DANIEL KAHNEMAN, ANTONIO DAMASIO U.A.
Jean-François Marmion (Hg.)
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.
Für Fragen und Anregungen:
info@rivaverlag.de
2. Auflage 2020
© 2020 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
Nymphenburger Straße 86
D-80636 München
Tel.: 089 651285-0
Fax: 089 652096
Die französische Originalausgabe erschien 2018 bei Editions Sciences Humaines unter dem Titel Psychologie de la connerie. Sous la direction de Jean-Francois Marmion. © Sciences Humaines 2018. Published by special arrangement with Editions Sciences Humaines in conjunction with their duly appointed agent 2 Seas Literary Agency.
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Übersetzung: Elisabeth Liebl
Redaktion: Ulrike Strerath-Bolz
Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer (auf Basis des Umschlags der Originalausgabe)
Umschlagabbildung: © M. Zut
Abbildungen im Innenteil: © M. Zut (S. 32, 44, 52, 78, 90, 100, 112, 144, 152, 208, 214, 236, 248, 254, 262, 304, 312, 324); © Marie Dortier (S. 18, 64, 93, 122, 136, 147, 164, 170, 182, 186, 192, 202, 270, 278, 288, 294, 308, 314); AdobeStock: relif (S. 70), croisy (S. 73), Robert Kneschke (S. 225), berdsigns (S. 245)
Satz: Digital Design, Eka Rost
Druck: Florjancic Tisk d.o.o., Slowenien
eBook: ePubMATIC.com
ISBN Print 978-3-7423-1067-5
ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-0691-0
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-0692-7
Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter
www.rivaverlag.de
Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de
Wissenschaftliche Erforschung der Dummheit
Warnung an den Leser
Typologie der Dummköpfe
Eine Theorie der Arschlöcher
Von der schlichten Dummheit zum Bullshit
Der Mensch kann sich täuschen, und das nicht schlecht!
Dummheit und kognitive Verzerrungen
Das Denken in zwei Geschwindigkeiten
Über die Dummheit im Gehirn
Die Dummheit, die ihre Ursache kennt
Warum sehr intelligente Leute manchmal den größten Unsinn glauben
Warum wir im Zufall einen Sinn erkennen
Die Dummheit als Delirium der Logik
Die Sprache der Dummheit
Emotionen machen nicht (immer) blind
Dummheit und Narzissmus
Die schlimmsten medialen Manipulatoren? Die Medien!
Social Media: schwachsinnig und fies
Internet: Sieg über die Intelligenz?
Dummheit und Postfaktizität
Die Metamorphosen nationalistischer Dummheit
Wie bekämpft man kollektive Irrtümer?
Warum wir konsumieren wie blöd
Der Mensch: das einzige Tier, das vor nichts zurückschreckt
Was wir gegen Arschlöcher unternehmen können
Dummheit aus der Sicht des Kindes
Träumen wir dummes Zeug?
Die schlimmste Dummheit ist, sich für intelligent zu halten
Mit der eigenen Dummheit in Frieden leben
Dummheit ist das Hintergrundgeräusch der Weisheit
»Der gesunde Menschenverstand ist die am besten verteilte Sache auf der Welt«, heißt es bei René Descartes.1 Doch wie steht es mit der Dummheit?
Ob sie nur tröpfelt oder trieft, ob sie dümpelt oder tost, sie ist allgegenwärtig und kennt weder Grenzen noch Schranken. Manchmal nur ein leises, beinahe schon angenehmes Plätschern, manchmal ein ekliger, stehender Schlammpfuhl, dann wieder ein Beben, eine stürmische Bö, eine alles auf ihrem Weg verschlingende, zertrümmernde, verhöhnende, besudelnde Flut, übergießt die Dummheit alles und jeden mit ihrem Schmutz. Und schlimmer noch – es wird gemunkelt, wir selbst seien die Quelle. Ich jedenfalls habe so ein Gefühl, als wäre ich nicht ganz dicht.
Jeden Tag sieht, hört oder liest man unweigerlich von irgendwelchen Dummheiten. Zugleich begeht, denkt, erbrütet und verzapft ein jeder selbst auch immer wieder Dummheiten. Wir alle sind Gelegenheitsdummköpfe, die mal eben schnell Unsinn anstellen, der aber nicht gleich das Ende der Welt bedeutet. Der entscheidende Punkt dabei ist, dass man sich bewusst macht, falsch gehandelt zu haben, und das zu bedauern. Irren ist nun einmal menschlich, und seinen Fehler ehrlich zuzugeben ist schon die halbe Vergebung. Irgendwer hält einen ja immer für einen Esel, auch wenn man allzu selten selbst diese Person ist …
Aber abgesehen von solchen auf eher leisen Sohlen einherwandelnden, alltäglichen Torheiten hat man es unglücklicherweise auch immer mit dem lautstarken Getrampel von Dummköpfen erster Ordnung zu tun: selbstherrlichen, ihre eigene Dummheit herausschreienden Dummköpfen. Diese Sorte Dummkopf ist nun, egal, ob sie im Beruf oder in der Familie unseren Weg kreuzt, ganz und gar nicht belanglos. Diese Menschen machen einen fassungslos. Sie martern dich mit obstinatem Beharren auf ihrer haarsträubenden Blödheit und ihrer durch nichts gerechtfertigten Arroganz. Welche sie zementieren und betonieren, während sie deine Meinung, deine Gefühle, deine Würde am liebsten mit einem Federstrich vom Tisch fegen würden. Diese Leute vergiften dein Gemüt und machen es einem schwer, an eine Form von Gerechtigkeit auf Erden zu glauben. Selbst mit einem gerüttelt Maß an Nachsicht mag man in ihnen nicht seinen Nächsten erkennen.
Dummheit ist ein Versprechen, das nicht eingelöst wurde: das Versprechen von Verstehen und Vertrauen, preisgegeben vom Dummkopf, dem Verräter an der menschlichen Natur. Darum belegt man ihn auch gerne mit Schimpfworten aus dem Tierreich. Wir würden ihn gern nett finden, ihn zu unseren Freunden machen, doch dafür ist der Dummkopf nicht zu gebrauchen – er ist mit uns nicht auf Augenhöhe. Er leidet an einer Krankheit, gegen die kein Kraut gewachsen ist. Und da er sich ohnehin weigern würde, sich mit einem solchen Kraut kurieren zu lassen, aus der festen Überzeugung heraus, der einzige Einäugige in einer Welt voller Blinder zu sein, ist die Tragikomödie perfekt. Es verwundert nicht, wenn von diesem Zombie eine gewisse Faszination ausgeht, von seiner Scheinexistenz, seiner geistigen Nichtigkeit, seinem großspurigen, wesenhaften Anspruch, alle Menschen, alle, die etwas Großes geleistet haben, alle, die einfach nett sind, auf sein Niveau hinunterzuziehen. Schließlich möchte auch der Dummkopf aus Ihnen einen Hirnamputierten machen: Der Versager wird es sich nicht versagen, sich zum Richter über Sie aufzuwerfen. Der Dummkopf ist in seiner höchsten Form manchmal sogar intelligent, gebildet zumindest: Er würde so manches Buch (und seinen Verfasser gleich dazu) auf den Scheiterhaufen werfen – im Namen eines anderen Buches, einer anderen Ideologie oder im Namen dessen, was große Meister (ob nun ihrerseits Dummköpfe oder nicht) gelehrt haben. So sehr liegt es ihm im Blut, das Raster, das er über den Text legt, zu Gitterstäben eines Käfigs zu machen.
