Evangelische Perspektiven
Schriftenreihe der Evangelischen Kirche in Bochum
in Zusammenarbeit mit der Evangelischen Stadtakademie Bochum
In der Schriftenreihe sind bisher elf Hefte erschienen.
In 2017:
Heft 9: Beiträge „mystischer“ Traditionen in den Weltreligionen
zu einer ganzheitsorientierten Spiritualität der Gegenwart
Festschrift im Rahmen des 60-jährigen Bestehens der
Evangelischen Stadtakademie Bochum 2013
Hrsg. von Arno Lohmann
1. Auflage Februar 2017/2. Auflage Juni 2017
ISBN 9783743134416
Heft 10: Bochumer Fenster zur Vergangenheit:
Die Reformation in Bochum und der Grafschaft Mark
Hrsg. von Arno Lohmann, Peter Luthe und Stefan Pätzold
1. Auflage Juli 2017
ISBN 9783744875318
In 2018:
Heft 11: Michael Rosenkranz
„Ihr sollt Mir sein ein Königreich von Priestern“
Jüdische Perspektiven zur Verständigung zwischen Juden und Christen
Hrsg. von Arno Lohmann
Heft 12:
Günter Brakelmann
Luther und die Juden
Luther, der Protestantismus und der Holocaust
Vorträge zum 500. Reformationsgedenken 2017
Herausgegeben von Arno Lohmann
ISBN 9783752812466
Evangelische Kirche in Bochum
Westring 26a, D-44787 Bochum
Telefon 0234 - 962 904-0
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Das vorliegende Heft ist zu beziehen bei:
Evangelische Stadtakademie Bochum
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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.
1. Auflage April 2018
© beim Herausgeber
Redaktion: Dr. Rudolf Tschirbs
Gestaltung: Q3 design, Dortmund
ISBN 9783752863215
Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH
In de Tarpen 42
D-22848 Norderstedt
Telefon (+49) 0 40 - 53 43 35-0
Telefax (+49) 0 40 - 53 43 35- 84
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Die beiden vorliegenden Beiträge sind sind im Rahmen der Luthervorträge im Reformationsjahr 2017 in der Evangelischen Stadtakademie Bochum gehalten worden. Sie stießen auf ein so großes Interesse, dass sie in der Reihe „Evangelische Perspektiven“ veröffentlicht werden. Der Autor konnte dabei zurückgreifen auf ältere Veröffentlichungen, die aber inhaltlich entscheidend erweitert wurden. (s. Literaturverzeichnis)
Der zweite Vortrag greift in die auch aktuell wieder geführte Diskussion um die Mitverantwortung Luthers für den nationalsozialistischen Holocaust ein. Günter Brakelmann kommt es zentral darauf an, dass man klar den christlichen Antisemitismus unterscheidet von dem Rassenantisemitismus, der die ideologische Grundlage für die physische Vernichtung der Juden war.
„Es ist nicht zu bestreiten, dass große Teile des Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert durch ihren politischen und kulturellen Antisemitismus, häufig gepaart mit dem religiösen Antijudaismus, die NS-Verfolgung der Juden argumentativ und psychologisch mit vorbereitet haben. Aber nirgends – bei keinem Theologen oder einer kirchlichen Gruppe – findet sich im Kaiserreich oder in der Weimarer Republik ein Rassenantisemitismus, der die ideologische Begründung für die physische Vernichtung der Juden abgibt.“ Eine heute wieder zu hörende Ahnenreihe von Luther über Hitler zum Holocaust kann ohne weiteres nicht konstruiert werden.
In dieser klaren Unterscheidung wird aber auch deutlich, dass der Protestantismus eine Mitverantwortung für die nationalsozialistische Judenpolitik hat. Das Verschränkungsverhältnis von Protestantismus und Drittem Reich wird klar herausgearbeitet. Die evangelische Kirche in ihrer Gesamtheit hat nie ein deutliches Wort weder gegen den fortschreitenden Entzug der Rechte noch gegen die folgenden NS-Verbrechen gesagt. Nur einzelne Pfarrer und evangelische Laien haben das Schweigen ihrer Kirche durchbrochen.
Für diese kritische Unterscheidung, die sowohl für unser Lutherbild Bedeutung hat wie auch die für die bleibende Mitverantwortung der Kirche bis zum notwendigen Widerstand gegen jede Form des erneut offen zu Tage tretenden Antisemitismus, dankt die Evangelische Stadtakademie Bochum ihrem Referenten Günter Brakelmann.
