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Moder
Ein Wyatt-Roman
8

Unterdessen hatte Wyatt eine neue Bleibe gefunden. Er besaß Papiere für ein halbes Dutzend Identitäten, über Jahre zusammengetragen. Es bereitete ihm keine Mühe, weiterzuziehen und sich an einem anderen Ort unter anderem Namen niederzulassen; sich von beidem zu ver­abschieden, sollte er drohen aufzufliegen. Nachdem er Wagen und Apartment in Coogee aufgegeben hatte – wie eine Menge Besitz, die er in seinem Leben aufgegeben hatte –, hatte er einen Holden Pick-up gekauft, war Richtung Süden gefahren und hatte im Hinterland von Batemans Bay ein Farmhaus samt einem Hektar Wiese und alten Obstbäumen gemietet. Er investierte ein we­nig Zeit, um im Krämerladen einzukaufen, am Nachmittag im Pub ein Bier zu trinken, an der Caltex-Tankstelle seinen Tank zu füllen, bis er ein paar Einheimische vom Grüßen her kannte. Er steckte einen Bibliotheksausweis in seine Brieftasche, eine Kundenkarte der Autowaschanlage, einen Das­-fünfte­-Paar­-gratis­-Gut­schein aus dem Schuhgeschäft. Darauf bedacht, auf unspezifische Weise beschäftigt zu wirken, aber immer präpariert, zu lächeln und zum Gruß eine Augenbraue hochzuziehen, sogar für einen sinnfreien Plausch stehen zu bleiben.
Und darauf bedacht, nicht die falsche Art von Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen – er warf nicht mit Geld um sich, fuhr nicht zu schnell, trank nicht zu viel, kam nicht mit Rechnungen und Miete in Rückstand und animierte niemanden, der betrunken war oder einsam. Seine Vermieterin, eine ältere Witwe, warnte ihn, dass Diebe dafür bekannt seien, es auf Immobilien in der Gegend abgesehen zu haben, aber Wyatt besaß nicht viel, was eines Diebstahls wert gewesen wäre. Würde man bei ihm einbrechen, er würde es ohnehin nicht melden – er wollte vermeiden, dass Fingerabdrücke oder DNA ihn mit alten Straftaten in Verbindung brachten. Er war stets vorsichtig gewesen, konnte aber nicht ausschließen, dass sich nicht doch in irgendeiner Datenbank Spuren von ihm finden ließen.
Und sollte jemand seinetwegen hier auftauchen, würde er einfach wieder verschwinden. Es sei denn, sie griffen brachial und schnell genug zu, um ihm keine Wahl zu lassen.
Wyatt war ein Chamäleon, sozial gesehen. Was Kleidung, Umgangsformen, Lebensart und offenkundige Überzeugungen anbetraf, erschien er freundlich, tolerant, zurückhaltend. Eben unauffällig. Aber in zwei wesentlichen Punkten hob er sich ab: Er war groß, gelenkig, reaktionsschnell, und das in einem Land mit langsamen, verweichlichten, schlaffen Menschen. Er hatte eine Ge­schich­te parat, die das erklärte. In einem früheren Leben sei er Fitnesstrainer beim Militär gewesen; nun sehe er sich ein wenig von Australien an, unter dem Aspekt, sich irgendwo niederzulassen, vielleicht sogar ein Fitnessstudio zu eröffnen. Er kannte die Menschen gut genug, um zu wissen, dass sie von Gesundheit und Fitness besessen waren, ohne selbst etwas dafür zu tun. Sein offensicht­liches Interesse für derlei Dinge machte ihn zu nichts Besonderem, es machte aus ihm einen Langweiler, einen Typ von nebenan.
Zweitens: Sein Gesicht ließ Leute stutzen. Dunkel, schmal, mit leichter Hakennase und ein wenig undurchdringlich, die olivfarbene Haut straff über den Knochen, war es eher Distanz gebietend als nahbar. Wenn auch nicht ausdruckslos, so doch unbeteiligt. Ein- oder zweimal in seinem Leben war eine Frau lange genug unter seinen Schutzpanzer geschlüpft, um ihm zu sagen, er solle mal lockerer werden; also wusste er, dass er an seinem Gesichtsausdruck arbeiten musste, wenn er in der Öffentlichkeit war. Die Menschen erwarteten – brauchten – Wärme, Anerkennung, Respekt, kurzum: Bestätigung. Bekamen sie nur ein angenehm neutrales Gesicht, war auch das in Ordnung. Aber sie erinnerten sich da­ran, wenn man ihnen das Gefühl gegeben hatte, unbedeutend zu sein.
