Titelbild links:

Friedrich Wilhelm Raiffeisen und seine Tochter Amalie, Andrzej Kolpanowicz, Krakau, Öl auf Leinwand, 50 x 60 cm, Privatbesitz

Titelbild rechts:

Links in zivil der letzte Verbandsdirektor der Raiffeisen-Organisation, Magnus Freiherr von Braun, als Reichslandwirtschaftsminister u. a. mit Major Pabst (Dritter von rechts), der die Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts veranlasst hatte; beide mit anderen Ehrengästen auf dem "Reichsfrontsoldatentag" des "Stahlhelm" 1932 in Berlin.

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ISBN: 978-3-7460-9018-4

Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkungen

Friedrich Wilhelm Raiffeisens zweihundertster Geburtstag ist Anlass dieser Arbeit – oder, um genauer zu sein: Anlass ist die mit Sicherheit zu erwartende Verklärung, der er ausgesetzt sein wird, und die höchstwahrscheinlich mit der realen Person Raiffeisen, mit seinem Werk, seinen Intentionen, seiner Hinterlassenschaft sehr wenig zu tun haben dürfte. So bin ich ziemlich sicher, dass sein Antisemitismus, sein christlicher Fundamentalismus, sein paternalistisches Gesellschaftsverständnis keine Erwähnungen finden dürften. Nun zeigte das landwirtschaftliche Genossenschaftswesen diese Symptome nach 1945 kaum in anderen Quantitäten als der Rest der deutschen Gesellschaft. Umso unverständlicher ist es, dass die Organisationen, die heute noch seinen Namen tragen, also vor allem der Deutsche Raiffeisenverband und die Deutsche Friedrich-Wil-helm-Raiffeisen-Gesellschaft, sich immer noch nicht bemühen, endlich einen umfassenderen, einen realistischen Raiffeisen zu präsentieren.

Um keine zu hohen Erwartungen aufkommen zu lassen: Ein vollständiger Raiffeisen wird auch von mir nicht dargestellt. Vielmehr wird sein vorherrschendes Bild gegen den Strich gebürstet. Ich hatte dazu schon einmal angesetzt, in einer 2014 unter dem Titel „Schein und Wirklichkeit" erschienenen kritischen Auseinandersetzung mit dem real existierenden deutschen Genossenschaftswesen. Damals bin ich auf seinen Antisemitismus gestoßen, für mich sehr überraschend, weil er – Raiffeisens Antisemitismus – stets verschwiegen wurde, von einer (einzigen – soweit ich sehe) kurzen und zugleich exkulpierenden Erwähnung abgesehen. In der Vorbereitung für diese Arbeit habe ich dann noch einige weitere Überraschungen erlebt, die vor allem die fragwürdige Originalität Raiffeisens und der Weg und das Ende seiner Organisation verursacht haben. Vermutlich ist das Erstaunen über manche Erkenntnisse, die ich aus den Quellen gewinnen musste, einigen meiner Formulierungen noch anzumerken.

Zum Stichwort Quellen: Raiffeisens Nachlass und das Archiv seiner Organisation sind, wie Heinrich Richter und später auch noch Walter Koch darlegen, teils im Zweiten Weltkrieg vernichtet, teils aufgrund der wirren Verhältnisse nach dem Krieg bisher unauffindbar geblieben. Die Familienkorrespondenz hat Raiffeisens Tochter Amalie vernichtet. Von Raiffeisens Veröffentlichungen hoffe ich alle (bis auf die 3. Auflage seines Buches und möglicherweise den einen oder anderen Sonderdruck von Vorträgen) durchgesehen zu haben. Besonders ergiebig war seine Zeitschrift, das „Landwirthschaftliche Genossenschafts-Blatt", seit 1879 erschienen, die offensichtlich zumindest in den letzten Jahrzehnten nirgends in den Veröffentlichungen über Raiffeisen berücksichtigt worden ist. Hier finden sich auch seine längeren antisemitischen Ausführungen. In der wohl materialreichsten wissenschaftlichen Arbeit über ihn, die Dissertation von Heinrich Richter von 1966, belegt der Autor, dass auch die namentlich nicht (auch mit Kürzel nicht) gezeichneten Beiträge in der Zeitschrift von Raiffeisen selbst stammen.