Allen, die an einer vertieften Weiterarbeit interessiert sind, hat Günter Brakelmann ein chronologisch geordnetes Literaturverzeichnis über die entscheidende Phase des deutschen Antisemitismus von 1869 bis 1914 zusammengestellt und dabei in sorgfältiger Recherche die wichtigsten Bücher, Broschüren und Vorträge aus diesen Jahren zusammengetragen. Über das in diesem Band abgedruckte Verzeichnis hinaus, ist dieses ausführliche Literaturverzeichnis auf der Homepage der Evangelischen Stadtakademie zu finden unter www.stadtakademie.de/publikationen/ev-perspektiven.html.
Arno Lohmann
Leiter Evangelische Stadtakademie Bochum
Geboten ist zunächst ein historisches Verständnis der Aussagen Luthers zum Thema. Eine erste Frage muss sein: Wie war die Situation der Juden am Vorabend der Reformation? Und wie war der historische Zusammenhang, in dem Luther seine Äußerungen zur Judenfrage getan hat?
Im Mittelalter haben wir von der Zeit der drei Kreuzzüge (1096 – 1192) an die Tötung aller Juden in Jerusalem und Haifa, haben wir die Ausrottung von vielen Gemeinden in Deutschland, haben wir die Judenmassaker in West- und Nordfrankreich, schließlich die Ausweisung der Juden aus ganz Frankreich, die Liquidierung zahlreicher Judengemeinden in England und schließlich ihre Vertreibung aus ganz England (ab 1290). Für Deutschland sei nur erinnert: an die Judenmassaker in Würzburg, Fulda, Nördlingen, Rothenburg, Bamberg und Nürnberg, initiiert durch den Fleischermeister Rindfleisch aus Franken, ferner an ihre Vertreibung aus Oberbayern, im Elsass, in Österreich und in der Steiermark. Und später in der Pestzeit von 1348 – 1350 ist etwa auf Grund der Brunnenvergiftungsvorwürfe ein Drittel der jüdischen Bevölkerung umgekommen, getötet oder durch Selbstverbrennungen.
Allein 1391 bei Massakern in Spanien sind rund 50.000 Juden ermordet worden. Und die Inquisition 1492 in Spanien stellte die Alternative: Konversion, Auswanderung oder Tod. Ab 1492 war Spanien „judenfrei“. Die spanische Austreibungspolitik machte in Europa Schule. In Portugal gab es in dieser Zeit ebenso Inquisitionen und Massaker.
In Deutschland gab es 1519 eine besonders harte Verfolgung der Juden in Regensburg. Und 1530 auf dem Reichstag zu Augsburg gab es für den Rest der Juden die Verfügung, dass die jüdischen Männer einen gelben Ring am Mantel oder eine Kappe zu tragen hatten.
Diese kleine Auswahl an Daten und Fakten zeigt die ununterbrochene Verfolgungs- und Leidensgeschichte der Juden im europäischen Mittelalter. Zu beachten ist für Deutschland:
Wie sah das christliche Bild vom Judentum am Vorabend der Reformation aus, das zu diesen permanenten Verfolgungen die religiöse und politische Rechtfertigung gab?
(nach Detmers, 37 ff.)
Das ist wieder nur ein kleiner Einblick in die antiken und mittelalterlichen Stereotypen der Judenfeindschaft, die ein langes Leben hatten und noch haben sollten.
In Deutschland vor der Reformation verschärften sich die antijüdischen Einstellungen, die getragen wurden mehr durch die Bevölkerungen als durch die Fürsten, die sich eine begrenzte rechtliche Absicherung der Juden gut bezahlen ließen. Ihr Überleben verdankten sie weithin der fürstlichen Interessenpolitik.
Am Beginn des 16. Jahrhunderts ist eine Zunahme der Polemik gegen die Juden von allen Seiten zu konstatieren, auch bei den Humanisten. (So ist Erasmus ein eingefleischter Judenhasser, der 1519 das „judenfreie“ Frankreich preist.)
In der vorreformatorischen und reformatorischen Zeit war Johannes Eck (1486 – 1543), der päpstliche Theologe, als ein vulgärer Antijudaist sehr bekannt. Er vertrat die These vom Ritualmord junger Christenkinder, um ihr Blut bei den eigenen jüdischen Riten zu verwenden.
