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Hans Fallada

Der Alpdruck

Roman

Hans Fallada

Der Alpdruck

Roman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
EV: Aufbau-Verlag, Berlin, 1947 (235 S.)
1. Auflage, ISBN 978-3-962813-53-6

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Inhaltsverzeichnis

Vor­wort des Au­tors

Ers­ter Teil. Der Sturz

Ers­tes Ka­pi­tel. – Die eine Täu­schung

Zwei­tes Ka­pi­tel. – Die an­de­re Täu­schung

Drit­tes Ka­pi­tel. – Das ver­las­se­ne Haus

Vier­tes Ka­pi­tel. – Die Her­ren Na­zis

Fünf­tes Ka­pi­tel. – Die An­kunft in Ber­lin

Sechs­tes Ka­pi­tel. – Die neue Last

Sie­ben­tes Ka­pi­tel. – Tren­nung der Dolls

Zwei­ter Teil. – Die Ge­sun­dung

Ach­tes Ka­pi­tel. – Die selbst­stän­di­ge Ent­las­sung

Neun­tes Ka­pi­tel. – Ro­bin­son

Zehn­tes Ka­pi­tel. – Ro­bin­son geht in die Welt

Elf­tes Ka­pi­tel. – An­fang mit Streit

Zwölf­tes Ka­pi­tel. – Die Ge­ne­sung

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Vorwort des Autors

Der Ver­fas­ser die­ses Ro­mans ist kei­nes­wegs zu­frie­den mit dem, was er auf den fol­gen­den Sei­ten schrieb, was der Le­ser jetzt ge­druckt vor sich hat. Als er den Plan zu die­sem Buch fass­te, schweb­te ihm vor, dass ne­ben den Nie­der­la­gen des täg­li­chen Le­bens, den De­pres­sio­nen, den Er­kran­kun­gen, der Mut­lo­sig­keit – dass ne­ben al­len die­sen Er­schei­nun­gen, die das Ende des schreck­li­chen Krie­ges un­ver­meid­lich je­dem Deut­schen ge­bracht hat, auch Auf­schwün­ge zu schil­dern sein wür­den. Ta­ten ho­hen Mu­tes, Stun­den voll Hoff­nung – es war ihm nicht be­schie­den. Das Buch ist im we­sent­li­chen ein Krank­heits­be­richt ge­blie­ben, die Ge­schich­te je­ner Apa­thie, die den grö­ße­ren und vor al­lem den an­stän­di­ge­ren Teil des deut­schen Vol­kes im April des Jah­res 1945 be­fiel, von der sich vie­le heu­te noch nicht frei ge­macht ha­ben.

Dass er dies nicht än­dern konn­te, dass er nicht mehr Leich­tig­keit und Hei­ter­keit in die­sen Ro­man brin­gen konn­te, liegt nicht al­lein an des Ver­fas­sers Art, die Din­ge zu se­hen, es liegt vor al­lem an der Ge­samt­la­ge des deut­schen Vol­kes, die heu­te, fünf­vier­tel Jahr nach Been­di­gung der Kampf­hand­lun­gen, noch im­mer düs­ter ist.

Wenn der Ro­man der Öf­fent­lich­keit trotz die­ses Man­gels über­ge­ben wird, so dar­um, weil er viel­leicht ein »do­cu­ment hu­main« ist, ein mög­lichst wahr­heits­ge­treu­er Be­richt des­sen, was deut­sche Men­schen vom April 1945 bis in den Som­mer hin­ein fühl­ten, lit­ten, ta­ten. Vi­el­leicht wird man schon in na­her Zeit die Läh­mung nicht mehr be­grei­fen, die so ver­häng­nis­voll dies ers­te Jahr nach Kriegs­en­de be­ein­fluss­te. Eine Krank­heits­ge­schich­te also, kein Kunst­werk – ver­zeiht! (Auch der Ver­fas­ser konn­te nicht aus sei­ner Haut, auch der Ver­fas­ser war »ge­lähmt«.)

So­eben ist von »wahr­heits­ge­treu­em Be­richt« ge­spro­chen wor­den. Aber nichts von dem, was auf den fol­gen­den Sei­ten er­zählt wird, ist so ge­sche­hen, wie es hier be­rich­tet ist. Ein Buch wie die­ses kann schon aus räum­li­chen Grün­den nicht al­les sa­gen, was ge­sch­ah; es muss­te stän­dig eine Aus­wahl ge­trof­fen, es muss­te er­fun­den wer­den, Be­rich­te­tes konn­te in der be­rich­te­ten Form nicht ver­wen­det, son­dern muss­te ab­ge­wan­delt wer­den. Dass das Gan­ze dar­um doch »wahr« sein kann, wird da­von nicht be­rührt: Al­les hier Er­zähl­te konn­te so ge­sche­hen und ist doch ein Ro­man, also ein Ge­bil­de der Fan­ta­sie.

Das glei­che ist von den ein­ge­führ­ten Per­so­nen zu sa­gen: So, wie sie hier ge­schil­dert sind, lebt kei­ne au­ßer­halb des Bu­ches. Wie die Ge­scheh­nis­se den Ge­set­zen des Er­zäh­lens fol­gen muss­ten, so auch die Per­so­nen. Man­che sind er­fun­den, an­de­re sind aus meh­re­ren zu­sam­men­ge­setzt.

Es war nicht er­freu­lich, die­sen Ro­man zu schrei­ben, aber das Buch schi­en dem Ver­fas­ser wich­tig. Im­mer, zwi­schen Auf­schwün­gen und Nie­der­la­gen, blieb ihm wich­tig, was in­ner­lich und äu­ßer­lich nach Been­di­gung des Krie­ges er­lebt wur­de. Wie fast alle den Glau­ben ver­lo­ren und end­lich doch ein we­nig Mut und Hoff­nung wie­der­fan­den – da­von ist auf die­sen Sei­ten zu le­sen.

Ber­lin, Au­gust 1946

H. F.

Erster Teil. Der Sturz

Erstes Kapitel. – Die eine Täuschung

Im­mer in die­sen Näch­ten um den großen Zu­sam­men­bruch her­um wur­de Dr. Doll, wenn er wirk­lich ein­mal ein­sch­lief, von dem glei­chen Angst­traum heim­ge­sucht. Sie schlie­fen sehr we­nig in die­sen ers­ten Näch­ten, stets angst­voll ir­gend­ei­ne Be­dro­hung des Lei­bes oder der See­le er­war­tend. Längst war die Nacht ge­kom­men – nach ei­nem Tage vol­ler Qual –, und noch im­mer sa­ßen sie an den Fens­tern und späh­ten auf die klei­ne Wie­se, nach den Bü­schen, zu dem schma­len Ze­ment­fuß­weg hin­aus, ob ein Feind käme, bis ih­ren schmer­zen­den Au­gen al­les in­ein­an­der­floss und sie nichts mehr sa­hen.

Oft frag­te dann ei­nes: »Wol­len wir nicht doch lie­ber schla­fen ge­hen?«

Aber meist ant­wor­te­te nie­mand, son­dern wei­ter sa­ßen sie, starr­ten und fürch­te­ten sich. Bis Dr. Doll dann plötz­lich vom Schlaf wie von ei­nem Räu­ber über­fal­len wur­de, des­sen große Hand sich er­sti­ckend über sein gan­zes Ge­sicht leg­te. Oder es war auch wie dich­tes Spin­nen­ge­we­be, das mit der Atem­luft in sei­ne Keh­le drang und sein Be­wusst­sein über­wäl­tig­te. Ein Alp­druck …

So ein­ge­schla­fen zu sein, war schon schlimm ge­nug, aber sol­chem schlim­men Ein­schla­fen folg­te so­fort der Angst­traum, im­mer der glei­che. Und zwar träum­te Doll dies:

Er lag am Grun­de ei­nes un­ge­heu­ren Bom­ben­t­rich­ters, auf dem Rücken, die Arme fest an die Sei­ten ge­presst, im nas­sen, gel­ben Lehm. Ohne den Kopf zu be­we­gen, konn­te er die in den Trich­ter hin­ab­ge­stürz­ten Baum­stäm­me se­hen, auch die Fassa­den von Häu­sern mit den lee­ren Fenster­höh­len, hin­ter de­nen nichts mehr war. Manch­mal quäl­te Doll die Be­fürch­tung, die­se Din­ge könn­ten tiefer in den Bom­ben­t­rich­ter und da­mit auf ihn stür­zen, aber nie än­der­te eine die­ser be­droh­li­chen Rui­nen ihre Lage.