Ich habe versucht, die historischen Zusammenhänge, in den Raiffeisen selbst und später seine Organisation sich bewegt haben, wenigstens in Stichworten zu benennen. Dazu gehören auch knappe Hinweise auf die Entwicklungen in der Landwirtschaft und die Charakteristika der ländlichen Gesellschaft. Ferner habe ich wenigstens die wichtigen zeitgenössischen Darstellungen zu Raiffeisen selbst (vor allem die ersten, noch aus Quellen schöpfenden Biografien) als auch zum ländlichen Genossenschaftswesen herangezogen. Für die Zeit der Weimarer Republik waren für mich die gedruckten Quellen der Raiffeisenorganisation (Verbandszeitschrift, Geschäftsberichte, Sonderdrucke usw.) maßgeblich.

Ein Wort zu Helmut Faust, der in drei Auflagen (1958 – 1977) das einzige umfangreiche Werk zur Genossenschaftsgeschichte veröffentlicht hat. Es hat ohne Zweifel Mängel, zunächst den, dass bei Faust sich die Geschichte der Genossenschaften auf die Geschichte ihrer Verbände, vor allem aber auf die Wirkungsgeschichte tatsächlich oder vermeintlich großer Männer beschränkt. Für Faust gilt: „Männer machen Geschichte!" Frauen gab es in der Genossenschaftsgeschichte eh nicht, allenfalls in solch dienender Rolle, wie sie Raiffeisens Tochter Amalie wahrgenommen hat. Ökonomische Zusammenhänge und Entwicklungen finden bei Faust auch nicht statt; Zahlen liefert er nicht. Vor allem schlägt er große Bögen (da, wo es spannend wird) um die nationalsozialistische Zeit. Erfrischend sind dagegen sein Engagement und seine Fähigkeit, Positionen zu beziehen. Zahlreiche Fakten habe ich ihm jedenfalls entnommen. Faust bekennt sich auch hinreichend überzeugend zum demokratischen Charakter – oder sagen wir besser: zum demokratisch sein sollenden Charakter von Genossenschaften, so etwa, wenn er dem großen Organisator ländlicher Genossenschaften Wilhelm Haas bescheinigt, er habe den demokratischen Aufbau der Genossenschaften mit besonderem Nachdruck gefördert, immerhin ein Ansatz, der bei Raiffeisen völlig fehlt.

Es wäre jedenfalls begrüßenswert, wenn das Raiffeisen-Jahr 2018 dazu führen würde, Wilhelm Haas aus der Abstellkammer der genossenschaftlichen Geschichte wieder ans Tageslicht zu bringen.

Teil A: Der Anfang

1. Die äußere Welt um Raiffeisen

a) Die politische und gesellschaftliche Entwicklung seiner Zeit1

Zunächst sollen die politischen und gesellschaftlichen Zustände und Entwicklungen der Zeit Raiffeisens in wenigen Stichworten vergegenwärtigt werden. Drei Jahre vor seiner Geburt beendete der Wiener Kongress seine Tätigkeit (und seine berühmt-berüchtigten Festlichkeiten). Er hatte Europa nach den Revolutions- und napoleonischen Kriegen neu geordnet. Seitdem gehörte Raiffeisens engere Heimat zu Preußen. Der Kongress hatte ein Deutschland hinterlassen, das aus drei Dutzend einzelnen souveränen Staaten bestand, die in einem losen „Deutschen Bund" zusammengefasst waren. Er hatte keine politisch entscheidungsfähige Spitze, keine Finanzhoheit, verfügte über keine militärische Macht. Er war gelähmt durch den Dualismus der beiden ihm angehörenden europäischen Großmächte Österreich und Preußen. Nur wenige dieser deutschen Staaten kannten politische Freiheiten und auch die nur höchst eingeschränkt.

