen Hass auf sie und Alles was zu ihr gehörte, und da er merken musste, dass der schlanke schwarze Juvenil, der im Stalle schlief, von dem »lahmen Engel« freundlicher behandelt wurde, als er selbst, wurde er auch diesem spinnefeind und lauerte auf einen Anlass, ihm einen Streich zu spielen.

Brunet beachtete ihn kaum. Dass er der Nachfolger seines geliebten Freundes und Lehrmeisters war, reichte allem schon hin, ihn von Guigo fern zu halten. Ihm war aber zu dieser Zeit überhaupt an alle dem, was um ihn vorging, wenig gelegen, denn ein neuer Sinn war ihm aufgegangen, sodass er blind und taub wurde für Alles, was sonst in seine Nähe kam.

Einer der benachbarten Barone hatte dem Herrn von Beziers einen Besuch gemacht, was sich selten ereignete, da, wie berichtet, Vizegraf Ademar ein Feind der Geselligkeit war und lieber den Vorwurf des Geizes sich gefallen ließ, als dass er zu den hergebrachten Zeiten seine Tore geöffnet und Gastereien veranstaltet hätte. Diesmal war ein politisches Zwiegespräch der Zweck der Begegnung, und der Gast kam, um sich seiner Macht und Hoheit würdig darzustellen, mit seinem gesamten Hofstaat, darunter auch ein Sänger war, den er seit einiger Zeit auf seinem Schlosse beherbergte: ein damals nicht unberühmter Mann, dessen Name hier aber nichts zur Sache tut. Es hatte nicht fehlen können, dass der Troubadour für die Gastfreundschaft, die er in Beziers genoss, sich durch ein Gedicht dankbar erzeigte, das neben und vor anderem Köstlichen, was die Burg umschloss, die herrliche Frau in überschwänglichen Worten feierte, die männlichen Geist und tiefe Wissenschaft mit allem Zauber ihres Geschlechtes vereinige, alsodass sie gleich dem Vogel Phönix in aller Welt nur dies eine Mal vorhanden sei. Dies war nach altem Brauch der höfischen Dichtung in vielen Strophen hin und her gewendet und im Grunde eine gar frostige Huldigung, zu der auch die Verherrlichte selbst nur um der höfischen Sitte willen eine huldvolle Miene machte, während ihr klarer Verstand ihr sagte, dass nicht viel dahinter sei. Sie war noch froh genug, dass der Herr Poet sich’s nicht einfallen ließ, sich im Ernst in sie zu verlieben, da sie ungern sich genötigt sah, eine Bewerbung dieser Art mit scharfer Kälte abzuweisen. Und so verlief Alles in bestem Behagen, und als der Besuch sich endlich wieder verabschiedet hatte, hinterließ er keine andere Spur, als eine Handfeste, die zwischen den beiden hohen Herren beschlossen, verbrieft und besiegelt worden war, und etliche Lücken in Speicher und Keller, die sich bald wieder füllten.

Nur in Einem Gemüt war ein Funke zurückgeblieben, der fortglimmte und nicht wieder erlöschen wollte. Unter dem Gesinde, das an den halb offenen Türen des Speisesaals gelauscht hatte, als der Spielmann des fremden Troubadours jene Canzone sang und sie auf seiner schön verzierten Laute begleitete, hatte auch Brunet gestanden und in traumhaftem Entzücken Worte und Weise in sich aufgenommen. Dass man so stolze Ausdrücke kunstvoll zusammenfügen und eine edle Dame geradezu damit ansingen könne, schien ihm ein unbegreifliches Glück, um das er den Sänger innig beneidete. Kaum war er wieder allein, so versuchte er auf seine eigene Hand etwas Ähnliches und geriet in tiefe Schwermut, als es ihm nicht sogleich gelingen wollte. In einem alten Kasten unter wertlosem Gerät hatte er die kleine Geige verwahrt und seit Jahren sich gescheut, sie wieder anzurühren, als müsse der erste Ton das bleiche Gespenst seiner armen Mutter aus ihrem Grabe herauflocken. Jetzt aber, in fieberhafter Hast, riss er das unscheinbare Instrument ans Tageslicht, stimmte die Saiten und versuchte die lang vergessenen Griffe. Zu seinem eigenen Staunen klang es ihm lieblicher, als er gefürchtet, und die Tote blieb ruhig in ihrer Tiefe. Dafür aber schwebte, wie er den Saiten immer süßere und schmelzendere Weisen abgewann, ein lebendes Frauenbild zu seiner Qual und Wonne heran und stand unbeweglich ihm gegenüber, dass endlich auch das Band seiner Zunge zerriss und er in freien dichterischen Worten, nur viel heftiger und glühender als jener Hofpoet, sein Herz und Leben, Dank und Andacht, Bewunderung und scheue Bitte dahinströmen ließ.

