Prof. Dr. Harry Dettenborn, Diplom-Psychologe, Universitätsprofessor i. R., langjährige Sachverständigentätigkeit auf dem Gebiet der Rechtspsychologie
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Inhalt
Vorwort
1 Bedeutsam, aber unklar: Kein Widerspruch
2 Kindeswohl und Kindeswille im Rahmen der Familienrechtspsychologie
2.1Was ist Familienrechtspsychologie?
2.1.1Gegenstand
2.1.2Grundlagen
Rechtspsychologie
Familienpsychologie
Familienrecht, Kinder- und Jugendhilferecht, Kindschaftsrecht
2.1.3Widersprüche und Tendenzen
Widersprüche im Rechtssystem
Widersprüche zwischen Recht und Psychologie
2.2Bausteine familienrechtspsychologischer Systematik
3 Das Wohl des Kindes
3.1Die Problematik des Begriffs
3.2Drei Ebenen und das Gemeinsame: Eine Definition
3.3Gebrauchskontexte
3.3.1Bestimmung der Bestvariante
3.3.2Bestimmung der Genug-Variante
3.3.3Gefährdungsabgrenzung
4 Der Wille des Kindes
4.1Gesetzgebung
4.2Psychologie des Kindeswillens
4.2.1Inhalt des Kindeswillens und Stadien der Willensbildung
4.2.2Mindestanforderungen
4.2.3Alter des Kindes und Wille
4.3Kindeswohl und Kindeswille
4.4Selbst gefährdender Kindeswille
4.4.1Gründe
4.4.2Kindeswille, Erwachseneninteresse und Kindeswohl
4.5Induzierter Wille
4.6Die Diagnostik des Kindeswillens
4.6.1Methodische Zugänge
4.6.2Hinwirken auf Einvernehmen, Einbeziehen des Kindes und Kindeswille
4.6.3Empfehlungen zur Gesprächsführung
4.6.4Komplikationen und Gefahren
4.7Der Umgang mit dem Kindeswillen
5 Kindeswille und Entfremdung
5.1Beeinflussung, Entfremdung, Stress und Stressverarbeitung
5.2Bewältigungsprozesse und Kindeswille
5.3Initiatorstatus
5.4Kindeswille und PAS-Konstruktion
5.4.1Was ist PAS?
5.4.2Was bringt PAS?
5.5Interventionsrisiko und Entfremdungsgeschehen
5.5.1Kindeswohl im Dilemma
5.5.2Risiko 1
5.5.3Risiko 2
5.5.4Abwägung zwischen beiden Risiken
6 Pflichtberatung, Beschleunigung und Kindeswille
Anhang: Relevante Rechtsnormen
Literatur
Sachregister
Abkürzungen
BGB | Bürgerliches Gesetzbuch |
BGH | Bundesgerichtshof |
DSM IV | Diagnostisches Statistisches Manual Psychischer Störungen |
FamFG | Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit |
FamRZ | Zeitschrift für das gesamte Familienrecht |
FamS | Familiensenat |
GG | Grundgesetz |
ICD-10 | Internationale Klassifikation psychischer Störungen, 10. Revision |
KJHG | Kinder- und Jugendhilfegesetz |
OLG | Oberlandesgericht |
SGB | Sozialgesetzbuch |
ZS | Zivilsenat |
Vorwort
Ganz selbstverständlich werden die Begriffe Kindeswohl und Kindeswille von mehreren Berufsgruppen genutzt, wo immer es um den Schutz des Kindes geht. Die Lage von Kindern, sowie die Absichten und Kompetenzen beteiligter Erwachsener werden unter dem Aspekt dieser Begriffe beschrieben und erklärt. Sie sind Dreh- und Angelpunkt von Berichten, Sachverständigengutachten sowie von Entscheidungen erheblicher Tragweite von Gerichten oder Jugendämtern, z. B. in Bezug auf Sorgerecht oder Umgangsrecht, Herausgabe oder Adoption.
Sobald problematische Fallkonstellationen auftreten und man sich verständigen muss darüber, was eigentlich die Inhalte der Begriffe Kindeswohl und Kindeswille sind, wird schnell klar, wie diffus und beliebig die Kriterien sind. Es wird auch klar, dass aus der Sicht eines Fachgebietes, gleich ob Juristerei oder Psychologie, keine Lösung zu erwarten ist, weil es um interdisziplinäre Sachverhalte geht. Jeder Vertreter eines speziellen Fachgebiets überschreitet zwangsläufig dessen Grenzen.
Das Buch will dazu beitragen, dass dies kontrolliert und reflektiert geschieht, d. h. mit dem Bewusstsein für den interdisziplinären Charakter, die Potenzen und Grenzen der Begriffe Kindeswohl und Kindeswille. Im Mittelpunkt steht dabei allerdings der psychologische Aspekt. Die Problematik wird in den theoretischen Rahmen einer Familienrechtspsychologie gestellt, wie sie hier verstanden wird.