Noch quäl­te ihn der Ge­dan­ke, dass tau­send Was­sera­dern und Quel­len, Doll über­schwem­mend, sei­nen Mund ganz mit dem gel­ben Lehm­brei fül­len wür­den. Dem war nicht zu ent­ge­hen, denn Doll wuss­te, er wür­de aus ei­ge­ner Kraft nie aus die­sem Trichter­grun­de auf­ste­hen kön­nen. Aber auch die­se Be­fürch­tung war grund­los, denn nie hör­te er einen Laut von den Quel­len und dem Rie­seln der Was­sera­dern, wie es über­haupt to­ten­still war in dem rie­si­gen Bom­ben­t­rich­ter.

Dann war auch der drit­te quä­len­de Ein­druck eine Täu­schung: Un­ge­heu­re Ra­ben- und Krä­hen­schwär­me zo­gen un­un­ter­bro­chen über den Him­mel des Bom­ben­t­rich­ters da­hin; er fürch­te­te sich sehr, sie könn­ten ihr Op­fer im Lehm er­spä­hen. Aber nein, al­les blieb wei­ter to­ten­still, es gab die­se un­ge­heu­ren Vo­gel­schwär­me nur in Dolls Ein­bil­dung, er hät­te we­nigs­tens ihr Kräch­zen hö­ren müs­sen.

Aber zwei an­de­re Din­ge wa­ren kei­ne Ein­bil­dung, von ih­nen wuss­te er ganz ge­nau. Das eine die­ser Din­ge war dies, dass end­lich Frie­de ge­wor­den war. Kei­ne Bom­be zer­riss mehr krei­schend die Luft, kein Schuss fiel mehr; es war Frie­de, es war still ge­wor­den. Eine letz­te un­ge­heu­re Ex­plo­si­on hat­te ihn noch in den Grund­lehm die­ses Trich­ters hin­ab­ge­ris­sen. Nicht al­lein lag er in die­sem Ab­grund. Ob­wohl er nie einen Laut hör­te und nichts wie das Be­schrie­be­ne sah, wuss­te er doch: Mit ihm lag sei­ne gan­ze Fa­mi­lie hier und das gan­ze deut­sche Volk und über­haupt alle Völ­ker Eu­ro­pas, alle eben­so hilf- und wehr­los wie er, alle von den glei­chen Ängs­ten wie er ge­quält.

Aber im­mer, in all den end­lo­sen qual­vol­len Traum­stun­den, da der am Tage tä­ti­ge und ener­gi­sche Dr. Doll aus­ge­löscht und nur Angst in ihm war – aber im­mer in die­sen mör­de­ri­schen Schlaf­mi­nu­ten sah er noch ein an­de­res. Und das, was er sah, war dies:

Am Ran­de des Trich­ters sa­ßen schwei­gend und still und ohne eine Be­we­gung die Gro­ßen Drei. Noch im Trau­me nann­te er sie nur mit die­sem Na­men, den der Krieg un­aus­lösch­lich in sein Hirn ge­brannt hat­te. Dazu fan­den sich dann die Na­men Churchill, Roo­se­velt und Sta­lin, ob­wohl ihn der Ge­dan­ke manch­mal quäl­te, dass es da vor kur­z­em noch eine Ver­än­de­rung ge­ge­ben habe.

Die­se Gro­ßen Drei sa­ßen dicht bei- oder doch nicht weit aus­ein­an­der; sie sa­ßen, wie sie eben aus ih­rer Welt­ge­gend ge­kom­men wa­ren, und starr­ten voll stum­mer Trau­er in den un­ge­heu­ren Trich­ter hin­ab, auf des­sen Grund Doll mit sei­ner Fa­mi­lie und das deut­sche Volk und alle Völ­ker Eu­ro­pas wehr­los und be­schmutzt la­gen. Und wäh­rend sie so stumm und vol­ler Trau­er sa­ßen und starr­ten, wuss­te Doll mit al­ler Be­stimmt­heit in sei­nes Her­zens tiefs­tem Grun­de, dass die Gro­ßen Drei un­un­ter­bro­chen dar­über nach­grü­bel­ten, wie ihm, dem Doll, und mit ihm al­len an­de­ren wie­der auf­zu­hel­fen und wie aus ei­ner ge­schän­de­ten wie­der eine glück­li­che Welt auf­zu­bau­en sei. Ja, dar­über grü­bel­ten sie un­un­ter­bro­chen, die Gro­ßen Drei, wäh­rend end­lo­se Krä­hen­schwär­me über das be­frie­de­te Land heim­zo­gen, von den Schlacht­fel­dern der Welt zu ih­ren al­ten Hors­ten, und wäh­rend stil­le Quel­len un­hör­bar rie­sel­ten, de­ren Was­ser den gel­ben Lehm­brei sei­nem Mun­de im­mer ge­fähr­li­cher na­he­brach­ten.

Er aber, Doll, konn­te gar nichts tun, mit den eng an sei­nen Leib ge­press­ten Ar­men muss­te er stil­le lie­gen und war­ten, bis die trau­rig grü­beln­den Gro­ßen Drei zu ei­nem Ent­schlus­se ge­kom­men wa­ren. Dies war viel­leicht das Al­ler­quälends­te in die­sem Angst­traum für Doll, dass er, noch im­mer von vie­len Ge­fah­ren be­droht, nichts tun konn­te, son­dern stil­le war­ten muss­te, eine end­lo­se, end­lo­se Zeit! Die lee­ren Häu­ser­fassa­den konn­ten noch über ihn ein­bre­chen, die lei­chen­hung­ri­gen Krä­hen­schwär­me den Wehr­lo­sen ent­de­cken, der gel­be Lehm sei­nen Mund fül­len: Er konn­te gar nichts tun, nur war­ten, und viel­leicht wur­de es über die­sem War­ten für ihn und die Sei­nen, die er sehr lieb­te, zu spät … Vi­el­leicht gin­gen sie doch noch alle zu­grun­de!

Es dau­er­te eine sehr lan­ge Zeit, bis die letz­ten Res­te die­ses quä­len­den Angst­traums Doll ver­lie­ßen; völ­lig frei wur­de er erst von ih­nen, als eine Wen­dung sei­nes Le­bens ihn zwang, das Grü­beln auf­zu­ge­ben und wie­der ein tä­ti­ger Mensch zu sein. Aber noch viel län­ger dau­er­te es, bis Doll klar er­kann­te, dass die­ser gan­ze, aus sei­nem In­nern ge­spens­tisch auf­ge­tauch­te Angst­traum ihn nur narr­te und täusch­te. So qual­voll die­ser Traum auch war, Doll hat­te an sei­ne Wahr­heit ge­glaubt.

Sehr lan­ge dau­er­te es, bis er be­griff, dass da nie­mand in der Welt war, be­reit, ihm aus dem Dreck auf­zu­hel­fen, in den er ge­stürzt war. Kein Mensch, nicht die Gro­ßen Drei, von sei­nen Lands­leu­ten ganz zu schwei­gen, in­ter­es­sier­te sich für Dr. Doll. Wenn er im Lehm­brei ver­kam, umso schlim­mer für ihn, aber nur für ihn! Kein Herz auf der Welt wur­de schwe­rer dar­um. Wenn er ernst­lich den Wunsch hat­te, noch ein­mal et­was zu ar­bei­ten und dar­zu­stel­len, so war es sei­ne Sa­che al­lein, die­se Apa­thie zu über­win­den, auf­zu­ste­hen, den Dreck von sich ab­zu­klop­fen und ans Werk zu ge­hen.

Aber von die­ser Er­kennt­nis war Doll in je­ner Zeit noch sehr weit ent­fernt. Nach­dem nun end­lich Frie­de ge­wor­den war, mein­te er noch lan­ge, die gan­ze Welt war­te nur dar­auf, ihm auf die Bei­ne zu hel­fen.

Zweites Kapitel. – Die andere Täuschung

Am Mor­gen die­ses 26. April 1945 war Doll end­lich ein­mal wie­der in gu­ter Stim­mung er­wacht. Nach Wo­chen und Mo­na­ten ta­ten­lo­sen War­tens auf das Kriegs­en­de schi­en der Au­gen­blick der Be­frei­ung nahe. Die Stadt Prenz­lau war ge­nom­men, der Rus­se konn­te jede Stun­de kom­men; am Vor­ta­ge hat­ten schon Flie­ger über der Stadt ge­kreist, und es wa­ren kei­ne deut­schen Flie­ger ge­we­sen!

Die bes­te Kun­de aber hat­te Doll am spä­ten Abend ge­hört: Die SS1 war im Abrücken, der Volks­sturm auf­ge­löst, die klei­ne Stadt wür­de nicht ge­gen die an­zie­hen­den Rus­sen ver­tei­digt wer­den! Da­mit war eine Ber­ges­last von sei­ner See­le ge­nom­men: Seit Wo­chen hat­te er nicht mehr sein Haus zu ver­las­sen ge­wagt, um nur nie­man­den auf sei­ne Per­son auf­merk­sam zu ma­chen. Denn er war fest ent­schlos­sen ge­we­sen, nicht im Volks­sturm zu kämp­fen.

