Das Herz des Waldes
Die Chronik der Unsterblichen:
1 – Am Abgrund
2 – Der Vampyr
3 – Der Todesstoß
4 – Der Untergang
5 – Die Wiederkehr
6 – Die Blutgräfin
7 – Der Gejagte
8 – Die Verfluchten
8½ – Blutkrieg
9 – Das Dämonenschiff
10 – Göttersterben
Privatdetektiv Quinn Devlin nimmt einen sehr bizarren Auftrag an: Er soll der unglaublichen Aussage eines Marineoffiziers auf den Grund gehen, der behauptet, eine Meerjungfrau habe seinen Vorgesetzten ermordet. Bei der Befragung im schottischen Burggefängnis der Royal Navy gerät Quinn in einen Hinterhalt: Gitterstäbe beginnen wie Quecksilber zu zerfließen, der Boden sich schlangengleich zu winden. In letzter Sekunde können er und sein Begleiter in die unterirdische City of the Dead fliehen und finden sich in ihrem schlimmsten Albtraum wieder: Der Hive und die Maschinenwesen sind zurück …
Wolfgang Hohlbein, 1953 in Weimar geboren, ist der erfolgreichste deutschsprachige Fantasy-Autor der Gegenwart. Der Durchbruch gelang ihm 1983 mit dem preisgekrönten Jugendbuch Märchenmond. Inzwischen hat er 150 Bestseller mit einer Gesamtauflage von über 44 Millionen Büchern verfasst. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen hat Wolfgang Hohlbein erhalten, vom »Preis der Leseratten« 1983 über »Bester Autor National« Deutscher Phantastik-Preis 2004 bis zum internationalen Literaturpreis NUX 2012. Weitere Informationen unter: www.hohlbein.de
IRONDEAD
Der achte Tag
Roman
beBEYOND
Digitale Neuausgabe
»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2015 by INK.digital
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat: Dieter Winkler
Covergestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de
unter Verwendung von Motiven © Geoffrey Ernault
eBook-Erstellung: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-7325-6334-0
www.be-ebooks.de
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Southampton, 9. Juni 1911
Die See war kabbelig in dieser Nacht. Tanner hatte dieses Wort vor vielen Jahren von einem deutschen Seemann gelernt: Er war fast noch ein Kind gewesen, hatte Wasser gehasst und sich nicht einmal im Traum vorstellen können, jemals auch nur einen Fuß auf etwas zu setzen, das nicht auf guter, alter englischer Erde ruhte. Aber das war lange her. Heute tat er Dienst auf der RMS Carpathia, einer 450-Fuß-Fregatte mit zwei Ehrfurcht gebietenden Zwillingsgeschützen an Bug und Heck und annähernd dreihundert Mann Besatzung. Das letzte Mal, dass er wirklich festen Boden unter den Füßen gehabt hatte, lag schon fast drei Wochen zurück. So änderten sich die Zeiten.
Außerdem begann er zu ahnen, was dieses seltsame deutsche Wort bedeutete. Ihm war speiübel.
Dabei hätte man meinen können, dass das gewaltige Kriegsschiff reglos wie ein Stein in der Dünung lag. Irgendwie tat es das auch. Es war absolut keine Bewegung zu sehen und auch nicht wirklich zu spüren. Dennoch war da etwas, das seine Sinne beeinträchtigte und seinen Körper auf unangenehme Art in Anspannung hielt.
Kabbelig, pah! Er war müde, weil er die zweite Wache hintereinander schob, ihm war so kalt, dass er sich beherrschen musste, um nicht mit den Zähnen zu klappern, und die Übelkeit machte ihm zunehmend zu schaffen. Das war alles.
Tanner schluckte zum wiederholten Mal sauren Speichel hinunter und drehte sich um, als er Schritte hinter sich hörte. Der Wind trug die staubfeine eisige Gischt heran, der er bisher den Rücken zugedreht hatte. Nun klatschte sie ihm wie eine kalte Hand ins Gesicht, sodass er blinzeln musste, um die Züge der hoch aufgeschossenen schlaksigen Gestalt zu erkennen, die auf ihn zuhielt.
Tanner war plötzlich sehr froh, dass er trotz der vorgerückten Stunde das Gewehr vorschriftsmäßig geschultert trug. Er salutierte zackig und knallte die Hacken zusammen. Es dröhnte wie ein Pistolenschuss über das menschenleere Deck.