Entsprechend dem interdisziplinär relevanten Thema ist das Buch adressiert an Praktiker und an wissenschaftlich Tätige aus dem Rechtsbereich und aus dem Jugendhilfebereich, an Psychologen und Sonderpädagogen, an Gutachter und Verfahrensbeistand. Es soll als eine familienrechtspsychologische Streitschrift einladen zu produktiver Diskussion, und es soll helfen beim differenzierten Umgang mit so sensiblen und komplizierten Sachverhalten, wie es Kindeswohl und Kindeswille darstellen.
Erfreulicherweise haben einige Argumente und Begrifflichkeiten aus diesem Buch breite Anerkennung gefunden. Insbesondere die definierten Mindestanforderungen an das Vorliegen eines Kindeswillens sind in die Rechtsprechung aller Ebenen sowie in die rechtspsychologische und in Ausnahmen auch in die juristische Fachliteratur eingegangen. Im Bezug auf diese Nutzung in der Rechtsprechung seit etwa Mitte der 2010er Jahre ist interessant: Da diese vier Mindestanforderungen erstmals 2001 in der 1. Auflage dieses Buches formuliert wurden, kann für die Übernahme psychologischer Erkenntnisfortschritte in die Rechtsprechung von einer durchschnittlichen Dauer von ca. 15 Jahren ausgegangen werden.
1 Bedeutsam, aber unklar: Kein Widerspruch
Selten sind Begriffe so bedeutsam für das Schicksal von Personen und dennoch so unklar: Kindeswohl und Kindeswille. Bei welchem Elternteil Kinder nach der Trennung der Eltern leben, ob und in welchem Umfang Kontakt zwischen nicht sorgeberechtigtem Elternteil und Kindern besteht, ob ein Kind bei einer Pflegeperson verbleibt oder „Herausgabe“ erfolgt, ob Kinder in „Obhut“ genommen werden oder nicht – dies alles hängt in starkem Maße auch von den vorliegenden Beurteilungen des Kindeswohls oder des Kindeswillens ab.
Woher kommen diese Beurteilungen? Beide Begriffe sind viel genutzte Maßstäbe im Gebrauch von Familienrichtern, von Mitarbeitern der Jugendhilfe. Psychologische Sachverständige verwenden sie ebenso wie Berater oder Mediatoren. Aber diese Begriffe sind in so unterschiedlicher Weise definiert, dass nur zu schlussfolgern bleibt, ihr Inhalt ist nicht festgelegt und wohl auch schwer festlegbar. Im Recht hilft man sich konsequenterweise, indem man sie zu unbestimmten Rechtsbegriffen erklärt, d. h. zu auslegungsbedürftigen Generalklauseln. Sie müssen, ausgehend vom Einzelfall, konkretisiert werden. Veränderte gesellschaftliche Wertmaßstäbe können die Tendenzen der Auslegung beeinflussen. Positiv ist, dass dadurch soziale Dynamik und neue fachliche Erkenntnisse berücksichtigt werden können.
Für die Psychologie, also auch für die Familienrechtspsychologie, sind Kindeswohl und Kindeswille Stiefkinder, eingebracht vom Recht. In Bezug auf den Kindeswillen spielt eine Rolle, dass der Wille insgesamt in der Psychologie jahrzehntelang als alter Zopf der Bewusstseinspsychologie vernachlässigt und im Zuge der „kognitiven Wende“ in der Mitte des vorigen Jahrhunderts hinter Begriffen wie Entscheidung oder Motivation verborgen wurde. Erst in letzter Zeit findet er wieder mehr Aufmerksamkeit.
Die Mängeldiskussion zu den beiden Begriffen ist in allen beteiligten Wissenschafts- und Praxisbereichen intensiv und weitgehend berechtigt. Aber gibt es bessere Kriterien für die Rechtssprechung und für die psychologische Beurteilung? Wären dann die festen Gewohnheiten des Gebrauchs der beiden Begriffe Kindeswohl und Kindeswille zu erschüttern? Und besteht nicht inzwischen ein Mindestmaß an Funktionalität, egal ob sie sich allein aus Gewohnheit oder aus Nachvollziehbarkeit in der Alltagssprache, aus Appellfunktion oder wirklichem Erklärungswert ergibt?
Benötigt werden produktive Bemühungen, diese Begriffe zu differenzieren, sie neueren Entwicklungen im Wissenschaftsbereich und in der Praxis zu öffnen, ihrem interdisziplinären Charakter gerecht zu werden. Das ist der Weg, ihren Wert als Erkenntnisinstrument und Entscheidungsmaßstab zu heben sowie den Gehalt an Harmonisierungspotenzialen zu nutzen und gezielter zum Schutz von Kindern und Jugendlichen durch Recht beizutragen.