Nun, nach die­sen güns­ti­gen Nach­rich­ten, konn­te er sich wie­der vor die Tür wa­gen, ohne Sor­ge um das Ge­re­de der lie­ben Nach­barn, von de­nen ihm min­des­tens drei über Zaun und He­cke schau­en konn­ten. Er trat also mit sei­ner jun­gen Frau in den herr­li­chen Früh­lings­tag hin­aus. Die Son­ne schi­en warm, und ihre Wär­me tat – na­ment­lich hier un­ten am Was­ser – nur gut. Das Grün hat­te noch die tau­send leich­ten fro­hen Schat­tie­run­gen des ers­ten Wachs­tums, und der Bo­den schi­en un­ter den Fü­ßen vor drän­gen­der Frucht­bar­keit zu schwel­len und zu schwan­ken.

Als Doll so mit sei­ner Frau be­hag­lich vor dem Hau­se stand, fiel sein Blick auf zwei lan­ge Stau­den­bee­te, die rechts und links von dem schma­len, ze­men­tier­ten Wege, der zu sei­ner Tür führ­te, la­gen. Auch auf die­sen Stau­den­bee­ten grün­te es, ja, es blüh­te dort so­gar schon ein we­nig mit den ers­ten Trau­ben­hya­zin­then, Pri­meln und Ane­mo­nen. Aber die­ser an sich er­freu­li­che An­blick war ver­dor­ben durch ein Ge­wirr von Dräh­ten, die, teils ab­ge­ris­sen, teils an häss­li­chen Pflö­cken fest­sit­zend, das jun­ge Wachs­tum durch Un­ord­nung be­lei­dig­ten und mit ih­ren hin­ter­lis­tig hän­gen­den Drah­ten­den so­gar das Be­tre­ten des Ze­ment­fuß­we­ges ge­fähr­lich mach­ten.

Kaum war sein Blick auf die­se Un­ord­nung ge­fal­len, als Doll schon aus­rief: »Da habe ich ja mei­ne Ar­beit für heu­te! Die­ser elen­de Draht­ver­hau hat mich schon lan­ge ge­är­gert!« Er hol­te Zan­ge und Ha­cke und mach­te sich eif­rig an die vor­ge­setz­te Ar­beit.

Wäh­rend er so in der Son­ne be­schäf­tigt war, hat­te er end­lich ein­mal wie­der Ein­blick in die An­we­sen sei­ner nächs­ten Nach­barn. Bald merk­te er dort eine un­ge­wohn­te Ge­schäf­tig­keit. Da war, nahe wie fern, ein stän­di­ges Hin- und Her­ge­lau­fe, ein Schlep­pen von Kof­fern und Mö­beln in die Schup­pen aus den Häu­sern und um­ge­kehrt, ein an­schei­nend ziel­lo­ses Um­her­wan­dern mit Spa­ten, die da und dort wie aufs Ge­ra­te­wohl in den Bo­den ge­sto­ßen wur­den.

Schon lief ein Nach­bar ei­lig auf den Boots­steg hin­aus und blieb auf ihm ste­hen, die Hän­de in den Ta­schen, als habe er plötz­lich viel Zeit. Dann plumps­te et­was ins Was­ser, und nach­dem der Nach­bar sich so un­auf­fäl­lig-auf­fäl­lig wie nur mög­lich um­ge­se­hen, ob er auch be­ob­ach­tet ge­we­sen – Doll hack­te mun­ter fort –, ging er breit­bei­nig, wie in tie­fen Ge­dan­ken, zu sei­nem Haus zu­rück, wo er als­bald eine neue fie­ber­haf­te Tä­tig­keit ent­fal­te­te.

Dann plötz­lich kam das al­les wie­der zum Still­stand. Grup­pen sam­mel­ten sich an den tren­nen­den Zäu­nen und flüs­ter­ten eif­rig mit­ein­an­der. Schon wech­sel­ten große Pa­ke­te über den Draht fort den Be­sit­zer, und al­les lief aus­ein­an­der, wie­der­um sich eif­rig um­schau­end, wie­der­um mit an­de­ren Heim­lich­kei­ten be­schäf­tigt.

Doll, der erst seit ei­ni­gen Mo­na­ten auf die­sem, sei­ner zwei­ten Frau ge­hö­ri­gen Grund­stück wohn­te, blieb von all die­ser Ge­schäf­tig­keit als »Frem­der« aus­ge­schlos­sen, und er freu­te sich des­sen. Denn alle die­se so of­fen­kun­di­gen Heim­lich­kei­ten wur­den fast nur von Frau­en und sehr al­ten Män­nern be­trie­ben und wur­den als »Wei­ber­kram« von ihm ent­spre­chend ver­ach­tet.

Frei­lich, lan­ge konn­te er sich nicht sei­ner Ve­rein­ze­lung freu­en, denn es er­schie­nen zwei Da­men auf sei­nem Grund­stück, vor­geb­li­che Freun­din­nen sei­ner Frau. Die­se Frau­en, die er nie hat­te aus­ste­hen kön­nen, blie­ben bei ihm ste­hen und ta­ten sehr über­rascht, dass er an sol­chem Tage zu sol­cher Ar­beit Zeit habe. Der Rus­se stün­de doch vor der Tür!

Mit ein we­nig spöt­ti­schem Lä­cheln er­klär­te Dr. Doll, zu dem sich nun auch sei­ne Frau ge­sellt hat­te, er ma­che eben ge­ra­de für die­se so lan­ge er­war­te­ten Be­su­cher die Wege frei. Über­rascht er­kun­dig­ten sich die Da­men, ob er denn den Feind hier an Ort und Stel­le zu er­war­ten ge­den­ke, das sei bei zwei Kin­dern, ei­ner al­ten Groß­mut­ter und ei­ner jun­gen Frau doch wohl kaum rat­sam. Sie hier im Aus­bau des Städt­chens we­nigs­tens hät­ten alle mit­ein­an­der be­schlos­sen, bei Ein­bruch der Däm­me­rung mit den Käh­nen das an­de­re Ufer des Sees zu er­rei­chen und, im tie­fen Wal­de ver­bor­gen, die wei­te­re Ent­wick­lung der Din­ge dort ab­zu­war­ten.

Für Doll ant­wor­te­te die Frau den Freun­din­nen: »Wir wer­den nichts Der­ar­ti­ges tun. Nicht einen Schritt ge­hen wir von hier, nichts ver­ste­cken wir; auf der Schwel­le un­se­res Hau­ses wer­den mein Mann und ich die so lan­ge er­war­te­ten Be­frei­er be­grü­ßen!«

Eif­rig spra­chen die Da­men da­ge­gen, aber je eif­ri­ger sie spra­chen, umso wan­ken­der wur­den sie in ih­rem ei­ge­nen Ent­schluss, umso zwei­fel­haf­ter er­schi­en ih­nen die eben noch ge­prie­se­ne Si­cher­heit der tie­fen Wäl­der, und als sie schließ­lich gin­gen, mein­te Doll lä­chelnd zu sei­ner Frau: »Du wirst se­hen, sie wer­den gar nichts ma­chen. Sie wer­den noch ein paar Stun­den, wie die Hüh­ner vor ei­nem Ge­wit­ter, ziel­los her­um­klu­cken, hier et­was ab­le­gen und dort et­was auf­neh­men. Aber schließ­lich wer­den sie sich er­schöpft ir­gend­wo hin­set­zen und tun, was wir alle seit Wo­chen tun: nur auf den Er­lö­ser war­ten.«

Was ihre Freun­din­nen an­ging, so war Frau Alma völ­lig ei­ner An­sicht mit ih­rem Man­ne, was sie selbst an­ging, so fühl­te sie sich we­der er­schöpft noch war­te­ge­dul­dig. Nach dem Es­sen er­öff­ne­te sie Doll, der sich nach der un­ge­wohn­ten Mor­ge­n­ar­beit ein we­nig auf die Couch le­gen woll­te, sie ra­de­le jetzt schnell noch ein­mal in die Stadt, um ih­ren Vor­rat an Gal­len­me­di­zin zu er­gän­zen, in den nächs­ten Ta­gen wer­de kaum Ge­le­gen­heit da­für sein.

Doll hat­te leich­te Be­den­ken, da die Rus­sen je­den Au­gen­blick kom­men konn­ten und am bes­ten ge­mein­sam im ei­ge­nen Heim er­war­tet wur­den. Er wuss­te aber aus man­cher Er­fah­rung, dass es voll­kom­men aus­sichts­los war, die jun­ge Frau mit dem Hin­weis auf etwa dro­hen­de Ge­fah­ren von ei­nem Vor­ha­ben ab­zu­brin­gen. Dut­zen­de­mal hat­te sie ihm im ärgs­ten Bom­ben­ha­gel, die Feu­ers­brüns­te Ber­lins be­kämp­fend, bei Tief­flie­ger­an­grif­fen be­wie­sen, dass sie völ­lig furcht­los war. Er sag­te also mit ei­nem leich­ten Seuf­zer: »Mei­net­hal­ben! Mach’s gut, mei­ne Süße!«, sah sie durchs Fens­ter ab­ra­deln, leg­te sich lä­chelnd auf die Couch und schlief ein.