Und so arbeitete Wyatt an seinen Gesichtsmuskeln, und er arbeitete an seinem Äußeren. Kurzes, gepflegtes Haar. Gründliche Rasur. Einfache Brille mit schwerem Gestell; ein dauerhaft angedeutetes Lächeln.
Er vermutete, wieder von den falschen Leuten aufgespürt werden zu können, allerdings dem Pech geschuldet, nicht einer Familie oder Freunden oder Liebschaften oder Gewohnheiten oder Interessen. All das machte ihn nicht aus. Sollte man Wyatt aufspüren, dann durch etwas, wofür er nicht planen konnte – sein Gesicht als eines unter Schaulustigen auf einem Zeitungsfoto, eine alte Bekanntschaft, die ihn zufällig auf der Straße entdeckte.
Er sann über Geschehnisse in Sydney nach. Möglich, dass jemand, der sein Gesicht kannte, ihn mal beim Verlassen oder Betreten des Apartments in Coogee gesehen und die Kunde entlang einer Kette weitergegeben hatte. Wesentlich wahrscheinlicher jedoch war es, dass er über die Verbindung zu den beiden Frauen der Familie Kramer aufgespürt werden könnte. Er musste einen anderen Weg finden, um ihnen Sams Geld kleckerweise zukommen zu lassen.

Er hatte nichts mehr von Phoebe Kramer gehört, bis zu diesem Tag Ende April, als die Küstenstädte mit der Entscheidung rangen, ob das Wetter sich nun abkühlen solle oder nicht. Sam hatte einen neuen Job für ihn. The Rocks, so lautete die E-Mail im Ordner. Dazu die Angabe von Tag und Uhrzeit. Er hatte sich ein Mountainbike be­schafft und Fahrradklamotten und ging durch die Ge­gend, bis er Sam und die anderen Freigänger vor einer Wand beim Kratzen an Plakatresten entdeckte. Er fummelte an seiner Fahrradkette herum, bis Sam näher kam. Hörte zu. Stellte ein paar Fragen, als Sam ihm erklärte, wo er zwei Fünfdollarnoten aus dem Jahre neunzehnhundertsiebenundsechzig finde, die noch nie in Umlauf ge­wesen waren. Normalerweise war ein solcher Geldschein nicht viel wert, nur war die letzte Null der Seriennummer per Hand hinzugefügt worden, was sicherstellte, dass der Gesamtwert beider Scheine bei etwa hunderttausend Dollar lag. Er stahl sie in derselben Nacht.
Wie praktisch, dass der beste Hehler für die Geldscheine ein Mann namens Barry Hartzer in Wollongong war, das auf seinem Heimweg lag. Hartzer, dünnes Haar und mit der Statur eines Jockeys, war wortkarg wie Axel Blackstock, mit Ausnahme einer Bemerkung, die er machte, als Wyatt sich verabschiedete: »Bis zum nächsten Mal, Mr. Warner.«
Für gewöhnlich wusste Wyatt nicht, wann er das nächs­te Mal auf einen der Männer, auf eine der Frauen treffen würde, die mit den Gegenständen hehlten, die er stahl. Es hing davon ab, ob Kramer es war, der einen Job für ihn hatte, es hing von der Art des Diebesgutes ab. Aber er hatte sofort gewusst, dass es kein nächstes Mal mit Barry Hartzer geben werde. »Warner« war einer von Wyatts alten Namen, zuletzt vor fünfzehn Jahren verwendet. Das war Barrys Art, ihm gegenüber eine Warnung auszusprechen. Vielleicht wurde ihre Begegnung aufgezeichnet, Video oder Audio, oder die Polizei oder jemand aus seiner Vergangenheit hatte sich blicken lassen. Fragen, Drängen, zu viel an Neugier. Wyatt war beunruhigt. Leute hielten nach ihm Ausschau. Nachdem er einen Peilsender hatte ausschließen können, benötigte er zwei Tage, um nach Hause zurückzukehren, mit einem Umweg in die Mitte des Staates, wieder zurück, dann runter nach Victoria und die Küste rauf. Das reichte, um Verfolger abzuschütteln, aber sollten sie ihn von vorn überwachen, wären sie schwerer auszumachen.

