Mela Nagel
Magiegeboren
(Burning Magic 1)
Roman
Digitale Originalausgabe
Impressum
Ein Imprint der Arena Verlag GmbH, Rottendorfer Str. 16, 97074 Würzburg
Digitale Originalausgabe
© Arena Verlag GmbH, Würzburg 2019
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Covergestaltung: Arena Verlag GmbH 2019, unter Verwendung von Fotos von © stock.adobe.com, Dublin: Del Moretto, Giuliano, vladmark, msanca
Alle Rechte vorbehalten
E-Book Herstellung: Arena Verlag 2019
E-Book Auslieferung: readbox publishing, Dortmund
ISBN: 978-3-401-84064-2
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Für Niko.
Kapitel 1
Freiheit
Lehrerversammlung. Freier Nachmittag. Toll … für alle anderen. Wahrscheinlich bin ich die einzige Siebzehnjährige, die keinen Bock hat früher nach Hause zu gehen.
An einem schönen Tag wäre das kein Problem für Robin. Vor allem wenn Englisch bei Miss Porter ausfiel. »Für den übergebührlichen Gebrauch des Wortes fuck im Unterricht«, stand letzte Woche in der Abmahnung an ihre Eltern. Robins Rechtfertigung, dass fuck nun mal ein modernes Wort ist und durchaus positiv gemeint sein kann, inklusive der Aufzählung von Beispielen, hatte es irgendwie nur schlimmer gemacht und ihr die Abmahnung eingehandelt. Was ihr Vater davon gehalten hatte, zeigten die blauen Flecken an ihrem Oberarm. Zum Glück gehörten langärmlige Blusen zur Schuluniform …
Es regnete in Strömen. Weil sogar die Schulbibliothek geschlossen hatte und ihr Lieblingscafé bestimmt gerade von ihren Klassenkameraden überrannt wurde, lief Robin wohl oder übel nach Hause. Normalerweise hätte sie sich jetzt einfach an den Hafen gesetzt. Auf ihre Bank. Also, genaugenommen war die kleine morsche Bank unter der Trauerweide am Fluss nicht ihre Bank. Aber seitdem Robin jeden, der sich auch nur der Bank näherte, mit ihrem »ich ramme dich ungespitzt in den Boden«-Blick ansah, fühlte es sich so an. Die Bank und ein Buch. Das Schaukeln der Boote am Anlegesteg. Der Geruch von Wasser und Algen. Ein perfekter Platz, ein perfekter »noch nicht nach Hause«-Platz. Scheiß Regen!
Wenn sie für jede Stunde, die sie auf ihrer Bank verbracht hatte, ein Pfund bekäme, hätte sie sich schon längst ein Zimmer in Lemington mieten können. Weit weg von dem Haus, auf das sie eben zu stampfte. Wer auch immer entschieden hatte, das kleine zweistöckige Gebäude mit dem schwarzen Schieferdach grau zu streichen, musste an akuter Geschmacksverirrung gelitten haben. Es lag am Ende einer einsamen, unbewohnten Straße, etwas außerhalb von Lemington, dem unspektakulärsten Ort der Welt. Gäbe es Lemminge in Lemington, sie würden sich vor Langeweile im Fluss ertränken. Nur der riesige Garten, der das Haus wie ein Dschungel umschloss, gefiel Robin. Aber im Regen wirkte selbst er grau.
Ein mulmiges Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus, als sie die letzten Meter zum Gartentor ging.
Wie oft hatte sie ihre Mutter schon bekniet, endlich das Weite zu suchen, ihren Vater zu verlassen? Robin könnte einen Job annehmen und dafür sorgen, dass etwas Geld zum Leben da war. In der Stadtbibliothek suchten sie ständig Aushilfen. Aber genauso oft hatte ihre Mutter müde gelächelt, ihre Finger durch Robins Lockenschopf gleiten lassen und den Kopf geschüttelt.
Robin schluckte bei dem Gedanken an ihre Mutter. Sie war immer müde und immer blass.
Wegen dir. Du hast sie bei deiner Geburt zerstört.