Der Jude Johannes Pfefferkorn (1469 – 1522/23) schrieb nach seiner Taufe 1505 in Köln eine Reihe von antijüdischen Traktaten. Er war Schützling der Kölner Dominikaner. Er schlug vor, alle hebräischen Bücher außer dem AT zu beschlagnahmen und zu verbrennen, die Juden aus den Städten zu vertreiben und regelmäßig Predigten gegen die Juden zu halten. (Alles nachzulesen in seinem „Judenspiegel“ von 1507, dem weitere Schriften folgten: Der Juden Beicht 1508 und 1509 der Judenfeind, s. Oberman, Wurzeln des Antisemitismus, 87 ff.)
Dagegen stand Johannes Reuchlin (1455 – 1522), der die entscheidenden Werke für die Verbreitung der hebräischen Sprache schrieb. Seine wichtigste Schrift: „Der Augenspiegel“, ein Gutachten für den Kaiser. In ihm wendet er sich gegen eine unterschiedslose Vernichtung des Talmuds. Er schrieb gegen die Kölner Dominikaner, die einen „Handspiegel gegen die Juden und ihre Schriften“ herausgegeben hatten. Es gab einen jahrelangen öffentlichen Kampf für und wider Reuchlin.
(Eine Anmerkung: Immer zu berücksichtigen bleibt, dass der Streit der Christen gegen die Juden weder ein nationaler noch ein rassischer, sondern im Kern ein religiöser gewesen ist. Bekehrte sich ein Jude, war der Kampf von Seiten der Christen zu Ende. Allerdings erwartete man von ihm auch eine Änderung seiner Lebensweise und die gesellschaftliche Eingliederung in das corpus christianum.)
1514 bittet Georg Spalatin (Hofkaplan und Sekretär bei Luthers Landesherrn Friedrich dem Weisen) den Wittenberger Professor Luther um ein Gutachten zum „Augenspiegel“ von Reuchlin und zum Streit zwischen Reuchlin und den Kölnern. (Abdruck bei Bienert, 28 ff.)
Luther tritt in seinem Gutachten für die Freiheit von Forschung und Lehre, auch bei Irrtum und Lästerung ein. Sein Fazit: „In seinem (Reuchlins) ganzen geschriebenen Ratschlag ist mir absolut nichts begegnet, was gefährlich wäre.“
Von dieser Zeit an befasst sich Luther immer mehr in seinen Predigten, Vorlesungen und Schriften in der Zeit von 1513 –1521 mit dem Problemfeld Juden – Christen. In seinen Vorlesungen über die Psalmen, über den Römerbrief, den Galaterbrief und den Hebräerbrief finden sich kürzere oder längere exegetische Passagen über dieses Thema, ebenso in seiner Auslegung des Magnificats, des Lobgesangs der Maria.
Daten und Schriften
Brief des Jonas an Andreas Rem (Walch 1823)
Schreiben an Bernhard, einen bekehrten Juden (Walch 1823 ff.)
Anhang: Eine Vermahnung wider die Juden (ebd. 426 f.)
Sehen wir uns einige Aussagen Luthers in seiner Frühzeit als Wittenberger Professor an. In seiner Römerbriefvorlesung von 1515 – 1516 geht es ihm im Blick auf die Juden um eine zentral theologische Auseinandersetzung mit den Juden, nicht um ihre traditionelle Beschimpfung. Er will die Unterscheidungen zwischen christlicher und jüdischer Theologie herausarbeiten. Es sind folgende Aussagen, die sein damaliges Verständnis wiedergeben. Seine zentrale Aussage: Gerechtigkeit gibt es nur durch Christus. Er argumentiert:
„Es könnten und möchten wohl die Juden sagen: Wir hören das Gesetz und kennen es, und wir sind das auserwählte Volk aufgrund des Gesetzesbundes vom Berge Sinai. Die (Heiden) Völker aber könnten und möchten wohl sagen: Wir haben das Gesetz nicht kennen gelernt, darum entschuldigt uns unsere Unkenntnis. Er aber (Paulus) antwortet einem jeden: Nein! Es bedeutet nämlich „Gerechtsein bei Gott“ dasselbe wie „gerecht gemacht werden bei Gott“. Denn nicht, weil einer gerecht ist, wird er von Gott anerkannt, sondern weil einer von Gott anerkannt wird, darum ist er gerecht…. Niemand aber wird als gerecht anerkannt, der nicht das Gesetz durch das Tun erfüllt. Niemand aber erfüllt es, der nicht an Christus glaubt. Und so behauptet der Apostel den Schluss, dass niemand ohne Christus gerecht ist, niemand (ohne ihn) das Gesetz erfüllt.“ (Bienert, 32 f.)