Frau Alma Doll stram­pel­te un­ter­des eif­rig berg­auf und bergab dem Städt­chen ent­ge­gen. Ihr Weg führ­te sie zu­erst über ab­ge­le­ge­ne Pfa­de, an de­nen kaum ein Haus lag, dann durch eine Al­lee, de­ren Sei­ten mit Vil­len be­stan­den wa­ren. Schon hier fiel ihr auf, dass kein ein­zi­ger Mensch auf den Stra­ßen zu se­hen war und dass die Vil­len – viel­leicht durch die aus­nahms­los ge­schlos­se­nen Fens­ter – einen un­be­wohn­ten, fast ge­spens­ti­schen Ein­druck mach­ten. ›Wo­mög­lich alle schon im Wal­de‹, dach­te Frau Doll und fühl­te ihre Un­ter­neh­mungs­lust noch stei­gen.

Dort, wo die Al­lee in die ers­te wirk­li­che Stadt­stra­ße ein­mün­de­te, stieß sie end­lich auf ein Le­bens­zei­chen; es war ein großer Wehr­machts­last­wa­gen. Ein paar SS-Män­ner wa­ren ei­ni­gen jun­gen Frau­en und Mäd­chen beim Auf­stei­gen be­hilf­lich. »Kom­men Sie rasch, jun­ge Frau!« rief ei­ner der SS-Män­ner Frau Doll fast be­feh­lend an. »Dies ist das letz­te Wehr­machts­au­to, das die Stadt ver­lässt!«

Wie ihr Mann war Frau Doll sehr zu­frie­den ge­we­sen, dass die Stadt nicht ver­tei­digt, son­dern kampf­los über­ge­ben wer­den soll­te. Das hin­der­te sie aber nicht, jetzt zu ant­wor­ten: »Das sieht euch Scheiß­ker­len ähn­lich, jetzt, wo der Rus­se kommt, aus­zu­rei­ßen! Seit ihr hier seid, habt ihr ge­tan, als wä­ret ihr die Her­ren der Stadt, al­les habt ihr uns weg­ge­fres­sen und weg­ge­trun­ken, aber nun, wo’s ernst wird, reißt ihr aus wie Schafle­der!«

Noch am Vor­ta­ge hät­te sie nicht ohne die schlimms­ten Fol­gen für sich und ihre An­ge­hö­ri­gen so zu ei­nem SS-Mann spre­chen dür­fen. Die Lage muss­te sich in den letz­ten vier­und­zwan­zig Stun­den wirk­lich grund­le­gend ge­wan­delt ha­ben, denn der SS-Mann ant­wor­te­te ganz fried­lich: »Ma­chen Sie, dass Sie auf den Wa­gen kom­men, und re­den Sie kei­nen Kohl! Die rus­si­sche Pan­zer­spit­ze ist schon oben in der Stadt!«

»Umso bes­ser!« rief Frau Doll. »Da kann ich de­nen gleich Gu­ten Tag sa­gen!«

Trat auf die Pe­da­le und fuhr fort von dem wohl letz­ten Wehr­machts­au­to, das sie in ih­rem Le­ben se­hen soll­te, tiefer in die Stadt hin­ein.

Wie­der ver­stärk­te sich der Ein­druck, dass sie da durch eine ver­las­se­ne Stadt fuhr – viel­leicht wa­ren jene paar Frau­en bei dem Wehr­machts­au­to wirk­lich die letz­ten Ein­woh­ner der Stadt ge­we­sen und alle an­de­ren ge­flo­hen. Kein Mensch, ja nicht ein­mal ein Hund oder eine Kat­ze wa­ren auf der Stra­ße zu se­hen. Alle Fens­ter wa­ren ge­schlos­sen, alle Tü­ren sa­hen ver­ram­melt aus. Und doch, wäh­rend sie da, sich im­mer mehr dem Stadt­kern nä­hernd, durch die Stra­ßen fuhr, hat­te sie das Ge­fühl, als hal­te die­ses viel­hun­dert­köp­fi­ge We­sen nur den Atem an, als kön­ne es jetzt gleich hin­ter ihr, ne­ben ihr in einen schreck­li­chen Schrei ge­quäl­ter War­teangst aus­bre­chen! Als wohn­ten eben doch hin­ter all die­sen blin­den Fens­tern Men­schen, fast irr vor Angst um das, was nun kam, vor Hoff­nung, dass der grau­en­haf­te Krieg nun wirk­lich zu Ende ging.

Die­ses Ge­fühl wur­de noch ver­stärkt durch ein paar wei­ße Lap­pen, die da und dort, kaum hand­tuch­groß, über den Tü­ren hin­gen. In der ge­spens­ter­haf­ten At­mo­sphä­re, in der sich Frau Doll seit ih­rem Ein­tritt in die Stadt be­fand, dau­er­te es einen Au­gen­blick, bis sie ver­stand, dass die­se wei­ßen Tü­cher be­din­gungs­lo­se Er­ge­bung be­deu­ten soll­ten. Seit zwölf Jah­ren sah sie zum ers­ten Male an­de­re Fah­nen als die mit dem Ha­ken­kreuz an den Häu­sern hän­gen. Un­will­kür­lich be­schleu­nig­te sie ihre Fahrt.

Sie bog um eine Stra­ßen­e­cke, und so­fort war das Ge­fühl die­ser un­be­stimm­ten Ge­s­pens­terangst von ihr ab­ge­fal­len; un­will­kür­lich muss­te sie lä­cheln. Auf der holp­ri­gen Klein­stadt­stra­ße be­weg­ten sich, an­schei­nend re­gel­los in alle Rich­tun­gen fah­rend, acht oder zehn Pan­zer. An den Uni­for­men, an den Kopf­be­de­ckun­gen der Män­ner, die in den ge­öff­ne­ten De­cken­lu­ken stan­den, er­kann­te Frau Doll so­fort, dass dies kei­ne deut­schen Pan­zer wa­ren, nein, es war die rus­si­sche Pan­zer­spit­ze, vor der sie eben ge­warnt wor­den war!

Aber dies schi­en nichts zu sein, vor dem man ge­warnt wer­den muss­te. Wie da die­se Pan­zer in der schö­nen Früh­lings­son­ne hin- und her­fuh­ren, jetzt mü­he­los die Kan­te ei­nes Bür­ger­stei­ges neh­mend, nun wie­der, hart an den Lin­den­bäu­men vor­bei­strei­fend, auf die Fahr­bahn zu­rück­keh­rend, hat­ten sie nichts Be­droh­li­ches. Im Ge­gen­teil: es schi­en ein leich­tes, fast fröh­li­ches Spiel. Nicht einen Au­gen­blick über­kam sie eine Ah­nung von Ge­fahr. Sie fuhr mit ih­rem Rad zwi­schen die Pan­zer und sprang dann, an ih­rem Ziel, der Apo­the­ke, an­ge­kom­men, ab. In der be­frei­ten Stim­mung, in der sie plötz­lich war, hat­te sie nicht dar­auf ge­ach­tet, dass auch die Häu­ser die­ser Stra­ße ängst­lich ver­ram­melt und ver­schlos­sen wa­ren und dass sie die ein­zi­ge Deut­sche un­ter all den Rus­sen war, von de­nen üb­ri­gens auch ei­ni­ge mit Ma­schi­nen­pis­to­len auf der Stra­ße stan­den.

Nur zö­gernd lös­te Frau Doll ih­ren Blick von die­sem un­ge­wohn­ten Stra­ßen­bild und wand­te sich der Apo­the­ke zu, de­ren Ein­gang wie der al­ler Häu­ser fest ver­ram­melt und ver­schlos­sen war. Da Klop­fen und Ru­fen nichts hal­fen, zö­ger­te sie nur einen Au­gen­blick und ging dann rasch auf einen Rus­sen mit Pis­to­le los, der ganz in der Nähe stand. »Hör mal, Wan­ja«, sag­te sie zu dem Rus­sen, lä­chel­te ihm da­bei zu und zog ihn am Är­mel in der Rich­tung auf die Apo­the­ke, »mach mir doch den La­den da mal auf!«

Der Rus­se be­geg­ne­te dem lä­cheln­den Blick ih­rer Au­gen mit ei­nem gleich­gül­ti­gen Zu­rück­schau­en, einen Mo­ment hat­te sie das ein we­nig be­un­ru­hi­gen­de Ge­fühl, als wer­de sie an­ge­se­hen wie eine Haus­wand oder ein Tier. Aber die­ses Ge­fühl ver­ging so rasch, wie es ent­stan­den war, als sich der Mann wil­lig ge­nug von ihr zur Apo­the­ke zie­hen ließ und dort, rasch ihre Ab­sicht ver­ste­hend, mit dem Kol­ben sei­ner Ma­schi­nen­pis­to­le ein paar­mal don­nernd ge­gen die Tür­fül­lung schlug. Schon er­schi­en der Lö­wen­kopf des Apo­the­kers, ei­nes Man­nes in den Sieb­zi­gern, an ei­nem Glas­fens­ter­chen oben in der Tür, ängst­lich nach der Ur­sa­che die­ses Lär­mens spä­hend. Das sonst stets von ei­nem freund­li­chen Wein­rot ge­färb­te Ge­sicht sah jetzt fahl­grau aus.

