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Claudia Brohammer, Wolfach im Kinzigtal (bei Freiburg i. Br.), Logopädin

Astrid Kämpfer, Steinen (Kreis Lörrach), Logopädin, Funktionale Stimmtherapeutin

Auf der Homepage des Ernst Reinhardt Verlages finden Sie bei der Darstellung dieses Titels Spiel- und Kopiervorlagen aus dem Buch (Abb. 13, 19, 39, 45 – 47) zum Herunterladen in DIN A-4-Format:

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-02619-7 (Print)

ISBN 978-3-497-60268-1 (PDF)

ISBN 978-3-497-60358-9 (EPUB)

3., durchgesehene Auflage

© 2016 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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Covermotiv: imagesource, Köln

Satz: Rist Satz & Druck GmbH, 85304 Ilmmünster

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

Einleitung

1     Theoretische Einführung: Grundlagen und Probleme bei der Stimmentwicklung

1.1   Stimmentwicklung im Kindesalter

1.2   Ursachen für juvenile Dysphonien

1.3   Die häufigsten Formen kindlicher Stimmstörungen und ihre Symptome

Funktionelle Störungen

Organische Störungen

2     Anamnese: die aktuelle Stimmproblematik

3     Stimmbefund: Anregungen zur Diagnostik

3.1   Einzelne Diagnostikschritte

Tonus und Motorik

Atmung: Atemmittellage

Sprechstimme

Singstimme

4     Elternarbeit: der Weg zum Kind

4.1   Erste Elternberatungssitzung

Anamnese

Ursachenforschung zur Stimmstörung

Erläuterung anatomischer und physiologischer Zusammenhänge

4.2   Elternberatung zu Stimmgebrauch und -hygiene

Erläuterung der Vorbildfunktion

Wahrnehmungsschulung

Stimmhygiene

Lärmpegelreduzierung

4.3   Modelle zur Verbesserung des Kommunikationsverhaltens

Argumentieren statt Schreien

Positives Verstärken

Familienkonstellation

Ich-Botschaften

Aktives Zuhören

Allgemeine Hinweise zur Elternberatung

5     Atem- und Stimmfunktion – Stimmhygiene: So wird meine Stimme schöner

5.1   Hilfen zur Erläuterung der Anatomie und Physiologie der Stimmgebung

5.2   Hilfen zur besseren Stimme – Die Stimmhygiene

Stimmschädigende Gewohnheiten sammeln

Merkblatt zum schonenden Stimmgebrauch

Erinnerungs- und Motivationshilfen

Tagebuchtabelle

Bonuskarte

6     Entspannung: Das tut der Stimme gut

6.1   Autogenes Training

6.2   Aktive Entspannung

6.3   Passive Entspannung

7     Atmung: lässt Töne entstehen

7.1   Atemwahrnehmung

7.2   Atemintensivierung und -vertiefung

7.3   Reflektorische Atemergänzung

Abspannen

Atemrhythmisch angepasste Phonation

8     Artikulation: das richtige Sprechen

8.1   Übungen zur Lockerung der Gesichtsmuskulatur

8.2   Übungen zur Kieferlockerung

8.3   Übungen zur Lippenlockerung und -beweglichkeit

8.4   Übungen zur Zungenlockerung und -beweglichkeit

8.5   Übungen zur Rachenweitung

8.6   Artikulationsprägnanz

9     Phonation:
Stimmbildung mit Bewegung und Atmung

9.1   Resonanz – Physiologische Stimmfunktion

Wahrnehmen der Resonanz

Resonanzaufbau und Erarbeitung einer physiologischen Stimmfunktion

9.2   Modulation

Rufübungen

Vokaleinsatz

10   Hörwahrnehmung: Sensibilisierung für die eigene Stimme

10.1 Aktives Zuhören

Differenzierte Hörwahrnehmung

Differenzierte Stimmklangwahrnehmung

10.2 Stimmungen und Emotionen hören

Stimmen beschreiben

Stimmliche Eigenwahrnehmung

11   Bewusster Stimmgebrauch: Sicherheit für eine schöne Stimme

11.1 Stimmen imitieren

11.2 Stimmklanggestaltung

11.3 Sprechtempo

12   Kommunikation: gestärkt in den Alltag

12.1 Nonverbale Kommunikation

Kommunikation über Gestik und Mimik

Vokale Kommunikation

12.2 Verbale Kommunikation