Die Worte ihres Vaters hatten sich in ihr Gedächtnis gebrannt, wie eine Tätowierung, die sie nie wieder loswurde. Auf den Fotos von früher sprühte ihre Mutter vor Energie und ihr Lachen war wunderschön. Doch Robin hatte sie nie so erlebt. Kein Wunder, dass ihr Vater so wütend auf Robin war. Es war ihre Schuld.
Robin trat genervt gegen das Gartentor, das mit Schwung gegen den Briefkasten dahinter krachte. Robins Blick schoss sofort zur Haustür. Das mulmige Gefühl explodierte und ein heißes Knäuel lag plötzlich in ihrem Magen. Heute war Dienstag, ihr Vater hatte Homeoffice.
Hoffentlich hat er das nicht gesehen …
Wenn sie es schnell ins Haus schaffte und nach oben in ihr Zimmer, würde er vielleicht gar nicht mitbekommen, dass sie schon da war. Sie würde sich in ihr Bett verkriechen und lesen. Sie steckte mitten in der Schlacht um King’s Landing, als die Schulglocke sie heute Morgen unterbrochen hatte. Vielleicht konnte aus dem Tag sogar noch etwas Gutes werden. Robin lächelte und kramte ihren Schlüssel aus dem Rucksack. Sie steckte ihn ins Schloss, schüttelte ihren Regenschirm aus und öffnete die Tür.
Die Vorfreude auf ein paar gemütliche Lesestunden in ihrem Bett verpuffte innerhalb eines Wimpernschlags. Kaum hatte sie die Haustür aufgeschoben, drang die Stimme ihrer Mutter an ihre Ohren.
»Es ist vorbei, Albert! Ich werde nicht zulassen, dass du ihr wehtust!« Sie klang nicht so müde und matt wie sonst. Eher … wütend. »Ich sehe nicht länger zu!«
Robin hielt den Atem an. Machte ihre Mutter da gerade den Schlussstrich, den sie sich so sehr wünschte? Ihr Herz begann zu hüpfen wie ein wildgewordenes Katzenbaby.
»Das kannst du mir nicht antun!«, hörte Robin ihren Vater antworten. Auch er schien außer sich zu sein. Obwohl das bei ihm alles andere als außergewöhnlich war, freute sich Robin, ihn so zu hören. Das erste Mal in ihrem Leben.
Mum macht es. Wir gehen. Endlich.
Aber in seiner Stimme schwang noch etwas mit, etwas, das Robin aufhorchen ließ. Wie angewurzelt starrte sie den Flur hinunter. Neben der steilen Treppe, die zu Robins Zimmer und dem Schlafzimmer ihrer Eltern hochführte, lief er schnurgerade auf eine Tür zu. Die zum Arbeitszimmer ihres Vaters. Sie war nicht geschlossen, wie sonst, sondern nur angelehnt.
»Wenn du das tust, lässt du sie allein! Deine eigene Tochter! Willst du das?«, fragte ihr Vater, doch es klang eher wie eine Drohung.
Was ging hier vor?! Ihre Eltern stritten kaum, dafür ging es ihrer Mutter zu schlecht. So lange Robin denken konnte, war ihre Mutter schwach und kränklich gewesen. Seit ihrer Geburt, wie ihr Vater sie nur zu gerne erinnerte.
Jetzt lachte ihre Mutter auf. Nicht das kraftlose aber meist fröhliche Lachen, das sonst über ihre Lippen kam. Dieses Lachen jetzt war anders, es ließ Robin erschaudern. »Du wirst mich nie wieder benutzen! Genauso wenig wie Robin. Dafür sorge ich.«
Robins Magen zog sich zusammen, etwas stimmte nicht. Null. Nada. Es war, als flösse Strom durch die Luft. Sie konnte die Spannung deutlich spüren. Nur eine kleine Bewegung und die ganze Energie würde sich entladen.
Langsam ging Robin den Flur hinab.
»Lass mich frei, Eleonor!«, schrie ihr Vater.
Er hat Angst! Ihr Vater hatte wirklich Angst, begriff Robin.