Piletti erwiderte seinen Gruß nachlässig. Sein Blick tastete zugleich aufmerksam über Tanners gesamte Erscheinung, zweifellos auf der Suche nach einer Kleinigkeit, die ihm Anlass für eine Zurechtweisung lieferte.
»Sub Lieutenant«, sagte Tanner schließlich unbeholfen, nachdem mindestens eine Minute vergangen war, ohne dass Piletti irgendetwas anderes getan hatte, als ihn durchdringend und feindselig anzustarren.
»Immerhin erinnern Sie sich noch an meinen Dienstrang, Entrance«, erwiderte Piletti, »wenn auch an sonst nichts anderes.«
Tanner hütete sich, etwas zu sagen. Dass ihn Piletti nicht gleich bei einer Verfehlung ertappt hatte, machte es nicht besser. Er musste auf der Hut bleiben.
»Irgendwelche besonderen Vorkommnisse, Entrance?«, bellte Piletti.
Das war nicht sein Rang. Trotzdem verneinte Tanner nur in möglichst neutralem Ton.
Was sollte denn hier schon vorkommen? Sie bewachten ein leeres Schiff in einem fast verlassenen Hafen, und das noch dazu auf so große Entfernung (um nicht unnötig Öl ins Feuer zu gießen, wie die offizielle Begründung lautete, ha, ha, ha), dass man das Schiff schon wegtragen oder versenken musste, bevor es irgendjemandem hier draußen auffiel.
Piletti funkelte ihn an, als fühlte er sich durch seine Antwort nur noch zusätzlich provoziert, trat dann aber kommentarlos neben ihn an die Reling und setzte den Feldstecher an, der an einem schmalen Lederband vor seiner Brust hing. Tanner sah in dieselbe Richtung.
Auch ohne Fernglas und mitten in der Nacht war das gewaltige Schiff nicht zu übersehen, das die dunkel daliegenden Hafen- und Kaianlagen dahinter wie ein abgebrochener Berg überragte. Tanner hatte eine Menge großer Schiffe gesehen, seit er vor zwei Jahren in die Royal Navy eingetreten war, einige davon so gewaltig wie schwimmende Städte, doch sie alle verblassten zur Dimension von Rettungsbooten neben der Olympic. Seltsam war nur, dass er das riesige Schiff zum ersten Mal ohne eine Unzahl von Lichtern an Deck hinter den häuserblockgroßen Aufbauten sah. Wobei seltsam vielleicht nicht das richtige Wort war. Eher schon …
»Gespenstisch«, stellte Piletti genau in diesem Augenblick fest, als hätte er seine Gedanken gelesen. »Meinen Sie nicht auch, Entrance?«
»Was?«, fragte Tanner.
Piletti ließ den Feldstecher sinken. »Das Schiff so zu sehen. Jetzt warten wir schon seit über zwei Wochen, und ich habe es noch nie anders als taghell erleuchtet gesehen. So wirkt es irgendwie … tot.«
Tanner beschloss, auf der Hut zu sein. »Ich habe gehört, dass sie drüben in Belfast gerade ein noch größeres Schiff bauen.«
Piletti schüttelte den Kopf und setzte den Feldstecher wieder an. »Nicht größer, aber sehr viel luxuriöser. Ein schwimmendes Luxushotel für die Mächtigen und Reichen. Eine Überfahrt in der ersten Klasse kostet wahrscheinlich mehr, als Sie und ich in unserem ganzen Leben als Sold einstreichen, und …« Er fuhr ganz leicht zusammen, und seine Finger schlossen sich fester um das Fernglas. »Was ist denn das?«
»Sir?«, fragte Tanner alarmiert. Natürlich bekam er keine Antwort, aber Piletti blickte endlose Sekunden lang mit höchster Konzentration durch das Glas. Tanner strengte die Augen an, konnte jedoch nicht erkennen, was den Sub Lieutenant so sichtlich aufgeschreckt hatte.
»Sir?«, hakte er noch einmal nach.
»Ich dachte, ich hätte etwas gesehen«, murmelte Piletti. »Dabei sollte hier in der Nacht überhaupt nichts los sein.«
»Nur weil die Heizer und Schauerleute streiken, muss nicht gleich das ganze Schiff verlassen sein«, gab Tanner zu bedenken.