Verschiedene Möglichkeiten der verbalen Interaktion

Bewältigung von Alltagssituationen

Literatur

Sachregister

Einleitung

Immer mehr wird der Stimmgebrauch von Kindern in das Blickfeld der Phoniater, Logopäden und Sprachtherapeuten gerückt. So wird die Häufigkeit von Stimmstörungen im Kindesalter mit 6 % – 25 % (Kollbrunner 2006) angegeben. Verschiedene Autoren haben in der jüngsten Vergangenheit immer wieder darauf hingewiesen, wie wichtig eine gesunde Kinderstimme für die kommunikative, psychische und soziale Entwicklung der Kinder sowie für eine gesunde und belastungsfähige Stimme im Erwachsenenalter sei (Beushausen 2009; Schulze 2002; Ribeiro 2006). Ribeiro (2006) setzt in ihrer Vergleichsstudie zu funktionellen Stimmstörungen im Kindesalter die verschiedenen Qualitäten des Schreiverhaltens eines Kindes in Beziehung zu den Reaktionen der Bezugspersonen.

„Insgesamt weisen alle Studien einheitlich auf die bereits früh existierende Wechselwirkung zwischen Stimmqualität des Sprechers und der beim Hörer assoziierten Persönlichkeit hin. Dies zeigt die Bedeutsamkeit der Stimme in Bezug auf die emotionale Interaktion zwischen Kind und Außenwelt, die ihrerseits eine bedeutende Funktion für die weitere sozioemotionale Persönlichkeitsentwicklung des Kindes hat“ (2006, 26).

Da somit die Prävention und Therapie von Stimmstörungen im Kindesalter an Bedeutung zunimmt, erscheint es uns wichtig, dass dies in einer für Kinder ansprechenden und motivierenden Form geschieht. Das vorliegende Buch soll hierzu einen Beitrag leisten.

Stellen wir uns eine Kommode vor. Jeder Schublade können störungsspezifische Übungen zur individuellen Therapiegestaltung entnommen werden, was jedoch keine mechanistische Anwendung von Übungen provozieren soll. Vielmehr liegt es in der Verantwortung der Therapeutin, die für das stimmgestörte Kind und seine Eltern relevanten Therapieeinheiten auszuwählen und auf Grundlage eines mehrdimensionalen Störungsverständnisses zu einem integrierten Gesamtkonzept zusammenzufügen (siehe Abb. 1).

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Abb. 1: Kommode

Da viele Übungen mehreren Zielen dienen, sind diese bereichsübergreifend. Um die Idee der verschiedenen Schubladen und die Übersichtlichkeit zu wahren, sind einzelne Übungen mehrfach zu finden (mit verschiedenen Zielsetzungen und damit in verschiedenen Bereichen). Zusammenfassend ergeben sich vier übergeordnete Themenbereiche:

– Theoretische Grundlagen

– Elternberatung

– Arbeit am Kind

– Übertragung in den Alltag

Theoretische Grundlagen: In den Kapiteln 1 bis 3 finden sich eine Übersicht über die theoretischen Grundlagen und Anregungen zur Durchführung von Anamnese und Stimmbefund.

Elternberatung: Ziel der Elternberatung ist es, die Eltern in das Therapiegeschehen zu integrieren und ihnen z. B. mittels Ursachenforschung ein Verständnis für die Situation ihres Kindes zu vermitteln. Außerdem ist es wichtig, den Eltern die Vorbildfunktion ihrer eigenen Stimme deutlich zu machen und sie zur Verbesserung des kommunikativen Umfeldes anzuregen, um dem Kind neue Reaktionsmöglichkeiten zu eröffnen (z. B. Lärmpegelreduzierung). In Kapitel 4 werden hierzu Möglichkeiten aufgezeigt. Ein bedeutender Faktor für die Übertragung in die Alltagssituation ist die Stimmhygiene, deren Wichtigkeit den Eltern bewusst werden soll. Dies kann leichter umgesetzt werden, wenn die Zusammenhänge zwischen Atmung und Stimme transparent sind. Daher werden in Kapitel 5 Funktionsweisen von Atmung und Stimme erklärt und Anregungen gegeben, wie Stimmhygiene praktiziert werden kann.