»Wenn du mich umbringst, wer kümmert sich um Robin? Du stirbst lieber, als bei ihr zu sein? Was für eine Mutter bist du?«
Wie bitte? Umbringen? Sterben? Das Glücksgefühl in ihrer Brust verwandelte sich in ein fieses Ziehen. Robin erstarrte.
»Eine Mutter, die ihr Kind beschützt!«
»Vor ihrem eigenen Vater?« Die Stimme ihres Vaters triefte vor Hohn.
»Wie traurig, oder? Meine Magie zu stehlen, ist eine Sache, aber-«
»Du hast es gewollt! Du wolltest mir helfen!«, unterbrach sie ihr Vater.
»Aber du solltest Robin in Ruhe lassen! Das war der Deal! Ich lasse nicht zu, dass du unserer Tochter das gleiche antust wie mir!« Die Stimme ihrer Mutter brach und ging in einem Husten unter.
Sie meint es ernst. Das durfte nicht wahr sein! Endlich gehorchten Robins Beine wieder und sie rannte die letzten Schritte und riss die Tür auf.
Auf dem Schreibtischstuhl mitten im Raum saß ihr Vater. Erst auf den zweiten Blick bemerkte Robin, dass er festgebunden war. Ein Seil lief von seinen Knöcheln und Handgelenken zu der Hand ihrer Mutter. Sie saß am Boden, gegen den massiven Schreibtisch gelehnt. Ihre eigentlich dunkelbraune Haut wirkte noch viel blasser als sonst, fast bläulich. Ihre Augen funkelten, nein, leuchteten blau. Als hätte sie hinter jedem Auge eine Glühbirne angeknipst.
Wie oft hatte Robin schon das blaue Funkeln in den Augen ihrer Mutter gesehen? Jedes Mal, wenn sie ihre Magie benutzte, tanzten diese kleinen Funken durch ihre eigentlich braunen Augen. Doch jetzt konnte Robin das Braun unter den Funken nicht mal mehr erkennen. Das Leuchten schien auch durch ihre Haut zu dringen! Nur ein Geflecht aus feinen Linien setzte sich dunkel unter ihrer Haut ab.
»Scheiße, Mum?«
Ihre Mutter riss den Kopf herum und die Panik, die Robin fühlte, sprang auch in das Gesicht ihrer Mutter. »Robin? Was? Warum bist du da? Du solltest in der Schule sein! Du musst hier weg! Jetzt!«
»Vergiss es! Du … du leuchtest!« Mit wenigen Schritten war Robin bei ihr, ging in die Hocke und schlang ihre Finger um die ihrer Mutter. Sie waren heiß, als hätte sie Fieber.
»Robin!«, rief ihr Vater. »Zum Glück bist du da. Deine Mutter ist kurz davor zu illuminieren. Wir müssen hier raus! Hilf mir!«
»Illumi- was?« Robin sah ihn an. Sein Gesicht war fast weiß und er blinzelte viel zu oft. Ihn so hilflos auf den Stuhl gefesselt zu sehen … Jetzt weiß er, wie ich mich mein ganzes Leben lang gefühlt habe.
Sie wollte ihm nicht helfen. Alles was sie wollte, war, dass er genau dort blieb, wo er war.
»Illuminieren. Ihre Magie zerstört sie«, erwiderte ihr Vater panisch. »Sie tötet deine Mutter. Wenn wir nicht verschwinden, dann auch uns! Wir dürfen nicht in ihrer Nähe sein.«
Robin versuchte, nicht zu schreien. Sie hatte sich verhört, ganz sicher. »Mum?«
»Er hat Recht …«
»Was?!« Angst ließ ihren Brustkorb enger werden. »Was soll ich tun, Mum? Sags mir, wie kann ich dir helfen?«
»Du musst gehen, jetzt!«
»Nein!« Hatte sie den Verstand verloren? »Ich gehe auf gar keinen Fall! Nicht ohne dich!«
Ihre Mutter begann zu zittern. Es war, als pulsierte sie blau, mit jedem ihrer Atemzüge mehr.
Ein Traum, das muss ein Traum sein! Doch Robin wachte nicht auf, sie saß neben ihrer blauleuchtenden Mutter. Hilflos und überfordert.