Der Dummkopf reinsten Wassers bricht ruckzuck, unwiderruflich und ohne mildernde Umstände den Stab über Sie, einfach auf den blanken Augenschein hin, den er dem engen Spalt zwischen seinen Scheuklappen entnimmt. Er weiß sich als eifrig besorgter Bürger zu präsentieren, um im Namen der Tugend, des Anstands oder des Respekts seinesgleichen um sich zu scharen und zur Lynchjustiz aufzurufen. Der Dummkopf jagt im Rudel und denkt in der Herde. Wie singt doch George Brassens: »Der Plural bekommt dem Menschen nicht gut. Sobald ihrer mehr als vier sind, sind sie eine Bande von Dummköpfen.« Und weiter: »Gepriesen sei, wer keine sakrosankten Ideale hat und sich damit begnügt, seinen Nachbarn nicht allzu sehr auf die Nerven zu gehen!« Leider lassen die Nachbarn sich diese Gelegenheit nicht immer nehmen!
Doch damit, Ihnen das Leben zu vermiesen, ist der penetrante Dummkopf noch nicht zufrieden. Wirklich zufrieden ist er stets nur mit sich selbst, und zwar unerschütterlich, immun gegen jede Art zögerlicher Unsicherheit. Und absolut sicher, im Recht zu sein. Der glückliche Dummschädel geht Ihnen auf den Sack, ohne sich deswegen einen Kopf zu machen. Der Dummkopf nimmt seine Überzeugungen für in Stein gemeißelte Wahrheiten, während alles Wissen doch letztlich auf Sand gebaut ist. Der Zweifel macht irr, Gewissheit macht dumm – da heißt es, sich für eine Seite entscheiden. Der Dummkopf weiß alles besser als Sie, ob es nun darum geht, was Sie denken oder fühlen, was Sie mit Ihren zehn Fingern anstellen oder was Sie wählen sollten. Er weiß besser als Sie selbst, wer Sie sind und was gut für Sie ist. Widersprechen Sie ihm, gießt er seine Verachtung und Beleidigungen über Ihnen aus und züchtigt Sie, freilich nur zu Ihrem Besten, im wörtlichen oder im übertragenen Sinn. Und wenn er es im Namen eines hehren Ideals ungestraft wagen kann, dann wird er vielleicht sogar versuchen, mit dem Müll, der in seinen Augen die Essenz Ihres Daseins ist, ein für alle Mal aufzuräumen.
Die bittere Wahrheit ist: Jede Form legitimer geistiger Selbstverteidigung wird zur Fallgrube. Versuchen Sie, den Dummkopf zur Vernunft zu bringen, ihn zu ändern, dann sind Sie verloren. Denn falls Sie es für Ihre Menschenpflicht halten, ihn zu bessern, meinen auch Sie zu wissen, wie er denken und sich verhalten müsste … nämlich wie Sie. Und schon sind Sie selbst zum Dummkopf geworden. Und ein Naivling obendrein, weil Sie sich einbilden, Sie könnten diese Herausforderung meistern. Was noch schlimmer ist: Je mehr Sie versuchen, einen Dummkopf zur Einsicht zu bewegen, desto mehr bestärken Sie ihn in seiner Meinung. Nur allzu gern wird er sich in der Rolle des Verfolgten sehen, der unbequeme Dinge sagt und folglich recht hat. Damit bestätigen Sie ihm nur, dass er sich vollkommen zu Recht für einen unerschrockenen Nonkonformisten hält, der Mitgefühl und Bewunderung verdient. Ein Querdenker eben … Vor dem Ausmaß dieses Fluches sollten wir erbeben: Versuchen Sie, einen Dummkopf zu bessern, und Sie haben ihn, weil das Scheitern auch für Sie inakzeptabel ist, in seiner Haltung bestärkt und sich zu seinesgleichen gemacht. Wo vorher nur eine Hohlbirne war, sind jetzt deren zwei. Wer die Dummheit bekämpft, bestärkt sie nur. Je heftiger wir gegen die Dunkelheit angehen, desto mehr frisst sie uns auf.
Die Dummheit kann folglich nicht an Macht verlieren, sie nimmt sogar exponentiell zu. Erleben wir also heute (mehr als gestern und deutlich weniger als morgen) ihr Goldenes Zeitalter? Wie weit man die Spuren der Schriftlichkeit auch zurückverfolgt, die besten Köpfe einer jeden Epoche scheinen das gedacht zu haben. Zu ihrer Zeit hatten sie vielleicht recht. Oder aber sie sind wie alle anderen auch zu alten Blödmännern geworden … Neu an unserer Zeit ist, dass ein Dummkopf und ein roter Knopf genügen, um die Dummheit mitsamt der ganzen Welt auszulöschen. Ein einziger Dummkopf, gewählt von Kälbern, die sich einiges darauf zugutetun, ihren Metzger selbst zu wählen.
Das zweite Hauptmerkmal unserer Zeit ist, dass die Dummheit – auch wenn man einräumt, dass sie ihren allgemeinen Höhepunkt noch nicht erreicht hat – noch nie so augenfällig, hemmungslos, kollektiv und kategorisch war. Grund genug, an unseren fehlgeleiteten Zeitgenossen zu verzweifeln. Aber auch, wer weiß, Grund genug, sich notgedrungen der Philosophie zuzuwenden, da es immer schwieriger wird, die Eitelkeit von allem und den Narzissmus von jedem, die Hohlheit von äußerem Anschein und pauschalem Urteil zu leugnen. Könnte uns doch ein zweiter Erasmus von Rotterdam ein neues Lob der Torheit schenken (aber bitte in nicht mehr als 140 Zeichen am Stück, damit es keine Migräne gibt)! Könnte uns doch ein neuer Lukrez die tiefe Erleichterung – und vielleicht auch Freude – schildern, die man empfindet, wenn man vom sicheren Ufer aus beobachtet, wie das Narrenschiff in den Fluten versinkt: versenkt von seinen Passagieren, die nun nach Rettung vor dem Ertrinken schreien … Und wir könnten es genießen zuzusehen, wie die Dummköpfe sich mit aufgeplustertem Gefieder und ebensolchem Ego gegenseitig die Köpfe einschlagen.