Frau Doll nick­te dem al­ten Man­ne auf­mun­ternd zu und sag­te zu dem Rus­sen: »Es ist gut, dan­ke auch schön. Du kannst jetzt wie­der ge­hen.«

Der Sol­dat trat, ohne eine Mie­ne zu ver­zie­hen, ohne sich auch nur nach ihr um­zu­se­hen, auf die Stra­ße zu­rück. Jetzt dreh­te sich der Schlüs­sel im Schloss, und Frau Doll konn­te in die Apo­the­ke, in der sich au­ßer dem Sieb­zig­jäh­ri­gen noch sei­ne we­sent­lich jün­ge­re Frau und de­ren nach­ge­bo­re­nes Kind von zwei oder drei Jah­ren be­fan­den. So­fort nach Frau Dolls Ein­tritt war die Apo­the­ken­tür wie­der ver­schlos­sen wor­den.

So leb­haft jede ein­zel­ne Erin­ne­rung an die­sen ers­ten Be­set­zungs­tag noch viel spä­ter in ihr leb­te, so un­be­stimmt war Frau Dolls Erin­ne­rung an das, was in der Apo­the­ke ge­spro­chen wor­den war. Ja, ihr Me­di­ka­ment be­kam sie mit der ge­wohn­ten Prä­zi­si­on aus­ge­hän­digt, sie wuss­te auch noch, dass die Be­zah­lung da­für zu­nächst ab­ge­lehnt, dann mit ei­nem trü­be lä­cheln­den Auge wie das Spiel ei­nes tö­rich­ten Kin­des an­ge­nom­men wor­den war. Nach­her aber kam nur Ge­schwätz, zum Bei­spiel, sie kön­ne jetzt kei­nes­falls zwi­schen den Rus­sen den wei­ten Weg nach Haus ma­chen, sie müs­se un­be­dingt hier in der Apo­the­ke blei­ben. Und doch be­zwei­fel­ten die Über­re­den­den ei­ni­ge Au­gen­bli­cke spä­ter selbst, ob die­ses Haus noch ei­ni­ge Si­cher­heit bie­te, ob es nicht doch bes­ser ge­we­sen wäre, sich in den Wäl­dern zu ver­ste­cken. Schon be­gann man sich Vor­wür­fe zu ma­chen, warum man nicht schon viel frü­her in den Wes­ten Deutsch­lands ge­flo­hen sei – kurz, Frau Doll stieß hier auf das glei­che un­se­li­ge, sinn­lo­se Ge­schwätz der von end­lo­sem, ge­quäl­tem War­ten Zer­mürb­ten, wie es um die­se Tage her­um in fast je­dem deut­schen Hau­se zu hö­ren war.

Hier aber war es – an­ge­sichts der vor den Apo­the­ken­fens­tern her­um­rol­len­den Pan­zer – be­son­ders sinn­los; kei­ne Ent­schei­dung war mehr zu tref­fen – al­les war ent­schie­den und das War­ten vor­bei! Dazu kam Frau Doll von drau­ßen, aus der son­ni­gen Früh­lings­luft, sie war zwi­schen den Pan­zern ge­fah­ren, hat­te kurz ent­schlos­sen einen Rus­sen beim Är­mel ge­packt, der letz­te Rest von Ge­s­pens­terangst war von ihr ab­ge­fal­len – sie konn­te dies Ge­schwätz ein­fach nicht mehr er­tra­gen. Sie bat schließ­lich ziem­lich kurz, ihr die Tür wie­der zu öff­nen, trat auf die Stra­ße, in die Hel­le zu­rück, be­stieg ihr Rad und fuhr, im­mer zwi­schen den stets zahl­rei­cher wer­den­den Pan­zern hin­durch, wei­ter in die Stadt hin­ein.

Ver­mut­lich ist Frau Doll die letz­te ge­we­sen, die den Apo­the­ker mit Frau und Kind an die­sem Nach­mit­tag am Le­ben ge­se­hen hat: Ein paar Stun­den spä­ter gab er sich, sei­ner Frau und dem Kin­de Gift, an­schei­nend völ­lig sinn­los, im letz­ten Au­gen­blick hat­ten die ge­quäl­ten Ner­ven ver­sagt. So vie­les hat­ten sie nun durch Jah­re er­tra­gen, nun, da es doch aus­sah, als kön­ne man­ches bes­ser, nichts mehr aber schlim­mer wer­den, wei­ger­ten sie sich, die Un­ge­wiss­heit al­ler­kür­zes­ten War­tens noch zu er­tra­gen.

Aber die glei­che Apo­the­ker­hand, die eben noch Frau Doll mit größ­ter Prä­zi­si­on ihr Nar­ko­ti­kum ge­gen ein Gal­len­lei­den zu­ge­mes­sen, war nicht so glück­lich in der Be­mes­sung des Gif­tes für sich und die ei­ge­ne Fa­mi­lie: Der sehr alte Mann und das sehr jun­ge Kind star­ben. Die Frau aber ge­nas nach län­ge­rem Lei­den zum Le­ben und wie­der­hol­te – ob­wohl ver­ein­samt – den Selbst­mord­ver­such nicht.

Alma Doll war noch nicht viel wei­ter ge­fah­ren auf ih­rem Rade, als ein we­sent­lich an­de­res Bild ihre Auf­merk­sam­keit fes­sel­te und sie zu ei­nem neu­en Halt be­wog: Vor dem größ­ten Ho­tel des Städt­chens hat­te sich eine Grup­pe von etwa ei­nem Dut­zend Kin­dern ver­sam­melt, zehn- bis zwölf­jäh­ri­ge Jun­gen und Mäd­chen. Sie sa­hen dem Fah­ren der Pan­zer zu, schri­en und lach­ten, wäh­rend die rus­si­schen Sol­da­ten sie über­haupt nicht zu se­hen schie­nen.

Die fast wild aus­ge­las­se­ne Stim­mung die­ser sonst länd­lich stil­len Kin­der er­klär­te sich durch die Wein­fla­schen, die sie in ih­ren Hän­den hiel­ten. Eben ge­ra­de, als Frau Doll von ih­rem Rade sprang, schlüpf­te ein Jun­ge aus dem Tor des Ho­tels, die Hän­de voll neu­er Fla­schen. Die Kin­der auf der Stra­ße be­grüß­ten ih­ren Ka­me­ra­den mit ei­nem Ju­bel­ge­schrei, das fast dem Auf­heu­len ei­nes jun­gen Wolfs­ru­dels glich. Sie lie­ßen die Fla­schen, die sie in der Hand hat­ten, ob sie nun ganz, teil­wei­se oder gar nicht ge­füllt wa­ren, acht­los auf dem Pflas­ter zer­split­tern und stürz­ten sich auf die neu­en, de­nen sie ohne wei­te­res die Häl­se auf den Stein­stu­fen der Ho­tel­trep­pe ab­schlu­gen, wor­auf sie die Fla­schen zu den Kin­der­mün­dern er­ho­ben.

Die­ser An­blick rief in Frau Doll so­fort den äu­ßers­ten Zorn wach. War ihr schon als Mut­ter der An­blick ei­nes be­trun­ke­nen Kin­des ver­hasst, so stei­ger­te es noch ih­ren Zorn, dass die­se noch nicht Halb­wüch­si­gen den ers­ten Ein­marsch der Ro­ten Ar­mee durch Trun­ken­heit schän­de­ten. Fast lau­fend stürz­te sie sich auf die Kin­der, ent­riss ih­nen die Wein­fla­schen und ver­teil­te so aus­gie­big Ohr­fei­gen und Püf­fe, dass einen Au­gen­blick spä­ter der gan­ze Spuk um die nächs­te Ecke ver­schwun­den war.