Arbeit am Kind: In den Kapiteln 6 bis 9 haben wir Übungen aus Therapiekonzepten zur Stimmtherapie mit Erwachsenen (z. B. Funktionales Stimmtraining, Abspannen und atemrhythmisch angepasste Phonation etc.) zusammengetragen und für die Therapie mit Kindern modifiziert. Dabei haben wir diejenigen Übungen ausgewählt, die sich in der praktischen Arbeit mit Kindern als sinnvoll erwiesen haben und die wir für Kinder geeignet erachten. Die Übungen sind in die Therapiebereiche Entspannung, Atmung, Artikulation und Phonation gegliedert.

Übertragung in den Alltag: Um einen neu erarbeiteten Stimmgebrauch in den Alltag zu übertragen stellt die Wahrnehmung der eigenen Stimme in verschiedenen Situationen eine wichtige Voraussetzung dar. Übungen zur Wahrnehmung von falschem und richtigem Stimmgebrauch und zum bewussten Einsetzen der erarbeiteten Inhalte werden in Kapitel 5, 10 und 11 beschrieben. Die Kommunikationsformen z. B. in der Familie oder im Freundeskreis haben außerdem Einfluss auf den Gebrauch der eigenen Stimme. Daher stellen wir in Kapitel 12 verschiedene Kommunikationsmöglichkeiten vor, die zu einem ökonomischen Stimmgebrauch beitragen.

Die zusammengestellten Übungen in den Bereichen Kindertherapie und Elternberatung erheben nicht den Anspruch auf Vollständigkeit und Allgemeingültigkeit. Wir möchten sie als Werkzeuge verstanden wissen, die keine bestimmte Therapiemethode darstellen. Vielmehr kann sich jede Therapeutin in individueller Weise daraus bedienen.

Da die Erkrankungshäufigkeit bzgl. Stimmstörungen bei Kindern zwischen dem sechsten und zehnten Lebensjahr am größten ist, ist ein Großteil der beschriebenen Übungen für dieses Altersspektrum gedacht. Zusätzlich sind einige Übungen jedoch mit ergänzenden Hinweisen für den Einsatz mit jüngeren Kindern versehen.

Zur besseren Lesbarkeit haben wir grundsätzlich die weiblichen Formen wie Therapeutin und Sprachtherapeutin gewählt, da unserer Erfahrung nach größtenteils Frauen in diesen Berufsgruppen tätig sind.

1   Theoretische Einführung: Grundlagen und Probleme bei der Stimmentwicklung

In diesem Kapitel geben wir zunächst einen kurzen Abriss über die Stimmentwicklung bei Kindern und beschreiben die wesentlichen Ursachen und Symptome von juvenilen Dysphonien.

1.1   Stimmentwicklung im Kindesalter

Die Stimmentwicklung beginnt bereits mit dem Schrei des Neugeborenen. Die Säuglingsstimme umfasst nach Wendler et al. fast vier Oktaven (a bis f4), „aber die häufigsten stimmlichen Äußerungen bewegen sich um a1“ (440 Hz) (2014, 91). Die Autoren beschreiben schon bei Säuglingen die Möglichkeit der Unterscheidung in weiche und harte Stimmeinsätze. Dabei „zeigen harte Einsätze Unzufriedenheit an und weiche Zufriedenheit und Wohlbehagen“. Ribeiro beschreibt das Schreien als „Intonationsverständigung zwischen Kind und Bezugsperson“. Sie definiert diese kindlichen Stimmäußerungen als „intrapsychisches, interaktionales und beziehungsdynamisches Geschehen“ (Ribeiro 2006, 20).