Piletti ließ das Fernglas sinken und warf ihm einen giftigen Blick zu. »Nicht auf dem Schiff, Sie Dummkopf. Im Wasser, zwei Strich backbord.«
Er reichte Tanner den Feldstecher, und dieser suchte sehr gründlich und sehr viel länger als Piletti den bezeichneten Bereich ab. Er kam jedoch zu keinem Ergebnis. »Vielleicht nur eine Spiegelung. Oder ein Tümmler. Angeblich sollen sie sich manchmal sogar bis hierher verirren.«
»Ja, warum nicht gleich eine Meerjungfrau?«, zischte Piletti. Er riss ihm das Fernglas aus der Hand und sah auf die zitternde See hinab – auch jetzt vergebens. »Vielleicht habe ich mich doch getäuscht. Wir bewachen dieses verdammte Ding jetzt schon seit zwei Wochen. Da kann man sich um ein Haar ja fast wünschen, es ginge endlich los.«
»Was?«, fragte Tanner.
Piletti sah ihn mit gefurchter Stirn an. »Was meinen Sie?«
Wollte er ihn auf den Arm nehmen, oder war das die Ouvertüre für eine neue Bosheit? »Sie haben gesagt, Sie wünschten sich fast, es ginge endlich los, Sir.«
Piletti erschrak sichtlich. »Das habe ich nicht!«, blaffte er. »Reden Sie nicht so einen Unsinn, Mann, sonst muss ich Sie melden!«
»Natürlich, Sir«, antwortete Tanner hastig. »Verzeihen Sie, Sir. Ich muss mich wohl getäuscht haben, Sir.« Er hielt Piletti gewiss nicht für einen geduldigen Mann, doch dieser Ausbruch überraschte ihn dann doch. »Darf ich … fragen, warum wir eigentlich hier sind, Sir?«
»Sie dürfen, Entrance«, antwortete Piletti. »Es geht Sie zwar nichts an, aber es ist auch kein Geheimnis. Es geht um diesen blödsinnigen Streik. Er ist illegal. Das Werk von diesen verdammten Kommunisten und irgendwelchem anderen Gesindel, das es auf unsere Regierung abgesehen hat!«
Tanner war verwirrt. »Und was hat die Royal Navy damit zu tun?«
»Ich habe Kapitän Harks dieselbe Frage gestellt, Mister Tanner, aber …« Piletti unterbrach sich mitten im Satz, legte den Kopf schräg, um zu lauschen, und setzte das Fernglas dann erneut an. Sicherlich zwei Minuten vergingen, in denen er konzentriert das Meer absuchte.
Aber es war Tanner, der es schließlich entdeckte. Wortlos legte er Piletti eine Hand auf die Schulter und wies mit der anderen auf die Meeresoberfläche, ein ganzes Stück weit entfernt von der ersten Sichtung des Sub Lieutenants.
Piletti ließ eigens den Feldstecher sinken, um ihm einen ärgerlichen Blick zukommen zu lassen, hob ihn dann aber wieder und suchte aufmerksam das Meer ab. Er sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein.
Tanner beugte sich so weit über die Reling, wie er es wagte, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Er brauchte kein Fernglas, um zu erkennen, was Piletti erschreckt hatte. Wäre es nicht so dunkel gewesen, wäre es ihm wahrscheinlich nicht einmal aufgefallen, denn was immer es war, befand sich nicht auf, sondern unter der Wasseroberfläche. Ein fahlgrünes Licht, wie der Strahl eines sonderbaren Scheinwerfers, der sich der Carpathia lautlos näherte.
»Was zum Teufel ist denn das?«, flüsterte Piletti. Seine Hand umklammerte das Fernglas so fest, als versuchte er es zu zerbrechen … und war das Angst in seiner Stimme?
Das Licht erlosch schlagartig von einem Sekundenbruchteil auf den anderen, ohne die geringste Spur zu hinterlassen, und Piletti ließ das Glas mit einem vernehmlichen Keuchen wieder sinken. Er suchte das Meer mit bloßem Auge ab, dann noch einmal mit dem Feldstecher und schließlich erneut mit bloßem Auge. »Haben Sie das gesehen, Tanner?«, keuchte er. »Haben Sie das gesehen?«
»Ja, Sir«, antwortete Tanner mit belegter Stimme.
»Aber was war das?«, stammelte Piletti.
»Das weiß ich nicht, Sir.« Tanners Gedanken überschlugen sich. »Aber vielleicht … vielleicht sollten wir Alarm geben. Oder wenigstens dem Kapitän oder dem Ersten Offizier Meldung machen.«
»Ja, zweifellos«, schnaubte Piletti, rührte sich aber nicht von der Stelle, sondern starrte weiter auf das Meer hinab.