Denn während große Geister einander begegnen, schlagen Dummköpfe aufeinander ein. Wir mögen uns bemühen, bei der Rolle des Zuschauers zu bleiben, statt die des Akteurs einzunehmen, doch es ist ziemlich vermessen zu denken, die Dummheit könne uns weniger anhaben als unseren grölenden, verbitterten, trübsinnigen und aufgeregten Zeitgenossen. Sollte das aber unerwarteterweise zutreffen, welch ein Triumph! Dennoch ist hier Bescheidenheit am Platz: Man würde es Ihnen nicht verzeihen, sich über das Getümmel zu erheben. Wer sich von der Herde absondert, den führt sie selbst zum Schlachthaus. Heulen Sie mit den Wölfen, blöken Sie mit den Schafen, aber wagen Sie nicht zu viele Alleingänge, sonst schlagen Ihnen Stürme der Entrüstung entgegen. Überflüssig auch zu erwähnen, dass, sollten Sie sich für klüger und vorbildlicher als der Durchschnitt halten, eine fatale Diagnose naheliegt: Möglicherweise sind Sie Träger des Dummheitsvirus, ohne die zugehörigen Symptome zu zeigen …
Angesichts des herkulischen Ausmaßes der Aufgabe – und des damit verbundenen Schlamassels – kann die Behauptung, mit diesem Buch das Terrain der Dummheit erkunden zu wollen, sich eigentlich nur als weitere Dummheit erweisen. Man muss schon sehr vermessen, naiv oder bescheuert sein, um sich an ein solches Thema heranzuwagen. Ich weiß das nur zu gut, doch ein wackerer Tropf musste sich in dieses Abenteuer stürzen. Mit ein bisschen Glück endet dieses Unterfangen nur in der Lächerlichkeit. Sich lächerlich zu machen hat noch niemanden umgebracht, die Dummheit dagegen schon! Und sie wird uns überleben, die Dummheit, ja, sie wird uns alle unter die Erde bringen. Vorausgesetzt, sie steigt nicht mit uns zusammen ins Grab …
Abschließend möchte ich noch eines ausdrücklich klarstellen: All diese Betrachtungen über Dummköpfe gelten auch für Dummköpfinnen. Da können Letztere ganz beruhigt sein! Leider kann nicht ein Geschlecht das andere zurück auf den Pfad der Einsicht führen. Und darum sage ich euch, oh ihr dummen Mannsund Weibsbilder jeglicher Natur und Art, ihr Tröpfe, Vollidiotinnen, Pfeifen, Dumpfbacken, Trottel, blöden Gänse, Ziegen, Kühe und so weiter: Dies ist die Stunde eures Triumphes, denn dieses Buch handelt nur von euch. Aber ihr werdet euch darin wohl kaum wiedererkennen …
Ihr ergebenster Dummkopf
Kann man Dummheit wissenschaftlich untersuchen? Eine provokante Frage! Da gibt es zum einen natürlich Studien, die schlicht und ergreifend dämlich sind (wie zum Beispiel die Frage: »Kann Furzen vor Ängsten schützen?«).1 Oder Studien, die sich mit idiotischen Betätigungen auseinandersetzen,2 deren sozialer Nutzen gleich null ist und das bisschen persönliche Befriedigung, das sie abwerfen, minimal. Aber Studien über Dummköpfe?
Ein Blick in die wissenschaftliche psychologische Literatur zeigt uns schnell, dass die Dummheit im Großen und Ganzen ganz gut erforscht ist. In diesem Sinne könnte man sagen: Ja, man kann dumme Menschen analysieren, aber man sollte dabei im Hinterkopf behalten, dass Studien über dumme Menschen letztlich nur Studien über die Menschheit im Allgemeinen sind. Aus den verschiedenen Variablen, die in den einzelnen Untersuchungen verwendet werden, lässt sich ein Profil, ein Typus ableiten. Damit gewinnt man ein vergleichsweise genaues Bild des Dummkopfs (nervig, naiv, mit geringen intellektuellen Fähigkeiten oder einer kurzen Aufmerksamkeitsspanne ausgestattet). Es lassen sich sogar gewisse Varianten herausdestillieren: das totale Arschloch, der Stumpfsinnige, der Fatzke. Dazu kommt noch eine hochgiftige narzisstische Neigung sowie vielfach das Fehlen jeglicher Empathie.
Aber die psychologische Forschung hat sich nicht den Dummkopf als solchen zum Gegenstand erkoren. Sie erlaubt uns vielmehr herauszufinden, warum manche Menschen sich manchmal wie Idioten benehmen.
Untersuchungen über »Skripten«3 – Organisationsformen des Wissens – zeigen, dass die Menschen sich meist nicht allzu viele Gedanken über ihre Umwelt machen, bevor sie etwas tun. Sie machen vielmehr von eingeschliffenen Handlungsroutinen und Gewohnheitsmustern Gebrauch, die aufgrund innerer oder äußerer Reize automatisch ausgeführt werden. Das ist der Grund, weshalb Sprüche fallen wie: »Wenn man weint, findet sich doch immer ein Dummkopf, der sagt: ›Na, geht’s gut?‹« Das ist genauso doof, als würde man ein zweites Mal auf seine Uhr gucken, obwohl man es gerade gemacht hat.
Wenn man wissen will, wie spät es ist, muss man auf die Uhr gucken. Das ist ein Skript, das völlig automatisch abläuft. Dieser Mechanismus erspart uns bewusste Anstrengung, denn das ist der Sinn und Zweck von Skripten: Sie erlauben uns, wiederkehrende Aufgaben zu erledigen, ohne unsere Aufmerksamkeit zu binden. Da wir aber nicht ganz bei der Sache sind und möglicherweise mit unseren Gedanken ganz woanders, schauen wir auf die Uhr, ohne es zu merken. Wir registrieren die Information nicht und müssen ein zweites Mal gucken. Ist doch doof, nicht?
Forschungsarbeiten zu unseren Bewusstseinsressourcen zeigen, dass man häufig blind für Veränderungen ist.4 Selbst wichtige Änderungen werden vom Menschen manchmal nicht wahrgenommen. Daher gibt es auch Wahrnehmungen wie die folgende: »Wenn du nach einer Diät gut zehn Kilo abgenommen hast, gibt es immer einen Dummkopf, der den Unterschied nicht bemerkt.« Studien zur »Kontrollillusion«5 – die menschliche Tendenz zu glauben, bestimmte Vorgänge kontrollieren zu können – erklären, weshalb es »immer einen Idioten gibt, der wie verrückt auf den Aufzugsknopf drückt, obwohl klar ist, dass er sowieso kommt«, Untersuchungen zum »sozialen Einfluss« wiederum verdeutlichen, warum es immer einen Idioten gibt, der dem Idioten hinterherfährt, der in eine Einbahnstraße einbiegt. Oder warum beim Fernsehquiz auf die Frage, ob es nun die Sonne oder der Mond sei, der sich um die Erde dreht, eben die Antwort fällt, die das Publikum erwartet.