Au­fat­mend blieb Frau Doll ste­hen. Der eben noch hef­ti­ge Zorn war schon wie­der ver­ebbt, und fast hei­ter blick­te sie auf die von ih­ren Ein­woh­nern ver­las­se­ne Stra­ße, auf der es au­ßer ihr nichts gab als Pan­zer und ver­ein­zel­te rus­si­sche Sol­da­ten mit Ma­schi­nen­pis­to­len. Dann er­in­ner­te sie sich dar­an, dass es nun doch wohl an der Zeit sei, heim­wärts zu fah­ren, und mit ei­nem leich­ten glück­li­chen Seuf­zer wand­te sie sich wie­der ih­rem Rade zu. Sie hat­te es aber noch nicht er­reicht, als dies­mal ein rus­si­scher Sol­dat auf sie zu­trat, der, auf ihre Hand wei­send, ein Päck­chen aus der Ta­sche zog, das er auf­riss.

Sie sah auf ihre Hand und ent­deck­te erst jetzt, dass sie sich beim Weg­neh­men der Fla­schen die Hand zer­schnit­ten hat­te: Blut tropf­te von ih­ren Fin­gern. Mit lä­cheln­der Mie­ne ließ sie sich von dem hilf­rei­chen Rus­sen die Hand ver­bin­den, klopf­te ihm zum Dank auf die Schul­ter – er sah fremd durch sie hin­durch –, stieg aufs Rad und fuhr nun ohne wei­te­re Aben­teu­er nach Haus. An eben je­ner Stel­le aber, an der vor ei­ner Stun­de noch das Wehr­machts­au­to ge­hal­ten, fuh­ren nun auch schon rus­si­sche Pan­zer. Ob der Wa­gen wohl noch fort­ge­kom­men war? Sie wuss­te es nicht, sie wür­de es wohl nie er­fah­ren.

Als Frau Doll mit die­sen neu­en Nach­rich­ten vor ih­rem Man­ne er­schi­en, hör­te er aus dem Be­richt nur eine Be­stä­ti­gung des Ent­schlus­ses, an der Schwel­le sei­nes Hau­ses die Sie­ger und Be­frei­er zu er­war­ten. Aber da die An­kunft der Rus­sen auch an die­ser ab­ge­le­ge­nen Stel­le des Städt­chens nun je­den Au­gen­blick er­fol­gen konn­te, brach Doll das Ge­spräch mit sei­ner Frau kurz ab und kehr­te mit ei­ner in sol­cher ent­schei­den­den Stun­de fast un­be­greif­li­chen Hart­nä­ckig­keit zu sei­ner Ar­beit an den Stau­den­bee­ten zu­rück, um die letz­ten Draht­sch­lin­gen zu ent­fer­nen und säu­ber­lich auf­zu­rol­len und die letz­ten häss­li­chen Pfäh­le zu ent­fer­nen.

We­der Ab­fahrt noch Rück­kunft der jun­gen Frau wa­ren auf den Ne­ben­grund­stücken un­be­merkt ge­blie­ben. Bald fan­den sich die­se Nach­barn – na­tür­lich stets un­ter schick­li­chen Vor­wän­den, wie etwa, ein Werk­zeug zu ent­lei­hen – bei Doll ein, schau­ten sei­ner Ar­beit zu und such­ten hin­ten­her­um zu er­kun­den, was Frau Doll wohl in der Stadt ge­wollt und etwa Neu­es ge­se­hen habe? Doll, der auf eine di­rek­te, in sol­cher Lage völ­lig be­rech­tig­te Fra­ge so­fort Aus­kunft ge­ge­ben hät­te, hass­te die­ses fein­tu­en­de, kat­zen­haf­te Her­um­schlei­chen um den hei­ßen Brei sehr und dach­te nicht dar­an, eine so ver­hoh­le­ne Neu­gier zu be­frie­di­gen.

So hät­ten die Nach­barn un­ver­rich­te­ter Sa­che wie­der ab­zie­hen müs­sen, wenn sich nicht Frau Alma, aus dem Hau­se kom­mend, zu ih­rem Man­ne ge­sellt hät­te. Nach Art der meis­ten jun­gen Men­schen brann­te sie dar­auf, ihre Er­leb­nis­se zu er­zäh­len, und dies umso mehr, da sie doch höchst er­freu­lich und be­ru­hi­gend ge­we­sen wa­ren.

Wirk­lich führ­ten die Er­zäh­lun­gen der jun­gen Frau einen völ­li­gen Um­schwung in der Mei­nung der Nach­barn her­bei: Kein Ge­dan­ke war noch dar­an, in den Wald zu flüch­ten. Alle wür­den sie, wie Dolls, ihre Be­frei­er in den Häu­sern er­war­ten. Ja, man­che fin­gen schon mit deut­li­chen Wor­ten da­von zu re­den an, dass es viel­leicht gut sein wür­de, Ver­steck­tes oder Ver­gra­be­nes auf den ge­wohn­ten Platz zu­rück­zu­brin­gen, schon um die Sie­ger nicht durch Miss­trau­en zu krän­ken. Sol­che Be­mer­kun­gen wur­den frei­lich von den Fa­mi­li­en­mit­glie­dern mit är­ger­li­chen Aus­ru­fen und Kopf­schüt­teln auf­ge­nom­men: »Du wirst doch nicht, Olga!« – »Was du auch re­dest, Eli­sa­beth, si­cher bleibt si­cher!« – Oder auch: »Ich weiß bei uns von nichts Ver­steck­tem, Min­nie, du fan­ta­sierst wohl!«

Dies nach­bar­li­che Ge­spräch fand sei­ne Krö­nung durch zwei grei­se Män­ner, von Al­ter schon in den Sieb­zi­gern, de­ren Fan­ta­sie sich an der Schil­de­rung der kind­li­chen Trink­sze­ne vor dem Ho­tel ent­zün­de­te. Zu­erst war die Wut der bei­den Al­ten un­be­schreib­lich ge­we­sen. Wa­ren sie denn nicht seit Wo­chen und Mo­na­ten ge­ra­de zu die­sem Ho­te­lier, des­sen Stamm­gäs­te sie seit un­denk­li­chen Zei­ten wa­ren, ge­pil­gert – und das trotz ih­rer ho­hen Jah­re und des wei­ten We­ges fast all­täg­lich –, und hat­te die­ser Schur­ke, die­ser Ver­bre­cher, die­ser Ver­rä­ter am ei­ge­nen Vol­ke ihre Bit­ten um eine Fla­sche, ja nur um ein Glas Wein nicht stets mit dem Be­mer­ken zu­rück­ge­wie­sen, er habe selbst nichts mehr, die SS habe ihm al­les weg­ge­trun­ken?! Und jetzt stell­te sich her­aus, dass doch noch Wein da war, viel Wein ver­mut­lich, ein Kel­ler voll, vie­le Kel­ler voll, der ih­nen ge­gen al­les Recht vor­ent­hal­ten war, den jetzt Kin­der auf die Stra­ße schüt­te­ten!

Und die bei­den Grei­se stell­ten sich ein­an­der ge­gen­über, ihre eben noch sor­gen­grau­en Ge­sich­ter wa­ren wie vom Wi­der­schein des Weins lieb­lich ge­rötet, bis in ihr wei­ßes Haar hin­ein. Sie klopf­ten sich ge­gen­sei­tig auf die im letz­ten Jah­re so schlaff ge­wor­de­nen, längst nicht mehr ho­sen­fül­len­den Bäu­che und schri­en ein­an­der die ge­lieb­ten Na­men der von ih­nen be­vor­zug­ten Kres­zen­zen ins Ge­sicht. Der eine, klei­ne, im­mer im grü­nen Jä­ge­r­an­zug, rei­ner An­be­ter des Mo­sel­weins, der an­de­re, lan­ge, stets in Hemds­är­meln, mehr den fran­zö­si­schen Wei­nen hold. Wie sie da bäu­che­klop­fend um­ein­an­der­tanz­ten und brüll­ten, schie­nen sie be­reits trun­ken von dem Wein, den sie noch gar nicht hat­ten. Die höchst un­ge­wis­se Stun­de, der kaum erst zu Ende ge­hen­de Krieg, die viel­leicht nahe Ge­fahr wa­ren ver­ges­sen, jede Erin­ne­rung an lan­ge er­tra­ge­ne Qual ver­drängt durch die Aus­sicht auf einen Trunk. Und als sie nun, ein­an­der stän­dig stei­gernd, be­schlos­sen, mit zwei Hand­wa­gen so­fort in die Stadt zu zie­hen und auf der Stel­le die ih­nen wi­der­recht­lich vor­ent­hal­te­nen Wei­ne zu ho­len, gli­chen sie Doll völ­lig je­nen, die sich auf ei­nem aus­bre­chen­den Ve­suv zum Tan­zen an­schi­cken.