Und heute dann eine weitere E-Mail: Centennial Park, Uhrzeit und Datum.
Für den zufälligen Beobachter war Wyatt jemand vom öffentlichen Dienst. An ein Klemmbrett befestigter Papierkram, Kopfbedeckung von SunSafe, eine Warnjacke mit dem Aufdruck Sydney City Councel auf der Brusttasche. Wie ein Mann, der ein Taxi fährt oder in grauem Anzug und mit schlenkernder Aktentasche über die Straße geht, ist ein solcher Mann weitestgehend unsichtbar. Und für die Dauer seines Aufenthaltes im Park war Wyatt ein öffentlich Bediensteter mit einem Klemmbrett, er schauspielerte nicht. Er begutachtete die Wege und Beete im Centennial Park, hockte sich hin, um die Sichtlinien zu erfassen, machte sich Notizen, so versunken in seine Aufgabe, dass niemand ihn etwas fragte oder ihn unterbrach.
Gegenwärtig bewegte er sich auf drei Gärtner zu, die Jeans trugen, Baumwolljacken, Stiefel und Arbeitshandschuhe, und auf zwei sich langweilende Wachleute auf einer Bank in der Nähe. Es gab nichts, was die drei Ersten als Freigänger kennzeichnete. Ein Mann um die zwanzig, zaghaft, angespannt, mit hübschem Gesicht, lockerte die satte Erde rund um die Gruppe aus Känguru-Pfoten. Der zweite Mann war Mitte dreißig, untersetzt, mit rasiertem Schädel, stoppeligen Wangen und einem kleinen Barcode-Tattoo unterhalb eines Ohrs. Seine Hände zeigten kundigen Einsatz, sodass sich niemand über seine Arbeitsmoral beschweren konnte, seine Miene jedoch war abfällig. Gartenarbeit war definitiv unter seiner Würde. Alle drei befanden sich in einiger Entfernung. Wyatt am nächsten stand Sam Kramer – in den Sechzigern, mit einer ihm von der Nase rutschenden Brille, abstinent, geschickt, akribisch. Ein Mann, der vielleicht sein Leben damit zugebracht haben könnte, wissenschaftliche Aufsätze zu begutachten, statt Investoren zu verladen oder Informationen über Raubgut an Männer wie Wyatt weiterzugeben.
Die Zeit verstrich. Nach einer Weile näherte sich Kramer der Stelle, wo Wyatt hockte und eine Beeteinfassung betrachtete. Kramer beugte sich hinunter, um ein wenig Unkraut zu entfernen. »Danke, dass du meiner Familie hilfst, Kumpel«, murmelte er.
Wyatts Gesicht spiegelte nichts wider, aber er war überrascht. Er hatte sein Wort gegeben. Warum sollte er Zusagen nicht einhalten? Wie auch immer, deswegen war er nicht gekommen. »Was für ein Job?«, fragte er mit sich kaum bewegenden Lippen.
»Jack Tremayne«, sagte Kramer, wohl wissend, dass Wyatt sich an den Namen erinnern und Recherchen anstellen würde.
Wyatt stand auf. Blätterte durch die Papiere auf seinem Klemmbrett, ein beschäftigter Mann. Kramer zupf­te weiter Unkraut. Neben den Wachen und den restlichen Freigängern hielten sich in diesem Bereich des Parks Touristen auf und Büroangestellte, die die Sonne genossen. Sprenkel des Sonnenlichts wie hingeworfene Münzen am Boden; dazu der Geruch nach feuchter Erde und das Gickeln des Rasensprengers.
»Tremayne droht Gefängnis wegen eines Ponzi-Spiels«, sagte Kramer leise. »Sein Partner sitzt bereits. Kyle Roden.«
Wyatt verstand sofort. »Roden hat dir was erzählt.«
»Richtig«, sagte Kramer. Als hätte er zu niemandem etwas gesagt. Er wischte sich die Erde von den Handschuhen und fischte in seiner Tasche nach einem ­Taschentuch. Ein Mann, dem ein wenig die Nase lief.