Am Ende des ersten und während des zweiten Lebensjahres befindet sich das Kind in einer Nachahmungsperiode, in der sich Einflüsse der sprechenden Umwelt auf die Qualität der kindlichen Stimme auswirken können. Zum Teil wird die sprechende Umwelt über die auditiven Wahrnehmungskanäle aufgenommen. Allerdings betont Heptner hierzu die Verbindung von Stimme und Klang mit „einer Haltung bzw. Bewegung im Vokaltrakt, im Kehlkopf und in der Atmung“ (1997, 12). Hieraus folgert er, dass Kinder „Bewegungsmuster und auch Halte- und Kompensationsmuster mehr oder weniger unbewusst von den Menschen (imitieren), denen (sie) besonders viel Aufmerksamkeit schenken oder von denen (sie) … abhängig sind“ (1997, 12).

In der weiteren Stimmentwicklung nehmen die Tonhöhenumfänge im Kleinkind-, Vorschul- und Schulalter zu, und es kommt zu einem Absinken der mittleren Sprechstimmlage (sinkt zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr auf d1 ab und bleibt bis zum achten Lebensjahr konstant). Die meisten Kinder verfügen vor der Pubertät über einen Stimmumfang von ca. 1,5 Oktaven. Zur Prävention von Stimmstörungen ist es wichtig, dass Kinder ausschließlich zwei bis vier Halbtöne unter ihrer oberen Stimmumfangsgrenze singen. Unterschreitungen der unteren Grenze sowie das Aussingen des gesamten Stimmumfangs können der Stimme ebenfalls schaden.

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Abb. 2: Stimmentwicklung bis zur Pubertät (in Anlehnung an Frank et al.; in Wendler/Seidner 1996, 70)

1.2   Ursachen für juvenile Dysphonien

Die Ursachen für die Entstehung von juvenilen Dysphonien sind multifaktoriell. Um die Vielfalt der ätiologischen Faktoren darzustellen, wurden diverse Ätiologiemodelle erstellt. Hier sollen die Modelle von Beushausen (2011), Schulze (2002) und Ribeiro (2006) in Anlehnung an Steinhausen (2000) kurz vorgestellt werden.

Modell von Beushausen (2011)

Beushausen teilt die Ursachen für eine hyperfunktionelle kindliche Dysphonie in drei übergeordnete Bereiche ein: Das Kind, soziale Faktoren und familiäre Einflüsse.

1. Das Kind: Es wird auf die unterschiedlichen Entwicklungsbereiche des Kindes verwiesen, die Defizite aufweisen können. Dies betrifft z. B. die Grob-, Fein- und Mundmotorik mit Auffälligkeiten in der Kraftdosierung, dem Tonus oder einer myofunktionellen Störung. Weiterhin werden die kommunikativen Fähigkeiten des Kindes genannt, wobei häufig eine „Dysbalance der […] stimmlichen, verbalen und nonverbalen Parameter“ (2011, 36) vorherrscht. Die emotionale Entwicklung des Kindes spielt eine Rolle bezüglich einer „Diskrepanz zwischen Persönlichkeit und Auftreten“ (2011, 36) des Kindes bzw. einer geringen Frustrationstoleranz. Habituelle Faktoren wie ungünstiges Stimmverhalten im Rollenspiel, erhöhter Lärmpegel der Umgebung, ein lauter Kommunikationsstil, habituelles Räuspern oder unphysiologisches Singverhalten können zur Entstehung einer kindlichen Stimmstörung beitragen. Die akustisch auditive Wahrnehmung hat im Hinblick auf Schwerhörigkeit, auditive Diskrimination und Aufmerksamkeit bzw. eingeschränkte Musikalität und Rhythmik Einfluss auf den Stimmgebrauch.

2. Soziale Faktoren: Diese betreffen die Stimmvorbilder im Umfeld des Kindes wie z. B. aus der Medienwelt oder aus Kindergarten und Schule. Ein weiterer Aspekt ist der Leistungsdruck in der Schule und bei Freizeitaktivitäten, der in einem übermäßigen stimmlichen Einsatz ein Ventil finden kann. Auch die fehlende Möglichkeit zur körperlichen Betätigung stellt einen ätiologischen Faktor dar.

3. Familiäre Einflüsse: Im Familiensystem können bestimmte Rollenverteilungen und Interaktionen den Stimmgebrauch von Kindern ungünstig beeinflussen. Auch der Erziehungsstil prägt das stimmliche Verhalten des Kindes. Innerhalb der Familie erlernt das Kind einen bestimmten Kommunikationsstil, durch den sein kommunikatives Verhalten (z. B. wenig verbal-argumentativ) geformt wird.