Der Mensch scheint sich nur allzu gerne von der reinen Vernunft und dem, was man realistisch erwarten darf, abzuwenden. Der Dümmste von allen ist jedoch immer derjenige, der die massivsten Abweichungen vom Durchschnitt aller Ergebnisse aufweist. Seine Weltsicht ist gewöhnlich recht simplifiziert: Er tut sich schwer mit großen Zahlen, mit Quadratwurzeln, Komplexitäten und der Gauss’schen Normalverteilung, von der er gewöhnlich nicht mehr wahrnimmt als die Extreme. Stalin sagte einmal: »Der Tod von tausend Soldaten ist ein statistischer Wert, der eines einzigen eine Tragödie.« Jeder mag nun mal Anekdoten lieber als einen wissenschaftlichen Aufsatz, dessen Resultate von der Statistik bestätigt werden. Und der Dummkopf ist ein überschäumender Born von Anekdoten. Er kennt sogar jemanden, der aus dem 40. Stock gefallen ist und am Leben blieb. Das hat er auf SAT.1 gehört oder auf RTL.
Wissenschaftliche Untersuchungen zu Glaubensinhalten haben ergeben, dass die meisten Menschen an die Gerechtigkeit glauben.6 Der Dummkopf liefert uns hierfür einen prächtigen Beleg, wenn er im Brustton der Überzeugung verkündet: »Klar, sie ist vergewaltigt worden, aber hast du mal gesehen, wie die sich anzieht?« Je dümmer einer ist, desto mehr verdient das Opfer in seinen Augen, was ihm passiert ist … Und das totale Arschloch fühlt sich angekotzt von Leuten ohne Zähne, von diesen »Scheißarmen«.
Der Dummkopf zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass er alles und jedes glaubt, von den wüstesten Verschwörungstheorien über den Einfluss des Mondes auf das menschliche Verhalten bis hin zur Homöopathie, die bei seinem Hund schließlich tolle Resultate erzielt hat, das ist doch der beste Beweis! Am 28. Mai 2017 wird ein Motorrad auf der A4 gefilmt, das mehrere Kilometer allein weiterzufahren scheint, nachdem sein Fahrer von der Maschine gestürzt ist.7 Für die Dummköpfe ist die »Weiße Frau« daran schuld, für die besonders Schlauen ist es der gyroskopische Effekt … Im Übrigen scheint es eine negative Korrelation zwischen dem Hang zum Mystischen und der Verleihung des Nobelpreises zu geben.8
Was nun Glaubensinhalte angeht, so zeigen die Studien9 einen deutlichen Unterschied zwischen »Idioten, die nicht von gestern sind,« und den anderen, die sich nach eben dem »Schnee von gestern«10 sehnen. Es ist erwiesen, dass negative Erinnerungen sich mit der Zeit verlieren und nur die positiven übrig bleiben … Je älter man wird, desto mehr neigt man dazu, die Vergangenheit zu verklären. Darum kann man speziell von alten Dummköpfen immer wieder hören: »Früher war ja doch alles besser …«
Verschiedene Studien widmen sich den Entscheidungen, die wir irrational treffen. Die Forscher sehen in diesen Entscheidungen, die in großem Umfang untersucht wurden, einen Ausdruck unseres Bedürfnisses, unsere Umwelt unter Kontrolle zu bringen. Ein Bedürfnis übrigens, das jeder lebende Organismus hat. (So läuft auch Ihr Hund jedes Mal zur Tür, wenn es klingelt, obwohl es niemals er ist, der Besuch bekommt …) Das kann beim Menschen in einer Reihe vollkommen absurder Verhaltensweisen resultieren, zum Beispiel in einem Besuch beim Wahrsager. In Frankreich gibt es ungefähr hunderttausend Personen, die sich als »Seher« bezeichnen. Und sie machen etwa drei Milliarden Euro Umsatz pro Jahr. Obwohl die Wissenschaft nie auch nur bei einem der selbst ernannten Wahrsager eine hellsichtige Begabung entdeckt hat, machen diese gute Geschäfte. Man schätzt, dass ungefähr 20 Prozent aller Frauen und 10 Prozent aller Männer in ihrem Leben schon einmal zu einem Wahrsager gegangen sind. Im Allgemeinen müssen die Wahrsager ihre Berufswahl nicht bereuen: Es sind schließlich Dummköpfe, die die Dummheit der anderen zu ihrem Broterwerb erklärt haben … Aus dem Kontrollwunsch wird häufig die Kontrollillusion, und der Dummkopf geht dieser Illusion vermutlich eher auf den Leim als andere Menschen.11 Im Straßenverkehr äußert sich diese Illusion dergestalt, dass der Beifahrer viel mehr Angst vor einem Unfall hat als der Fahrer des Wagens. Ein Dummkopf kann einfach nicht schlafen, wenn er nur Mitfahrer ist … Dafür schläft er dann ein, wenn er selber am Steuer sitzt!
Der Dummkopf schüttelt den Würfelbecher stärker, wenn er eine Sechs werfen will. Er hat ein System für die Zahlen, die er im Lotto spielt. Er befingert schon mal einen Kaminkehrer, geht aber nie unter einer Leiter durch. Der Dummkopf ist überhaupt unschlagbar: Wenn er im Lotto gewinnt, dann nur weil er sechs Nächte nacheinander von der Ziffer sechs geträumt hat. Und weil sechs Mal sechs in seinem Hirn 42 macht, hat er die 42 gespielt, und siehe da, er hat gewonnen. Übrigens erfreut der Dummkopf sich guter seelischer Gesundheit, denn die Kontrollillusion ist bei Depressiven am geringsten ausgeprägt.12
Auf einem weiteren, ebenfalls gut erforschten Gebiet zeigt sich, dass der Dummkopf sehr oft Strategien einsetzt, die sein Selbstwertgefühl aufmöbeln. Studien zum falschen Konsensus13 belegen, dass wir die Zahl der Personen, die unsere Fehler teilen, grundsätzlich zu hoch veranschlagen. Das lässt sich zum Beispiel beobachten, wenn Sie einen Dummkopf darauf ansprechen, dass er gerade ein Stoppschild missachtet hat. Was wird er antworten? »Kein Schwein hält an diesem Stoppschild.«
Der Dummkopf neigt zudem massiv zum »Rückschaufehler«, einer kognitiven Verzerrung, die uns unser Vorauswissen überschätzen lässt. Nach der Geburt eines Kindes erklärt er: »Ich wusste ja, dass es ein Junge wird.« Nach den Fernsehnachrichten: »Ich war sicher, dass Macron Präsident wird.« Und im Gespräch: »Ich wusste genau, dass du das sagen würdest.« Ist der Dummkopf also ein Lügner? Oder doch ein Seher? Nein, der Dummkopf setzt sein »Ich wusste es doch« zu strategischen Zwecken ein, vor allem, um den anderen zu beweisen, dass er besser informiert ist, als er es in Wirklichkeit ist: »Ich wusste es, ich wusste es.« Natürlich kann man mit einem echten Dummkopf über solche Studien nicht diskutieren, denn er würde empört von sich weisen, dass er so ist …
Viele Menschen überschätzen ihre Fähigkeiten, um ihr Selbstwertgefühl aufrechtzuerhalten. Diese kognitive Verzerrung zeigt sich in vielen psychologischen Studien: In bestimmten Bereichen schätzen viele ihre Fähigkeiten als überdurchschnittlich ein. Dazu gehört zum Beispiel die Intelligenz. Da haben wir auf der einen Seite den »Einfaltspinsel«, dem man vorwirft, nicht genug Selbstvertrauen zu haben. Denn die Volkspsychologie hält es ja für erwiesen, dass eine Person, die menschliche Qualitäten wie Einfachheit, Bescheidenheit und Unauffälligkeit besitzt, »zu dumm« ist: ein Einfaltspinsel eben, ein Dummkopf, den andere ausnützen können. Auf der anderen Seite des Spektrums finden wir jene, die in allem nur Spitze waren, also die Vollidioten mit dem völlig übersteigerten Selbstbewusstsein. Und die können eine Gesellschaft teuer zu stehen kommen, zum Beispiel, wenn sie auf hoher See segelnd gerettet werden müssen oder aus Bergnot, weil sie abseits der ausgewiesenen Pisten Ski gefahren sind. Daran ändert nichts, dass dieser Typus sich häufig damit zufrieden gibt, seine Fähigkeiten als Autofahrer zu überschätzen.
Der »Attributionsfehler«14 lässt uns das kleine Arschloch vom totalen Arschloch unterscheiden. Das männliche Arschloch hat sich drei Mal scheiden lassen, weil er drei Idiotinnen kennengelernt hat. Er hat im Beruf keinen Erfolg, weil er zwei linke Hände hat. Schon als Jugendlicher hat er begriffen, dass es nicht seine Füße sind, die stinken, sondern seine Socken. Und dann wurde er auch noch angehalten, weil er mit dem Auto viel zu schnell unterwegs war. Das Glück meidet ihn wie einen Aussätzigen. Und er begreift einfach nicht, dass Glück in der Interpretation besteht, die die Knalltüte den Wahrscheinlichkeiten überstülpt.
Wenn du weinst, findet sich doch immer ein Dummkopf, der fragt: »Na, geht’s gut?«
Die Psychologen Dunning und Kruger konnten ihre Studie schlecht unter dem Titel veröffentlichen: »Wissenschaftliche Untersuchung über Idioten, die dir deinen Job erklären«. Damit hätten sie es vermutlich nie in eine wissenschaftliche Zeitschrift geschafft. Dabei haben sie genau dieses Phänomen untersucht! Die beiden Forscher haben herausgefunden, dass inkompetente Menschen ihre Fähigkeiten gerne überschätzen. Ein Dummkopf, der noch nie einen Hund hatte, erklärt dir, wie du den deinen erziehen sollst … Dunning und Kruger führen dies darauf zurück, dass mangelnde Qualifikation in bestimmten Situationen zu einer Fehleinschätzung der eigenen Fähigkeiten führt. Aber damit des Unglücks nicht genug. Den beiden Psychologen zufolge15 schätzen die Betroffenen nicht nur ihre eigene Eignung falsch ein. Sie sind auch nicht in der Lage, die spezifischen Begabungen anderer zu erkennen.
Diese Studien geben Aufschluss darüber, warum Klienten ihren Anwälten, Therapeuten oder Beratern ihren Job erklären. Und sie zeigen, warum es immer einen Dummkopf gibt, der fragt: »Aber wo war es denn, als du es zuletzt gesehen hast?«, wenn man etwas verloren hat. Aber auch, warum es Dummköpfe gibt, die Dinge äußern wie: »Anwalt sein ist doch einfach! Da müssen Sie doch nur auswendig lernen.« Oder: »Das Rauchen aufhören? Das muss man nur ernsthaft wollen.« Und: »Ein Flugzeug fliegen? Ach, das ist, als würden Sie einen Bus lenken.« Und so weiter. Ein echter Dummkopf hört sich einen Vortrag über Quantenphysik an, von dem er nicht ein Jota begreift, und spricht dann den Physiker nach dem Vortrag an, um ihm zu sagen: »Dann ist also alles relativ!«
Dunning und Kruger glauben, dass die Bescheidenheit uns dazu anhalten sollte, nicht wählen zu gehen, denn wir verstehen schließlich nichts von Wirtschaft, von geopolitischen Strategien und Institutionen. Wir sind also nicht kompetent genug, um Wahlprogramme richtig einzuschätzen oder auch nur herauszufinden, was nötig wäre, damit es unserem Land besser geht … Und doch trifft man am Stammtisch immer wieder einen Dummkopf, der angibt: »Ich weiß genau, wie wir aus der Krise rauskommen …« Interessanterweise zeigen viele Studien einen umgekehrten Dunning-Kruger-Effekt in asiatischen Ländern16 … also die Neigung, seine Fähigkeiten zu unterschätzen. In den Kulturen Ostasiens ist es die Norm, sich nicht in den Vordergrund zu drängen. Daher findet man dort auch nicht die Neigung, so zu tun, als hätte man zu allem etwas Vernünftiges zu sagen …
Es gibt eine ganze Reihe von Instrumenten, die uns helfen können, Dummheit zu definieren. Doch wir wollen diese kurze Zusammenfassung mit einer kognitiven Verzerrung abschließen, die man »zynisches Misstrauen« nennt.17 Denn damit sind der Dummkopf und auch das Arschloch besser ausgestattet als andere Menschen. Zynismus wird definiert als eine Gesamtheit negativer Einstellungen im Hinblick auf die Natur des Menschen und seiner Beweggründe. Das Arschloch leidet häufig an soziopolitischem Zynismus. Man muss sich nur mal mit ihm unterhalten, um das zu erkennen. Sprüche wie die folgenden bekommt man von ihm jeden Tag zu hören: »Die sind doch alle korrupt.« Oder: »Radarfallen? Das soll doch nur die Staatskassen füllen.« Und: »Psychologen? Alles Scharlatane.« – »Journalisten? Diese Speichellecker!« Das Arschloch glaubt, dass Leute nur deshalb ehrlich sind, weil sie Angst haben, erwischt zu werden. Es lebt in einer Welt, in der es von Unfähigen und Betrügern nur so wimmelt. Studien zeigen, dass der Zyniker-Arsch so wenig Bereitschaft zur Zusammenarbeit besitzt und anderen so sehr misstraut, dass er berufliche Chancen verpasst und am Ende weniger verdient als andere.
Letztendlich kann man sagen, dass beim Dummkopf verschiedene erwiesene psychologische Tendenzen übersteigert auftreten. Wer alle in sich vereint, ist folglich der »König der Dummköpfe« und damit der größte Arsch, der je auf Erden gelebt hat.
Aber die eigentliche Frage, die sich aus unserer Ausgangsfragestellung ergibt, nämlich, ob man Dummheit wirklich studieren kann, lautet vielleicht eher: »Warum gibt es nur so viele Dummköpfe?« Man muss nur einmal auf der Straße »Du Trottel!« schreien, und alle drehen sich um! Auch auf dieses Phänomen hat die wissenschaftliche Literatur eine Antwort parat, eigentlich sogar mehrere.
Denn wir alle sind mit einem Dummheits-Radar ausgestattet, der sich »Negativitätsverzerrung« nennt.18 Damit ist die Tendenz gemeint, negativen Dingen mehr Aufmerksamkeit zu schenken und mehr Interesse entgegenzubringen als positiven. Diese Negativitätsverzerrung hat schwerwiegende Auswirkungen auf die Ansichten der Menschen, ihre Vorurteile, ihre Denkmuster, ihre Wahrnehmung und ihren Aberglauben. So sehen wir zum Beispiel bei der Hausarbeit immer zuerst das, was noch nicht getan wurde, und nicht das, was bereits erledigt ist … Aufgrund dieser Negativitätsverzerrung erkennen wir in einem komplexen sozialen Umfeld einen Dummkopf eher als ein Genie. Und sie bringt uns dazu, hinter negativen Ereignissen eher eine Absicht zu vermuten als hinter positiven. Wenn wir zu Hause etwas suchen, glauben wir absolut nicht, dass wir es verlegt haben. Das muss schon jemand anderer gemacht haben: »Wer hat denn jetzt meinen Schlüssel?« Und wenn etwas schiefgeht, glauben wir meist, dass jemand anderer die Schuld daran trägt, nämlich ein echtes Arschloch, das alles vermasselt hat.
Die Wissenschaft hat im Übrigen den »fundamentalen Attributionsfehler«19 aufgedeckt: Wenn wir einen Menschen beobachten, schreiben wir sein Handeln gewöhnlich inneren Beweggründen zu und nicht äußeren Ursachen. Und in vielen Fällen fängt unsere Logik dann an zu hinken: Er ist nun mal ein Dummkopf. Wenn wir von einem rasenden Auto überholt werden, liegt das daran, dass der Fahrer ein Blödmann ist, und nicht daran, dass sein krankes Kind sich in der Schule verletzt hat. Wenn unser Freund nicht innerhalb von zwei Stunden auf unsere E-Mail antwortet, dann ist er sicher beleidigt. Es kann nicht sein, dass in seinem Viertel das Internet ausgefallen ist. Unser Kollege hat uns die Akten nicht weitergeleitet, weil er ein Faulpelz ist, und nicht, weil er völlig überlastet ist. Der Professor hat mir eine barsche Antwort gegeben, weil er ein Arschloch ist, und nicht, weil meine Frage dämlich war. Dieser Mechanismus lässt uns alsbald überall nur noch Dummköpfe wahrnehmen. Das sind zumindest zwei Gründe, warum wir für die Dummheit so empfänglich sind …
So wie es unterschiedliche Formen der Intelligenz gibt, die die Psychologen entdeckt haben, muss es auch unterschiedliche Formen der Idiotie geben … Angesichts des Fehlens weiterführender wissenschaftlicher Arbeiten, ja selbst eines einfachen Ansatzes zu einer Wissenschaft der Dummheit (Dieses Buch ist hier ein wahrer Meilenstein!), sollen hier einige repräsentative Vertreter beschrieben werden.
Zurückgebliebener, Einfaltspinsel, Idiot, Schwachkopf, Trottel, Simpel, Knalltüte, Depp, Flachkopf, Spinner … die Nomenklatur der Dummheit ist endlos. Dieser semantische Reichtum spiegelt zweifelsohne gewisse Nuancen wider, gewisse sprachliche Moden bzw. Anwendungssituationen.
Doch alles in allem ist der dahinterstehende Sinn meist gleich: Der Dummkopf, wie man ihn auch immer betiteln mag, ist jemand, dessen Intelligenz beschränkt ist, der nur einen beschränkten geistigen Horizont besitzt. Die Einschätzung der Dummheit ist also immer relativer Natur. Man ist kein Dummkopf an sich (wäre alle Welt dumm, würde es niemand bemerken). Anders ausgedrückt: Die Dummheit wird von einem festen Standpunkt aus gemessen, und zwar von dem desjenigen, der sich für überlegen hält.
Der Hinterwäldler, auf Englisch redneck oder hillbilly, ist dumm, boshaft, rassistisch und egoistisch. So zeichnet ihn zumindest Cabu, der Comiczeichner, der das Profil des Landeis ein für alle Mal mit kühnen Strichen festgehalten hat. Hier versammelt sich das Wahlvolk der Populisten: Weil die Leute dumm sind, das heißt, wenig politisches Reflexionsvermögen besitzen und zu kurz bzw. zu schablonenhaft denken. Sie denken in Schubladen, alles ist entweder schwarz oder weiß, ohne jeden Zwischenton. Sie sind engstirnig und verbohrt, sodass rationale Argumente bei ihnen nichts ausrichten: Sie beharren unbeirrbar auf ihrer Meinung. Die »Basta-Denker« eben!
Sie sind bösartig, weil sie frei von jeder Empathie auf Sündenböcke und Unschuldige einprügeln: Araber, Schwarze und Migranten im Allgemeinen.
Sie sind Egoisten, weil sie nur eines interessiert: ihr Wohlbefinden, ihre Bequemlichkeit, denn die anderen »wollen ja doch nur unser Geld«.
Aber ist »Hinterwäldler« denn wirklich ein brauchbares psychologisches Profil? Sollte dies der Fall sein, dann müssten wir nachweisen können, dass es eine natürliche Verbindung zwischen der Dummheit (einem schwach ausgeprägten Intellekt) und der Bosheit (verstanden als Egoismus und Verachtung anderer Menschen) gibt.