Wyatt wartete. Kramer würde ihm unaufgefordert alles erzählen, was er wissen musste. Er rückte einen Meter nach links. Seine Augen waren in Bewegung, ohne den entsprechenden Anschein zu erwecken, sein Gesicht war ohne Regung, ein Mann, allein mit seinen Gedanken. Aber er hatte bereits Inseln mit den wichtigsten Fluchtwegen ausgemacht und war sich auf übernatürliche Weise der Wachen gewahr und anderer Männer und Frauen in Uniform oder mit der verborgenen Kontur einer Waffe unter ihrer Kleidung. Der Morgen war frisch und friedlich. Die anderen Freigänger gruben, harkten, kratzten weiter.
»Als die Sache für Tremayne und Roden brenzlig wurde, fingen sie an, Geld beiseitezuschaffen. Rodens Anteil ging für Geldstrafen und Gerichtskosten drauf, aber er glaubt, dass Tremayne nahezu eine Million in liquiden Mitteln auf die Seite gebracht hat. Er beabsichtigt, das Land zu verlassen, wenn die Sache zu heiß wird.«
Das war der Job. Tremayne um seine Million erleichtern. Wyatt sagte nichts, seine breiten Hände, die sehnigen Unterarme hielten das Klemmbrett, als er eine kurze Strecke ging, sich hinhockte, um einen Pfad zwischen zwei Blumenbeeten in Augenschein zu nehmen, wieder aufstand und es bewerkstelligte, sich Sam Kramer erneut zu nähern.
Dann murmelte er: »Eine Million. Klotzig.«
»Eine Mischung aus Bargeld, Schmuck und Inhaberpapieren, vermutlich. Dokumente, ob in papierner oder elektronischer Form, wären für ihn zu riskant. Die Polizei hat ihn im Visier, glücklose Investoren, die SIPC.«
Die Securities and Investments Probity Commission. Ein recht zahnloser Tiger, aber manchmal trieb man unverfrorene Ponzi-Schema-Glücksritter wie Tremayne und Roden durch die Gerichtssäle. Wyatt sagte: »Weiß Roden, wo Tremayne sein Geld hat?«
»Nein. Bei Tremayne gab’s mehrere Haussuchungen, Beschlagnahme von Akten, solche Sachen, von Geld war nie die Rede, also würd ich vermuten, dass es bei einem Freund ist oder in einem Schließfach. Er ist schlau, Kumpel. Aalglatt. Bis jetzt hat er jeden vorgeführt, der ihm ans Leder wollte.«
»Verheiratet?«
Kramer nickte. »Sie dürften sie ebenfalls genau unter die Lupe genommen haben.«
»Freunde? Familie?«
»Gleiches Verfahren, bei denen, die noch da sind. Er wird nicht besonders geschätzt.«
Wyatt setzte den gewohnten Prozess in Gang, begab sich unter die Haut eines anderen. Tremayne sollte ge­wusst haben, dass ihm Haussuchungen bevorstanden, dass er Kandidat war für Durchsuchungsbefehle, dass seine Telefongespräche abgehört, seine Bewegungen überwacht, seine Belege genau nachgeprüft würden.
Gab es jemanden, dem er vertraute?
Ein Aspekt der Geschichte behagte Wyatt nicht: dass Tremaynes Geschäftspartner Sams Quelle war. Er war in den Knast gewandert; nicht so Tremayne. Er dürfte verbittert sein. Er würde Tremayne die Tour vermasseln wollen. Wem sonst noch hatte er etwas erzählt?
»Roden«, sagte Wyatt.
»Ich weiß, was du denkst«, sagte Kramer. »Ich halte ihn für glaubwürdig. Ich habe ihn beschützt, Kumpel. Ich habe ihn unter meine Fittiche genommen. Er ist ein armes Schwein, unterhält zu niemandem sonst Kontakt.«
Wyatt sah unauffällig hinüber zu den anderen Freigängern. Der junge Typ mühte sich noch immer mit seiner Harke ab. Der Untersetzte streckte den Rücken durch. »Weshalb hat er dir von Tremaynes Geld erzählt, was glaubst du?«
»Gute Frage. Zum einen hohles Geschwätz. Aber ich denke, dass er irgendwie hofft, ich würde angesichts der Informationen reagieren. Er ist davon überzeugt, dass Tremayne windig genug ist, um ungeschoren davonzukommen.«
Das war der Moment, als die Wachleute Wyatt mehr als nur den gelegentlichen Blick zuwarfen. Er sagte nichts mehr, sondern entfernte sich, gab sich den An­schein, als habe er den auf seinem Klemmbrett vorgegebenen Auftrag beendet. Hinter ihm murmelte Sam Kramer: »Enges Zeitfenster, Kumpel. Tremayne wird es vermutlich bald mit einem Be­weis­aufnahmeverfahren zu tun bekommen.«
Die Aufmerksamkeit wieder auf Blicke gerichtet, die ihm auszuweichen schienen oder zu lange an ihm klebten, ging Wyatt auf einem Seitenweg zu einem Toilettenhäuschen. Niemand in den Kabinen oder an den Urinalen. Er streifte die Jacke ab und stopfte sie zusammen mit dem Klemmbrett in einen Abfallbehälter, feuchtete ein halbes Dutzend Papierhandtücher an und stopfte sie hinterher. Dann zog er sich einen khaki Frotteehut über den Kopf, setzte eine Sonnenbrille auf und ging zum Ausgang.
Ein Wachmann und der Freigänger mit dem Bubi­gesicht versperrten ihm den Weg. Es gab ein kleines Hin und Her, wer nun zuerst, bis Wyatt einen Schritt zur Seite machte, um sie vorbeizulassen. Im Weggehen hörte er einen der beiden sagen: »Mach hinne.«
Der andere antwortete: »Knastfraß, Kumpel. Schlägt auf die Verdauung.«
9

Carl Ayliffe – sechs Monate wegen geringfügigen, aber wiederholten Drogenbesitzes und Drogenhandeles – lehnte, die Augen geschlossen, den Kopf gegen die Scheibe. Der Gefangenentransport der Justizvollzugsanstalt kroch zur Hauptverkehrszeit durch die westlichen Vororte. Carl taten die Knochen weh. Er war völlig erschöpft: Er­schöpfung durch körperliche Arbeit und zugleich Kramer permanent beobachten zu müssen, ohne die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Was Kramer sagte und tat. Seine Interaktion mit dem Klemmbrett. Ein flüchtiges Zusammentreffen mit dem Klemmbrett im Toilettenhäuschen.
Auch merkwürdig: Klemmbrett hatte sein Äußeres völlig verändert. Was er Brad erzählen musste, wenn er zurück war.
Der Transporter stieß heftig gegen eine Bremsschwelle, woran der Fahrer seinen Spaß hatte. Ayliffes Kopf schlug gegen die Scheibe. Kramer, eine Reihe vor ihm, drehte sich um und sah ihm in die Augen. Ayliffe zuckte mit den Achseln, als wolle er sagen: »Ja, nun, der Typ is ’n Arsch, was soll man machen?« Er schloss wieder die Augen, sein Herz schlug etwas schneller. Er wollte verhindern, dass Kramer einen weiteren Gedanken an ihn verschwendete, wollte verhindern, dass Kramer den Tag samt Unkrautjäten Revue passieren ließ und zu dem Schluss kam, sein Tête-à-Tête mit dem Klemmbrett sei bemerkt worden.
Ein Typ mit einem Klemmbrett; zuvor in diesem Mo­nat ein Radfahrer, der in The Rocks seine Fahrradkette gerichtet hatte. Ayliffe war sich ziemlich sicher, dass es sich um denselben Mann gehandelt hatte: groß, kontrolliert und doch mit einer Art gespannter Energie unterhalb der Ruhe. Und die gleiche Choreografie des Sichnäherns, Zurückziehens, Sichnäherns, Zurückziehens, als ob er und Kramer sich nur zufällig für eine kurze Zeit denselben Platz teilen würden und ansonsten nichts miteinander zu schaffen hätten. Ayliffe war überzeugt, dass sie heute miteinander gesprochen hatten – nicht, dass er Stimmen wahrgenommen hätte, lediglich ein ausgerichtetes Ohr hier oder ein Kiefer in Aktion da waren ihm aufgefallen. Kramer, der sanfte, ergraute, distinguierte Kriminelle, das Klemmbrett, ein Kraftpaket von schlanker Muskulatur, die Augen, soweit man sie hatte sehen können, unergründlich.
Sobald er aus dem Transporter gestiegen war, ging Ayliffe unter die Dusche, zog sich anschließend seine Essenskluft an – Jeans und T-Shirt – und machte sich auf den Weg in die Bibliothek.
Brad Salter war dort. Er hatte den Raum zuvor ge­räumt, baute sich mit massiger Brust und vorgeschobenem Kinn vor Ayliffe auf und forderte Antworten.
»Nun?«
Ayliffe beschrieb den Tag.
»Worüber haben sie gesprochen?«
»Ich konnte es nicht hören. Und vielleicht haben sie gar nicht miteinander gesprochen.«
»Beschreib ihn.«
Ayliffe beschrieb den Mann, die Montur samt Klemmbrett, den Kostümwechsel, und sah, dass Brad an seiner Oberlippe nagte, eine merkwürdig hilflose Marotte an einem Typ, den man an seiner Seite wollte, war man schwach und jung und dazu eingelocht mit harten Männern.

Nachdem er Ayliffe aufgefordert hatte zu verschwinden, nahm Bradley Salter das iPhone heraus, installierte die SIM-Karte, checkte, ob das Telefon stummgeschaltet war, und simste Nick Lazar: Ruf an.
Stellte ein paar Überlegungen an, während er wartete. Nach seiner Kenntnis hatte kein Mann, der Carls Be­schreibung entsprach, Kramer jemals im Gefängnis be­sucht. Wahrscheinlich um zu vermeiden, auf den Überwachungsvideos aufzutauchen oder sich ausweisen zu müssen. Aber Kramer war ein Ganove. Er hatte was vor. Keinen Ausbruch – er war niedrige Sicherheitsstufe und sollte Ende des Jahres entlassen werden. Planung für einen Job? Den Nick für sich an Land ziehen wollte?
Das Telefon vibrierte. »Hey«, sagte Salter.
»Was ist los?« Lazar klang genervt.
»Was meinst du mit, was ist los? Offenbar will ich wissen, ob du’s heute gepackt hast, den Kerl zu verfolgen.«
Ein langes Schweigen, dann sagte Lazar: »Pass auf, du hast gemacht, worum ich dich gebeten habe, Uhrzeit und Datum und Ort. Der Rest geht dich nichts an.«
Salter knirschte mit den Zähnen. Aber es hatte einen Unterton gegeben, den er aus Lazars Stimme herausgehört hatte. Er entspannte seinen Kiefer. »Hat nicht ge­klappt, oder? Hast du verschlafen? ’ne Panne gehabt?«
Erneutes Schweigen.
Salter sagte: »Er ist dir entwischt.«
Schweigen. Dann: »So in etwa.«
»Hat er dich entdeckt? Als er gegangen ist?«
»Glaub nicht. Er schien sich in Luft aufgelöst zu ha­ben.«
Das war gut – ihn einfach reden lassen, was erfahren. »Würd sagen, das ist ’n Profi. Ausweichmanöver.«
Lazar grunzte.
»Wer ist er? Was hat er mit Kramer zu tun?«
»Hör zu, verschaff mir einfach Informationen, okay?«
»Es könnte keine weiteren Informationen geben, Laz.«
Lazar schoss zurück: »Und es könnte auch den Rest deiner fünf Riesen nicht geben.«
So ging es die nächsten Minuten zwischen ihnen hin und her, wie bei einem Grundlinienspiel im Tennis. Bis Salter etwas mehr wusste – einen Namen, Wyatt, und was Wyatt für Kramer tat – und die Zusage für mehr Kohle herausgeschlagen hatte. Während er das Telefon wieder versteckte, ertönte die Sechsuhrdreißigglocke. Er schlenderte zum Speisesaal. Hätte sich beinahe zu Kramer gesetzt. Ermahnte sich aber, kein Vollidiot zu sein.
Nach dem Abendessen ging Carl Ayliffe in den Aufenthaltsraum, sah sich die Nachrichten an, ließ sich eine Lektion in Schach erteilen, von einem Alten, der wegen Veruntreuung einsaß. Jetzt, mit Brad Salter im Rücken, konnte er tun und lassen, was er wollte.
Dann gab es eine Veränderung in der Atmosphäre, das Stimmengewirr schlug in erwartungsvolle Stille um. Carl blickte auf. Ein Mithäftling, der sich in der Nähe des Eingangs postiert hatte, wedelte mit einem Arm und zischte eine Warnung: »Wachhunde im Anmarsch.« Einen ­Moment später waren sie da, kamen zielstrebig auf Carl zu.
Der starrte auf das Schachbrett wie ein Kind, das versucht, unsichtbar zu sein. Es klappte nicht: Die Wachleute waren herangerückt und einer von ihnen sagte: »Besuch, Carl. Wichtiger Besuch.«
Ja, genau, schreit doch noch lauter. Er sah hoch. »Für mich, Boss?«
»Aufstehen!«
Je einen rechts und links, wurde er durch den Aufenthaltsraum eskortiert und hinaus auf den Gang, der zum Verwaltungsgebäude führte. Hinter ihm schwebte der Ausdruck »Spitzel« in der Luft.