Dazu soll im Folgenden der Versuch unternommen werden, die juristisch vorgegebenen Begrifflichkeiten Kindeswohl und Kindeswille unter familienrechtspsychologischem Aspekt zu analysieren und so zu ihrem Erklärungswert beizutragen. Sie werden gewissermaßen als Stiefkinder angenommen und gehegt. Es wird versucht, neue Akzente in dieser Beziehung zu setzen. Den Rahmen bildet ein familienrechtspsychologisches Konzept. Es kann hier nur sehr verkürzt dargestellt werden (ausführlich Dettenborn & Walter 2016). Vielleicht ist dennoch der Versuch erkennbar, die viel beklagte Theoriearmut der Rechtspsychologie im Bereich des Familienrechts zu mindern.
2 Kindeswohl und Kindeswille im Rahmen der Familienrechtspsychologie
2.1 Was ist Familienrechtspsychologie?
2.1.1 Gegenstand
Familienrechtspsychologie ist ein Teilbereich der Rechtspsychologie. Sie nutzt und bereichert die Familienpsychologie – neben Bezügen zu anderen Zweigen der Psychologie, wie Entwicklungs- oder Sozialpsychologie. Aktionsfeld und Bezugsrahmen sind dabei sowohl geltendes Familien- und Jugendhilferecht als auch notwendiges wünschenswertes Recht, d. h., es wird auch de lege ferenda (= Anwendung der Psychologie bei Gesetzesänderungen) gearbeitet und dazu beigetragen, Recht zu entwickeln.
Gegenstand der Familienrechtspsychologie sind Erleben und Verhalten beim Auf- und Abbau familiärer Beziehungen, soweit dabei Konflikte der rechtlichen Einflussnahme bedürfen. Zwar ist das zu beziehen auf alle Phasen der familiären Entwicklung, im Mittelpunkt stehen aber Abbau bzw. Reorganisation bestehender familiärer Beziehungen, weil hier die Wahrscheinlichkeit überfordernder Konfliktverläufe am größten ist. Der erste Teil der Gegenstandsbestimmung – „Erleben und Verhalten ...“ – bezieht sich nicht nur auf Konfliktbetroffene, z. B. die Bewältigungsstrategien von Kindern oder das Streitverhalten von Eltern in Trennungsfamilien, sondern durchaus auch auf das (Re-)Agieren beteiligter Konfliktmanager, z. B. Richter, Jugendamtsmitarbeiter oder Gutachter.
Diese Gegenstandsbestimmung ergibt sich auch aus ihrem historischen Standort. Wenn den erweiterten familiären und auch nicht familiären Formen dauerhaften Zusammenlebens Rechnung getragen wird, wenn zwangsläufig über den nationalstaatlichen Rahmen hinaus reguliert werden muss, und wenn das geltende Familienrecht sich von der vorrangigen Orientierung auf konflikthafte Phasen der Familienentwicklung, wie Zerfall und Reorganisation löst, wird sich auch der Gegenstand der Familienrechtspsychologie verändern. Dies ist nur so denkbar, dass ein komplexes Verständnis von Familienentwicklung als Kontext für rechtliche Eingriffe bzw. Regelungen wirkt. Dazu können wiederum Familienpsychologie und -soziologie beitragen.
Die Aufgaben und Arbeitsgebiete der Familienrechtspsychologie sind als Teilmenge jener Aufgaben und Arbeitsgebiete zu entnehmen, die in Abschnitt 2.2. für die Rechtspsychologie insgesamt genannt werden. Als spezifische Akzente sind zu beachten:
■die Fokussierung auf ein soziales Gebilde, die Familie, und deren Verständnis als in ständiger Entwicklung begriffenes intimes Beziehungsgefüge mit divergenten Bedürfnissen als Konfliktpotential;
■die Grenzen der Familie bzw. der Konfliktparteien, aus eigenen Kräften und autonom Konflikte zu bewältigen und dabei die Interessen aller Beteiligten, vor allem der Kinder, zu berücksichtigen;
■das Interesse des Staates, familiäre Konfliktverläufe so zu gestalten, dass die Interessen Beteiligter, vor allem der Kinder, berücksichtigt und nicht schädlicherweise missachtet werden und dass die sinnvolle, vor allem kindeswohldienliche Entwicklung bzw. Reorganisation der Familie erleichtert wird;
■die Potenzen des Rechts, sowohl den Konflikt zu übernehmen und direkt zu regulieren als auch den Konflikt an die Parteien zurückzugeben, und zwar mit rechtlichen Vorgaben, z. B. außergerichtliche Hilfe zu nutzen.
2.1.2 Grundlagen
Wurzeln der Familienrechtspsychologie finden sich primär in der Rechtspsychologie, der Familienpsychologie sowie im Familien- und Jugendhilferecht.