Sofern diese Paarung nicht eine reine Modeerscheinung ist. Denn man kann durchaus dumm und gutherzig sein. (Man denke nur an den allseits bekannten »Dorftrottel«.) Genauso wie man böse und intelligent sein kann. Trifft das nicht auf all jene zu, die das Porträt des Hinterwäldlers gezeichnet haben, auf Karikaturisten wie Cabu und Reiser? Haben nicht beide für eine Zeitschrift gearbeitet, die sich Hara-Kiri nannte und sich selbst als »dumm und böse« definiert hat? Diese Leute waren gewiss nicht wirklich dumm (obwohl systematisches Karikieren und Klischees den Intellekt letztlich ebenfalls beschränken). Böse hingegen waren sie oft.
»Alles Dummköpfe!«: Dieses Urteil wird meist im Brustton der Überzeugung hinausposaunt, während man seine Ellbogen auf einen beliebigen Tresen stemmt. Aber wer ist denn »alles«? Die Politiker, ihre Wähler, Funktionäre, Nichtskönner et cetera. Ein bisschen alle zusammen also, denn dieses Verdikt trifft da keine Unterscheidungen.
Aber eben dieser Mangel an Differenziertheit in der Analyse, die Arroganz, mit der man sich über die Menschheit erhebt, um den Rest der Welt zu verurteilen: Eben das ist ein sicheres Indiz dafür, dass man es mit einem echten Idioten zu tun hat. »Es ist dem Irrtum eigen, dass er nicht für sich bleibt«, bemerkte Descartes. Für die Dummheit trifft das noch mehr zu. Ein Dummkopf erkennt sich nicht als solchen. Andererseits stellt dies ein sicheres Kriterium dar, an dem man Idioten schon von Weitem identifizieren kann. Wo immer es donnernd erschallt: »Das sind doch alles Idioten!«, können Sie gewiss sein, dass der nächste Dummkopf nicht weit ist.
»Der Computer ist durch und durch dumm.«1 Diese Aussage stammt nicht einfach von irgendjemandem: Gérard Berry lehrt Informatik am Collège de France. Er ist Spezialist für Künstliche Intelligenz (KI) und zögert nicht, den Spekulationen (aus schlecht informierten Kreisen) entgegenzutreten, wonach die Fähigkeiten der Maschine irgendwann die des Menschen überflügeln würden.
Unbestritten hat die Künstliche Intelligenz in den letzten 60 Jahren unglaubliche Fortschritte gemacht. Heute können Maschinen Bilder erkennen, Texte übersetzen und medizinische Diagnosen stellen. 2016 hat die Software AlphaGo von Deepmind einen der weltbesten Go-Spieler geschlagen. So beeindruckend diese Leistung auch sein mag, man übersieht dabei leicht, dass AlphaGo nur eines gut kann: nämlich Go spielen. Genauso wie der Schachcomputer Deep Blue, der 1996 den Schach-Großmeister Kasparow schlug – vor mehr als 20 Jahren. Die angeblich intelligenten Maschinen entwickeln eine einzige begrenzte Fähigkeit, die sie von ihren menschlichen Meistern gelernt haben.
Spekulationen über die Autonomie der Maschinen, die angeblich »selbst lernend« sind, sind durchweg Mythen: Die Maschinen können die Fähigkeiten, die sie auf einem Gebiet erworben haben, nicht auf ein anderes übertragen. Das aber ist eine der grundlegenden Fähigkeiten der menschlichen Intelligenz. Die Stärken des Computers liegen in Speicherkapazität und Rechenleistung.
»Selbst lernende« Maschinen, die nach dem Prinzip des Deep Learning funktionieren (die neue Generation der KI), sind nicht intelligent – weil sie nicht verstehen, was sie tun. So lernt das Übersetzungsprogramm von Google zum Beispiel, ein Wort in einem bestimmten Kontext richtig zu verwenden (weil es mit einer enormen Menge Beispielsätze gefüttert wurde). Trotzdem ist es »dumm«: Es versteht die Bedeutung des benutzen Wortes nicht.
Aus eben diesem Grund sagt Gérard Berry: »Der Computer ist durch und durch dumm.«
Mit »Schwarmintelligenz« ist die Intelligenz eines Kollektivs gemeint, eines Ameisenvolkes zum Beispiel oder einer Gruppe von Neuronen: Jedes Element für sich genommen bringt nicht viel zustande, doch der Gruppeneffekt lässt sie Heldentaten vollführen. Die Selbstorganisation sorgt dafür, dass Ameisen einen extrem komplexen Bau mit verschiedenen Stockwerken, Gängen, Vorratskammern, Brutstätten, Hochzeitskammern und Lüftungsschlitzen errichten können … Einige Ameisen betätigen sich landwirtschaftlich (und ziehen Pilze), andere betreiben Nutztierhaltung (Läuse).
Auch wenn die Schwarmintelligenz noch nicht vollständig erklärt ist, so weiß man sie doch heute als Denkmodell zu schätzen, das auf einem einfachen Prinzip beruht: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Gemeinsame Entscheidungen und gemeinsame Schöpfungen sind immer besser als solche, die ein einziges Individuum zum Urheber haben.
Aber es kann auch passieren, dass man in der Gruppe schlimmere Dinge verbricht als allein. Denn die kollektive Intelligenz hat einen Gegenpart: die kollektive Idiotie. Häufig ist in der Menge unser persönliches Urteilsvermögen vermindert. Berühmt gewordene Versuche des Sozialpsychologen Solomon Asch über den Gruppenzwang haben dies schon vor Jahrzehnten gezeigt. Es genügt, dass eine Mehrheit eine offensichtlich falsche, ja dumme Theorie stützt, um andere davon zu überzeugen. Man nennt dies Konformitätsdruck. Ein weiteres Beispiel dafür sind die dem Brainstorming zu Unrecht zugeschriebenen Vorzüge: Nehmen Sie eine Gruppe von zehn Leuten und lassen Sie sie eine halbe Stunde an einem Projekt arbeiten (zum Beispiel: Werbeslogans für das Tourismusbüro einer Stadt). Gleichzeitig stellen Sie einer zweiten zehnköpfigen Gruppe die gleiche Aufgabe, mit dem einen Unterschied, dass hier jeder für sich arbeitet. Dann sammeln Sie alle Vorschläge ein: Sie werden feststellen, dass die Ideen von Gruppe 2 viel facettenreicher sind als die von Gruppe 1. Anders gesagt: Manchmal ist das Ganze auch weniger als die Summe seiner Teile.
Wir müssen noch nicht mal groß angelegte psychologische Versuche durchführen, um die Realität kollektiver Dummheit zu beweisen. Alles, was sich dabei nachweisen ließe, erleben wir schon tagtäglich im Büro, wo in Meetings noch mehr Dummheiten produziert werden, als wir allein hätten ersinnen können.
Wer ist leichtgläubiger als ein Kind? Einem Kind kann man fast alles erzählen, auch, dass irgendwo im Himmel ein älterer Herr mit Bart wohnt, der in einem von Rentieren gezogenen Schlitten durch die Gegend kutschiert und braven Kindern Geschenke bringt. Oder dass ein Mäuschen ausgefallene Milchzähne unter dem Kopfkissen einsammelt und dafür ein Geldstück da lässt …
Leichtgläubigkeit ist eine Form der Dummheit, die der Kindheit eigen ist. Das dachte zumindest ein Psychologe wie Jean Piaget. Der Philosoph Lucien Lévy-Bruhl glaubte, die Angehörigen indigener Stämme seien ebenso leichtgläubig, mit all ihren Vorstellungen von Waldgeistern mit magischen Fähigkeiten. Dies schien zu belegen, dass die »Wilden« wie die Kinder die Phase der Vernunft noch nicht erreicht hatten.
Dabei übersah er, was psychologische Experimente zeigen: Kinder sind nicht so naiv, wie man gerne annimmt. Sie sind zwar der Auffassung, dass Rentiere fliegen können, aber nur in einem parallelen Universum, in dem die Gesetze der irdischen Welt nicht gelten. Dort nämlich fliegen Rentiere – wie jedes Kind weiß – nicht. Auch wir Erwachsenen sind doch bereit, an die Existenz von sich höchst seltsam verhaltenden Teilchen zu glauben (wie die Gabe der Allgegenwärtigkeit, der nicht zeitverzögerten Kommunikation über große Distanzen), nur weil die Physiker uns das sagen. Dabei sind einige dieser Wissenschaftler tiefgläubig. Sie glauben sogar an die Auferstehung Christi.
Aufgrund solcher Befunde haben Psychologen und Soziologen die Leichtgläubigkeit einmal mehr unter die Lupe genommen. Leichtgläubigkeit ist nicht gleichzusetzen mit einem Mangel an Logik (den man Kindern zuschreibt): An Dinge zu glauben, die scheinbar unglaublich sind, zeigt nur, dass da ein anderes Bezugssystem im Spiel ist, was aber nichts mit Naivität oder mangelndem Urteilsvermögen zu tun hat.
Auch Lucien Lévy-Bruhl erkannte, dass er die »primitive Mentalität« falsch eingeschätzt hatte. Dass er seinen Irrtum erkannte, zeigt, was für ein großer Mann er war. In der Philosophie passiert dies nämlich äußerst selten.
Als Jules Ferry Ende des 19. Jahrhunderts in Frankreich die allgemeine Schulpflicht einführte, zeigte sich, dass einige Schüler nicht in der Lage waren, dem normalen Unterricht zu folgen. Also bat man zwei Psychologen – Alfred Binet und Théodore Simon –, einen Intelligenztest zu entwickeln, um diese Kinder richtig einschätzen und ihren Kapazitäten gemäß unterrichten zu können: Dieser Test schuf die Grundlagen für alles, was wir heute als IQ-Test kennen (Bestimmung des Intelligenzquotienten).
Es wurde festgelegt, den IQ-Median der Bevölkerung mit 100 zu beziffern. IQ-Tests versuchen, ausgehend von diesem Medianwert die Intelligenz eines Menschen einzuschätzen: Wer einen IQ unter 80 (und über 65) aufweist, hat eine »leichte Intelligenzminderung«. Zwischen einem Wert von 50 bis 65 liegt die »mittelgradige Intelligenzminderung«. Eine »schwere Intelligenzminderung« haben Menschen mit einem IQ von 20 bis 34. (Diese bezeichnete man früher als »schwachsinnig«.) Darunter liegt die »schwerste Intelligenzminderung« mit einem IQ-Wert unter 20.
Solche Menschen nannte man früher »schwachsinnig«, »zurückgeblieben« oder eben »Idioten«. Diese Begriffe sind heute aus der Psychologie verbannt. Man spricht von »Intelligenzminderung«, von »besonderem Förderbedarf« oder »Lernschwierigkeiten«. Manchmal spricht man auch schlicht von »anders Begabten«. (Ebenso nennt man die »Genies« oder »Hochbegabten« von einst mittlerweile »frühreife Kinder« oder »hoch befähigte Kinder«.) Was niemanden daran hindert, in der Praxis auf Tests zurückzugreifen, um die Kinder zu klassifizieren und sie nach ihrer geistigen Leistungsfähigkeit einzustufen, denn es ist ja nach wie vor nötig, sie in die richtigen Schulen zu schicken.
»Idiotie« oder »Imbezillismus« sind Begriffe, die in den Anfangszeiten der Psychiatrie benutzt wurden, um Personen mit einem sehr niedrigen kognitiven Niveau zu beschreiben, die weder lesen noch schreiben, in einigen Fällen auch nicht sprechen konnten. Philippe Pinel hielt Victor von Aveyron, den etwa zehnjährigen Wolfsjungen, der Ende des 18. Jahrhunderts in einem Wald bei Paris entdeckt wurde, für einen »Idioten«. Heute würde man ihn vermutlich als »Autisten« bezeichnen. »Der typische Idiot ist ein Mensch, der nichts weiß, nichts kann, nichts will. Und jeder Idiot kommt dieser maximalen Unfähigkeit auf die ein oder andere Weise nahe«, schrieb Jean-Étienne Esquirol, selbst Psychiater und Schüler von Pinel.
Wer wird je sagen können, inwiefern die geistige Struktur eines Schwachsinnigen von der eines anderen Menschen abweicht?
Buffon
Der französische Neurologe Paul Sollier widmete den »Idioten und Imbezilen« in seinem bahnbrechenden Werk Psychologie de l’idiot et de l’imbécile: essai de psychologie morbide (Paris, 1891) ein ganzes Kapitel. Er bedauert darin, dass die französische Psychologie auf diesem Gebiet der englischen und amerikanischen weit hinterherhinke, und weist darauf hin, dass über die Definition der jeweiligen geistigen Kondition kein Konsens bestehe: So verwendeten einige Ärzte die Intelligenz als Maßstab, andere wiederum die Sprachbeherrschung oder moralische Kriterien (wie eine fehlende Selbstbeherrschung).
Das Konzept der Idiotie wird von den Psychologen bald danach zunehmend zurückgewiesen. Es bleibt letztlich nur der Begriff der »idiots savants« (und selbst dieser wird verkürzt zum Savant): Unter dieser Bezeichnung subsumiert man bestimmte Fälle von Autismus oder des Williams-Beuren-Syndroms. Dabei treten ein geringes Sprachvermögen oder kognitive Defizite zusammen mit ungewöhnlichen Fähigkeiten auf bestimmten Gebieten auf, zum Beispiel im Rechnen, Zeichnen oder in der Musik.