»Ich kann es nicht mehr aufhalten.« Ein Schauer ging durch ihre Mutter. Ihre Stimme zitterte. »Du musst gehen! Bitte!«
»Nicht ohne dich!«. Tränen stiegen in Robins Augen. »Ich helfe dir. Ich-«
»Zu spät. Du solltest nicht hier sein, nur dein Vater und ich.« Sie krümmte sich vor Schmerzen. »Nur er und ich. Damit es endlich aufhört. Endlich aufhört.«
»Mach mich los!« Robins Vater zerrte wie besessen an seinen Fesseln. Doch Robin wusste, wenn ihre Mutter nicht wollte, dass er frei kam, hatte er keine Chance. Magie war stärker als jede nicht-magische Kraft. Robin hatte das am eigenen Leib erfahren. Ihre Magie, ihr Feuer, war bei weitem kraftvoller als die Magie ihrer Mutter und hatte sie oft genug in Schwierigkeiten gebracht.
»Mum, sag mir bitte, was ich tun soll. Soll ich einen Arzt holen? Oder soll ich mit meinem Feuer lö-«
»Du sollst gehen«, flüsterte ihre Mutter. »Jetzt!«
»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich dich allein lasse? Mit ihm? Damit du einfach sterben kannst?« Wütend wischte sie sich die Tränen weg.
»Sie wird nicht gehen, Eleonor«, mischte sich ihr Vater ein. »Nicht von allein. Sie ist stur, das hat sie von ihrer Mutter. Lass mich gehen und ich bringe sie weg! Ich bringe sie in Sicherheit!«
»Mach ihn nicht los«, schrie Robin. Ihre Mutter sollte aufhören, zu leuchten, und sie sollte mit ihr kommen. Nicht ihr Vater! »Hör auf, deine Magie zu benutzen!«
»Ich kann nicht, Robin. Ich -« Sie brach ab und ein Krampf erfasste ihren Körper.
Robin stich ihr übers Haar. »Ich muss doch was tun können. Bitte, Mum, bitte!«
»Ich habe keine Kontrolle mehr über die -« Wieder krümmte sich ihre Mutter. Schweiß stand auf ihrer Stirn.
»Du kennst Robin.« Ihr Vater ignorierte Robin, wie immer. Wut mischte sich in ihre Panik. »Sie wird nicht gehen. Rette sie, Eleonor! Mach mich los, und rette deine Tochter. Das wolltest du doch, oder nicht?«
Der Laut, den ihre Mutter von sich gab, grub sich in Robins Eingeweide. Verzweifelt drückte Robins Mutter ihre Finger. »Geh nach -« Sie verkrampfte sich und das Leuchten verstärkte sich urplötzlich. Das ganze Zimmer war davon eingenommen.
»Mum! Nicht!«
»Lass mich frei!«, schrie ihr Vater. »Ich bringe sie weg! Ich rette Robin!« Kaum hatte er seinen Satz beendet, verstärkte sich das Glühen in den Augen ihrer Mutter und das Seil bewegte sich wie von Geisterhand. Es fiel von ihrem Vater ab.
»Vertrau niemandem«, wiederholte Robins Mutter die Worte, die sie Robin schon ihr Leben lang eingetrichtert hatte. Wie oft hatte sie diese Worte gehört? Tausend Mal? Sie waren der Grund, dass Robin das einsamste Mädchen der Schule war. »Vor allem nicht deinem Vater!«
Bevor Robin antworten konnte, packte ihr Vater sie an den Riemen ihres Schulrucksacks, den sie immer noch trug, und zerrte sie auf die Beine und zur Zimmertür.
»Versteck … dich!«, brachte ihre Mutter mühsam über die Lippen. »Du … musst … musst … Lo-« Sie kämpfte mit dem letzten Wort. Ihre Lippen bewegten sich, aber es schien einfach nicht hervor kommen zu wollen. Das Pulsieren des Lichts beschleunigte sich mit jedem Augenblick. »Lon …«, versuchte sie es erneut.
»Mum?!« Robins Herz überschlug sich in ihrer Brust, als ihre Mutter zu Boden sank.
Ihr Vater zerrte heftiger an ihr. Robin wehrte sich. »Lass mich los!«
»Lon …« Ihr blau leuchtender Blick traf Robins Augen. »London«, hauchte sie so leise, das Robin im ersten Moment glaubte, es sich eingebildet zu haben.
»Dad, nein! Tu doch etwas!« Sie wollte ihre Mutter nicht allein lassen! Sie konnte sie nicht einfach sterben lassen!
Doch ihr Vater war stärker. Viel stärker. Er schleifte sie aus dem Raum, den Flur hinab und aus der Haustür, hinaus in die Kälte und in den Regen.
Plötzlich ertönte ein ohrenbetäubender Knall.
Eine Druckwelle warf Robin und ihren Vater zu Boden. Die elektrische Energie, die Robin beim Betreten des Hauses gespürt hatte, schien sich zu entladen, mit voller Wucht. Glas splitterte. Schutt regnete auf sie herab.
»MUM?«, schrie Robin. »Nein, NEIN!« Was war geschehen? Wenn die Wucht der Explosion sie schon umgenietet hatte, wie ging es dann erst ihrer Mutter?
Robin kam taumelnd auf die Beine, ihre Ohren taten weh und sie hörte ein durchgängiges Piepsen. Ihr Vater lag keinen Meter weit entfernt. Er stöhnte und hielt sich den Kopf. Direkt neben ihm lag ein Ziegelstein. Vermutlich hatte er ihn getroffen.
Vergiss ihn! »Mum?«
Sie rannte auf den Hauseingang zu, stolperte über ein Brett, dann einen Ziegelstein, einem von vielen, die überall im Flur herumlagen. Staub hing in der Luft. Von den Bildern an der Wand hing nur noch eines, das aus dem letzten Sommer, als sie im Garten gepicknickt hatten.
Die Wand des Arbeitszimmers war zum Flur hin eingedrückt, die Tür hing schräg im Rahmen, der nur noch zur Hälfte existierte. Von dem Zimmer dahinter war kaum noch etwas übrig. Es war, als hätte ein Riese das Zimmer wie eine Schneekugel durchgeschüttelt. Papier, Bücher, Holzteile, kaum eines länger als ihr Schienbein, lagen überall. Dort, wo vorher noch ein Fenster und eine massive Steinwand gestanden hatten, klaffte ein riesiges Loch und eins der Rosenbeete ihrer Mutter war zu sehen.
»Mum?«
Robin stolperte zu der Stelle, wo ihre Mum eben noch gesessen hatte.
Nichts als Staub und Schutt.
Kein Körper.
Keine Kleidung.
Kein Blut.
Nichts. Nichts? Kleine, blau-glitzernde Punkte schimmerten auf dem Teppich vor dem Schreibtisch. Robin beugte sich schnell hinunter. Kristalle? Ungefähr eine Handvoll, schätzte Robin, doch sie wagte es nicht, sie zu berühren. Keiner größer als ein halber Fingernagel. Das bildete sie sich ein, oder? Das Blau hatte sich in ihre Netzhaut gebrannt. Was wenn sie auch begann, sich in eine Magie-Bombe zu verwandeln? Sie kam auf die Beine und stolperte von den Kristallen weg, als wären sie angriffslustige Schlangen. Alles in ihrem Kopf drehte sich und der Staub in der Luft kratzte im Hals.
»Mum!?«
Einfach weg, in Luft aufgelöst. Als hätte sie nie existiert. Wie war das möglich? Wie?
Robin wurde heiß. Ganz sicher würde sie gleich aufwachen. Das war einer der Albträume. Sie wachte immer an den Stellen auf, an denen sie oder jemand anderes starb. Das konnte nur ein Traum sein. Bitte!
Ihr Vater tauchte in dem auf, was vor Minuten noch der Türrahmen gewesen war. Über seiner linken Schläfe klaffte eine Wunde und Blut strömte daraus hervor. Er sah sich um, sein Gesicht starr.
»Wo … wo ist sie hin?«, fragte Robin.
»Illuminiert.«
Robin ballte die Hände zu Fäusten. »WO IST SIE HIN?!«
Beschwichtigend hob ihr Vater die Hände. »Ihre Magie … hat sie getötet. Es ist schiefgelaufen.« Er raufte sich die Haare. »Es ist schiefgelaufen.«
»Was ist schiefgelaufen?« Robin drehte sich zu ihm um. »Was hast du getan?« Sie schubste ihn. »Was hast du getan?!«
Ihr Vater packte Robins rechtes Handgelenk und schlug ihr ins Gesicht. Robin taumelte zur Seite, nur seine Hand an ihrem Handgelenk verhinderte, dass sie umkippte. Ihr Kopf vibrierte. Tränen brannten in ihren Augen. Er wird dich wieder schlagen, wieder und wieder. Es wird ewig so weiter gehen. Aber jetzt war ihre Mutter nicht mehr da, die ihn abhielt, wenn er durchdrehte. Und die Robin davon abhielt, abzuhauen.
Robins Gedanken rasten. Was immer er getan hatte, ihre Mutter wollte nicht, dass er es auch mit ihr tat. Sie war lieber gestorben. Sie ist nicht mehr da. Robin verstand ihren letzten Gedanken nicht. Wie konnte jemand da sein und im nächsten Moment nicht mehr? Wie konnte innerhalb von Sekunden ihre Welt Kopf stehen? Sie konnte doch die Wärme der Hand ihrer Mutter noch in ihrer spüren. Oder?
Vertrau niemandem, schon gar nicht deinem Vater.
Versteck dich.
London.
Die letzten Worte ihrer Mutter hallten durch ihren Kopf, klar und deutlich. Das war verrückt. Sie sollte nach London? Warum? Bisher hatten ihre Eltern jeden Ausflug dorthin verboten. Sie kannte dort niemanden.
Robin versuchte, sich aus dem Griff ihres Vaters zu winden, aber seine Arme schlangen sich fest um sie. Er zog sie von den Überresten des Zimmers weg, zurück in den Flur, in Richtung Vorgarten. Sein warmer Atem strich ihre Wangen. Er roch nach Minze, wie immer. Sie hasste Minze.
»Wir müssen jemanden anrufen …«, murmelte Robin. »Einen Krankenwagen. Oder die Feuerwehr! Wir brauchen Hilfe.«
»Nein!«, fuhr ihr Vater sie an.
»Nein?«
»Du wirst tun, was ich dir sage. Du wirst mit mir kommen und kein Theater machen. Du wirst-«
Vertrau niemandem, schon gar nicht deinem Vater.
»Lass mich los!«
Seine Arme drückten sie noch fester an ihn und ihre Beine stolperten seinen hinterher. Sie konnte nichts dagegen tun. Er machte mit ihr, was er wollte. Es war schon immer so gewesen. Sie wollte aus seinen Armen, weg von seinem ekelhaften Atem.
Die Ohnmacht, ihrem Vater ausgeliefert zu sein, hatte schon früher ihr Feuer auf den Plan gerufen. Als Robin noch ein kleines Kind gewesen war, hatte sein kalter Blick genügt, um ihre Magie Dinge tun zu lassen, die Robin gar nicht wollte. Unsichtbar bahnte sie sich ihren Weg aus Robin in Dinge und zerlegte diese in ihre Einzelteile, bevor Robin wusste was passierte. Einmal hatte sie das Glas in ihrer Hand geschmolzen und damit den Teppich im Wohnzimmer versaut. Doch dieses Mal war es anders.
Ich will, dass er mich loslässt, sofort! Hilf mir!
Das Feuer nahm die Aufforderung an und schoss durch ihren Körper, begleitet von tausenden Nadelstichen, die Robin jedes Mal den Atem nahmen. Es glitt aus ihr heraus und ließ den Staub, der in der regennassen Luft hing, eine feste Schlinge um den Hals ihres Vaters bilden.
Zieh sie zu!
Ihr Vater riss die Augen auf und griff sich an den Hals, als das Feuer Robins Befehl folgte und die Schlinge zu zog.
Endlich ließ er sie los.
Robin stolperte von ihm weg, während er auf die Knie sank und nach Luft schnappte, die Hände an seinem Hals.
London.
Robin wirbelte herum und rannte davon.
Kapitel 2
Pinguin-Woman
Ein Tablett mit Champagnergläsern so zu balancieren, dass nichts zu Boden krachte, sollte eine olympische Disziplin sein. Vor allem, wenn man damit durch hunderte rücksichtslose High-Society-Kostümierte manövrierte. Dass gerade dieser Teil des heutigen Plans so schwierig sein würde, war für Robin die Überraschung des Abends. Tagelang hatte sie schlecht geschlafen, weil sie sich Sorgen darum gemacht hatte, ob ihr der Caterer abnahm, dass sie volljährig und dass der Pass, den Tim ihr gegeben hatte, keine Fälschung war. Übelgenommen hätte sie es ihm nicht. Für ihre siebzehn Jahre war sie klein, dürr und ganz und gar nicht weiblich. Aber ihr Ausweis war dem Caterer herzlich egal gewesen, Hauptsache sie passte in den Frack des Pinguinkostüms, das die Kellnerinnen auf dem Kostümball der Pulham Society trugen. Das Kostüm hatte eine fast natürliche Grenze zwischen Gästen und Angestellten geschaffen und die betuchten Gäste hatten sie so gut wie gar nicht wahrgenommen.
Doch dieses verdammte Tablett auf der Hand zu behalten, wenn Superhelden, Feen, Hexen und Weihnachtsmänner ständig Gläser nahmen und abstellten, war die Pest.
Seit sieben Wochen war sie schon in London und sie liebte die Stadt. Noch nie zuvor war sie in der Metropole gewesen, weil ihre Eltern es ihr verboten hatten. Warum verstand Robin nicht. Und warum ihre Mutter sie ausgerechnet hierher geschickt hatte, um sich zu verstecken, war ihr ein Rätsel. Sie kannte niemanden hier. Es gab niemanden, der sie hätte aufnehmen können. Niemanden, dem sie vertrauen konnte. Sie war vollkommen auf sich gestellt.
Trotz allem war London herrlich! Die Stimmung in den verschiedenen Vierteln, das ungeordnete Chaos der Straßen, die vielen alten und neuen Gebäude, die sich zu einem Puzzle aus Geschichten zusammen zu fügen schienen. London fühlte sich gut an, richtig. Wie ein Zuhause, das Robin schon immer vermisst hatte. Den Gedanken an ihr altes Zuhause schluckte Robin hinunter und lächelte eine Marge Simpson an, die ihr Champagnerglas auf ihr Tablett stellte und sich, nicht ganz ohne zu schwanken, ein neues griff. Sie nahm Robin gar nicht wahr, wie die meisten Menschen.
Okay, einem war sie aufgefallen. Tim. An ihrem sechsten Tag in der Stadt hatte er sie erwischt, als sie sein Portemonnaie ohne die zweihundert Pfund, die sie herausgenommen hatte, in seine Tasche zurücksteckte. In ihrem Schulrucksack hatte sie gerade mal zwanzig Pfund gefunden. Damit kam man in London nicht sehr weit. Tims Hand hatte sich um ihr Handgelenk gelegt und sie in eine Seitenstraße gezogen. »Wie hast du das gemacht?«, hatte er gezischt.
Robin hätte antworten können, dass sie talentiert war. Aber … »Mit Magie.«
Tim hatte gelacht und ihre Wahrheit als Witz abgetan. Ein paar Tage später stahl sie für ihn mit Hilfe des Feuers ein neues iPhone, was ihr Zugang zu seiner Gang aus Straßenkids verschaffte. Damit vereinfachte sich Robins Leben schlagartig. Sie mochte Tim nicht, aber er war ihr Schlüssel zu einem Leben in London, das sie aus dem feuchten Abrisshaus, in dem sie unter Treppe schlief, holte. Robin schüttelte sich bei dem Gedanken daran; trotzdem jagte der Geruch kurz durch ihre Nase. Schimmel, Moder und Urin. Jede Nacht mit einem geklauten Steakmesser in der Hand schlafen, die ständige Angst, jemand könnte sie überwältigen und -