Also: Judentum ist für Luther eine Gesetzesreligion im Unterschied zur christlichen Gnadenverkündigung. Gerechtigkeit also kommt aus Glauben, nicht aus Gesetzeserfüllung oder aus der Beschneidung. Auch Abraham wurde vor der Beschneidung aus Glauben vor Gott gerechtfertigt, nicht durch seine Werke. Die Juden müssen zum Glauben Abrahams zurückgerufen werden. Aber – so Luther hier und später –: Nicht ganz Israel lässt sich zurückrufen, doch ein Teil wird schon vor der Endzeit gläubig und so gerettet werden. (ebd. 33 f.) Ganz wichtig: Israels Erwähltsein als Volk Gottes bleibt trotz seiner Verstockung bestehen (ebd. 34). Da nun die christliche Liebe für das Gute wirkt, gilt das auch für die Juden (ebd. 34, zu Röm 9– 11). Deshalb spricht sich Luther gegen die Verleumdungen der Juden aus: „Mit Gewalt und Verfluchungen wollen sie Juden bekehren. Gott aber möge ihnen widerstehen.“ (ebd. 34 f.)
Christen und Juden sollen einander in Güte annehmen, „wie Christus sie angenommen hat. Denn er hat nicht nur die Juden, damit sie sich nicht überheben, sondern ebenso die Völker aus reiner Barmherzigkeit angenommen. Daher haben beide Grund zum Lobe Gottes, nicht aber zum Streit miteinander.“ (ebd. 35)
Jetzt schon sollen Christen das jüdische Volk „wegen der Erwählten in Ehren halten“. So nämlich ist das jüdische Volk eine „heilige Menge“ wegen der Erwählten (Das sind die, die schon jetzt zum Glauben kommen, ebd. 35 f.). Und: Nach ihrem Leiden werden die Juden als letztes der Völker zum wahren Glauben umkehren (ebd. 36), ganz Israel wird am Ende der Zeit durch Gottes Gnade gerettet werden (ebd. 36 f.). Das Leiden der Juden dient der Welt und auch den Juden zum Heil (ebd. 37).
Was zu sehen ist: Luther ist in der Zeit der beginnenden Reformation kein Judenfeind, aber ein an sein Schriftverständnis gebundener Kritiker des Judentums: Wie er die scholastische Schriftauslegung hinter sich gelassen hat, so lehnt er auch die rabbinische Schriftauslegung ab. Am Gottesverständnis scheiden sich für Luther die Geister: Nur durch Christus erkennen wir das Wesen Gottes: Das ist der Kern seiner Vorlesung über den Galaterbrief. (Bienert, 42 f.)
Die Konsequenz: Nicht Judenverfolgung, sondern Judeneinladung aus christlicher Liebe ist geboten: „Wer, so frage ich, würde zu unserer Religion übertreten, und sei er noch so gutmütigen und geduldigen Gemüts, wenn er sich von uns so grausam und feindselig und nicht nur unchristlich, sondern vielmehr noch so todbringend behandelt sähe. Wenn Hass auf Juden, Ketzer und Türken die Christen ausmacht, dann sind wir Rasenden wahrhaft die Christlichsten unter allen … Das Evangelium dagegen wirkt daraufhin, uns die Liebe Gottes und Christi in dieser Angelegenheit gänzlich und aufs höchste nahe zu legen …“ (ebd. 43 f.)
Nach Luther ist es also verständlich, wenn die Juden angesichts des Verhaltens der Christen gegenüber den Juden sich nicht zum christlichen Glauben bekehren.
Wie aber reagieren die Juden auf die christliche Missionsstrategie?
Das Problem für Luther ist die „Halsstarrigkeit“ der Juden: „Doch auch dies ist bedauernswert, dass die Synagoge immer mit von der Kirche abgewandtem Gesicht verharrt, das heißt mit dauerndem Hass. Anerkennen kann und will sie diese nicht, den Hass legt sie nicht ab und erreicht dennoch nichts gegen sie, ist vielmehr ständig auf der Flucht und zum Zurückweichen gezwungen. Das haben wir bis heute vor Augen, wie es an den Juden geschieht, so dass ihr Zustand nicht besser mit wenigen Worten ausgedrückt werden kann, als dass sie mit dem Rücken Zugewandte dahingegeben sind, so sehr dem Hass und dem Erdulden von Übeln ausgeliefert.“ (ebd. 46)