Tanner tat es ihm gleich und strengte seine Augen so sehr an, dass sie zu schmerzen begannen. »Wir sollten wirklich Meldung machen, Sir.«
»Ja, eine wunderbare Idee, Entrance. Dann laufen Sie doch schon einmal voraus und tun Sie das … ach ja, und was genau wollen Sie melden, wenn ich fragen darf?« Piletti sah ihn – jetzt wieder verächtlich – über die Schulter hinweg an. »Dass Sie ein grünes Licht gesehen haben, das sich dem Schiff unter Wasser genähert hat und plötzlich verschwunden ist?«
»Aber genau das haben wir doch gesehen!«, protestierte Tanner, konnte gerade noch die Veränderung in Pilettis Blick deuten und fügte ein hastiges »Sir« hinzu.
»So, das haben Sie also gesehen, Tanner«, sagte Piletti. »Ich wäre ja fast versucht, Sie zu begleiten, nur um mitzuerleben, wie Sie das dem Kapitän erzählen.«
Tanner musste sich auf die Zunge beißen, um nicht darauf zu antworten, aber er musste sich noch sehr viel mehr beherrschen, um nicht das Gewehr von der Schulter zu nehmen und dem Kerl den Kolben ins Gesicht zu rammen. Das Allerschlimmste war, dass Piletti recht hatte. Sie hatten beide dieses Was-auch-immer gesehen, aber wer würde ihm glauben? Tanner konnte ja selbst kaum beschreiben, was ihn so erschreckt hatte. Und auch in Pilettis Gesicht erkannte er blanke Angst. Das Schiff war ganz sicher nicht hier, um irgendwelche verdammten Kommunisten in Schach zu halten. Es gab einen ganz anderen und viel schlimmeren Grund, das wusste er.
»Dann sollen wir es einfach verschweigen, Sir?«
»Was verschweigen, Entrance?«, blaffte Piletti. »Mir ist nichts aufgefallen. Haben Sie etwas gesehen?«
Das hatte Tanner, und er sah es jetzt wieder: Ein grünes Leuchten durchdrang das Wasser, nur ein kurzes Stück von der Carpathia entfernt, viel, viel näher, als es in der kurzen Zeitspanne eigentlich möglich sein sollte. Gleichzeitig begann es zu schäumen und zu brodeln, und ein tiefes Wummern erfüllte die Luft. Tanner erkannte etwas Verschwommenes, Riesiges, Dunkles. Ehe er auch nur im Entferntesten begriff, was er da vor Augen hatte, tauchte inmitten des unruhigen, nun wie zerrissen wirkenden Wassers des Hafenbeckens ein dunkler Schatten auf: ein Koloss, beinahe so lang wie die Fregatte selbst und von so deutlicher Präsenz, dass Tanner unwillkürlich einen Schritt zurückwich.
»Aber was …?«, entfuhr es Piletti, doch er sprach diesen Satz nicht zu Ende, denn es hatte ihm offensichtlich ebenso die Sprache verschlagen wie Tanner.
Keiner von ihnen konnte sagen, was er da sah. Sicher kein Schiff, denn obwohl Tanner das Gefühl hatte, dass der Koloss aus Metall war, konnte er zugleich riesige glotzende Augen, hervorstehend und glubschig wie bei einem Frosch erkennen, jedes einzelne annähernd so groß wie ein Mann. Dazu ein gewaltiger Zackenkamm, der sich über einen gleichermaßen kantigen wie runden Schädel erhob und bis zu einer zyklopischen Schwanzflosse in mehr als hundert Fuß Entfernung zog, gepanzerte Flanken und etwas, das an ein zahnbewehrtes geiferndes Maul erinnerte und zugleich doch so anders war, wie es nur möglich war. Ganz gleich, was es in Wahrheit auch sein mochte, für Tanner war es ein leibhaftiges Meeresungeheuer, das direkt aus den düstersten Seemannslegenden emporgestiegen war, um sie alle zu verschlingen.
Piletti schien es ganz ähnlich zu ergehen, denn er hatte die Hände so fest um die Reling geballt, dass seine Knöchel wie weiße Narben durch die Haut stachen, und starrte aus weit aufgerissenen Augen und ohne auch nur zu blinzeln, auf die unheimliche Erscheinung hinab. »Das ist … das ist doch nicht … nicht möglich«, stammelte er. »Laufen Sie zum Kapitän! Holen Sie ihn her! Aber kein Wort zu den anderen! Zu niemandem!«
Tanner stürmte los, hielt aber nach zwei Schritten inne, als Piletti hinter ihm so erschrocken die Luft einsog, dass es fast wie ein Schmerzenslaut klang. Zugleich erscholl von irgendwoher ein schrilles Kreischen, das an das Geräusch mächtiger eiserner Scharniere erinnerte, jedoch auf entsetzliche Weise lebendig klang. Tanner wirbelte herum und erstarrte angesichts des Anblicks, der sich ihm bot.