Modell von Schulze (2002)

Nach Schulze können die ätiologischen Faktoren für Dysphonien im Kindesalter in drei Hauptgruppen eingeteilt werden:

1. Prädisponierende psycho- bzw. somatokonstitutionelle sowie organische und traumatische Faktoren: Darunter fallen Prädispositionen im HNO-Bereich bzw. organische Erkrankungen des Vokaltraktes, hormonelle Störungen, Syndrome und neurologische Erkrankungen, Verhaltensauffälligkeiten wie erhöhte Aggressivität oder eine Störung des vegetativen Gleichgewichts.

2. Habituell-funktionelle Faktoren: Hierbei geht es um den Stimmgebrauch mit erhöhter Lautstärke (z. B. beim Spielen oder Imitieren), häufiges Räuspern, eine unökonomische Atem- bzw. Stimmtechnik, Fehlspannungen sowie die Nachahmung negativer Stimmvorbilder.

3. Prädisponierende soziale Faktoren bzw. Umweltbedingungen: Hierzu zählen ein hoher Lärmpegel in Familie und Einrichtungen, negative Stimmvorbilder bzw. zu gering ausgebildete Erzieher und Pädagogen im Hinblick auf Stimmhygiene und stimmliche Belastungsfähigkeit der Kinder, Konflikte, falsches Erziehungsverhalten und hörgeschädigte Familienangehörige.

Modell von Ribeiro (2006) in Anlehnung an Steinhausen (2000)

Ribeiro nimmt auf das entwicklungspsychopathologische Modell der Ätiologie psychischer Störungen von Steinhausen (2000) Bezug und nennt vier Bereiche von Risikofaktoren, die zu einer Stimmstörung führen können. Dies sind biologische, psychosoziale, soziokulturelle und situative Risikofaktoren. Diese verschiedenen Bereiche der auslösenden und aufrechterhaltenden Faktoren sollen in ihrer Auflistung eine Vermischung der ätiologischen Ebenen verhindern, stellen aber nach Ribeiro ein „bio-psycho-soziales Wechselspiel“ (2006, 73) dar.

Biologische Risikofaktoren: Hier sind die Faktoren der genetischen Bedingungen (z. B. Kehlkopfanomalien, zerebrale und hormonelle Störungen), konstitutionelle Elemente wie die geschlechtsspezifische Entwicklung (Verhältnis Jungen zu Mädchen = 3 : 1) und Temperament sowie somatische Faktoren wie körperliche Erkrankungen, die Allgemeinentwicklung und habituelle Faktoren relevant.

1. Psychosoziale Riskofaktoren: Unter dieser Ebene werden die verschiedenen psychosozialen Lebensbereiche des Kindes subsummiert. Dies sind zunächst individuelle Faktoren wie Vulnerabilität, Persönlichkeit und Selbstkonzept des Kindes sowie internalisierte Konflikte und fehlangepasste Bewältigungsprozesse. Weiterhin werden familiäre Faktoren genannt. Hierunter fallen der Erziehungsstil, das Kommunikationsverhalten in der Familie, familäre Stimmgewohnheiten und -vorbilder, familiäre Disharmonie sowie die Position in der Geschwisterreihe. Auch gehören zu diesem Bereich schulische Faktoren (Probleme und Stress in der Schule) und das Verhältnis zur Gleichaltrigengruppe.

2. Soziokulturelle Risikofaktoren: Hierzu zählen die Sozialschicht und die Ökologie, wie z. B. erhöhte Stimmbelastung durch hohen Lärmpegel der Umgebung und fehlende Stimmhygiene im häuslichen Umfeld.

3. Lebensereignisse und situative Risikofaktoren: Kritische Lebensereignisse eines Kindes können Veränderungen des sozialen Umfeldes oder Stresssituationen sein.

1.3   Die häufigsten Formen kindlicher Stimmstörungen und ihre Symptome

Der Befund einer kindlichen Stimmstörung entspricht im Wesentlichen dem einer funktionellen Dysphonie bei Erwachsenen, wobei meist das hyperfunktionelle Erscheinungsbild im Vordergrund steht.