Im wachsenden Bürgertum wuchs nun aber das Begehren nach mehr Möglichkeiten politischer Teilhabe, vor allem aber nach einem einigen Deutschland. Aber alle diese Regungen, die sich immer wieder Bahn brachen – zum Beispiel 1832 im Hambacher Fest –, wurden polizeistaatlich unterdrückt. Bis dann im europäischen Revolutionsjahr 1848 zunächst das bürgerliche Verlangen nach politischen Reformen und deutscher Einheit auf der Siegerseite zu sein schien. Überall in Europa wackelten die Fürstenthrone. In diesem Jahr erwachte übrigens auch der politische Mensch in dem Juristen Hermann Schulze im preußischen Delitzsch. Ab nun kämpfte er als entschiedener Demokrat für das allgemeine Wahlrecht, für Pressefreiheit, gründete Arbeitervereine, Wirtschaftsgenossenschaften, beteiligte sich an den Gründungen von Gewerkschaften, der linksliberalen Fortschrittspartei, des deutschen Nationalvereins.

Aber die Revolution scheiterte. Der Deutsche Bund machte wie bisher weiter. Bis dann 1861 der zwar nicht junge, aber neue preußische König Wilhelm I. Otto von Bismarck zum Ministerpräsidenten berief. Er sollte einen massiven Verfassungskonflikt mit der liberalen Mehrheit im preußischen Landtag beenden. Es ging um eine Heeresreform, die die Reste der in der Landwehr institutionalisierten Volkserhebung von 1812 gegen Napoleon beseitigen sollte – zugunsten eines lückenlos adeliger Befehlsgewalt unterstellten königlichen Heeres. Bismarck löste den Konflikt aber nicht, sondern nutzte die erste sich bietende Chance, ihn nach außen abzulenken. Das geschah 1864 erst einmal durch einen Krieg des Deutschen Bundes unter preußisch-österreichischem Oberbefehl gegen Dänemark, um die Herzogtümer Schleswig und Holstein nicht dem dänischen König überlassen zu müssen. Der Krieg war erfolgreich. Sein Ergebnis wurde aber von Bismarck zu einem weiteren Krieg Preußens mit einigen verbündeten deutschen Staaten gegen Österreich samt dessen deutschen Verbündeten ausgenutzt. Preußen siegte abermals, nicht ohne einige deutsche Staaten zu annektieren. Bismarck nutzte diese Situation gleichzeitig dafür aus, mit der Mehrheit der Liberalen hinsichtlich des Verfassungskonfliktes Frieden zu schließen (Schulze gehörte ab nun zu der linksliberalen Minderheit, die nach wie vor in Opposition zu Bismarck stand). Preußen gründete jetzt mit den norddeutschen Staaten einen eigenen Bundesstaat, den Norddeutschen Bund. Vier Jahre später löste Bismarck den dritten Einigungskrieg aus, dieses Mal zusammen mit den süddeutschen Staaten gegen Frankreich. Nach dem Sieg wurde das Deutsche Reich gegründet. Österreich blieb aber ausgeschlossen.

Parallel zu dieser politischen Entwicklung war das der napoleonischen Zeit folgende 19. Jahrhundert von rapiden, sich immer stärker beschleunigenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen gekennzeichnet. Es wurde geprägt durch die fortdauernde Entwicklung neuer Techniken, neuer Methoden, neuer Stoffe. Die Industrialisierung begann und schlug ein immer schnelleres Tempo an. Die Produktion erhöhte sich, der Verkehr wurde ausgedehnter und temporeicher, die Bevölkerung wuchs. Die Lebenserwartung stieg, wenn auch äußerst langsam. Die Medizin macht Fortschritte. Vor allem der Eisenbahnbau seit den dreißiger Jahren zog ein rasantes Wachstum des Bergbaus, der Montanindustrie, des Maschinenbaus nach sich. Der ungeheure Kapitalbedarf führte zur Herausbildung eines wirkungsmächtigen Bankenwesens. Im späteren Teil des Jahrhunderts kam die Ausnutzung der Elektrizität mit all den Konsequenzen für die weitere Entwicklung der Industrie und der Gesellschaft hinzu. Als Raiffeisen 1888 starb gab es Automobile, Glühbirnen, Schallplatten, man konnte fotografieren und Telegramme durch ein Unterseekabel von Europa nach Amerika schicken. Auch Raiffeisens Welt, die Landwirtschaft, war dauernden Veränderungen unterworfen. Das macht schon ein einziges Beispiel deutlich: Zwei Jahre vor seinem Tod wurde der erste selbstfahrende Mähdrescher in Betrieb genommen.

