Karl-Heinz Schäfer, Psychologischer Psychotherapeut, Ravensburg, ist in eigener Praxis tätig. Er leitet Fortbildungsseminare an der Sebastian-Kneipp-Akademie sowie am Seminarzentrum Wollmarshöhe. Arbeitsschwerpunkte sind Psychotherapie (Einzel- und Gruppentherapie), Hypnotherapie, Entspannungsverfahren und Therapeutisches Bogenschießen. Weitere Informationen finden Sie unter www.praxis-reichermoos.de Kontakt zum Autor unter KHSPraxis@t-online.de
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ISBN 978-3-497-02761-3 (Print)
ISBN 978-3-497-60660-3 (PDF)
ISBN 978-3-497-60988-8 (EPUB)
2., durchgesehene Auflage
© 2018 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München
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Covermotiv und Fotos Innenteil: Max Schäfer; Foto in Abbildung 27: Birgit Grau Satz: FELSBERG Satz & Layout, Göttingen
Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München
Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de
Inhalt
Vorwort
Einführung
1 Intuitives Bogenschießen und sein Potential
1.1 Der Anfang: Vermittlung des Bogenschießens
1.1.1 Vorbereitung
1.1.2 Vermittlung der Basistechnik
1.1 3 Verfeinerung der Technik
1.2 Das Potential: Bogenschießen als Modell und Übungsmöglichkeit
1.2.1 Prozess-Orientierung
1.2.2 Achtsamkeit
1.2.3 Intuition
1.2.4 Ruhe in der Bewegung
1.2.5 Weitere Aspekte
2 Therapeutisches Arbeiten mit Pfeil und Bogen
2.1 Die therapeutischen Ebenen des Bogenschießens
2.1.1 Bogenschießen als Ressource
2.1.2 Bogenschießen als Spiegel der Seele
2.2 Hinweise zur therapeutischen Beziehung und Kommunikation
2.2.1 Grundlegende Herangehensweisen beim Bogenschießen
2.2.2 Begleitende therapeutische Gesprächsführung
2.2.3 Persönliche Voraussetzungen für therapeutisches Arbeiten mit Pfeil und Bogen
2.3 Therapeutisches Bogenschießen auf der
2.3.1 Zugang
2.3.2 Beispiele
2.3.3 Entwicklung
2.4 Therapeutisches Bogenschießen auf der Problem-Ebene
2.4.1 Allgemeine Ebene
2.4.2 Metaphorische Ebene
2.5 Die zentrale therapeutische Vorgehensweise: Metaphern-Arbeit
2.5.1 Entdecken des Zusammenhangs
2.5.2 Entwickeln zur Lösung
2.5.3 Übertragung ins Leben
2.5.4 Besiegelung
2.5.5 Weitere Beispiele
2.6 Aktive Bedeutungsgebung und symbolische Handlungen
2.6.1 Erhellende Experimente und korrigierende Erfahrungen
2.6.2 Aktives Einbringen symbolischer Bedeutungen
2.6.3 Bereiche Pfeil und Ziel
2.6.4 Beispiel „Ende einer Illusion“
2.6.5 Weitere Beispiele
2.6.6 Der Luftballon als bedeutungsvolles Ziel
2.7 Therapeutischer Parcours
2.8 Der spezielle Wert des Therapeutischen Bogenschießens
Schlusswort
Literatur
Sachregister
Vorwort
Therapeutisches Bogenschießen in der Gruppe
Dieses Buch ist eine Darstellung meiner Praxis des Therapeutischen Bogenschießens.
Im Rahmen meiner Arbeit als Psychotherapeut an einer Psychosomatischen Klinik, die der Erfahrungstherapie einen großen Stellenwert einräumt, ist im Lauf von etwa zwölf Jahren ein Konzept entstanden, das die Bereiche Psychotherapie und Bogenschießen in praktikabler Form integriert und das ich jetzt zusammenhängend vorstellen möchte.
Hintergrund dieser Konzeptentwicklung sind meine psychotherapeutischen Ausbildungen (Klientenzentrierte Psychotherapie nach Carl Rogers, Verhaltenstherapie, Hypnotherapie nach Milton H. Erickson) und verschiedene Erfahrungen mit Bogenschießen (u. a. mit Henry Bodnik und Clemens Richter).