Rechtspsychologie
Die Rechtspsychologie ist einer der ältesten Zweige der angewandten Psychologie. Schon Ende des 18. Jahrhunderts (Schaumann 1792) und im Verlaufe des 19. Jahrhunderts erschienen erste systematische Darstellungen (Hoffbauer 1808; Friedreich 1835; Krafft-Ebbing 1872) sowie Arbeiten zu Spezialproblemen (Mittermaier 1834), der Vernehmung und der Charakterologie von Beschuldigten (Jagemann 1838) mit Nähe zum Gedankengut von Aufklärung und bürgerlicher Emanzipation. Mit der Etablierung der Psychologie als selbständiger Wissenschaft am Beginn des 20. Jahrhunderts formierte sich die Forensische Psychologie – noch stark im Gewand der Aussagepsychologie. In der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts erfolgte eine Ausweitung im Sinne einer umfassenderen Rechtspsychologie (ausführlicher zur Geschichte des Zweiges bei Undeutsch 1967; Wegener 1997; Dettenborn u. a. 1989; Kury & Obergfell-Fuchs 2012; Steller 1989).
Gegenstand der Rechtspsychologie sind Erleben und Verhalten mit Bezug zum Recht, d. h., beim Befolgen bzw. Missachten, beim Nutzen und Missbrauchen, Durchsetzen oder Weiterentwickeln des Rechts. Die Aufgaben der Rechtspsychologie sind (Lösel & Bender 2000; Bartol und Bartol 2012):
(1)Beitrag zu effektiver Rechtsverwirklichung
- de lege lata (Durchsetzung geltenden Rechts, z. B. sachgerechte Konfliktbehandlung im Sorgerechtsverfahren)
- de lege ferenda (Anwendung der Psychologie bei Gesetzesänderungen)
(2)Analyse der Erlebens- und Verhaltensweisen der im Rechtssystem agierenden Personen und Gruppen, d. h. bei professionellen Rechtsanwendern, wie bei Klägern, Beklagten, Beschuldigten oder Zeugen (z. B. Untersuchungen zur Verhandlungsführung, zur Vernehmung, zum Zeugenverhalten, zur Täter-Opfer-Beziehung)
(3)Analyse der Entstehung, Funktionsweise und Wirkung des Rechts unter psychologischem Aspekt
- psychologisch relevante Grundannahmen des Rechts
- Grundprozesse der Urteilsbildung beteiligter Individuen, Gruppen und Institutionen
Die sehr komplexen Arbeitsgebiete kann man nach ganz unterschiedlichen Kriterien gliedern, wobei Überschneidungen nicht zu vermeiden sind (systematische Übersichten bei Dettenborn u. a. 1989; Lösel & Bender 2000; Volbert & Steller 2008; Pfundmair 2020):
(1) Allgemeiner Gegenstand.
■Forensische Psychologie (lat.: forum = Markt, Gerichtsplatz): Zeugenpsychologie, Täterpsychologie, Beurteilung psychologischer Fragestellungen innerhalb von familienrechtlichen Konfliktkonstellationen, Verhandlungspsychologie, Konfliktlösungen.
■Kriminalpsychologie: Beschreibung, Erklärung, Prognose und Prävention kriminellen Verhaltens, aber auch des Opferwerdens; Aspekte der Polizeiarbeit, des institutionellen Justizhandelns incl. Vollzugspsychologie; forensische Psychotherapie und Prognosearbeit.
■Rechtspsychologie: Historisch jüngere Untersuchung der Annahmen des Rechts im Verhältnis zu Bedürfnissen der Rechtsnormadressaten; Verhältnis von öffentlicher Meinung und Rechtssetzung; psychologische Annahmen von Rechtsnormen (z. B. Schuldkonzept); rechtliche Sozialisation des Menschen.
(2) Psychologische Problemebene.
■Diagnostik (z. B. der Erziehungsfähigkeit von Eltern oder der Urteilskompetenz von Richtern);
■Erklärung (z. B. der Ursachen strafbaren Handelns oder der Prinzipien richterlicher Strafzumessung);
■Prognose (z. B. der Rückfallwahrscheinlichkeit von Tätern oder der Beachtung der Wohlverhaltensklausel bei der Gestaltung des Umgangs mit dem Kind durch Eltern gemäß § 1684 Abs. 2 BGB);
■Intervention (z. B. Mediation im Familienkonflikt oder Kompetenztraining für Juristen);
■Psychotherapie (nicht nur als Straftäterbehandlung, sondern auch im Bereich der Sozialgerichtsbarkeit, des Betreuungsrechts, der Suchtbehandlung bei Kindeswohlgefährdung).
(3) Rechtliche Problemebene.
■Analyse der Postulate von Rechtsnormen (z. B. zur Generalprävention oder zur Schuld);
■Analyse des Verhaltens von Rechtsnormadressaten (Beachtung, Missachtung, Nutzung, Missbrauch von Rechtsnormen);
■Analyse der Rechtsanwendung (z. B. bei Sorgerechtsentzug oder vorzeitiger Entlassung aus dem Strafvollzug).