Die Knechte und Mägde liefen bald herzu und ließen es an aufmunterndem Beifall nicht fehlen. Brunet aber runzelte die Stirn und warf, sobald er merkte, dass man ihm zuhörte, das Instrument auf sein dürftiges Lager, das in einer Kammer neben dem Stalle aufgeschlagen war. Auch widerstand er in den nächsten Tagen allen Versuchungen, wieder zu musizieren. Selbst als Beatrix, da er ihr in den Sattel half, lächelnd zu ihm sagte: Alte Liebe rostet nicht. Ich höre, Ugonet, dass du deine Musik wieder hervorgesucht hast. Du musst mir einmal vorspielen, dass ich sehe, ob die alte Bernarda Recht hat, dass du es noch besser könnest, als der Spielmann aus Narbonne! – da hatte er mit tiefem Erröten, indem er sich am Zaumzeug zu schaffen machte, erwidert, er beschwöre seine Herrin, dies nicht von ihm zu begehren; er habe Alles verlernt, und die Leute im Hause trieben nur ihren Spott mit ihm und wollten, dass er auch vor der Herrschaft beschämt dastünde.

Beatrix war nicht weiter in ihn gedrungen. In derselben Nacht aber, da sie in ihrem Turmzimmer über einem schwierigen Rezept brütete und eben die Handschrift des Galenus unmutig beiseite schob, hatte sie plötzlich einen süßen Saitenklang unten vom Wall herauf vernommen, eine schmachtende Weise, die nicht bloß ihr Ohr umschmeichelte, sondern sich leise zu ihrem innersten Gemüte stahl und dort ein wunderlich süßes Wogen und Wallen anstiftete, sodass sie von ihrem Tische aufstand und an das Fenster trat. Die Nacht funkelte mit tausend Sternen herein, die Welt schlief in der weiten Runde, nur die Stimme der Geige schwirrte ruhelos durch die Wipfel und schwang sich an der steilen Mauer herauf und in das einsame Gemach der hohen Frau. Es ist Ugonet, der spielt, sagte sie sinnend vor sich hin. In der Tat, es klingt, wie wenn der Frühling selbst zu singen anhöbe. Wer ihn dies nur gelehrt haben mag nach so langen Jahren?

Als sie am anderen Tage wieder mit ihm über Land zog, er zu Fuß neben ihrem Maultier, sah sie ihn, der die Augen auf den Weg gesenkt hatte, prüfend von der Seite an, und er erschien ihr heut ein Anderer, als sonst. Auch in seiner knechtischen Kleidung trug er sich frei und mit kühnem Anstand, und sein Wuchs wäre vollkommen gewesen, nur dass er ein wenig zu hager war. Seine dunkle Haut hatte sich zu lichten angefangen, der schlanke Hals erschien sogar weiß, und auch die kleinen Hände waren bleich von Farbe. Noch zeigte sich wenig Flaum an Kinn und Oberlippe, desto dichter krauste sich das glänzende Haar um den feinen Kopf, und die Brauen zogen sich in einer geraden schwarzen Linie über den großen, trübsinnigen Augen hin. Seine Gönnerin sagte sich zum ersten Mal, dass ein schöneres Jugendbild nicht leicht zwischen dem Meer und der Garonne zu finden sein möchte, sicherlich aber keines, das an seinem eigenen Aussehen so wenig Freude zu haben schien. Es dauerte sie der arme landfremde Jüngling, den sein Irrstern zu ewiger Dienstbarkeit verdammt zu haben schien, da nicht viele der Edelgeborenen es an Gaben der Natur mit ihm aufgenommen hätten. – Die Bernarda hat doch Recht gehabt, sagte sie lächelnd von ihrem Sattel herab; die lange Ruhe ist deinem Geigenspiel gut bekommen; es ist, als hättest du seit der Knabenzeit Tag für Tag dich bei einem guten Meister geübt, so schön und stark führst du den Bogen.

Und nach einer Weile da er nichts erwiderte und den Kopf tiefer auf die Brust senkte: Du solltest darauf denken, Ugonet, dich zu einem Troubadour zu verdingen und ihn auf seinen Fahrten zu begleiten. Da würdest du Ehre und reichen Lohn gewinnen und die ferne Welt sehen, was dir besser anstünde, als hier im Schatten zu verkommen und es nicht höher zu bringen, als mit der Zeit zum Stallmeister oder Marschall.

Der Jüngling schüttelte stumm den Kopf. Und da sie gerade an einem Hause angekommen waren, wo ein Kranker lag, den die Vizegräfin zu besuchen hatte, blieb es für diesmal bei diesen wenigen Worten. In der nächsten Nacht aber, als Beatrix nach der Abendtafel in ihr Laboratorium trat, um noch einige Heilmittel zu bereiten, deren sie für morgen bedurfte, trat ihr Fuß auf etwas Hartes, das am Boden lag. Sie bückte sich, es aufzuheben, und sah im Mondzwielicht, dass es der Bolzen einer Armbrust war, der durchs offene Fenster hereingeflogen sein musste. Als sie das stumpfe Holz – denn die Spitze war sorgfältig abgebrochen worden – näher betrachtete, fand sie einen Streifen Pergament darum gewickelt, auf welchem einige Strophen standen. Sofort wusste sie mit der untrüglichen Ahnung eines Frauenherzens, wer diese wunderliche Post an sie abgesandt, zündete ihre dreiarmige Lampe an und saß am Herde nieder, das Blatt zu lesen. Es war eine Canzone, in der Strophe gedichtet, die der fremde Troubadour zu seinem Liede gebraucht, und lautete so:


O wollet nicht, ich soll die Stätte fliehn,
Wo ich zuerst erfuhr, was Leben heißt!
Den Fremdling, arm und glücklos und verwais’t,
Lasst ihn am Ort, wo ihm die Sonn’ erschien!
Müsst’ ich von dannen ziehn,
Es wär’, als bräche man ein Blatt vom Baum:
Die Winde jagen’s hin am Wegessaum,
Und das noch eben prangte frisch und grün,
Ist vor dem Herbst verdorret und ergreis’t.

O schickt mich nicht in fremde Dienstbarkeit!
Nur Einem Zwang gehorcht mein störrisch Blut,
Und was mein Arm in dieser Frone tut,
Scheint mir wie Dienst, den Heiligen geweiht.
Ich weiß, wie weit, wie weit
Mein Los von Der, die mir befiehlt, mich trennt;
Doch dulde sie’s, wenn Stern an Stern entbrennt,
Dass nur von ferne sich bescheiden-kühn,
Der Glühwurm ihrer Huld und Schöne freut.

Sie hatte die Verse noch nicht zu Ende gelesen, da fing unten am Wall die Geige wieder an zu klingen, und sie vernahm jene Melodie, die der Spielmann von Narbonne auf der Laute gegriffen hatte, nur um Vieles süßer und sehnsüchtiger. Da las sie die Strophen von Neuem und dann zum dritten Mal, bis der Geiger eine neue Weise anstimmte, zu der die Worte nicht mehr passen wollten. Es währte diese Nachtmusik über eine volle Stunde. Und immer saß die Lauscherin oben im Turme unbeweglich und hatte das Blatt auf den Knien und die Augen halb geschlossen, dass sie nur ein Stück von dem silbernen Mondhimmel draußen sah. Als das Spiel unten verstummte, tat sie einen tiefen Seufzer und stand auf. Sie ging zu einem kleinen Spiegel, der an der Wand hing, und indem sie die Lampe voll über ihr Gesicht scheinen ließ, betrachtete sie sich eine ganze Weile und musste endlich selbst über die bekümmerte Miene lachen, mit der ihr Bild sie anblickte. Er ist nicht recht gescheit, sagte sie vor sich hin, und ich selbst noch unkluger als er. Das sind Kinderpossen, wie sie zu Zwanzig hingehen mögen; zu Vierzig sollte man sich lieber binden lassen, als mit solcher Tollheit frei herumgehen. Schäme dich, altes Kind! Tu noch deine Arbeit und dann lege dich nieder und schlaf alle klingende und singende Torheit aus.

Dann trat sie an den Herd zurück und bereitete sorgsam Alles, was sie für ihre Kranken nötig hatte, schlief auch diese Nacht ruhig und traumlos wie immer. Sie hatte sich vorgenommen, Ugonet davor zu warnen, dass er sich der Versmacherei nicht ergeben möge, die sie in den meisten Fällen für ein müßiges Spiel mit schönen Worten hielt, nur erfunden, sein eigenes Gemüt zu fälschen und fremde, arglose Seelen zu betrügen. Als sie aber des Jünglings stille, traurige Miene sah, brachte sie’s nicht übers Herz, ihm etwas zu untersagen, was ihm als ein Trost in seinem armen Dasein erscheinen musste, und so war von den Versen und der Serenade zwischen ihnen nicht die Rede.

Auch nicht an den folgenden Tagen, obwohl die Geige pünktlich, sobald es Nacht wurde, wieder erklang und die Vögel im Walde immer länger wach erhielt. In der vierten Nacht wurde das Spiel plötzlich unterbrochen. Die Lauscherin oben vernahm die heftige Stimme ihres Bruders, der sich das Wimmern und Winseln ein für alle Mal verbat. Als Beatrix ihre getreue Bernarda befragte, erfuhr sie, Guigo, der Narr, habe aus Eifersucht auf Brunet, der durch seine Musik das ganze Gesinde bezaubert habe, dem Herrn hinterbracht, dass der Stallbube allnächtlich vor den Fenstern der Vizegräfin die Geige spiele und man bereits darüber zu reden anfange. Beatrix antwortete mit einem Scherz und tat, als sei es auch ihr fast unlieb gewesen, in ihrem nächtlichen Laborieren gestört zu werden. Sie hatte sich aber schon so sehr daran gewöhnt, durch die Geige in Schlaf gesungen zu werden, dass sie die nächste stumme Nacht hindurch sich ruhelos auf ihrem Lager wälzte und mit überwachten Augen aufstand.

Nun war für diesen Tag ein Ritt nach dem Kloster hinauf beschlossen gewesen, da die Äbtissin in die Burg hinunter Botschaft gesendet, sie fühle sich mehr als sonst unpass und wünsche sehr, ihre ärztliche Freundin zu Rate zu ziehen. Also wurde das Maultier gesattelt, Brunet befestigte die Wanderapotheke an den Sattelknauf und half der Herrin in den Bügel. Sie war Willens gewesen, sich für diesmal einen anderen Begleiter zu nehmen, da sie besorgte, es möchte über den nächtlichen Vorfall zu Erörterungen kommen, die dem heftigen Knaben vielleicht Worte entrissen, wie sie sie nicht zu hören wünschte. Als sie aber sah, dass er ein ganz verfärbtes Gesicht und gerötete Augen hatte, konnte sie sich nicht entschließen, ihm eine neue Kränkung zuzufügen, gab ihrem Tier einen Schlag mit der Hand auf den rauen Hals und trabte munter den Berg hinan, sodass Brunet sie erst einholen konnte, als die Steile des Pfades ihren Schritt mäßigte. Nun hatte sie sich inzwischen bedacht, als eine kluge und herzhafte Frau, wie sie war, den Stier lieber gleich bei den Hörnern zu fassen, fing deshalb an, in scherzendem Tone von der unterbrochenen Nachtmusik zu reden und dass es auch ihr leid darum sei, vielleicht aber doch zu seinem Besten gereichen werde. Denn er verwöhne und verzärtele sich mehr und mehr durch die Übung dieser müßigen Künste, die ihm endlich jedes mannhafte Tun verleiden würden. Sie denke nicht gering von der fröhlichen Kunst der Poesie. Es habe zu allen Zeiten große und erlauchte Dichter gegeben, die einen gerechten Ruhm geerntet und noch lange nach ihrem Tode wie Sternbilder den späteren Geschlechtern geleuchtet hätten. So werde jetzt auch in der Provence der Name manches Troubadours gleich dem eines mächtigen Fürsten oder siegreichen Kriegshelden mit hohen Ehren genannt, und sie selbst würde nicht minder gern, als einen der weisen Meister, die von den Geheimnissen der Natur geschrieben, einen Dichter wie Bertran von Born, oder Bernhard von Ventadour oder Arnaut Daniel von Angesicht kennen lernen. Diese aber seien zu ihrem Ruhm nicht ohne Mühe und eifriges Nachdenken über die Kunst gelangt, wie denn nichts Vortreffliches nur so im Fluge zu erreichen sei, etwa gleich einem Vogel, den ein guter Schütz mit seinem Pfeil aus den Wolken hole. Wie aber er, Ugonet, zu solcher Höhe der Kunstübung gelangen wolle, im Stall bei seinen Pferden, ohne Bücher oder Lehrmeister? Dagegen, wenn er sich in der Führung der Waffen eifriger ausbilde, er bald einen tüchtigen Kriegsmann aus sich machen und wohl hoffen könne, trotz seiner geringen Herkunft dereinst noch einmal sich zu ritterlichen Ehren aufzuschwingen. Das gezieme ihm besser, als ein poetischer Stümper zu bleiben, was unfehlbar geschehen werde, da er es ja verschmähe, fortzugehen und sich bei einem ordentlichen Dichter in die Schule zu begeben.

Hierbei errötete sie ein wenig, da sie, ohne es zu wollen, bei dem verfänglichen Punkt jenes ersten Gedichtes angelangt war. Er machte es ihr aber durch sein demütiges Schweigen leicht, wieder davon abzulenken, und so konnte sie noch eine Zeit lang ihr Ermahnen fortsetzen, wobei sie sich redliche Mühe gab, ihm recht als eine weltweise mütterliche Vorsehung zu erscheinen, die seit undenklicher Zeit über alle jugendlichen Anwandlungen hinaus sei. Versprich es mir, Ugonet, sagte sie schließlich, dass du diese Kindereien abtun und einen tapferen Mann aus dir machen willst. Im Frühling blühen alle Bäume; aber nur diejenigen werden von den Menschen geschätzt und gepflegt, die Frucht tragen. Die anderen lässt man eine Weile wachsen und haut sie dann um, dass sie wenigstens Brennholz geben.

Er murmelte tief erglühend etwas vor sich hin, das sie für eine Zustimmung nahm. Dann sprachen sie auf dem übrigen Wege nichts mehr hierüber.

Der Tag war sonnig und sie litten von der Glut. Als sie dann beim Kloster ankamen, lief ihnen der Meier oder Klostervogt entgegen, der in einem Häuschen, einen Bogenschuss von den geistlichen Mauern entfernt, mit seinem Weibe wohnte. Er half der Herrin aus dem Sattel, führte sie selbst an die Klosterpforte, wo sie alsbald mit ehrerbietiger Freude von der Schwester Pförtnerin bewillkommt wurde, und band das Maultier, nachdem er es des schweren Sattels und seiner übrigen Last entledigt hatte, an einem Pfahl mitten auf einer grünen, schattigen Aue, wo die würzigsten Bergkräuter wuchsen und auch die Klostereselin weidete, die zuweilen gewürdigt wurde, die Frau Äbtissin oder eine der Nonnen auf ihrem geduldigen Rücken zu Tale zu tragen. Dann zog er Brunet, an dem er von jeher großes Gefallen gefunden, zu einem ländlichen Mahl unter sein schlichtes Dach, wunderte sich auch kaum, dass der Jüngling heute noch einsilbiger und versonnener schien, als gewöhnlich, da er schon wusste, dass seine muntere alte Frau und sein feuriger junger Wein mit der Zeit es dahin zu bringen pflegten, den scheuen Gast ein wenig aufzutauen.

So geschah es auch heut, und sie saßen über die heißen Tagesstunden einträchtig beisammen, der Meier von Hispanien erzählend, wo er in jungen Jahren als Knappe eines Ritters sich manchen Wind hatte um die Nase wehen lassen, Brunei begierig horchend, da er jenes Land als seine eigentliche Heimat betrachtete. Darüber hatten sie es nicht Acht, dass die Sonne sich neigte, bis die Pförtnerin gelaufen kam und die Nachricht brachte, die Vizegräfin wolle unverzüglich den Heimweg antreten. Brunet sprang auf, das Maultier wieder zu satteln und aufzuzäumen. Wie er aber auf die Halde hinaustrat, war weder dort, noch so weit die Blicke reichen mochten, von dem sonst so geduldig harrenden Tier auch nur der Schatten zu erspähen. Er rief und lockte und stieg auf den nächsten Abhängen und umbuschten Klippen herum. Da aber auch die Klostereselin verschwunden war und auf das Pfeifen des Meiers sich nicht wieder einstellte, war es klar, dass das herrschaftliche, an gutem Futter nicht darbende Tier Gefallen an der schlichten geistlichen Blutsverwandtin gefunden, im Übermut seiner zärtlichen Neigung die Halfter zerrissen und sich der arglos Weidenden genähert habe. Diese, an dergleichen höfische Zudringlichkeiten nicht gewöhnt, mochte das Weite gesucht und von dem stürmischen Bewerber bedrängt in die hohen Fichtenwälder hinaufgeklettert sein, die das Klostergebiet im Winter gegen Lawinensturz schirmten.

Noch standen die Beiden ratlos, und Brunet wollte vergehen vor Grimm und Unmut, dass er seines Dienstes nicht besser geachtet habe, als die Klosterpforte sich öffnete und Beatrix, von der sämtlichen frommen Schar geleitet, auf die abendlich kühle Aue hinaustrat. Gesenkten Hauptes näherte sich ihr der Jüngling und berichtete, wie die Sache stand. Es könne ein Stündlein darüber vergehen, fügte der Meier hinzu, bis man der Flüchtlinge wieder habhaft geworden, da die Spuren im Kreise liefen und der Berg voller Schluchten sei. Beatrix lächelte, während sie die wunderliche Mär vernahm. Sie wollte aber nichts davon hören, wieder ins Refektorium zurückzukehren, um dort zu harren, bis der Entführer eingefangen sei. Die Luft ist lieblich, sagte sie, und ich denke, ich kann es wagen, den Heimweg zu Fuß anzutreten. Dieser mein Freund – und sie erhob den Stock von Ebenholz mit silberner Krücke, auf den sie sich im Gehen zu stützen pflegte, – ist zwar so steile Pfade nicht gewöhnt. Aber Brunet wird ihm zu Hilfe kommen und mir seinen Arm leihen, und wenn Meister Elias – so hieß der Klostervogt – so gut sein will, meinem leichtfertigen Zelter nachzuspüren, holt er uns vielleicht noch auf halbem Wege ein. Wer hätte dem frommen Tier, das längst aller Weltlust abgesagt zu haben schien, ein so unschickliches Betragen zugetraut?

Sie umarmte ihre geistliche Freundin, küsste sie auf beide Wangen und ließ es dann mit Widerstreben geschehen, dass die Nönnchen sämtlich der Reihe nach ihr die Hände küssten. Dann winkte sie dem Jüngling, ihm ein freundliches Wort zum Troste sagend, und verließ ohne Weiteres, die linke Hand auf seinen Arm gestützt, mit der Rechten den Stock regierend, ungleichen aber raschen Schrittes das Klostergebiet, von dem der Weg sich alsbald durch niederes Gestrüpp über unregelmäßig hingestreute Felsen ziemlich jäh in die Tiefe wand.

Sie war sichtlich in heiterster Laune; der starke Würzwein, der im Kloster bereitet wurde, und von dem sie gegen ihre mäßige Gewohnheit ein volles Kelchglas geleert, die Hilfe, die sie ihrer Freundin gebracht, der Glanz, von dem der pfirsichfarbene Abendhimmel erzitterte, dazu das ungewohnte Gefühl, sich einmal auf ihre eigenen Glieder zu verlassen, all das machte sie lustig und schier übermütig, dass ihr zu Mute ward, wie in ihren früheren Mädchentagen, ehe noch ihr leidiges Gebrechen sie von wilden Sprüngen zurückhielt. Sie scherzte mit Brunet, dass er wohl zu tief der Frau Klostervögtin in die Augen gesehen und darüber versäumt habe, von Zeit zu Zeit einen Blick auf das weidende Pärchen draußen zu werfen. Dazwischen wurde sie wieder ernsthaft, blieb aufseufzend stehen, und indem sie ihr Tüchlein hervorzog, sich die feuchte Stirn zu trocknen, klagte sie: Wenn du wüsstest, Uc, wie ich den Lemosi beneide! (so hieß der Maulesel, der aus Limoges stammte.) Er ist auch nicht der Jüngste mehr, aber da er kein Krüppel ist, kann er über Berg und Tal seiner törichten Laune nachrennen, so weit es ihm beliebt. Ich dagegen – nun, ich bin zwar weise und vor übermütigen Anwandlungen geschützt durch meine ernsten Studien; aber verdienstlich würde es erst sein, nicht mehr zum Tanze zu gehen, wenn ich leichtfüßiger wäre. Nun humple ich meinen schmalen Tugendweg auf und ab im Schweiße meines Angesichts, als ob ich mit am Sündenfalle schuld wäre. Hast du den Reiher noch im Sinn, Ugonet, der auf dem Hofe war, da du bei uns ankamst? Er hatte ein zerschossenes Bein und wurde aus Barmherzigkeit vom Torwart gefüttert, der ein großer Beizjäger war. Wie oft, wenn ich ihn so auf dem gesunden Beine stehen sah, den Stumpf des andern an den Leib gezogen, musste ich lachen: Du treibst es nicht viel anders, als ich, armer Bursch! Wer dich so sieht, möchte dich für einen ganz schmucken Vogel halten. Wir aber wissen, wie Krüppeln zu Mut ist.

Sprecht nicht so, Herrin! brach es von den Lippen des Jünglings. Bei San Joan, wen ich so von Euch reden hörte, ich würde ihn eilig stumm machen. Wenn Ihr nun selbst so schlimme Worte über Euch braucht, über Euch, die Ihr immer vor mir steht, wie ein Wesen aus einer anderen Welt –

Still, Herr Poet! lachte sie wieder und gab ihm mit der Linken einen kleinen Schlag auf den Arm. Ihr seid ein Träumer und Kindskopf und habt von der Welt nicht viel gesehen, und freilich, mit den Pergamentgesichtern droben im Kloster und den Mägden in Beziers kann es der lahme Engel immerhin noch aufnehmen. Wenn du mich aber gekannt hättest, wie ich aussah, als du eben zur Welt gekommen, – ha, ich will dir doch das Bildnis zeigen, das damals ein welscher Maler von mir gefertigt und das ich meinem Herrn Verlobten nach Aragon geschickt. Der kluge Prinz hat es mir hernach mit höflichem Dank wieder zustellen lassen. Er hatte sich eilig satt daran gesehen. Dir aber wird es zeigen, dass du ein Narr und Fantast bist, wenn du noch zwanzig Jahre später das Urbild, das inzwischen nicht so wohl aufgehoben und in Gold gefasst war, für ein Weltwunder hältst.