Gott­lob hat­ten sie bei­de Frau­en, und die­se Frau­en sorg­ten da­für, dass heu­te aus dem ge­plan­ten Aus­flu­ge nichts mehr wur­de, zu­mal der Lärm von durch­fah­ren­den schwe­ren Fahr­zeu­gen sich, von der Stadt her klar über den See schal­lend, stän­dig ver­stärk­te. »Aber«, sag­te Doll und kehr­te da­mit zu sei­nen Drah­ten­den zu­rück, »aber kommt et­was an­ders, als wir jetzt er­war­ten, wer­den wir im­mer schuld sein, dass sie nicht in den Wald flo­hen. Wie wir über­haupt an al­lem, was kom­men wird, schuld sein wer­den …«

»Ich habe ih­nen doch mit kei­nem Wor­te ab- oder zu­ge­re­det«, ver­tei­dig­te sich die jun­ge Frau.

»Es kommt nicht dar­auf an, was du ge­re­det hast«, ant­wor­te­te Doll und riss mit ei­ner Zan­ge eine Draht­kram­pe vom Pfos­ten los. »Son­dern es han­delt sich viel­mehr dar­um, dass die lie­ben Nach­barn jetzt einen Sün­den­bock für al­les, was schief­geht, ge­fun­den ha­ben.« Er wi­ckel­te einen Draht auf. »Sie wer­den uns nichts er­spa­ren, ver­lass dich dar­auf! Sie wa­ren in den ver­gan­ge­nen Jah­ren schon im­mer dar­auf aus, die Schuld für al­les, was ge­sch­ah, stets bei den an­de­ren, nie bei sich zu su­chen – warum soll­ten sie sich ge­än­dert ha­ben?!«

»Wir wer­den es mit Fas­sung er­tra­gen«, ant­wor­te­te die jun­ge Frau mit lä­cheln­dem Trotz. »Wir sind schon im­mer die best­ge­hass­ten Men­schen im Städt­chen ge­we­sen – ein biss­chen mehr oder we­ni­ger macht da auch nicht viel aus, nicht wahr?«

Da­mit nick­te sie ihm zu und ging in das Haus zu­rück.

Der Rest des Nach­mit­tags ver­ging qual­voll lang­sam. Noch ein­mal ka­men sie wie­der in die­ses schreck­li­che War­ten hin­ein, das sie doch end­gül­tig vor­über hoff­ten – und wie oft soll­ten sie in den nun fol­gen­den Ta­gen und Mo­na­ten noch war­ten, war­ten, war­ten! Manch­mal un­ter­brach Doll sei­ne Ar­beit und ging al­lein oder mit sei­ner Frau bis an das Seeu­fer, von wo sie über das Was­ser fort eine Zei­le der Stadt­stra­ße se­hen konn­ten. Aber sie sa­hen al­lein die hoh­len, to­ten Häu­ser, ohne ein Zei­chen mensch­li­chen Le­bens, nur ihr Ohr wur­de er­füllt von dem Geräusch nicht ab­rei­ßen­den Rol­lens, Dröh­nens, Hu­pens, ei­nes rie­si­gen Tros­ses, der un­ge­se­hen, ge­spens­ter­haft west­wärts durch die Stadt zog.

End­lich – die Däm­me­rung war schon nicht mehr fern – rief die jun­ge Frau aus dem Haus, es wer­de gleich Abendes­sen ge­ben. Doll, der in der letz­ten Stun­de mehr ge­spielt als ge­ar­bei­tet hat­te, pack­te sein Hand­werks­zeug zu­sam­men, trug es in den Schup­pen und wusch sich in der Som­mer­kü­che. Dann sa­ßen sie in der Ecke um den run­den Abend­brot­tisch: die alte Groß­mut­ter, Doll, sein Weib und die bei­den Kin­der. Die Un­ter­hal­tung lief nur zwi­schen der al­ten Groß­mut­ter und ih­rer Toch­ter hin und her. Die grei­se Frau, die, fast ge­lähmt, nur in ih­rem Lehn­stuhl saß, war be­gie­rig nach Neu­ig­kei­ten und ihre Toch­ter heu­te Abend wil­lig ge­nug, sie ihr zu ge­ben (was durch­aus nicht im­mer der Fall war). Die Groß­mut­ter woll­te al­les ganz ge­nau wis­sen, sie hör­te eine Sa­che lie­ber drei- als ein­mal und setz­te der Toch­ter ge­wal­tig mit Fra­gen wie die­sen zu: »Und was sag­te sie dann? – Und was hast du dazu ge­sagt? – Und was hat sie dar­auf ge­sagt?«

Sonst hat­te Doll ger­ne die­sen weib­lich breit da­hin­plät­schern­den Ge­sprä­chen ge­lauscht, im­mer ge­spannt dar­auf, wel­che Ver­än­de­run­gen bei der nächs­ten Wie­der­er­zäh­lung der Stoff im al­ten Kopf der Groß­mut­ter er­fah­ren ha­ben wür­de. Aber heu­te Abend, da sei­ne gute Stim­mung vom Mor­gen bis auf den al­ler­letz­ten Rest ver­braucht war, konn­te er nur mit äu­ßers­ter Über­win­dung die­ses »Ge­schwätz« ohne Wi­der­spruch er­tra­gen. Er wuss­te, das war un­ge­recht, aber eben un­ge­recht zu sein, ge­lüs­te­te es ihn jetzt.

Plötz­lich rief der Jun­ge am Tisch halb­laut: »Rus­sen!!!« Ein Geräusch an der Tür ließ alle ver­stum­men und star­ren, die Tür öff­ne­te sich, und drei Rus­sen tra­ten in die Stu­be.

»Alle sit­zen blei­ben!« be­fahl Doll halb­laut und trat, die lin­ke ge­ball­te Faust zum Gruß er­ho­ben, den Be­su­chern ent­ge­gen, an sei­ner Sei­te die jun­ge Frau, die den Be­fehl, sit­zen zu blei­ben, nicht auf sich be­zo­gen hat­te. Jetzt konn­te Doll wie­der lä­cheln, die Span­nung, die zor­ni­ge Un­ge­duld wa­ren von ihm ge­wi­chen, die Zeit des War­tens war vor­über, im Bu­che des Schick­sals war eine ganz neue Sei­te auf­ge­schla­gen … Er sag­te lä­chelnd: »To­wa­rischtsch!« und streck­te den drei Be­su­chern die rech­te Hand zum Gruß ent­ge­gen.

Nie wür­de Doll Art und Aus­se­hen je­ner ers­ten drei Rus­sen ver­ges­sen, die da­mals sein Haus be­tra­ten. Der vor­ders­te von ih­nen war ein jun­ger schlan­ker Mann mit ei­ner schwar­zen Bin­de über dem lin­ken Auge. Er war flink in sei­nen Be­we­gun­gen, et­was Hel­les ging von ihm aus, er trug einen blau­en Waf­fen­rock und eine Lamm­fell­müt­ze auf dem Kop­fe.

Der hin­ter ihm wirk­te ge­gen die­se eher drah­ti­ge, zier­li­che Ge­stalt wie ein Rie­se, er schi­en bis an die De­cken­bal­ken der Stu­be zu rei­chen. Er hat­te ein großes, grau­es Bau­ern­ge­sicht mit ei­nem rie­si­gen, hän­gen­den Schnauz­bart, in des­sen Schwarz sich schon vie­le graue Fä­den misch­ten. Das Auf­fallends­te an die­sem Rie­sen war ein kur­z­er, krum­mer Sä­bel in ei­ner schwar­zen Le­der­schei­de, den er schräg vor sei­nem in einen grau­en Rock gehüll­ten Lei­be trug. Der drit­te Mann, der hin­ter die­sen bei­den stand, war ein ein­fa­cher, noch sehr jun­ger Sol­dat, mit ei­nem Ge­sicht, das sich erst zu bil­den an­fing. Er trug eine Ma­schi­nen­pis­to­le mit seg­ment­för­mig ge­bo­ge­nem La­de­strei­fen un­ter dem Arm.

Dies wa­ren die drei Rus­sen, die so lan­ge er­war­te­ten Gäs­te, auf die Doll mit er­ho­be­ner, ge­ball­ter lin­ker Faust und aus­ge­streck­ter Rech­ter zu­trat, das Wort »To­wa­rischtsch« auf den Lip­pen.

Aber wäh­rend er so tat, wäh­rend er so noch vor den drei­en stand, ge­sch­ah et­was Selt­sa­mes. Die ge­ball­te lin­ke Faust sank her­ab, Dolls Rech­te ver­kroch sich in eine Ta­sche, und sein Mund wie­der­hol­te das Wort nicht, das doch eine Ver­bin­dung zwi­schen ihm und den drei­en her­stel­len soll­te. Auch lä­chel­te er nicht mehr, son­dern sein Ge­sicht hat­te einen fins­te­ren, grüb­le­ri­schen Aus­druck an­ge­nom­men. Plötz­lich senk­te er die Au­gen, die eben noch die drei an­ge­se­hen hat­ten, und blick­te auf die Erde.