Dadurch ist das Konzept fachlich fundiert, im Wesentlichen habe ich jedoch aus einem allgemein bekannten Fundus der beiden Bereiche Psychotherapie und Bogenschießen geschöpft und beanspruche lediglich für mich, jede Einzelheit meiner Arbeit im Lauf der Jahre sorgfältig bedacht, kritisch reflektiert und ständig an der therapeutischen Erfahrung überprüft zu haben.
In Klinik und Praxis hat sich das Therapeutische Bogenschießen gut bewährt. Weitaus die meisten Patienten, die daran teilgenommen haben, betrachten es als wertvollen Teil ihrer Therapie.
Seit sieben Jahren gebe ich mein Wissen auch als „Fortbildung Therapeutisches Bogenschießen“ an interessierte Kolleginnen und Kollegen weiter.
So bin ich zuversichtlich, dass auch dieses Buch nützlich sein wird.
Ich hoffe, dass andere, die ihrerseits auf eine psychotherapeutische Basiskompetenz aufbauen können, mit Offenheit und Interesse lesen, wie ich Therapeutisches Bogenschießen verstehe und welche Erfahrungen ich gemacht habe – und dass sie dann auf guter konzeptioneller Grundlage selbst therapeutisch mit Pfeil und Bogen arbeiten, zum Nutzen ihrer Klienten und zur eigenen Freude.
Einführung
Bogenschießen ist ein Relikt aus alter Zeit. Gegen Ende der Altsteinzeit, vor mehr als 15000 Jahren, kam es in der Menschheitsentwicklung nach Faustkeil und Speer zur Entdeckung einer ganz neuartigen Jagdwaffe, die die Grenzen der reinen Muskelkraft überschreitet: Die in einem Holzstock enthaltene Kraft wird durch Biegen mit Hilfe einer Sehne dazu genützt, einen Pfeil über eine größere Entfernung zu schießen.
Gelegentlich vollziehen Kinder dieses Stück Menschheitsgeschichte noch spielerisch nach, indem sie sich Flitzebogen und Pfeile anfertigen und damit in Feld und Wald herumstreifen.
Die ursprüngliche Jagdsituation, das Töten eines Tiers, um sich Nahrung zu beschaffen, ist natürlich immer noch in Pfeil und Bogen enthalten, auch wenn heutzutage die Jagd überhaupt und speziell mit Pfeil und Bogen für das Überleben weitestgehend bedeutungslos geworden ist. Auch die spätere Nutzung des Bogenschießens in Kampf und Krieg ist seit Erfindung der Feuerwaffen längst überholt.
Im Wesentlichen tritt Bogenschießen in der Gegenwart in drei Formen in Erscheinung: Sport, Spaß und Meditation.
Bogenschießen ist zum Leistungssport geworden. Bei der Olympiade werden mit technisch perfekten Geräten und vollendeter Körperbeherrschung erstaunliche Leistungen vollbracht. In zahlreichen Vereinen üben viele Mitglieder den Bogensport aus, jedoch ist Bogenschießen, da nicht so telegen, in den Medien kaum präsent.
Im Freizeitbereich hat sich das traditionelle Bogenschießen weit verbreitet. Orientiert an historischen Beispielen wie Robin Hood trifft man sich in freier Natur und mit mehr oder weniger traditioneller Ausrüstung zur „Jagd“ auf einem Parcours mit Tierfiguren aus Schaumstoff, manchmal auch bei großen Events mit Wettkampfcharakter und zünftiger Geselligkeit für die in der Szene aktiven Gruppen und Familien.
Auch die Möglichkeit, sich wie in der Steinzeit einen Bogen selbst zu bauen, wird vielfach angeboten.
Eine ganz andere Richtung ist das meditative Bogenschießen, am bekanntesten (u. a. durch das Buch von Eugen Herrigel, Zen in der Kunst des Bogenschießens, 2005, erstmals 1951) in der Form des traditionellen japanischen „Kyudo“, einer eigenen Welt mit besonderer Kleidung, auffallender Gestalt des Bogens und streng ritualisiertem Ablauf. Bogenschießen wird dabei als eine Form von Meditation und als Weg zu einer bestimmten spirituellen Geisteshaltung verstanden. Teilweise wird dieser „BogenWeg“ inzwischen auch in einfacherer Form praktiziert (Österle 2016) oder völlig anders aus der westlichen, europäischen Tradition hergeleitet (Richter 2000).