(4) Rechtsbereich. Der Bereich des Strafrechts ist ungleich besser rechtspsychologisch bearbeitet als die Bereiche des Zivilrechts, Familienrechts, Verkehrsrechts, Arbeitsrechts oder Sozialrechts.
(5) Untersuchte Personen. Im Mittelpunkt rechtspsychologischer Forschung oder praktischer Anwendung können einzelne Personen stehen (z. B. im Sinne der Täterpsychologie oder auch der Psychologie des Richters) oder Personengruppen (z. B. die Dynamik krimineller Gruppen) aber auch Beziehungen zwischen Personen (z. B. die Täter-Opfer-Beziehung, oder die Interaktion von Bürger und Polizei).
(6) Adressat bzw. Nutzer. Psychologen (z. B. im Strafvollzug oder als Gutachter) sind die eine große Adressatengruppe rechtspsychologischer Forschung – und zugleich Produzenten von Fachwissen. Juristen sind die anderen Hauptadressaten, ferner Mitarbeiter in der Polizei, in Jugendämtern sowie weitere an der Umsetzung des Rechts beteiligte Professionen.
Familienpsychologie
Gegenstand der Familienpsychologie sind Erleben und Verhalten in Familienbeziehungen und in den Beziehungen zur Familie. Beziehungen, Interaktions- und Kommunikationsprozesse interessieren als Kern des Lebens von und in Familien. Dabei ist nicht nur gegenwärtig reale Teilhabe an den Beziehungen gemeint, sondern auch die gemeinsame Beziehungsgeschichte als Erfahrungshintergrund unter Einschluss der Mehrgenerationenperspektive.
Die realen Formen von Familie ändern sich mit einer Dynamik, die es auch erschwert, zu bestimmen, was Normalität von Elternschaft ist und wann Familie beginnt oder aufhört. Soll Verwandtschaft ein Kriterium sein oder die subjektiv wahrgenommene Zugehörigkeit zu einer Familie? Sind Anforderungen an die Qualität von Beziehungen das Ausschlaggebende oder reicht formal gemeinschaftlicher Lebensvollzug? Welche Rolle spielt Elternstatus ohne Verwandtschaft, z.B. infolge von Adoption oder durch die Anwendung der Reproduktionsmedizin? Wo ist da für wen Familie, wo nicht mehr? Und für das Recht? Bleibt nur noch „hundertprozentig Single“ zur Abgrenzung?
Trennungen, Scheidungen und Wiederverheiratung tragen erheblich dazu bei, diese Vielfalt zu erweitern, z.B. mit Stieffamilien oder Patchworkfamilien.
Das Recht trägt dazu bei, dem gesellschaftlichen Wandel zu entsprechen, in dem es ein Familienleitbild anstrebt und von diesem amorphen Phänomen ausgehend absteckt, was zu akzeptieren und zu fördern ist. Entsprechend haben Gesetzgebung und Rechtsprechung mit ungewöhnlichem Tempo Bedingungen gesetzt, die Elternschaft und Familienbildung stützen oder einschränken.
Ein Indiz für den raschen Wandel der Normalität von Familie ist die Vielfalt der Versuche, mit Typenbildung mehr Übersichtlichkeit zu erreichen. Herkömmliche Unterscheidungen von Kernfamilie, Adoptivfamilie, Pflegefamilie, Tagespflege bilden diese Vielfalt nicht mehr ab (Nave-Herz 2019). Gängig ist die Unterscheidung in biologische, genetische, rechtliche und soziale Elternschaft (Vaskovics 2016). Deren Auseinanderfallen wird beklagt (Sanders 2018), gilt als multiple Elternschaft (Eggen 2018) und ist gerade für die Familienrechtspsychologie von Bedeutung. Ebenso die spezifischen Beziehungen zwischen Kind und den verschiedenen Familienformen wie z.B. eingetragene Lebenspartnerschaft, nichteheliche Gemeinschaft, Stieffamilie oder Hochkonfliktfamilie (Balloff 2018, 90 ff.)
Sinnvoll dürfte sein, wenn sich die Familienrechtspsychologie auf psychologische Kernsachverhalte stützt, in denen z.B. Schneewind (2010, 18,35; 2012) einen Ausweg aus der Unübersichtlichkeit sieht. Danach sind Familien Varianten intimer Beziehungssysteme, die sich durch folgende vier Kriterien von anderen Beziehungssystemen (z. B. im Beruf oder im Sport) unterscheiden.
(1) Abgrenzung: Zwei oder mehr Personen gestalten ihr Leben raumzeitlich abgehoben von anderen nach bestimmten Regeln.
(2) Privatheit: Umgrenzter Lebensraum (z. B. eine Wohnung) mit wechselseitigem Verhaltensaustausch.
(3) Dauerhaftigkeit: Längerfristige Gemeinsamkeit als Resultat von Bedingungen, Verpflichtungen und Zielen.