Funktionelle Störungen

Hyperfunktionelle Dysphonie: Die hyperfunktionelle Dysphonie stellt mit 30 % bis 40 % die am häufigsten vorkommende Form einer kindlichen Dysphonie dar (Böhme 1983). Hierbei werden die an der Stimmgebung beteiligen Muskelsysteme in unphysiologischer Weise beansprucht (überhöhter Muskeltonus), was meist die Folge eines übermäßigen Stimmgebrauchs ist. Die folgenden Symptome sind dabei festzustellen: gepresste Stimmgebung, Heiserkeit, knarrende Stimmeinsätze, monotoner und rauher Stimmklang, meist zu tiefe Sprechstimmlage, verminderte Resonanz, Räusperzwang, Missempfindungen wie Trockenheits- und/oder Fremdkörpergefühl sowie dyskoordinierte Atmung bzw. Hochatmung (Pascher/Brauer 1998) mit hörbaren Atemgeräuschen. Häufig ist die Stimmbelastbarkeit gering, d. h. es kommt zu schneller Stimmermüdung.

Hypofunktionelle Dysphonie: Die hypofunktionelle Dysphonie ist meist von untergeordneter Bedeutung. Oft erscheint sie durch Kompensation eines zu geringen Muskeltonus (ganzkörperlich wie auch bzgl. der an der Stimmgebung beteiligten Muskulatur) als sekundäre hyperfunktionelle Dysphonie. Bei primärer Symptomausprägung zeigt sich meist ein leiser, dünner und behauchter Stimmklang. Den Kindern fällt es schwer, die Lautstärke ihrer Stimme zu steigern. Die Stimme wirkt kraftlos, müde und matt.

Organische Störungen

Stimmlippenknötchen: Stimmlippenknötchen treten bei Jungen im Verhältnis 3 : 1 häufiger auf als bei Mädchen. Die zu beobachtenden Symptome sind ähnlich denen der hyperfunktionellen Dysphonie. Zudem findet man hier eher eine zu tiefe, meist stark heisere, gepresste Stimme, die zuweilen zur Diplophonie neigt. Nach Schulze ist die Knötchenbildung multifaktoriell bedingt. Hierzu zählt er „konstitutionelle Faktoren in Form einer glottischen Insuffizienz oder einer Hypotonie der Kehlkopfmuskulatur, eine Entzündungskomponente, psychosoziale Faktoren … und eine stimmliche Überanstrengung mit hyperfunktioneller Komponente“ (2002, 101).

Weitere Formen kindlicher Dysphonie:

– Kehlkopfentzündungen

– Papillomatose des Kehlkopfes

– dysplastische Dysphonien

– audiogene Dysphonien

– traumatisch bedingte Dysphonien

Weitere Informationen zum theoretischen Hintergrund kindlicher Stimmstörungen finden Sie unter:

Beushausen, U., Haug, C. (2011): Stimmstörungen bei Kindern. Ernst Reinhardt, München / Basel

Ribeiro, A. (2006): Funktionelle Stimmstörungen im Kindesalter. Eine psychologische Vergleichsstudie. Schulz-Kirchner, Idstein

Schulze, J. (2002): Stimmstörungen im Kindes- und Jugendalter. Schulz-Kirchner, Idstein

2   Anamnese: die aktuelle Stimmproblematik

Zur Anamnese der Dysphonie sollte im Erstgespräch das Kind kurz nach seinen subjektiven Beschwerden gefragt werden. Stichpunktartig sind hier einige Anhaltspunkte genannt:

– subjektive Beschwerden wie Hustenreiz, Räusperzwang oder Globusgefühl,

– Einschätzung des Stimmklangs durch das Kind,

– Leidensdruck des Kindes und Therapiemotivation (je nach Alter),

– Hobbys (bzgl. Lautstärke).

Die Erhebung der weiteren anamnestischen Daten sollte in einem späteren ersten Elterngespräch stattfinden, um sich beim Erstkontakt ganz dem Kind widmen zu können.

Zur Erhebung der Anamnese haben wir einen Anamnesebogen zusammengestellt, der die aktuelle Stimmproblematik und die allgemeine und stimmliche Entwicklung des Kindes abfragt. Hierzu verweisen wir auch auf die Elternberatung in Kapitel 4. In diesem Zusammenhang sollten weitere anamnestische Daten zum Kommunikations- und Rollenverhalten in der Familie, zur Geschwisterkonstellation und zum Erziehungsstil erhoben werden. Dies kann mit Hilfe der dort abgebildeten Übersicht zu den verschiedenen Entstehungsfaktoren geschehen.

Die Erhebung der Anamnese im ersten Elterngespräch bildet zusammen mit der Diagnostik die Basis für die Planung der Therapie. Die Therapeutin erhält in der Anamnese Informationen über die ursächlichen und aufrechterhaltenden Faktoren der Stimmstörung. Mit diesem Wissen kombiniert mit den Ergebnissen der Diagnostik kann sie aus den unterschiedlichen Therapiebereichen (wie im Bild der Kommode in Abb. 1 dargestellt) eine störungsspezifische Therapie für das Kind und die relevanten Themen für die Elternberatung zusammenstellen.

Anamnesebogen bei kindlicher Stimmstörung

Patient: Geb.-Datum:
Anschrift:
Geschwister: Alter:
Kindergarten / Schule / Klasse:
Untersucher: Unters.-Datum:

1. Angaben zur Stimmproblematik des Kindes

a) Problem- bzw. Stimmbeschreibung aus Sicht der Eltern Heiserkeit/Stimmversagen/Räusperzwang/Anstrengung


b) Seit wann bestehen die Stimmbeschwerden?


c) Wem ist die Stimmstörung zum ersten Mal aufgefallen?


d) Vermutliche Ursache der Stimmbeschwerden


e) Bereits durchgeführte Untersuchungen/Behandlungen bzgl. der Stimmbeschwerden


f) Auftreten der Stimmbeschwerden in bestimmten Situationen

– morgens/abends


– Jahreszeiten


– Schule/zu Hause/Spielplatz


– Ermüdung/Anspannung/Stress/Konflikt


– verstärkt bei bestimmten Personen (Lehrer/Freunde/Familie)


g) Stimmbelastungen (Musikunterricht/Chor/Hobbys/Lärm)


2. Allgemeine und stimmliche Entwicklung

a) Schwangerschaft/Geburt (Risiken, Komplikationen)


b) Schreiverhalten als Säugling

– Häufigkeit:


– Dauer:


– Klang (gepresst/heiser/schrill):


c) Sprachentwicklung



d) Motorische Entwicklung

– Grobmotorik


– Feinmotorik


e) Krankheiten/Operationen (speziell HNO-Bereich)

– häufige Erkältungen


– Hörvermögen des Kindes


f) Kommunikations- und Spielverhalten des Kindes

– non-verbal (Gestik, Mimik)


– vokal


– verbal-argumentativ


– Durchsetzungsvermögen


3   Stimmbefund: Anregungen zur Diagnostik

Unser Anliegen ist es, die bei einer bestehenden kindlichen Stimmstörung beachtenswerten Aspekte aufzulisten und anhand des Befundbogens eine systematische Befunderhebung zu ermöglichen. Im folgenden Abschnitt geben wir einige Anregungen zur Durchführung der einzelnen Diagnostikschritte.

3.1   Einzelne Diagnostikschritte

Tonus und Motorik

Die Grob-, Fein- und Mundmotorik sollte mit den gängigen Methoden aus der Sprachtherapie bei Kindern überprüft werden. Hierzu können für die Überprüfung der Mundmotorik vorhandene Bildkarten oder Übungen und Bilder aus Kapitel 8 „Lockerungs- und Bewegungsübungen“ verwendet werden.

Atmung: Atemmittellage

Die Einhaltung der Atemmittellage kann im Gespräch mit dem Kind überprüft werden, oder das Kind soll eine kurze Bildergeschichte erzählen.

images Material: Papier und Buntstift

images Durchführung: Die Therapeutin bittet das Kind, so lange es kann, auf „f“ auszuatmen. Um darzustellen, wie lange es ausgeatmet hat, malt die Therapeutin während der Ausatmungsphase des Kindes ein Schneckenhaus (siehe Abb. 3). Anschließend wird die Aufgabe wiederholt, und die Therapeutin stoppt die Zeit mit einer Stoppuhr.

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Abb. 3

Im Anschluss daran darf das Kind unter das Schneckenhaus eine kriechende Schnecke malen.

Nach dem gleichen Schema kann bei der Ausatmung auf „s“ vorgegangen werden. Hier malt das Kind eine Schlange (siehe Abb. 4).

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Abb. 4

images Normwerte: Pathologisch sind Werte unter zwölf Sekunden.

Sprechstimme

Die Überprüfung der Sprechstimme kann im freien Spiel, im Gespräch, bei einer gemeinsamen Bilderbuchbetrachtung oder mittels eines kurzen Lesetextes erfolgen. Es ist zu empfehlen, eine Audio- oder besser eine Videoaufnahme anzufertigen. Hierzu muss der Therapeutin eine schriftliche Einverständniserklärung der Erziehungsberechtigten vorliegen. Auch für die folgende Behandlung kann die Analyse von Audio- oder Videoaufnahmen in der Arbeit mit den Eltern, aber auch in der Therapie mit dem betroffenen Kind, hilfreich und wichtig werden.

images Durchführung: Die Therapeutin spricht die unten angegebenen Sätze nacheinander vor und bittet das Kind, diese nachzusprechen. Dabei ist es sinnvoll, die unten beschriebenen Vorstellungshilfen zu geben, die das Kind zur Modulation der Sprechstimme anregen sollen. Mit dem folgenden Prüfsatz soll die obere Grenze des Sprechstimmumfangs bestimmt werden:

„I-i, oben an der Decke sitzt eine Spinne“

Der zweite Satz dient der Festlegung der unteren Grenze:

„Tief unten im Keller sitzt eine Maus“

images Normwerte: siehe Kapitel 1 „Theoretische Einführung“, Abb. 2: „Stimmentwicklung bis zur Pubertät“.

images Durchführung: Die Indifferenzlage lässt sich im Gespräch mit dem Kind am besten ermitteln. Um dem Kind während des Gesprächs die volle Aufmerksamkeit widmen zu können, bietet es sich an, die Indifferenzlage anhand einer Audio- oder Videoaufnahme zu bestimmen. Auffälligkeiten: Bei Kindern mit einer Dysphonie liegt häufig eine zu tiefe Indifferenzlage vor. Bei emotionaler Beteiligung ist sie oft zu hoch. Normwerte: siehe Kapitel 1 „Theoretische Einführung“, Abb. 2: „Stimmentwicklung bis zur Pubertät“.

Singstimme

  1. Singstimmumfang  

images Durchführung: Um den Singstimmumfang zu ermitteln, werden dem Kind wiederum Vorstellungshilfen gegeben: z. B. läuft eine Person singend durch ein Haus. Der Hausrundgang beginnt im Keller (tiefe Singstimmlage). Während des Treppenaufstiegs in die oberen Stockwerke wird die Stimmlage immer höher. Auf dem Dachboden endet der Rundgang. Dabei kann das Kind die Auf- und Abbewegung im Stand durch z. B. Kniebeugen oder Arm- oder Kopfheben und -senken unterstützen.

images Normwerte: siehe Kapitel 1 „Theoretische Einführung“, Abb. 2: „Stimmentwicklung bis zur Pubertät“.

images Durchführung: Auch bei der Überprüfung des Schwellvermögens der Stimme sollte die Therapeutin dem Kind eine Vorstellungshilfe geben. Dies könnte sein:

– Radio langsam lauter und leiser drehen,

– Ziehharmonika auseinanderziehen und wieder zusammendrücken,

– vorbeifliegende Biene.

Phoniert wird auf einen vorgegebenen Vokal.

images Durchführung: In seiner mittleren Sprechstimmlage soll das Kind einmal auf „a“ und dann auf „o“ so lange phonieren, wie es kann. Hier können als Vorstellungshilfen folgende Beispiele dienen:

– den Ton als Kaugummi aus dem Mund ziehen,

– Schnecke malen (siehe Ausatmungsdauer),

– Schlange malen (siehe Ausatmungsdauer).

images Auffälligkeiten: Eine Tonhaltedauer von weniger als zehn Sekunden ist pathologisch.