Therapeutisches Bogenschießen ist nun keine neue, besondere Form des Bogenschießens, definiert sich also nicht durch besonderes Material oder eine besondere Technik beim Schießen.
Es zeichnet sich dagegen durch den Sinnzusammenhang aus, in dem es eingesetzt wird: Pfeil und Bogen sollen therapeutisch wirksam werden, das Bogenschießen soll den Patienten helfen, in ihrer Psychotherapie voranzukommen.
Selbstverständlich stellt auch Sport einen wichtigen Beitrag zur Gesundheit dar, sind Spaß und Spiel in sozialen Gruppen elementare Bestandteile des Lebens und ebenso ist die Erfahrung von Meditation ausgesprochen wertvoll – all das gilt auch für Patienten.
Dennoch ist eine psychotherapeutische Praxis oder eine psychosomatische Klinik kein sportliches Trainingslager, kein Robinson-Club oder Erlebnispark und auch kein buddhistisches Zentrum, sondern ein Ort der Therapie, der konstruktiven persönlichen Veränderung und Entwicklung.
Richtig verstanden ist sie auch kein „Reparaturbetrieb“, damit die Menschen wieder „funktionieren“, wie zuvor, und dient nicht der (Re-)Integration in die Leistungs- und Spaßgesellschaft oder in eine spirituelle Gemeinschaft. Vielmehr verbindet sie mit der psychosomatischen Gesundung eine selbstbewusste und lebendige als auch konstruktive und kritische Haltung sowie die Perspektive, auf Basis eigener Erfahrung und eigenen Denkens seinen persönlich sinnvollen Lebensweg zu finden.
Wie kann nun Bogenschießen in diesem Rahmen sinnvoll eingesetzt werden, wie wird es zum wertvollen Teil einer guten Therapie?
Am Beginn steht das Kennenlernen und Lernen des Bogenschießens, die Patienten sollen mit diesem Teil der Menschheitserfahrung in Berührung kommen. Es ist gut, wenn dies auf einfache, möglichst leicht zugängliche Weise geschieht, also ohne den technischen Perfektionismus des heutigen Leistungssports, aber auch ohne die historisierende Spielerei der Eventkultur und ohne die Fremdartigkeit östlicher Traditionen.
Diese einfache Basis-Erfahrung mit Bogenschießen hat allemal schon einen Wert. Doch bleibt es in der therapeutischen Praxis nicht bei einem Bogenschießen mit Patienten. Therapeutisches Bogenschießen ist noch etwas anderes.
Dieses Andere ist die Perspektive. Als Therapeut schaue ich durch das Bogenschießen auf die Person. Sie befindet sich als Patientin oder Patient in Therapie, hat bestimmte Probleme bzw. Störungen und ernsthafte Schwierigkeiten in ihrem Leben. Und ich halte nun Ausschau nach Möglichkeiten, sie in ihrem therapeutischen Prozess, in ihrer Entwicklung zur Gesundheit durch Bogenschießen zu unterstützen.
Es geht also nicht um das Bogenschießen an sich, ich strebe nicht an, die Patienten zu sportlich erfolgreichen Bogenschützen zu machen; das wäre Aufgabe eines Trainers im Sportverein. Das Bogenschießen wird therapeutisch eingesetzt und bildet ein Medium der Therapie, ganz ähnlich z. B. der Maltherapie: Auch dort ist ja nicht das Ziel, die Patienten zu Künstlern auszubilden, sondern Farben und Pinsel sind das Medium der Therapie und eine Gestaltungstherapeutin gibt keinen Kunstunterricht. Ebenso ist eine Reittherapeutin keine Reitlehrerin, ein Tanztherapeut kein Tanzlehrer.
Es geht nicht um (sportliche) Leistung, Perfektion, Erfolg, sondern um Erleben, Selbsterfahrung, Selbstausdruck und persönliche Entwicklung. | ![]() |
Dabei ist Bogenschießen in seinen Ausdrucksmöglichkeiten deutlich begrenzter als die Maltherapie. Andererseits ist es als klar definierter Handlungsablauf mit Grundelementen wie Kraft, Ziel und messbarem Ergebnis näher am Alltagsleben der Menschen, speziell am beruflichen Bereich, und auch elementarer durch seine ursprüngliche Bedeutung der Nahrungsbeschaffung. Deutlich wird der Unterschied in der Herangehensweise auch an den Fragen, die ich mir innerlich stelle. Fragen des Sporttrainers lauten zum Beispiel:
■ Was kann ich tun, damit die Person noch bessere Ergebnisse erzielt?