(4) Nähe: Realisierung von physischer, geistiger und emotionaler Intimität.
Aufgabe der Familienpsychologie ist es, psychologische Theorien, Methoden und Erkenntnisse für die Beschreibung, Erklärung, Vorhersage und Beeinflussung von Familienbeziehungen und -entwicklungen bereitzustellen und anzuwenden. Zentrale Themen und zugleich Arbeitsgebiete sind dabei: System, Struktur und Funktion von Familien, Familienentwicklung, Kommunikation in Familien, Familienerziehung unter besonderer Berücksichtigung der verschiedenen Formen von Elternschaft, Familienstress, Familiendiagnostik, Prävention familiärer Fehlentwicklung, Familienintervention.
Familienrecht, Kinder- und Jugendhilferecht, Kindschaftsrecht
Wir wechseln hier die Ebene. Es geht nicht mehr um ein Fachgebiet bzw. einen Wissenschaftszweig. Das war bisher die Psychologie – gemäß dem Thema des Buches. Jetzt geht es um ein Regelungsinstrument mit seiner materiellrechtlichen und seiner verfahrensrechtlichen Seite.
Da die Familie zu den wichtigsten Grundlagen des gemeinschaftlichen Lebens und einer funktionierenden Gesellschaft gehört, ist sie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung gestellt (Art. 6, Abs. 1 GG) und ausführlich im Familienrecht zum Regelungsgegenstand gemacht worden. Das Familienrecht gilt als das am meisten von Wandel geprägte Rechtsgebiet (Sanders 2020, 27) und umfasst den Komplex geltender Rechtsregeln, die sich auf Ehe, auf Verwandtschaft und auf Vormundschaft incl. Betreuung beziehen. Es ist im Wesentlichen im vierten Buch des BGB fixiert.
Kinder- und Jugendhilferecht: Als Sozialleistungsgesetz fixiert es die Funktion der Kinder- und Jugendhilfe, die Interessen von Kindern, Jugendlichen und deren Familien zu vertreten, z. B. Kinder und Jugendliche in ihrer individuellen Entwicklung zu fördern und sie vor Gefährdungen zu schützen sowie die Eltern bei der Erziehung zu beraten und zu unterstützen. Das alles geschieht im Spannungsfeld von offensiv-fördernder, antizipierender Gestaltung und reaktivem Eingriff. Welch sensibler und fluider Bereich der Rechtspolitik hier berührt ist, zeigt sich darin, wie häufig Regelungen des SGB VIII geändert werden, und an den bewegten Diskussionen um Ziele, Grundorientierungen und Qualitätsstandards (Münder u. a. 2018). In den Ambitionen des SGB VIII sind – bei allen Wechselbeziehungen – zwei Schwerpunkte zu unterscheiden: die sozialpädagogische Orientierung auf Sozialleistungen bei Anerkennung subjektiver Rechtsansprüche der Betroffenen und die ordnungsrechtliche Orientierung, die auch das Handeln der Jugendhilfe ohne oder gegen den Willen der Betroffenen einschließt.
Die Fiktion eines Perspektivenwechsels vom reaktiven Eingriff hin zur fördernden Gestaltung würde korrespondieren mit der aktuellen Tendenz zum deeskalierenden Intervenieren im Familiengerichtsverfahren (Kap. 6). Die sozialpädagogischen Leistungen sind systematisiert in einem Katalog entsprechender Jugendhilfeangebote. Dazu gehören z. B. Jugendarbeit, Jugendsozialarbeit, Beratung in Fragen der Partnerschaft, Trennung und Scheidung, Unterstützung bei der Ausübung der Personensorge, Betreuung und Versorgung des Kindes in Notsituationen, Hilfe zur Erziehung, Vollzeitpflege, Heimerziehung, Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder.
Die ordnungsrechtlichen Elemente mit Bezug zum staatlichen Wächteramt sind vor allem im Dritten Kapitel des SGB VIII fixiert. Fürsorge-, Schutz- und Überwachungsfunktionen stehen im Vordergrund, z. B. Verfahrensvorschriften für den Umgang mit Hinweisen auf Kindeswohlgefährdung in § 8a, vorläufige Maßnahmen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen wie Inobhutnahme (§ 42) oder Beistandschaft, Pflegschaft und Vormundschaft für Kinder und Jugendliche (§§ 53–58a).
Kindschaftsrecht: Das Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) regelt in Buch 2 das „Verfahren in Kindschaftssachen“. Für ausgewählte Kindschaftssachen (Aufenthaltsort oder Herausgabe des Kindes, Umgang, Kindeswohlgefährdungen) ist in § 155 FamFG ein Vorrang- und Beschleunigungsgebot fixiert. Das Gebot, sich diesen Kindschaftssachen bevorzugt und zeitnah anzunehmen, soll der Förderung elterlichen Einvernehmens dienen und zugleich dem kindlichen Zeitempfinden gerecht werden. Dieses Bestreben wird mit differenzierten Regelungen zum „Hinwirken auf Einvernehmen“ in § 156 FamFG fortgeführt. Für die Belange des Kindeswillens ist besonders relevant: In § 158 FamFG wird die Interessenvertretung von Kindern und Jugendlichen durch den Verfahrensbeistand und in § 159 FamFG die persönliche Anhörung des Kindes geregelt.