Wie lan­ge die­se Sze­ne ge­dau­ert ha­ben moch­te, ob zwei oder drei Mi­nu­ten oder nur we­ni­ge Se­kun­den, konn­te Doll spä­ter nicht sa­gen. Plötz­lich ging der Blau­rock zwi­schen ihm und der Frau durch, die bei­den an­de­ren folg­ten, ins In­ne­re des Hau­ses hin­ein. We­der Herr noch Frau Doll gin­gen ih­nen nach, sie stan­den stumm da, ei­nes ver­mied des an­de­ren Blick. Dann hör­ten sie den Jun­gen ru­fen: »Da sind sie schon wie­der!«

Wirk­lich sa­hen sie die drei Rus­sen jetzt auf der Rück­sei­te des Hau­ses. Sie hat­ten es durch die Som­mer­kü­che ver­las­sen; das ra­sche Durch­ge­hen durch die frei­lich nicht mehr als vier Räu­me, die das Block­haus ent­hielt, hat­te nur einen Au­gen­blick ge­dau­ert. Nun gin­gen sie, als wüss­ten sie ge­nau Be­scheid, ohne zu zö­gern oder sich nur um­zu­se­hen, an den Schup­pen ent­lang, be­tra­ten den Boots­steg, stie­gen ins Boot, war­fen es los und wa­ren ein we­nig spä­ter hin­ter dem Ufer­ge­büsch ver­schwun­den.

»Die sind weg!« rief der Jun­ge wie­der.

»Es wer­den schon noch mehr kom­men!« mein­te die jun­ge Frau. »Dies war wohl nur eine ers­te Kon­trol­le, wer in den ein­zel­nen Häu­sern lebt.« Sie warf einen ra­schen Blick auf den Mann, der im­mer noch, die Hän­de in den Ta­schen, fins­ter grü­belnd da­stand. »Komm!« sag­te sie. »Wir wol­len rasch es­sen, ehe die Sup­pe ganz kalt ist. – Dann wer­den die Kin­der und die Groß­mut­ter gleich ins Bett ge­steckt. Wir aber blei­ben noch ein Weil­chen auf; ich habe das Ge­fühl, es kom­men heu­te Abend oder in der Nacht noch mehr.«

»Es ist recht«, ant­wor­te­te Doll und ging mit ihr an den Abend­brot­tisch zu­rück. Da­bei dach­te er, dass auch die Stim­me der Frau sich völ­lig ge­wan­delt hat­te: nichts mehr von der Leb­haf­tig­keit, die sie beim Er­zäh­len der Nach­mit­tagser­eig­nis­se ge­habt hat­te. ›Sie hat auch et­was ge­merk­t‹, dach­te er. ›A­ber ge­nau wie ich will sie nicht dar­über spre­chen. Das ist gut.‹

Spä­ter ge­fiel es ihm dann bes­ser, sich ein­zu­bil­den, dass sei­ne Frau viel­leicht doch nichts ge­merkt hat­te, dass ihre Stim­me nur dar­um so ver­än­dert ge­klun­gen hat­te, weil schon wie­der ein neu­es War­ten be­gann, das näm­lich auf wei­te­re rus­si­sche Gäs­te. War­ten war ent­schie­den jetzt das, was für je­den Deut­schen am schwers­ten er­träg­lich war, und ge­ra­de das wur­de ih­nen in vie­len, ja fast al­len Din­gen auf­er­legt – in den nächs­ten Ta­gen, Mo­na­ten, ja viel­leicht Jah­ren …

Durch die Groß­mut­ter und die Kin­der kam doch noch ein leb­haf­tes Ge­spräch zu­stan­de, an dem sich auch die jun­ge Frau be­tei­lig­te. Na­tür­lich dreh­te es sich in der Haupt­sa­che um die drei Be­su­cher, die ein so bunt­sche­cki­ges Äu­ße­res ge­habt hat­ten, wie man es von den ei­ge­nen, den deut­schen Trup­pen nicht ge­wohnt war (oder eben, weil längst ge­wohnt, nicht mehr se­hen konn­te). Spä­ter wur­de eif­rig die Fra­ge er­ör­tert, ob man wohl das Boot zu­rück­be­kom­men, ob es die Rus­sen zu­rück­brin­gen wür­den?

Doll be­tei­lig­te sich nicht an die­sem Ge­spräch, er moch­te an die­sem Abend über­haupt kein Wort mehr spre­chen. Da­für war er in­ner­lich viel zu stark er­regt. Nur ein­mal hat­te er sei­ne Frau lei­se ge­fragt: »Sahst du auch, wie sie mich an­sa­hen?«

Alma hat­te dar­auf – eben­so lei­se und sehr rasch – geant­wor­tet: »Doch! Es war ge­nau so, wie mich heu­te Nach­mit­tag der Rus­se vor der Apo­the­ke an­sah: als sei ich eine Wand oder ein Tier.« Dazu nick­te Doll kurz mit dem Kopf, mehr wur­de zwi­schen den Ehe­leu­ten über die­sen Fall nicht ge­spro­chen, we­der heut noch spä­ter.

Aber Doll sah sich wie­der da­ste­hen vor die­sen drei­en, mit grin­sen­dem Ge­sicht, das Wort »To­wa­rischtsch!« auf den Lip­pen, mit der er­ho­be­nen Faust, die Rech­te zum Gruß aus­ge­streckt – wie falsch das al­les ge­we­sen war, wie er sich doch schä­men muss­te! Wie ver­kehrt er al­les an­ge­fan­gen hat­te, vom frü­hen Mor­gen an, als er so fröh­lich auf­ge­wacht war und sich in die Ar­beit an den Stau­den­bee­ten ge­stürzt hat­te, um den Weg für die Be­frei­er »ge­fahr­los« zu ma­chen, wie falsch er al­les ge­se­hen hat­te!

Und so ein Mann wie er hat­te noch vor den Nach­barn da­mit ge­protzt, er wer­de die Rus­sen an der Schwel­le sei­nes Hau­ses emp­fan­gen und als Er­lö­ser be­will­komm­nen. Statt über die Er­zäh­lung sei­ner Frau am Nach­mit­tag ein biss­chen nach­zu­den­ken und sie sich zur War­nung die­nen zu las­sen, hat­te er dar­in nur eine Be­kräf­ti­gung sei­ner un­ein­sich­ti­gen, dum­men Hal­tung er­blickt. Wahr­haf­tig, er hat­te in die­sen zwölf Jah­ren nicht das Ge­rings­te da­zu­ge­lernt, so si­cher er das auch in man­chem Lei­den ge­glaubt hat­te!

Mit recht hat­ten ihn die Rus­sen an­ge­se­hen wie ein klei­nes, bö­ses, ver­ächt­li­ches Tier, die­sen Kerl mit sei­nen plum­pen An­bie­de­rungs­ver­su­chen, der glau­ben ma­chen woll­te, dass mit ei­nem freund­li­chen Grin­sen und ei­nem kaum ver­stan­de­nen rus­si­schen Wort all das aus­zu­lö­schen war, was der Welt in den letz­ten zwölf Jah­ren von den Deut­schen an­ge­tan war!

Er, Doll, war ein Deut­scher, und er wuss­te es doch, we­nigs­tens in der Theo­rie, dass seit der Machter­grei­fung, dass seit den Ju­den­ver­fol­gun­gen der schon im ers­ten Welt­krie­ge er­schüt­ter­te Name »Deut­scher« von Wo­che zu Wo­che und von Mo­nat zu Mo­nat im­mer mehr an Klang und An­se­hen ver­lo­ren hat­te! Wie oft hat­te er selbst ge­sagt: »Das kann uns nie ver­zie­hen wer­den!« Oder: »Hier­für wer­den wir ei­nes Ta­ges alle bü­ßen müs­sen!«

Und er, der ge­nau wuss­te, der wuss­te, dass der Be­griff Deut­scher ein Schimpf­wort ge­wor­den war in der wei­ten Welt, er stell­te sich da so hin, in der blö­den Hoff­nung, sie wür­den schon mer­ken, dass es »auch an­stän­di­ge Deut­sche« gab.

Al­les, was er sich seit lan­ger Zeit von die­sem Kriegs­en­de er­hofft hat­te, es brach schmäh­lich zu­sam­men vor den Bli­cken von drei rus­si­schen Sol­da­ten! Er war ein Deut­scher, also ge­hör­te er zu dem ge­hass­tes­ten und ver­ach­tets­ten Vol­ke des Erd­balls! Es stand tiefer als der pri­mi­tivs­te Stamm im In­nern Afri­kas, der nicht so viel Zer­stö­rung, Blut, Trä­nen, Un­glück über die­sen Erd­ball brin­gen konn­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­