■ Was muss sie noch mehr trainieren?
■ Ist sie talentiert genug, um richtig erfolgreich zu sein?
Beim Vermitteln des Bogenschießens im Freizeitbereich steht im Vordergrund:
■ Wie macht es der Person am meisten Spaß?
■ Welche Gelegenheiten gibt es für sie, Bogenschießen mit anderen gemeinsam zu machen?
Die Betrachtungsweise beim Therapeutischen Bogenschießen lässt sich dagegen mit der Frage umreißen:
■ Inwiefern ist das Bogenschießen gesund und förderlich für diese Person?
Ein spezieller therapeutischer Nutzen entfaltet sich vor allem an der Frage:
■ Zeigen sich beim Bogenschießen problematische Muster, die für die Person und ihr Leben bedeutsam sind?
Bei gutem Verlauf entfaltet das Bogenschießen mit Hilfe des Therapeuten eine relevante psychische Wirkung beim Patienten. Auf dem Boden von einfachem Können und Freude entdeckt der Patient, was ihm der Umgang mit Pfeil und Bogen geben und sagen kann.
Wenn das Bogenschießen als Können und Fähigkeit eine wertvolle Ressource wird, etwa als Möglichkeit, zur Ruhe zu kommen oder Selbstwirksamkeit zu erleben, dann befinden wir uns bereits im therapeutischen Bereich.
Doch eine ganz andere therapeutische Ebene beginnt da erst: Am Bogenschießen kann sich zeigen, in welchem Punkt eine innere Entwicklung der Person notwendig oder sinnvoll ist, und durch Bogenschießen kann diese Entwicklung dann auch in Gang gesetzt, erprobt und eingeübt werden.
Solches Therapeutische Bogenschießen ist Erfahrungstherapie, die von konkretem, körperlich-sinnlichem Erleben ausgeht und das therapeutische Gespräch immer mit unmittelbarem Handeln verbindet. So werden problematische Muster direkt beobachtbar, und für viele Patienten ist der Zugang zu ihren Emotionen auf diese Weise leichter. Veränderungen, die in der Therapie geschehen, manifestieren sich auch sofort in wirklicher Erfahrung.
Ich verwende den prägnanten Begriff Erfahrungstherapie sehr bewusst, denn im Wort Erfahrung ist, wenn man es genauer als im Alltagsgebrauch betrachtet, die Idee der Veränderung und Entwicklung enthalten. Ein Erlebnis, so toll, intensiv, begeisternd es im Moment auch sein mag, setzt nicht unbedingt eine konstruktive persönliche Veränderung in Gang, sondern gerinnt oftmals bald zu einer einmaligen schönen Erinnerung oder verlangt nach suchtartig aufputschender und sich steigernder Wiederholung. Die Patienten sollen jedoch in ihrer Therapie eine wichtige Erfahrung machen, die persönlich verändernd neue Wege öffnet.
Auf diese Weise ist Therapeutisches Bogenschießen eine Entdeckungsreise und ein Entwicklungsprozess.
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Intuitives Bogenschießen und sein Potential |
Um therapeutisch mit Pfeil und Bogen arbeiten zu können, ist es nicht wesentlich, welches Material und welche Technik des Bogenschießens eingesetzt werden. Im Prinzip kann jede Form von Bogen und Pfeil, jede Art der Handhabung unter therapeutischem Blickwinkel nutzbar werden. Dennoch habe ich mir natürlich Gedanken gemacht, welche Vorgehensweise ich den Patienten, die ja zumeist Bogenschießen ganz neu kennenlernen, beibringen möchte.
Welche Art des Bogenschießens ist für ein eventuelles späteres therapeutisches Arbeiten am besten geeignet?
Als Leitgedanke hat sich bewährt: in Material und Handhabung möglichst einfach und natürlich – ohne dogmatisch zu werden.
Der Bogen braucht also kein spezielles technisches Zubehör (etwa ein Visier), er muss aber auch nicht gleich im Eigenbau hergestellt worden sein.