Das grüne Licht war wieder da, ungleich näher und irgendwie giftiger als beim ersten Mal, sodass er nun zwei scharf gebündelte Strahlen ausmachen konnte, die das Meer aufleuchten ließen. Schatten und bizarre Umrisse waren darin zu erkennen, die ihn schier an seinem Verstand und der Sehkraft seiner Augen zweifeln ließen. Dutzende, wenn nicht Hunderte umschwärmten den gewaltigen Umriss wie eine Meute ausgehungerter Piranhas einen verletzten Wal; mit unmöglich schnellen Bewegungen schossen sie hin und her, wechselten blitzartig die Richtung und jagten das eine oder andere Mal auch zur Wasseroberfläche hinauf, nur um dann im letzten Moment mit einer eigentlich unmöglichen Drehung wieder umzukehren.
Dann blitzten winzige Lichter auf einer noch tieferen Ebene unter dem Meeresspiegel auf, wie Funken oder maritime Glühwürmchen, Dutzende, Hunderte, vielleicht Tausende in rasender Folge, sodass Tanner nun einen vagen Eindruck von der wirklichen Form und vor allem Größe des schwimmenden Kolosses bekam. Der Anblick verschlug ihm schier den Atem. Wenn das ein Lebewesen war, dann von geradezu absurden Abmessungen, wie sie die Natur unmöglich hervorbringen konnte.
»Dort!« Piletti beugte sich gefährlich weit über die Reling und deutete nach unten. »Sehen Sie das? Da sind Menschen im Wasser!«
Tanner war mit einem Satz wieder neben ihm und sah konzentriert nach unten. Tatsächlich waren da hektische Bewegung und spritzende Gischt, aber einen Menschen vermochte er in all dem Chaos nicht auszumachen.
»Schnell, kommen Sie!« Piletti fuhr herum und zerrte ihn hinter sich her auf das hintere Fallreep zu. Tanner versuchte sich loszureißen, erreichte damit aber nur, dass er noch rücksichtsloser mitgezerrt wurde.
»Aber der Kapitän!«, keuchte er. »Wir müssen Meldung machen, und …«
»Später!«, schnitt ihm Piletti das Wort ab. »Dort unten ist jemand in Seenot! Wollen Sie ihn ertrinken lassen?«
Natürlich wollte er das nicht. Aber er glaubte auch keine Sekunde lang daran, dass sein Vorgesetzter aus reiner Menschlichkeit handelte.
Piletti schlug mit der Faust auf den Riegel, der das Fallreep sicherte, und konnte kaum die anderthalb Sekunden abwarten, die die eiserne Treppe brauchte, um zur Wasseroberfläche hinunterzurasseln. Das Klirren der Ketten und das protestierende Quietschen der rostigen Scharniere waren sicher bis in den letzten Winkel des Schiffes zu hören, ebenso wie das Dröhnen von Pilettis Schritten auf den Metallstufen. Tanner rechnete damit, das Deck über sich vom Schrillen einer Pfeife und dem Trappeln harter Stiefelsohlen widerhallen zu hören. Doch erstaunlicherweise blieb alles still, sowohl über ihnen als auch auf dem Meer.
Zwei Fuß von den grauen Wellen entfernt, die an den Flanken der Carpathia zerspritzten, hatte Tanner den Eindruck, nur noch den Arm ausstrecken zu müssen, um die gepanzerten Flanken des Kolosses zu berühren. Das lautlose Lichtgewitter unter Wasser war von hier aus sehr viel deutlicher zu sehen, enthüllte dabei seltsamerweise aber eher noch weniger Details.
»Dort!« Piletti deutete schon wieder in eine Richtung, in der Tanner nichts als spritzenden Schaum und reine Bewegung erkennen konnte, fiel auf die Knie und hielt sich mit der linken Hand an der rostigen Kette fest, die als Geländer diente. Gleichzeitig beugte er sich so weit vor, dass sich sein Gesicht kaum eine Handbreit über den Wellen befand. Den freien Arm tauchte er bis zur Schulter ins Wasser. Es sah absurd aus – und sehr gefährlich.
»Helfen Sie mir, verdammt!«, keuchte sein Vorgesetzter. »Halten Sie mich fest!«
Tanner tat, wie ihm geheißen, krallte sich mit einer Hand an die Kette, um auf den rutschigen Metallstufen nicht den Halt zu verlieren, und packte mit der anderen Hand Piletti. Der planschte so wild und vor Anstrengung schnaubend im Wasser herum, als hätte er den Verstand verloren und versuchte mit bloßen Händen Fische zu fangen. Dann gab es einen Ruck, der nicht nur ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen drohte, sondern auch Tanner, und irgendwo dicht unter der Wasseroberfläche zappelte etwas Großes und Helles, sodass salziges Wasser schäumend bis über ihre Köpfe spritzte, sie binnen weniger Augenblicke bis auf die Haut durchnässte und wie Säure in Tanners Augen brannte.
Er griff noch fester zu und versuchte sich zusätzlich irgendwo mit dem Fuß zu verhaken, zumal Piletti zu seinem Entsetzen nun auch noch mit der anderen Hand zupackte, sodass er kopfüber ins Meer gestürzt wäre, hätte Tanner die Finger nicht mit aller Kraft in den Stoff seiner Uniformjacke gekrallt. Ein Schrei ertönte, ein durchdringender Laut wie das Grollen eines Nebelhorns, den er bis in den kleinsten Knochen seines Körpers zu spüren glaubte. Irgendwo – gerade jenseits der Grenze des wirklich Erkennbaren – war die Bewegung von etwas ungeheuerlich Großem und Furchteinflößendem. Unter der Wasseroberfläche zappelte und wand sich etwas Helles und Riesiges, vollkommen fremdartig und zugleich auf schreckliche Weise vertraut. Tanner spürte, wie seine Hand ebenso langsam wie unbarmherzig ihren Halt zu verlieren begann, mobilisierte noch einmal all seine Kräfte und ließ die Kette los, um sich nur noch mit dem Fuß irgendwo zu verkeilen und mit beiden Händen Piletti festzuhalten.
Gemeinsam – und buchstäblich den Bruchteil eines Atemzuges bevor sie beide im Wasser gelandet wären – gelang es ihnen, Pilettis Fang aus dem Meer ein Stück zu sich heraufzuziehen.
Es verschlug Tanner den Atem, so unglaublich war der Anblick.
Es war eine Frau. Nicht irgendeine Frau, sondern die schönste Frau, die Tanner jemals gesehen hatte. Ihr langes Haar, das gerade noch wie goldfarbener Tang im Wasser geschwebt hatte, umrahmte ein schmales, perfekt geschnittenes Gesicht mit einer edlen Nase, hoher Stirn und wunderschönen Augen, die leicht schräg standen und an die einer Katze erinnerten, auch wenn sie nun fast schwarz vor Angst waren. Und diese Perfektion setzte sich fort, von den schlanken Linien ihres Halses über die schmalen und doch erstaunlich muskulösen Schultern, den kleinen, perfekt geformten Brüsten bis hinunter zu ihrer Wespentaille …
… aus der ein gut anderthalb Fuß langer Pfeil ragte.
Das Bild war so bizarr, dass Tanners Griff sich lockerte und die verwundete Frau mit einem gewaltigen Platschen ein Stück weit wieder ins Wasser zurückglitt. Aus der Angst in ihren Augen wurde etwas anderes und tausendmal Schlimmeres, während sie unerbittlich tiefer im Meer versank. Sie warf die Arme in die Höhe und krallte sich mit beiden Händen an Piletti fest, der nun seinerseits noch weiter abrutschte.
Tanner zerrte und riss verzweifelt an seinem Vorgesetzten, und gerade als er zu spüren meinte, wie etwas in seiner Hüfte zu brechen drohte, schoss die Frau mit einem plötzlichen Ruck aus dem Wasser, sodass Piletti und er regelrecht nach hinten flogen und der Sub Lieutenant halb unter ihr begraben wurde. Auch Tanner verlor das Gleichgewicht, knallte mit dem Hinterkopf gegen den Stahl der Bordwand und sah Sterne, während er halb benommen rücklings auf die Treppe sank. Piletti schrie irgendetwas, das er nicht verstand. Als sich sein Blick wieder klärte, konnte er nur noch die junge Frau anstarren, die halb über Piletti lag und ihn mit ihrem Gewicht auf die eisernen Treppenstufen drückte.
Genauer gesagt starrte er auf ihren Unterleib, der nicht wirklich ein Unterleib war, sondern ein schuppiger Fischschwanz, dessen breite Flosse noch immer das Wasser peitschte.
»Tanner, um Himmels willen!« Pilettis Stimme war ein schrilles Kreischen, nur noch einen Deut von reiner Hysterie entfernt. »Helfen Sie mir! Nehmen Sie dieses Ding von mir herunter!«
Tanner erwachte endlich aus seiner Erstarrung. Während er sich ungeschickt und mit dröhnendem Schädel aufzurappeln versuchte, erkannte er, dass Pilettis Panik möglicherweise nicht ganz unberechtigt war, denn die Meerjungfrau (eine Meerjungfrau! Großer Gott, es war eine leibhaftige Meerjungfrau!) krallte sich noch immer mit einer Hand in seine Jacke, während die Finger ihrer anderen nach seinen Augen grabschten. Tanner sah jetzt auch, dass es zumindest zwei Dinge (drei, wenn er den peitschenden Fischschwanz mitzählte) gab, die ihre engelsgleiche Schönheit störten: Das eine waren die dünnen, halb durchsichtigen Schwimmhäute zwischen ihren Fingern, das andere die messerscharfen Krallen, die aus ihren Fingerspitzen ragten und Pilettis Gesicht bereits in eine Landschaft aus heftig blutenden Schnitten verwandelt hatten. Piletti warf verzweifelt den Kopf hin und her, und es war ihm bisher immerhin gelungen, sein Augenlicht zu retten, doch das würde allerhöchstens noch Sekunden so bleiben.
Tanner gönnte Piletti ja im Prinzip alles Schlechte der Welt, aber das nun doch wieder nicht.
Mit einer hastigen Bewegung war er über den beiden und versuchte das groteske Geschöpf von Piletti herunterzureißen. Er brauchte zwei Anläufe und all seine Kraft dazu, denn das Wesen war unglaublich stark. Nicht genug damit, peitschte der gewaltige Fischschwanz plötzlich aus dem Wasser und traf ihn wie eine riesige nasse Hand im Gesicht, sodass er das Gleichgewicht verlor und halb benommen gegen die Bordwand torkelte.
Es tat weh, aber diesmal blieb er bei klarem Verstand, sodass er sah, dass die Meerjungfrau sich unverzüglich wieder auf Piletti stürzte. Gedankenschnell blockierte dieser mit dem Unterarm ihre Krallen, die schon wieder auf seine Augen zielten, und sie versuchte nun, ihm mit den Krallen der anderen Hand die Kehle aufzuschlitzen. Piletti entging um Haaresbreite auch diesem Angriff und reagierte instinktiv, indem er das Knie in die Höhe riss, was jeden männlichen Angreifer auf der Stelle ausgeschaltet und selbst einer Frau sehr wehgetan hätte.
Zu Pilettis Pech war die Meerjungfrau weder das eine noch das andere. Tanner hörte nur einen dumpfen Schlag, dem aber der erhoffte Schmerzensschrei nicht folgte. Piletti warf sich herum und griff nach dem Pfeil, der aus der Seite der Meerjungfrau ragte. Das Ergebnis war ein schrilles Heulen, das durch und durch unmenschlich war und unmögliche Höhen erreichte. Das Geschöpf bäumte sich auf, schlug in blinder Agonie mit dem Schwanz um sich und wäre ins Wasser entkommen, hätte Piletti nicht noch einmal brutal an dem Pfeil gezerrt. Der Schrei der Meerjungfrau wurde noch schriller, und Piletti warf sie mit einem Ruck auf den Rücken und schlug ihr so hart mit der Faust ins Gesicht, dass ihre Bewegungen auf der Stelle erlahmten.
Als er ein zweites Mal zuschlagen wollte, war Tanner neben ihm und hielt seine Hand fest. »Das reicht, Piletti.«
Piletti riss seinen Arm los und funkelte ihn an. »Was fällt Ihnen ein, Entrance?«
»Able, Sub Lieutenant«, antwortete Tanner. »Mein Dienstrang ist Able Warant. Und es ist nicht nötig, sie … es … noch mehr zu verletzen. Wissen Sie überhaupt, was wir da haben?«
Piletti wollte aufbegehren, doch dann konnte Tanner regelrecht sehen, wie es hinter seiner Stirn zu arbeiten begann. »Sie meinen …?«
Tanner sollte nie erfahren, worauf Piletti hinauswollte, denn in diesem Moment flogen die Augen der grotesken Zwitterkreatur auf, und im gleichen Sekundenbruchteil begann sich ihre Hand zu verändern. Die Finger verloren ihre Farbe und schimmerten plötzlich wie Quecksilber, und genau wie solches flossen sie mit einem Male zusammen und wurden schlanker, spitzer und verwandelten sich binnen eines einzigen Lidschlages in eine breite, zweischneidige Messerklinge, die nach Pilettis Brust stieß.
Piletti reagierte mit erstaunlicher Schnelligkeit und riss den Arm in die Höhe, aber diesmal nutzte es ihm nichts. Die Messerklinge traf sein Handgelenk, durchstieß es ohne die geringste Mühe und nagelte seinen Arm an seine Brust, bevor sie sich in sein Herz grub und rot und triefend aus seinem Rücken wieder austrat. Piletti blieb nicht einmal mehr die Zeit für einen Schrei, so schnell starb er.
Da Tanner wenig Lust verspürte, sein Schicksal zu teilen, sprang er hastig zurück, trat nach dem Geschöpf und versuchte gleichzeitig, das Gewehr von der Schulter zu zerren. Sein Tritt zeigte keine Wirkung. Was ihn rettete, das war wohl einzig der Umstand, dass sich die unheimliche Schwerthand der Kreatur in Pilettis Rippen verkeilt zu haben schien, denn sie hatte sichtliche Schwierigkeiten, ihre bizarre Waffe zu befreien. Die zwei oder drei Augenblicke, die sie dafür benötigte, reichten Tanner, das Gewehr auf sie anzulegen und durchzuladen.
Für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich ihre Blicke. Sie war noch immer die schönste Frau, die er jemals gesehen hatte, so wunderschön, dass es fast wehtat, sie anzublicken, trotz all des Blutes auf ihrem Gesicht und dem, was aus ihrer linken Hand geworden war. Aber er hatte auch gesehen, was sie Piletti angetan hatte, und als sie die Klinge aus der Brust des Sub Lieutenants zog, drückte Tanner ab.
Die Gewehrmündung war weniger als einen halben Meter von ihr entfernt, und Tanner hatte sicheren Stand auf den metallenen Treppenstufen. Er konnte gar nicht danebenschießen. Und er tat es auch nicht.
Die Kugel traf sie genau zwischen die Augen, prallte ab und flog als heulender Querschläger davon.
Tanner war so fassungslos, dass er nicht einmal auf den Gedanken kam, noch einmal zu schießen, doch sein Selbsterhaltungstrieb war trotz allem stark genug, ihn gerade noch rechtzeitig zurückprallen zu lassen. Die Messerklinge traf das Gewehr ein winziges Stück vor seiner Hand, schnitt Holz und Metall gleichermaßen mühelos entzwei und ließ die Hälfte der Waffe in hohem Bogen in die Dunkelheit und mit einem gewaltigen Platschen im Meer verschwinden. Tanner starrte den verbliebenen Rest des Gewehrs in seinen Händen und das unheimliche Wesen gleichermaßen fassungslos wie entsetzt an, stolperte einen weiteren halben Schritt zurück und versuchte vergeblich, auf seinen Verstand zu hören, der ihm zuschrie, die Beine in die Hand zu nehmen und zu rennen, so schnell er konnte.
Es hätte ihm vermutlich ohnehin nichts genutzt, denn die Kreatur wirbelte mit einer Behändigkeit herum, die für ein Wesen ohne Beine ganz und gar unmöglich sein sollte, richtete sich auf ihre Schwanzflosse auf wie eine angreifende Kobra und stieß mit ihrer schrecklichen Messerhand nach ihm.
Dann war ihr Kopf plötzlich verschwunden. Funken sprühten und zischten, und es stank durchdringend nach brennendem Gummi und heißem Metall.
Tanner blickte dem abgeschlagenen Kopf der Meerjungfrau verständnislos nach, bis er über die letzte Treppenstufe rollte und im Wasser verschwand, dann hob er den Blick und sah sich einem Mann gegenüber, der wie aus dem Nichts hinter ihm aufgetaucht war. Er war sehr groß, trug einen einteiligen schwarzen Anzug, der sich wie eine zweite Haut an seinen Körper schmiegte und vor Nässe glänzte, und absurderweise einen ebenfalls schwarzen Turban auf dem Kopf.
Noch absurder war vielleicht nur der meterlange Krummsäbel, den er in der rechten Hand hielt, denn die Klinge war in ein Netz knisternder kaltblauer Funken gehüllt.
»Aber … aber was …?«, stammelte Tanner.
Der Fremde hob sein Schwert, dann …
… nichts mehr.