Das FamFG ist in besonderem Maße Appell und Herausforderung in Bezug auf die gemeinsame Wahrnehmung von Verantwortung für das Kindeswohl durch so verschiedene Adressaten dieser Rechtsnorm wie Familiengericht, Jugendamt, Verfahrensbeistände, Anwälte, Gutachter, Berater und Mediatoren.
2.1.3 Widersprüche und Tendenzen
Es sind vor allem die Widersprüche, die die Dynamik des Gegenstandes, z. B. der Inhalte des Kindeswohls ausmachen. Sie werden hier als Entwicklungsantrieb angesehen. Deshalb kann die Analyse solcher Widersprüche helfen, Tendenzen aufzuzeigen. Dabei sind Widersprüche im Rechtssystem einerseits und Widersprüche zwischen Recht und Psychologie andererseits zu unterscheiden.
Widersprüche im Rechtssystem
(1) Das undefinierte Regelungsobjekt: Obwohl die Familie Regelungsobjekt und Mittelpunkt ist, existiert im Familienrecht kein spezifischer Rechtsbegriff der Familie. Er wird aber postuliert. Das kann daraus abgeleitet werden, dass das Wort „Familie“ sowohl im Grundgesetz (Art. 6, Abs. 1) als auch im BGB (z. B. §§ 1357 und 1360) verwendet wird. Das dabei zu Grunde liegende Verständnis resultiert im Wesentlichen aus den realen Entwicklungstendenzen des sozialen Gebildes Familie, aus den daraus abgeleiteten Interessen, aus den Reflexionen darüber in Familiensoziologie, -psychologie und -medizin, kurz: aus der Wechselwirkung mit dem „Zeitgeist“.
Sicher ist der Einfluss des „Zeitgeistes“ auf das rechtliche Verständnis von Familie sowohl in der Gesetzgebung als auch in der Rechtsprechung die dominante Wirkungsrichtung.
Die konservative Familienordnung, die dem BGB aus dem Jahre 1896 zu Grunde lag, war seitdem in diesem Sinne permanentes „Angriffsobjekt“. Weit mehr als hundert Gesetzesänderungen führten dazu, dass nur wenige Bestimmungen der Erstfassung des BGB noch gelten. In den letzten Dekaden näherte sich z. B. das Gewicht von Verwandtschaft und von nicht verheirateten Kindeseltern als Regelungsgegenstand an. Ein radikaler Perspektivwechsel von den Eltern (rechten) hin zum Kindeswohl erfolgte. Die Stellung von Lebensgemeinschaften, inkl. gleichgeschlechtlichen, ist reformiert bis hin zur Ehe für alle im Jahre 2017. Oder: Weil Scheidungen infolge des liberalen „Zeitgeistes“ immer häufiger und damit „normaler“ wurden, mussten im Eherecht die Barrieren für Scheidung niedriger gestaltet werden. Andere Beispiele sind die 1998 geänderten Gesetze zur Gleichberechtigung von Mann und Frau, zur Stellung nicht ehelicher Kinder, die Regelung, es zunächst der Entscheidung der Eltern zu überlassen, wie die elterliche Sorge nach Scheidung gehandhabt wird. Ferner haben als Folge des diskontinuierlich gewachsenen gesellschaftlichen Bewusstseins in Bezug auf die Bedürfnisse und Subjektrolle des Kindes im Elternkonflikt einzelne Regelungen zu einer allmählichen Stärkung der kindlichen Position in den Konflikten um Sorge- und Umgangsrecht geführt.
Umgekehrt hängt die Familie als reale Sozietät auch vom jeweils geltenden Familienrecht ab. Verändertes Recht trägt zum Wandel gesellschaftlicher Prozesse bei.
Die rechtliche Gleichstellung ehelicher Kinder mit nicht ehelichen Kindern schafft z. B. Fakten für alle Beteiligten. Oder: Der leichtere Vollzug der Scheidung im Rahmen eines mehrfach liberalisierten Scheidungsrechts minderte Hemmschwellen und erhöhte seinerseits die Häufigkeit.
Diese Wechselwirkungen zwischen sozialem Wandel und Familienrecht enthalten eine Reihe von Aufgaben für die Rechtspsychologie. Sie bergen Tendenzen, die den Nachfragedruck in Richtung Psychologie erhöhen.