Mit alledem waren gesellschaftliche und soziale Veränderungen verbunden. Grundsätzlich war das ganze Jahrhundert von einem tiefgehenden Fortschrittsglauben geprägt. Die starren Formen der Gesellschaft lockerten sich immer stärker. Neue gesellschaftliche Klassen bildeten sich entlang der industriellen Entwicklung. Andere verloren an Bedeutung. In den Worten Golo Manns: Aus einem Volk von Bauern wurde ein Volk von Arbeitern und Angestellten. Die sozialen Gegensätze verschärften sich indes und die daraus resultierenden Konflikte vermehrten sich. Dafür wiederum ist ein Beispiel der Weberaufstand von 1844. In der zweiten Hälfte schufen sich die Arbeiter ihre eigenen Organisationen – auch wenn die ersten Gründer, wie Lassalle, keine Arbeiter waren. Aber Bebel war es dann. Die von ihm geführte sozialdemokratische Partei wuchs. Die herrschenden Kreise wurden nervös. Bismarck benutzte deshalb 1878 zwei Attentate auf den Kaiser (mit denen die Sozialdemokratie nun gar nichts zu tun hatte), um ihre Partei unter Ausnahmegesetzgebung zu stellen. Ihre Arbeit sollte so behindert werden, dass ihr Einfluss auf die Arbeiter dezimiert werden würde.

Wenige Jahre später ergänzte Bismarck diesen offenen Kampf durch den Beginn seiner Sozialgesetzgebung, also die Einführung von Kranken-, Renten-, Invaliditätsversicherungen. Zuckerbrot und Peitsche war das Prinzip. Denn Bismarck hoffte durch diese staatlich bewirkte Minderung von Lebensrisiken die Arbeiter der Sozialdemokratie abspenstig zu machen. Er nannte das praktisches Christentum. (Bismarck 1889:156 u. 164f.).

b) Landwirtschaft und ländliche Gesellschaft

Die Landwirtschaft und die ländliche Gesellschaft waren in dieser Zeit von sehr eigenen Entwicklungen und Zuständen geprägt. Sie sollen jetzt kurz angeschaut werden. Raiffeisen agierte ja schließlich nicht im luftleeren Raum. Die folgenden Aussagen dazu folgen im Wesentlichen Hans-Ulrich Wehler „Deutschen Gesellschaftsgeschichte" und Thomas Nipperdey „Deutsche Geschichte". Volker Ullrichs Studie zu „Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs" mit dem Titel „Die nervöse Großmacht" habe ich daneben herangezogen.

Nach den napoleonischen Kriegen durchlief die Landwirtschaft in Deutschland – allerdings in unterschiedlichen regionalen Ausprägungen – bis Ende der zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts eine Zeit der Krise. Danach war eine lange Periode der positiven Konjunktur bis in die Mitte der siebziger Jahre zu verzeichnen. Daneben gab es immer wieder, ebenfalls regional unterschiedlich, Hungerkrisen aufgrund von Missernten, so auch 1845/47. In dieser Zeit (1850 bis 1875) stieg denn auch der Bodenwert der deutschen Landwirtschaft – in den Reichsgrenzen von 1871 – um rund fünfundachtzig Prozent an. Beim gesamten Kapitalstock (Boden plus Gebäude, Vieh, Geräte, Maschinen, Vorräte) waren es sogar rund neunzig Prozent. Der Unterschied beider Zahlen hat mit der anhaltenden Modernisierung zu tun. Zu den Ursachen des „agrarwirtschaftlichen Wachstums" gehörten der Nachfragesog auf dem Binnenmarkt – veranlasst durch das immense Bevölkerungswachstum – ebenso wie der starke Rückgang der Selbstversorgung aufgrund von Industrialisierung und Verstädterung. Die Landwirtschaft produzierte also verstärkt für den Markt. Die zunehmende Verkehrserschließung hat dann nach 1850 mit zur Verbesserung der Lage beigetragen. (Vgl. Nipperdey 1991a: 146f., 157 und 172 und Wehler 1995: 41ff. u. 48). Dazu hat auch Raiffeisen seinen Beitrag geleistet, wie wir später noch sehen werden.

Zur Modernisierung gehörte auch der Einzug kapitalistischer Wirtschaftsgesinnung mit der zunehmenden Bedeutung von Rentabilität, Gewinn, Rechenhaftigkeit, exakterer Buchhaltung. Landwirt zu sein, „[...]das war nicht mehr – wie Bauer und Gutsherr – eine Gegebenheit und ein Erbe, sondern eine wählbare Profession". Modernisierung, das hieß natürlich auch verbesserte Düngung, der Beginn gezielter Tier- und Pflanzenzüchtung, neue Maschinen und Geräte, Vermehrung des Viehbestandes, Akademisierung der Ausbildung usw. In den Worten Nipperdeys: „Die Landwirtschaft emanzipierte sich ein Stück von der Natur [...]." Risiken, wie Feuer, Hagel, Viehseuchen, bis dahin als Gottes Geißel angesehen, wurden durch die Einführung von Versicherungen kalkulierbarer. (Vgl. Nipperdey 1991a: 147ff., 158 und Wehler 1995: 52ff.).

Das alles kostete Geld. Bis zu den Anfängen der genossenschaftlichen Kreditorganisation gab es auf dem Land kaum eine institutionelle Form der Darlehnsgewährung. Das Beispiel der genossenschaftlichen Kreditgewährungen rief dann auch Sparkassen und Banken auf den Plan. Aber vorher lag die Vergabe vor allem der Personalkredite in den Händen privater Geldverleiher, oft kombiniert mit dem Viehhandel (zuweilen auch bei den Kirchengemeinden). Der damit manchmal verbundene Vorwurf des Wuchers wird uns noch intensiver beschäftigen. Etwa seit der Reichsgründung 1871 verfügte die Landwirtschaft über eine ausreichende Kreditversorgung. (Vgl. Nipperdeyl991a: 151 u. Wolters 2008: 21ff.). Wehler stellt für diese Zeit fest: „Das ritualisierte Klagen über die ländliche Kreditnot kann über die zufließenden Kapitalströme nicht hinwegtäuschen." (Wehler 1995:48).

Bei alledem gab es erhebliche Unterschiede, was die Beteiligung der landwirtschaftlichen Betriebe und Bevölkerung an diesen Entwicklungen und Prozessen betrifft. Sie – die Unterschiede – hingen ab von Agrarstruktur, Erbrecht, Betriebsgröße, Bodenqualität. Da gab es zum Beispiel die überwiegend großen und mittleren Bauernhöfe der Anerbengebiete im Nordwesten oder die Kleinbauern im Gebiet der Realteilung im Südwesten. Extrem waren die Unterschiede zwischen den großen Bauern auf gutem Boden und den armen Geest-, Heide-, Wald- und Gebirgsbauern in der gleichen Region. In den Gebieten der Realteilung, wo also nicht ein einziger Erbe den gesamten Hof übernahm, breitete sich im Vormärz immer stärker die kleinbäuerliche Armut aus. Das galt vor allem für Hessen, Teile Thüringens und der Rheinprovinz, für die Pfalz, für Baden und Württemberg. (Vgl. Nipperdey 1991a: 171).

Mit alledem waren einerseits spezifische bäuerliche Mentalitäten verbunden. Nipperdey formuliert diesen Tatbestand so: „Leben war arbeiten, den Boden bebauen, um sich selbst und seine Familie durchzubringen. Der Bauer war spezifisch auf die Natur angewiesen, sie gab das Notwendige (was Arbeit und Fleiß nicht garantieren konnten) und war doch auch feindlich, fremd, unheimlich, unverfügbar – das Hinnehmen schicksalhafter wie geregelter Natur ist ein Grundbestand; der Acker, das Tier (und die Geräte), das sind die nahen Dingweiten, deren Notwendigkeiten ihn bestimmen. Der Bauer empfindet, denkt und handelt darum gebundener und beständiger als der (beweglichere) Städter." (Nipperdey 1991a: 173f.).

Andererseits aber gab es auf dem Land erhebliche soziale Unterschiede. Denn „innerhalb der dörflichen Welt gab es ein hierarchisch abgestuftes System der gesellschaftlichen Ungleichheit. Die zentrale Steuerungs-Kategorie im Leben der Dorfbewohner war die Größe des Hofbesitzes." Entscheidend war, in welche Familie man hineingeboren war. „Das bestimmte Erbchancen und Heiratskreis, bestimmte mehr als alle individuelle Fähigkeit, mehr als in jedem städtischen Lebenskreis soziale Position und soziales Schicksal [...]." (Nipperdey 1991a: 174; vgl. Nipperdey 1991b: 220; Ullrich 2007: 305; vgl. auch Wehler 1995:180f.).

Kurze Zeit nach der Reichsgründung, 1875/76, erfasste eine vom Weltagrarmarkt ausgelöste Krise auch die deutsche Landwirtschaft, zu der Wehler bemerkt, diese Krise sei ein „säkulares Ereignis" gewesen, „das eine bis zur Gegenwart anhaltende, noch immer ungelöste Dauerkrise eröffnete" (Wehler 1995: 56). Die Einbeziehung der Landwirtschaft in den Weltmarkt hatte zugenommen. Billige Importe, vor allem an Vieh, Fleisch und Getreide (letzteres vor allem aus den Vereinigten Staaten und Russland), drückten auf die inländischen Preise. (Vgl. Nipperdey 1991b: 202ff. und Wehler 1995: 56f.).

Die Rationalisierung und Modernisierung in der Landwirtschaft setzte sich rapide fort. Moderne Maschinen, wie Dreschmaschinen, Mähmaschinen, Drillmaschinen, wurden immer verbreiteter eingesetzt. Es gab Fortschritte in den Konservierungsmethoden, in der Absatzorganisation, in der Veredelung landwirtschaftlicher Produkte (z. B. die Milchverwertung in den Molkereien). Die seit den Anbaumethoden früherer Zeiten immer noch vorhandenen Brachen wurden ebenso wie die zahlreichen Ödflächen kultiviert. (Vgl. Ullrich 2007: 133f. u- Nipperdey 1991b: 192ff.). Die innerdörfliche soziale Schichtung verstärkte sich eher noch. „Gewöhnlich bildeten die Großbauern einen Herrschaftsclan, der auch informell dominierte [...]." Ihr lokales politisches Machtmonopol nutzten sie zielbewusst zugunsten ihrer Familie und ihresgleichen aus. „Sie entschieden über wichtige politische Fragen und beeinflussten durch die Wahl des Dorfschulzen oder –vorstehers den Ablauf der Verwaltung im Alltag." Landwirtschaftliche Vereine unterstützten die Landwirtschaft. „Sie verbreiteten Fachwissen, gaben ihre Jahrbücher und Zeitschriften heraus, führten Probepflüge vor, experimentierten mit neuen Kulturen und der Viehzucht, kauften Saatgut, Dünge- und Futtermittel." Aber: „Nach Lage der Dinge förderten die Vereine vor allem die Großbetriebe und mittelbäuerlichen Höfe." Denen „griffen auch die landwirtschaftlichen Genossenschaften und Kreditinstitute in erster Linie unter die Arme, wenn es um die Modernisierung der Betriebe ging." Das hatte Folgen, denn „dadurch wurde ihr Vorsprung in der Entwicklung der bäuerlichen Gesellschaft befestigt." (Wehler 1995: 54, 180ff., 826ff.).

Willy Krebs, Leiter der literarischen und der volkswirtschaftlich-statistischen Abteilung der Raiffeisen-Organisation vor 1930, der uns noch einige Male begegnen wird, hatte zum hundertsten Geburtstag Raiffeisens eine kleine Schrift unter der Bezeichnung „Festgabe" veröffentlicht. Darin schreibt er über die Region, den Westerwald, in der Raiffeisen tätig war und im Besonderen über die Bevölkerung dort: „Der Bauernstand, heruntergekommen erst durch Ausbeutung räuberischer Ritterschaft, dann den Schlendrian kleinstaatlichen Unwesens, durch unausgesetzte Gebietsteilung, Vererbung, Eroberung, Kauf und Verpfändung, verarmt und verschuldet, begann gerade seit Beginn des 19. Jahrhunderts sich langsam zu erholen unter den geordneten Zuständen der nassauischen und preußischen Regierung. Aber das ging langsam, sehr langsam. Die Folgen jahrhundertelanger Mißwirtschaft ließen sich nicht mit einem Mal beseitigen. Dumm und stumpfsinnig waren die Bauern geworden; sie nahmen die traurigen Zustände als von der Natur und von Gott gegeben hin." (Krebs 1918: 60). Das war der Ausgangspunkt Raiffeisens.

c) Die genossenschaftliche Welt vor Raiffeisen

Nun gab es schon vor den Zeiten Raiffeisens eine bemerkenswerte Entwicklung genossenschaftlicher Überlegungen und Experimente. Entgegen einer weit verbreiteten – und von den deutschen Genossenschaftsverbänden gepflegten – Legende sind Genossenschaften sehr alt. Jedenfalls sind Raiffeisen und Schulze-Delitzsch beileibe nicht als erste auf die Idee gekommen, Genossenschaften zu kreieren. Sie sind mit ihren Schöpfungen in eine vorhandene genossenschaftliche Welt eingetaucht. Mit dem Ursprung der genossenschaftlichen Praxis und der genossenschaftlichen Idee hatte ich mich schon in knapper Form vor einiger Zeit beschäftigt (vgl. Kaltenborn 2016: passim). Jetzt seien nur frühe Beispiele aus dem deutschen ländlichen Bereich, also dem Feld, auf dem Raiffeisen sich tummelte, genannt.

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts sollte Carl Gottlieb Svarez (manchmal wird er auch Suarez genannt) für die noch junge preußische (vorher österreichische) Provinz Schlesien ein landwirtschaftliches Kreditsystem schaffen. Die aufgrund der zurückliegenden Kriege überschuldeten Güter sollten dadurch die Chance erhalten, sich zu sanieren. Sein Modell, das dann auch in anderen östlichen Provinzen Preußens eingeführt wurde, sah genossenschaftlich organisierte Pfandbriefanstalten vor, deren Mitglieder die Grundbesitzer waren. Die Genossenschaft sollte hypothekarisch gesicherte Kredite an ihre Mitglieder vergeben, die maximal die Hälfte des Wertes der jeweiligen Güter ausmachten. Zur Refinanzierung wurden die Hypotheken als Pfandbriefe von der Genossenschaft für einen garantierten Zinssatz in den Handel gebracht. Die Genossenschaften – in einigen von ihnen war die Mitgliedschaft obligatorisch – trugen die Bezeichnung „Landschaft". Kein geringerer als Max Weber hat sie später untersucht (vgl. Weber 1998: 333ff.; vgl. auch Wolf 1963: 434f.).

Aus Bayern sind wenigstens zwei Beispiele vergleichbarer Konzepte bekannt. Das eine von ihnen, das schon 1823 entwickelt wurde, sah die Gründung einer Vereinsbank vor, die für ihre großbäuerlichen Mitglieder, ebenfalls gegen Sicherheiten, den Kapitalmarkt „aufschließen" sollte (Aretin 1823: passim). Einige Jahre später konzipierte ein bayerischer Tierarzt namens Ryß die Idee einer „Vieh-Assekuranz-Kredit-Anstalt" (Ryß 1831: passim). Er dachte dabei – wie später Raiffeisen – an die ärmeren Bauern, die noch nicht einmal ihre wenigen Stück Vieh wirklich kaufen konnten, sondern durch eine Art Mietkauf von dem Viehhändler allzu leicht ausgebeutet werden konnten. Um das zu verhindern, sollte die zu bildende Anstalt (eine je Dorf) das Vieh ihrer Mitglieder versichern und dessen Zustand regelmäßig kontrollieren. Dadurch sei der Wert des Viehs bekannt und es könnte also als Sicherheit für den von der Anstalt dem Bauern geliehenen Kaufpreis dienen. Da der Verein ein sicheres Geschäft betreiben würde, könnte er in seiner Funktion als Kreditanstalt ausreichend Einlagen sammeln. Der Autor verweist ausdrücklich darauf, dass mit diesem Modell auch den Viehhändlern geholfen werde. Denn sie würden, das Vieh „gerne" um zehn oder sogar dreißig Prozent günstiger abgeben, als „auf unsichern Borg, wobei sie dennoch Gefahr laufen, bei Einem mehr zu verlieren, als sie an Zwey bis Sechs gewinnen, denn Prozeßkosten, entgangene Zinsen und dergleichen kosten viel Geld." (Ryß 1831: 6).