Das ausgewählte Material und der vermittelte Bewegungsablauf sollen es ermöglichen, nach wenigen Stunden mit einem guten Gefühl in ruhiger, kraftvoller (aber nicht anstrengender) und der Gesundheit förderlicher Weise Pfeile fliegen lassen zu können, die aus ca. zehn Metern Entfernung auch öfter mal die Mitte einer Scheibe treffen.
Eine solche einfache Basisfertigkeit genügt, da es beim Therapeutischen Bogenschießen nicht auf eine möglichst hohe Trefferquote ankommt, sondern auf den Gesamtablauf, das körperliche Geschehen und das innere Erleben.
Im Folgenden geht es um die Einzelheiten der gewählten Technik und ihrer Vermittlung.
1.1 Der Anfang: Vermittlung des Bogenschießens
Wenn Therapeutisches Bogenschießen gelingen soll, ist schon beim ersten Kontakt mit dem Material und bei den ersten Lernschritten ein therapeutischer Blickwinkel sinnvoll, der das Hauptaugenmerk auf das Erleben richtet, nicht nur auf die bloße Umsetzung der Technik.
Ein Bogentherapeut bringt der Person also nicht einfach das Bogenschießen bei, sondern achtet darauf, wie sie sich das Bogenschießen aneignet, welche Züge ihrer Persönlichkeit darin schon erkennbar werden, welche Stärken sich zeigen, welche Probleme sich andeuten.
Zu diesem Zweck gebe ich als Therapeut der Person, die das Bogenschießen lernt, möglichst viel Gelegenheit, sich ihres inneren Erlebens beim Lernen auch bewusst zu werden. Auftauchende Gedanken und Gefühle sind willkommen, sie werden als wertvoll und nicht als störend betrachtet, sie sollen und dürfen geäußert werden.
Anleitung und Erklärung halte ich möglichst knapp, gebe nur das Notwendigste vor, dies aber klar und direkt. Durch die Zurückhaltung beim Anleiten soll keine Ratlosigkeit entstehen, es soll sich kein Frust ausbreiten oder gar eine Prüfungsatmosphäre entwickeln. Im Gegenteil soll die Person, gestützt durch die wenigen Vorgaben, die Freude einer weitgehend eigenständigen, persönlichen Entwicklung erleben. Dafür ist es in dieser Phase gut, spielerische Neugier zu wecken, positive Gefühle zu stärken und ein dezentes Interesse an der Person, nicht nur am erfolgreichen Umsetzen der Vorgaben, erkennen zu lassen.
Wenn ich nicht mit einer Einzelperson arbeite, sondern mit einer Patienten-Gruppe, ist die Zahl auf drei begrenzt, um die für therapeutisches Arbeiten erforderliche Intensität zu ermöglichen. Im Rahmen der Klinik finden mit einer solchen Kleingruppe normalerweise vier Termine im Lauf von zwei Wochen statt, jeweils zwei volle Stunden lang. Bei der Einzelarbeit ist die Zahl der Termine (eine Stunde lang) variabel, meist sind es mehr als vier.
1.1.1 Vorbereitung
Zum Bogenschießen ist Material und Ausrüstung erforderlich. Ich achte dabei darauf, dass es einfach und nur das wirklich Nötige ist: Armschutz, Köcher, Pfeile und Bogen, normalerweise keine zusätzlichen Hilfsmittel, kein schmückendes Beiwerk. Alles soll von guter Qualität sein, in Ordnung und ästhetisch ansprechend. Darin liegt eine Würdigung der Patienten, die von vielen sehr wohl wahrgenommen wird.
Das allein hat schon einen therapeutischen Wert: So würdigend sollen die Patienten auch mit sich selbst umgehen.
Jedoch hat das Material keine entscheidende Bedeutung. Wesentlicher ist für die therapeutische Perspektive, wie ich den Kontakt, die Kommunikation und die Beziehung in diesem Zusammenhang gestalte: Worauf achte ich? Was spreche ich an? Wie rede ich mit dem Patienten?
Deshalb nennt sich der Anfang
Das Entdecken des Materials
Die Teilnehmer, die normalerweise noch so gut wie nichts vom Bogenschießen wissen, beginnen mit einem Entdecken des Materials. Sie erhalten einen geschlossenen Bogenkasten, in dem alles, was sie brauchen werden, enthalten ist.
Dazu habe ich vorher ohne weitere Ausführungen geklärt, ob die Person rechts- oder linkshändig ist, und stillschweigend eingeschätzt, welche Bogenstärke wohl passen wird, und den entsprechenden Bogenkasten ausgesucht.
Als Bogen haben sich einfache Jagdbogen (Jagd-Recurves) bewährt, einteilig (kein Take-Down), als Blankbogen ohne spezielle Pfeilauflage aus Plastik oder Metall, ohne Visier und weitere technische Vorrichtungen, mit einem Zuggewicht von normalerweise 20-25 Pfund. Sie sind ästhetisch ansprechend und etwas leichter zu handhaben als die (eigentlich natürlicheren) Langbogen. Die Pfeile sind aus Holz mit Naturfedern und stehen in drei Längen (28/30/32 Zoll) zur Verfügung. An der Sehne ist der Platz für die Nocke zum Einlegen des Pfeils mit zwei Metallringen eingegrenzt. Ich verwende bei Anfängern einen langen Armschutz für Ober- und Unterarm aus Leder mit Klettverschlüssen. Jeder bekommt auch einen einfachen Seitenköcher mit einem verstellbaren Band als provisorischem Gürtel.
Weder ein Fingerschutz noch ein Brustschutz befindet sich im Kasten. Denn die relativ leichten Bogen lassen sich fast immer problemlos ohne Fingerschutz ziehen, zumal im therapeutischen Rahmen längst nicht so viele Pfeile geschossen werden wie in einem sportlichen Training. Und ohne Fingerschutz spüren die Patienten mehr.
Sollte jedoch, was gelegentlich der Fall ist, jemand tatsächlich störende Schmerzen in den Fingern bekommen, so habe ich zur umgehenden Abhilfe immer einen Fingerschutz in der Tasche.
Ein Brustschutz ist bei einem Ankern vorn unter dem Kinn, wie ich es den Patienten vermittle, unnötig, da die Sehne nahe der Achselhöhle anliegt und so die Brust nicht streifen kann.
Abb. 1: Das Entdecken des Materials am offenen Bogenkasten
Den Bogenkasten öffnet die Person selbst – wie eine Schatzkiste, wie ein Geburtstagspaket. So entsteht gleich zu Beginn ein positiv getönter metaphorischer Raum, der auch den Aspekt selbstständigen Entdeckens und persönlicher Entwicklung enthält.
Nach dem Öffnen des Bogenkastens soll Zeit sein für das spontane Erleben, das mit Hilfe folgender Fragen beobachtet werden kann:
■ Was löst der Anblick innerlich aus?
■ Welche Assoziationen werden geweckt?
■ Worauf orientiert sich die Aufmerksamkeit spontan?
■ Welche Handlungsimpulse brechen sich Bahn?
Die Patienten reagieren dann zum Beispiel auf folgende Weise:
■ Leichtes Erschrecken: „So spitze Pfeile!“ „Das ist ja eine Waffe!“
■ Zugreifen: „Das Lederteil hier kommt bestimmt als Schutz an den Arm.“
■ Informationen nachfragen: „Was kostet denn der Bogen?“
■ Ästhetik wahrnehmen: „So schön geschwungen dieses Holz, wie ein Musikinstrument.“
■ Unklar bewertend: „Alles so ordentlich aufgereiht!“
So bekommt das Erleben der Person Raum und Bedeutung, das ist Vorarbeit für die Therapie. Manchmal ist ein kurzes, lockeres Nachfragen sinnvoll, z. B.:
■ „Mögen Sie das, wenn es so ordentlich ist?“
■ „Ja, Sie haben recht, das ist kein Spielzeug mehr – können Sie sich trotzdem vorstellen, damit umzugehen?“
Aber Fragen an dieser Stelle sollten wirklich nur kurz und eher beiläufig sein, im Vordergrund steht, zügig ins Handeln zu kommen.
Sich ausrüsten
Es beginnt mit den praktischen Vorbereitungen: sich ausrüsten mit dem notwendigen und passenden Material. Als erstes wird der Armschutz angelegt. Ich zeige, wie er an der Innenseite des linken Arms (bei Linkshändern rechts) angelegt wird, und lasse dann die Patienten die Vorgabe selbstständig umsetzen. Das gibt mir Gelegenheit, persönliche Eigenheiten zu beobachten (normalerweise ohne sie zu kommentieren), z. B.:
■ Ein Patient kommt gar nicht zurecht, aber versucht es verzweifelt alleine statt nachzufragen oder sich helfen zu lassen.
■ Ein Patient hilft ungefragt sofort einem anderen, der das sauer lächelnd über sich ergehen lässt.
Als zweites wird der Köcher umgeschnallt. Ich gebe den Hinweis, dass er sich an der rechten Hüfte befinden soll (bei Linkshändern an der linken). Auch das wird selbstständig durchgeführt, meist ohne Besonderheiten.
Dann werden die Pfeile ausgewählt. Im Kasten befinden sich jeweils drei Holz-Pfeile der verschiedenen Längen, alle mit den gleichen Federfarben.
Ich weise auf die unterschiedlichen Längen hin und zeige, wie die zum Körperbau passende Länge herausgefunden werden soll: Der Pfeil wird am Brustbein angesetzt, nach vorn zeigend, eine Hand (oder beide) wird locker ausgestreckt an den Pfeil gelegt, dessen Spitze ca. zehn Zentimeter weiter reichen soll als die Fingerspitzen. Die Patienten finden dann selbstständig ihre richtigen Pfeile, ich habe Zeit zum Beobachten, z. B.:
■ Eine Patientin setzt nicht die Nocke ans Brustbein, sondern die Spitze des Pfeils (das lasse ich ohne viel Aufhebens gleich ändern).
■ Ein Patient streckt ganz krampfhaft Arm und Schulter so weit vor wie irgend möglich, als müsste er unbedingt über die Spitze des Pfeils hinausreichen.
Nach gelungener Auswahl kommen die passenden drei Pfeile gleicher Länge und Farbe in den Köcher für das spätere Schießen.
Wenn die Patienten so gerüstet dastehen, ist das meist ein guter Moment für eine Zwischenfrage nach Assoziationen: „Nun, wie ist das jetzt? Was ist das für ein Gefühl?“
Ganz häufig kommt hier ein „wie Robin Hood“, also ein gutes, kämpferisches Gefühl.
Zuletzt sollen die Patienten den Bogen in die Hand nehmen und spüren: „Wie fühlt sich das an?“
Oft ist der Bogen leichter als erwartet, oft mögen Patienten das glatte, warme Holz, manchmal werden die gerundeten Formen des Griffbereichs geradezu als sinnlich angenehm empfunden.
Wenn jemand anfängt, die Sehne zu ziehen, um die Bogenspannung zu testen (als ob der Bogen schon einsatzbereit wäre), stoppe ich das freundlich und bitte darum, den Bogen nur in den Händen zu halten und zu spüren, noch nichts zu machen („Alles andere kommt später“).
Dann gehen wir an den Bogenplatz und bilden einen Kreis. Der Bogenplatz befindet sich im Freien, bei jedem Wetter und zu jeder Jahreszeit; ein Teil ist allerdings offen überdacht als Regenschutz. Wir benützen bewusst keine Sporthalle, um die assoziative Einordnung des Therapeutischen Bogenschießens unter die Rubriken Sport und Leistung nicht zu fördern und um die Verbindung zu ursprünglicher Menschheitserfahrung durch die umgebende Natur wenigstens ein bisschen aufrechtzuerhalten.
Das Ritual des Bogenaufspannens
Therapie entfaltet sich besser in Ruhe. Deshalb ist für Therapeutisches Bogenschießen Achtsamkeit grundlegend, der meditative Aspekt wichtig.
So steht vor dem Schießen das gemeinsame Ritual des Bogenaufspannens, im Kreis, ohne Hilfsmittel, alle gleichzeitig, ruhig und möglichst ganz ohne Worte. Es ist ein äußerliches und innerliches Ankommen zum Bogenschießen, sich sammeln und achtsam werden.
Dem entspricht am Ende der Stunde das spiegelbildliche Ritual des gemeinsamen Abspannens der Bogen.
Der Kreis ist für ein solches Ritual die symbolisch stimmige Form, nicht die Frontalstellung des Therapeuten vor der Linie der Teilnehmer, was an autoritäre Formen von Schule oder gar Militär erinnern würde.
Abb. 2: Das Ankommen im rituellen Kreis, vor dem Aufspannen der Bogen