(2) Die regulierte Selbstregulation: Das in der Psychologie wohl bekannte Paradoxon, Selbststeuerung von Personen oder Gruppen durch Fremdsteuerung erreichen zu wollen, betrifft hier das Bestreben, die Selbstregulierung der Familie regulieren zu wollen (ausführlich s. Kap. 6), z. B. durch obligatorische Beratung per gerichtlicher Anordnung gemäß § 156 Abs. 1 FamFG mit Androhung nachteiliger Folgen bei Verweigerung (Kostennachteile gemäß § 81 Abs. 2). Das wird zusätzlich dadurch psychologisch relevant, dass es ja auch für den Konfliktfall gelten soll, der meist mit Stress und Beziehungsstörung verbunden ist, also mit Faktoren, die rationale Selbststeuerung erschweren. Einige der im Folgenden genannten Widersprüche ergeben sich aus diesem Paradoxon.
(3) Autonomie und Intervention: Einerseits ist die Familie gemäß Grundgesetz als autonom zu achten und größtmögliche Freiheit von staatlichen Eingriffen ist zu gewährleisten. Andererseits interveniert der Staat, wenn die Rechte des Kindes auf ein selbstbestimmtes Leben, bzw. das Wohl des Kindes gefährdet sind. Er nimmt mittels Recht sein „staatliches Wächteramt“ (Art. 6, Abs. 2 GG) wahr, auch gegen die Eltern. Die Privatheit der Familie ist nicht mehr geschützt. Entsprechend ist das Elternrecht – ebenfalls gegründet auf Art. 6, Abs. 2 GG – einerseits Abwehrrecht des Bürgers gegen den Staat und Befugnis zur Ausgestaltung des Kindeswohls. Andererseits schließt es das Eingriffsrecht des Staates bei gefährdender Kindeswohlinterpretation der Eltern nicht aus.
(4) Autonomie und Schutzbedarf: Die Tendenz, den Beteiligten an Familienrechtsbeziehungen und damit -konflikten immer mehr Autonomie und individuellen Entscheidungsraum zuzugestehen, ist einerseits verbunden mit dem Wegfall von vielleicht teilweise einengenden, aber bei Bedarf auch ordnenden, (vor)sorgenden, den Schwächeren schützenden Bestimmungen. Damit werden aber auch dem individuell Bedürftigen oder Schwächeren Schutz, Sicherheiten und Orientierung entzogen. Mit anderen Worten: Das autonome Rechtssubjekt, dessen Anspruch auf individuelle Entscheidungsfreiheit rechtlich voll akzeptiert ist, kann in erheblichen Beratungsbedarf innerhalb nicht mehr beherrschbarer Konflikte und Abhängigkeiten kommen, d. h. in psychische Not geraten.
(5) Autonomie und Verlangen nach richterlicher Streitentscheidung: Die Tendenz, (z. B. im FamFG) den Beteiligten an Familienrechtskonflikten immer mehr Autonomie zuzuordnen und selbstständige Konfliktlösung abzufordern, ist potentiell geeignet, einen Widerspruch zwischen Autonomie und Hilfebedarf zu erzeugen. Dies gilt, wenn die Konfliktparteien nach jahrelanger Streiterfahrung in die Sackgasse geraten und zu der begründeten Erkenntnis gekommen sind, dass eine vernünftige Konfliktlösung bzw. Konsensfindung aus eigener Kraft nicht möglich ist. Sie streben eine gerichtliche Entscheidung an. Dies kann durchaus dem Kindeswohl am meisten angemessen sein. Wenn das Recht, sich so zu entscheiden, nicht gewährleistet ist, kann daraus ebenfalls psychische Not entstehen.
Davon unberührt ist die auch vom BVerfG mehrfach formulierte Tatsache, dass eine einvernehmliche Lösung gegenüber einer richterlichen Streitentscheidung prinzipiell vorzugswürdig ist.
(6) Anspruch und Kompetenz: Wenn die Konfliktparteien die eigenen Kompetenzen zur selbstständigen Konsensfindung überschätzen, entsteht der Widerspruch zwischen dem Anspruch, Konflikte selbstständig lösen zu können, und dem wirklichen Vermögen dazu.
(7) Entregelung erfordert Regelung: Teilweise werden aber diese Widersprüche wohl vom Gesetzgeber antizipiert und führen zu divergenten Regelungstendenzen, d. h. neuen Widersprüchen. Durch Entregelung entstehende Schutz- und Beratungsbedürfnisse werden durch neue Regelungen ausgeglichen. Die größere Autonomie der Eltern bezüglich der gemeinsamen elterlichen Sorge nach Trennung wird z. B. kontrollierbarer gemacht, indem wiederum „Alleinentscheidungsbefugnisse bei gemeinsamer Sorge“ getrennt lebender Eltern geregelt werden (§ 1687 Abs. 1 BGB). Um die Rückkopplung der freien Willensbildungsprozesse der Beteiligten zum Gericht zu sichern, sind detaillierte Anhörungsvorschriften im FamFG enthalten.
(8) Objektives Urteilen trotz unbestimmten Rechts: