Die Wächter von Magow
Band 8
Ok Ghul
von Regina Mars
Sofie entdeckt den geheimen Bezirk Berlins: Magow, wo die magischen Wesen hausen. Und sie ist eins von ihnen! Als frisch entdeckte Hexe tritt sie ihren Dienst bei den Wächtern an, der magischen Polizeieinheit Magows. Zusammen mit dem Rest ihres Teams schützt sie die Einwohner vor Rattenkönigen, Kelpies und Werwölfen bei Vollmond.
Ihr Team besteht aus:
Nat, einem blondgelockten Vampir, der an Liebe, Frieden und Teamwork glaubt,
Vivi, einer schüchternen Meerjungfrau, Informatikgenie und Fan von allem was glitzert und
Jean, einem schlecht gelaunten Incubus, der keiner sein will. Vor kurzem besorgten die anderen ihm ein Amulett, das seine Kräfte unterdrückt.
Seit einiger Zeit tauchen an allen Ecken Magows Amulette auf, die stets für Unheil sorgen. Eigentlich ist ihre Herstellung seit Jahrhunderten verboten, da sie zu gefährlich sind und magische Wesen dafür sterben müssen.
Die Spur führt ausgerechnet zu Sofies totgeglaubter Mutter: Adina Caligari. Die Putztruppe macht sich auf die Suche nach ihr und findet sie schließlich in einem Versteck in Brandenburg. Leider ist Adina nicht das, was sie zu sein vorgibt. Ein Ritual, mit dem sie sich ewiges Leben verschaffen will, geht schief und das Team zahlt einen schrecklichen Preis: Isa stirbt.
Das Team schwört, Adina zu finden und zur Rechenschaft zu ziehen. Aber wird es gelingen?
Ohne, dass die anderen etwas ahnen, verstecken sie und Aeron sich mitten in Magow, und sie haben einen mächtigen Verbündeten: Nacht-Bürgermeister Ricky Scholle.
Aeron wartete am Steinbruch auf sie. Er saß auf einer der Bänke ganz oben und betrachtete die terrassenförmig abfallenden Stufen unter ihm. Das Licht des Vollmonds brachte seine Haare zum Leuchten und erhellte seine ebenmäßigen Züge.
Ein kühler Wind ging. Es roch nach Sommer, aber die umliegenden Wälder verhinderten, dass es zu heiß wurde. Adina hörte das leise Rauschen der Blätter, als sie auf Aeron zuging, dicht an der Kante entlang.
In seinem Anzug wirkte der Incubus wie der einzige Gast eines Amphitheaters, dem das aufgeführte Stück nicht gefiel.
»Was ist das für ein Kaff?«, fragte er sie zur Begrüßung. »Und was machst du hier draußen? Ich habe drei Stunden hierher gebraucht. Ich musste über eine Landstraße fahren. Und sogar über einen Feldweg.« Er verzog das Gesicht, als wäre das Benutzen von Feldwegen nun wirklich unter seiner Würde.
Adina setzte sich neben ihn. Unten am Steinbruch gab es wenig zu sehen. Irgendwann wollten sie dort einen Park anlegen, oder einen See. Aber bisher waren da nur Staub und Geröll, und so, wie sie die Gemeinde kannte, würde das auch noch lange so bleiben.
»Das tut mir entsetzlich leid, mein Lieber.« Sie lächelte freudlos. »Ich hoffe, es war kein zu holpriger Feldweg, und du hast dir keine blauen Flecken am Gesäß geholt.«
Er lachte. Dann lehnte er sich so entspannt zurück wie ein vollgefressener Löwe und legte beide Ellenbogen auf die Rücklehne. Sein Blick musterte sie. Ihr Kleid. Die graue Strickjacke.
»Blümchen?« Er schnaubte. »Ehrlich, meine Liebe, du siehst aus wie eine Hausfrau vom Lande. Und du hast zugelegt.«
»Und du bist nicht charmanter geworden. Gut, dass du deine Magie hast, sonst hättest du keine Chance bei den Frauen.«
Er lächelte und seine Zähne blitzten katzenhaft. »Frauen mögen Bad Boys.«
»Arschlöcher, meinst du.«
»Ein und dasselbe.« Aeron fuhr sich durch die Haare. Seine Rolex rutschte ein Stück den gebräunten Arm hinunter. »Und es funktioniert.« Er warf ihr einen Seitenblick zu.
Sie zeigte ihm die Kette, die sie umgelegt hatte. »Vergiss es. Ich bin immer noch immun.«
Gut, dass sie das Ding nicht weggeworfen hatte. Sie verbarg es hinter dem Kühlschrank. Ihr Schwert versteckte sie im Schuppen, hinter den Gartengeräten, die ihr Mann nie nutzte. Der Garten war ihr Reich. Natürlich war er das. Niemand hatte prächtigere Kürbisse als sie. Manchmal half sie mit Magie nach, aber vor allem hatte sie ein Händchen für Gemüse.
»Was ist passiert?«, fragte Aeron. Sie wappnete sich innerlich. »Wir hatten eine Abmachung. Nachdem das mit dem Zirkel schiefgelaufen ist, sind wir einen Handel eingegangen. Ich habe meinen Teil eingehalten. Ich habe alles besorgt, was du wolltest, meine Kontakte spielen lassen und gemordet, Adina. Und du?«
»Als ob so ein kleiner Mord dein Gewissen belasten würde.« Sie spürte es. Ein Kribbeln, eine Ahnung der Macht, die in ihren Blutbahnen floss. Die Neugier zerrte an ihr. Der Hunger, der sie ihr Leben lang vorangetrieben hatte. Dann dachte sie an das kleine Mädchen, das zwei Kilometer entfernt in seinem Bett schlief. Das kleine Mädchen im Pandaschlafanzug. Und ihr Herzschlag beruhigte sich.
»Du wolltest für das Rohmaterial sorgen«, sagte Aeron. »Du wolltest alles zusammensuchen, an den Formeln arbeiten …«
Etwas zuckte in ihrer Brust. Sie dachte an das Notizbuch, das sie ebenfalls im Schuppen versteckte. Sie hatte an Waldemars Formeln gearbeitet, seine entsetzliche Sauklaue entziffert. Noch lange nach der Geburt ihrer Tochter. Und sie hatte es geschafft. Vermutlich. Es spielte keine Rolle mehr.
»Das Rohmaterial ist meine Tochter«, sagte sie. »Sie hat einen Namen. Und«, sie blickte ihm in die Augen, »sie kommt für das Ritual nicht in Frage.«
Er blinzelte. »Ist sie etwa nicht magisch? Hat ausgerechnet die größte Hexe von allen einen Blindgänger zur Welt gebracht?«
Adina dachte kurz darüber nach, zu lügen. Aber Ausweichen lag nicht in ihrer Natur. »Nein. Sie ist magisch, nun, sie wäre magisch, wenn ich ihre Magie nicht versiegelt hätte. Sie wird ganz normal aufwachsen. Hier. In Globsow-Blens.«
Aeron verzog das Gesicht, als würde allein der Name ihm Kopfschmerzen bereiten. »Adina. Was ist los mit dir?«
»Ich bleibe hier. Ich ziehe meine Tochter groß.« Sie stand auf. »Das Ritual ist abgeblasen.« Kühler Wind strich um ihre nackten Beine. Er brachte den Geruch nach Harz und Erde mit sich.
Aeron starrte sie an.
»Du bist weich geworden«, sagte er. Die Enttäuschung in seinem Gesicht war eine Beleidigung. »Du hast das Rohmaterial zur Welt gebracht und bist zur Glucke mutiert. Hast du einen Blick in das schrumpelige Babygesicht geworfen und beschlossen, alles hinzuschmeißen, für das wir gearbeitet haben?«
»Nein.« Sie würde ihm nicht sagen, dass es ein schleichender Prozess gewesen war. Dass sie zu lange geblieben war. Jeden Abend hatte sie sich gesagt, dass sie in der Nacht davonschleichen würde. Dass sie Aeron anrufen würde, um ihn über die nächsten Schritte zu informieren. Aber sie war liegengeblieben.
»Woran lag es dann?«
Adina beschloss, gegen ihre Natur zu handeln und zu lügen. »Aeron, ich …« Sie seufzte, um glaubhafter zu wirken. Tat sie das? Sie hatte wenig Erfahrung damit, Schwäche zu zeigen. Oder zu versagen. »Ich habe es nicht geschafft. Ich dachte, ich hätte die Formel, aber … ich schaffe es nicht. Ich kann nicht nachvollziehen, wie der alte Säufer es gemacht hat.«
Die Lüge krampfte ihre Innereien zusammen. Wut stach in ihren Bauch, und ihr Stolz jaulte.
Natürlich habe ich es geschafft, du Schönling, wollte sie sagen. Hochschwanger habe ich daran gearbeitet, und danach, als das Balg die Nächte durchgeschrien hat, habe ich den Mist übersetzt, den Waldemar zusammengefaselt hat. Wir können loslegen. Ich muss nur noch herausfinden, wie man die Amulette herstellt, und wir können in die Geschichte eingehen. Unsterblich werden.
Aber das kleine Mädchen im Pandaschlafanzug träumte von Wölfen und nannte sie »Mama«.
Noch ein paar Jahre, dachte Adina. Lass sie etwas leben. Ich kann auch später noch unsterblich werden. Zur Hölle, im Gegensatz zu diesem Lackaffen Aeron ist mir mein Aussehen egal. Ich kann auch mit achtzig noch unsterblich werden. Dann ist Sofie … Mitte fünfzig und hat gelebt. Hat vielleicht selbst Kinder. Dann rufe ich den Incubus an und sage ihm, dass ich gelogen habe.
Aeron starrte sie an. Ja, es tat weh. Der Respekt verschwand aus seinen Zügen und erst jetzt merkte sie, dass er da gewesen war.
»Du hast es nicht geschafft?«, wiederholte er ungläubig. »Die große Hexe Adina Azalea Caligari hat es nicht geschafft? Das Miststück, das sein Maul so weit aufreißt, dass man ein Reihenhaus darin versenken könnte, hat nicht geschafft, was ein drittklassiger Säufer vor fast dreihundert Jahren ohne Probleme auf die Reihe bekommen hat? Fantastisch. Fucking fantastisch.«
Es schmerzte. Hass loderte in ihr auf. Sie gab den Befehl fast unbewusst und einen Moment später war Aeron von Ranken umgeben, die ihm die Luft aus den Lungen quetschten. Er keuchte. Sie verfolgte, wie er nach seinem Schwert angelte, und umwickelte jeden einzelnen Finger mit Klettenlabkraut.
»Vorsicht«, sagte sie. »Das Miststück weiß nicht, wie man unsterblich wird, aber es wird nicht gern Miststück genannt.«
»Ach ja?« Sie sah nur seine Augen. Seine Stimme hatte sich beruhigt. Wurde tiefer. Honigsüß. »Es tut mir leid. Lass mich raus und sei wieder brav, ja?«
Sie spürte seine Macht. Wie sachte Schallwellen umschmeichelte sie sie, schlängelte sich durch die Luft. Süß wie Zuckerwatte. Verführerisch wie die Sünde selbst.
»Ich bin immun, Aeron«, sagte sie. »Und wenn du das noch mal versuchst, drehe ich dir die Luft ab.«
Er schwieg. Saß gefesselt auf der Bank und dachte offenbar nach. »Gut«, knurrte er. »Ich glaube dir. Sag Bescheid, wenn du das Landleben satthast und zurück in die richtige Welt kommen willst.«
»Nein, danke.« Sie wandte sich zum Gehen. »Ich bleibe hier.«
Sie hörte sein Lachen, als sie an der Kante entlang ging. Steinchen kullerten unter ihren Sandalen weg und fielen in die Tiefe.
»Du glaubst doch selbst nicht, dass du das lange durchhältst, Adina.« Seine Stimme war schwer vor Spott. »Spiel ruhig ein paar Jahre die brave Hausfrau und Mutter, aber die Rolle steht dir nicht. Sie macht dich gewöhnlich und fett. Dass du zugenommen hast, liegt bestimmt nicht daran, dass du dich zu wenig bewegst. Du frisst den Frust in dich hinein. Das hast du schon damals im Zirkel getan. Ich hab die leeren Chipstüten gesehen.«
Adina war froh, dass sie zu der Zeit schon das schützende Amulett besessen hatte. Es war alt, und noch wusste sie nicht, wie sie ein neues herstellen konnte. Etwas kribbelte in ihrer Brust, wie die Erinnerung an eine alte Liebe. Sie ahnte, wie es funktionierte. Sie müsste es nur beweisen, aber dafür …
Dafür würden magische Wesen sterben. Viele magische Wesen. Nicht, dass Aeron und sie damit ein Problem gehabt hätten.
Nein, dachte sie. Nicht jetzt. Später. In vielen, vielen Jahren, wenn Sofie älter ist als ich jetzt. Dann führen wir es durch.
»Mach’s gut, Aeron.« Sie konzentrierte sich, ließ die Ranken um ihn einen Hauch enger werden. »Und komm nicht zurück.«
»Melde dich, wenn du so weit bist.« Er klang beleidigt. »Du hältst das nicht ewig durch, Adina. Und wir haben nicht ewig Zeit, unsterblich zu werden. Also bring diesen Familienscheiß hinter dich, spiel die liebe Mutti, solange du willst, und erinnere dich dann daran, wer du bist.«
Sie verdrehte die Augen. »Wer bin ich denn, deiner Meinung nach?«
»Du bist eine Jägerin. Du bist wie ich, Adina. Besser als der Pöbel in Magow und erst recht besser als die Menschen. Ich hoffe, du siehst bald wieder klar.«
Sie ging, ohne sich zu verabschieden. An der steinernen Kante entlang und dann durch den Wald. Es war so dunkel, dass sie fast nichts sah, trotz des Vollmondes. Aber sie hatte keine Angst. In gewisser Weise hatte er recht: Sie war das Gefährlichste, was zwischen diesen Bäumen herumstrich. Ein Monster. Eine Hexe.
Und sie hatte nur noch ein paar Stunden, bis sie das Frühstück zubereiten musste.