Man brachte ihn in einen Gesprächsraum, der leer war, bis auf zwei Stühle an den Seiten eines kleinen Tisches und einen Mann mittleren Alters in einem knittrigen Peter-Jackson-Anzug über einem ungebügelten Hemd. Der Mann stand auf, streckte die Hand aus, sagte, sein Name sei Detective Sergeant Greg Muecke. Höflich, ernst. Nicht respektvoll, natürlich; aber auch nicht ag­gressiv oder herablassend, wie Ayliffe normalerweise von Cops behandelt wurde.
»Wasser? Saft?«
»Nein, danke.«
»Bitte setz dich.«
Und als sie sich über den Tisch hinweg ansahen, sagte Muecke mit einem nichtssagenden Lächeln: »Du bist ein Frischling hier, stimmt’s?«
Worauf lief das hinaus? »Ja, Boss.«
Muecke blätterte in einer Akte. »Ende des Jahres zur Entlassung vorgesehen?«
»Ja, Boss.«
»Behandelt man dich gut?«
Ging es darum, dass Brad Salter ihn unter seine Fittiche genommen hatte? »Ja, Boss.«
»Erträglich? Ist deine Zelle okay?«
Ayliffe zuckte mit den Schultern. »Eine Zelle ist eine Zelle, Boss.« Wenigstens musste er sie mit niemandem teilen. »Nichts für ungut, Boss, aber stecke ich in Schwierigkeiten?«
Muecke schüttelte den Kopf. »Gott bewahre!«
Das half nicht, Ayliffes Unbehagen zu zerstreuen. »Ich habe nichts gemacht.«
Muecke behielt seine neutrale Miene bei. »Sam Kramer.«
Jetzt bekam es Ayliffe mit der Angst. »Wer?«
Mueckes Finger schlossen sich um Ayliffes Unterarm. »Carl, tu uns beiden einen Gefallen. Ich will nichts von ›kein Kommentar‹ hören, ich will nichts von ›kenn den Namen nicht‹ hören, ich will nichts von ›kann mich nicht erinnern, was heute passiert ist‹ hören.«
»Heute?«
»Heute.« Bis auf eine leichte Anspannung in seinem Gesicht blieb Muecke gelassen. »Heute warst du im Centennial Park, hast Unkraut gejätet. Du musst mir erzählen, was passiert ist. Alles. Wer da war, was geredet wur­de, was getan wurde. Vor allem möchte ich etwas über den Mann wissen, mit dem Mr. Kramer gesprochen hat.«
Ayliffe wurde noch kälter. »Sie waren dort?«
Muecke überging das. »Woran erinnerst du dich? Egal was. Alles, was man zu Kramer gesagt oder was er ge­sagt hat.«
»Ich war nicht der Einzige, der dort Unkraut gejätet hat. Und da waren die Wachhunde, ich meine, die Vollzugsbeamten.«
»Mit ihnen spreche ich zu gegebener Zeit. Im Moment geht es um deinen Beitrag.«
Also berichtete Ayliffe Muecke von dem Mann mit dem Klemmbrett, von seinem Eindruck, dass er Sam Kramer zugehört, vielleicht ein paar Fragen gestellt und dann sein Äußeres verändert hatte.
Muecke stellte Fragen, formulierte sie auf unterschiedliche Weise, dreißig Minuten lang, bevor Ayliffe zurück in den Aufenthaltsraum gebracht wurde. Es herrschte Stille dort, die Atmosphäre war aufgeladen und gefährlich, niemand erwiderte seinen Blick. Er beeilte sich, zurück in seine Zelle zu kommen, um ein Buch zu lesen, und wurde wieder unsichtbar.
Kurz bevor das Licht ausgeschaltet wurde, tauchte Sam Kramer im Türrahmen auf, ein paar Hartgesottene hinter sich. Auf dem Gang war es ruhig, keinerlei Anzeichen von Wachleuten.
Überschwänglich sagte Kramer: »Kumpel!« Ohne es so zu meinen.
10

Im Anschluss an die Befragung in der Haftanstalt kehrte Muecke in die Abteilung Eigentumsdelikte im Polizeipräsidium von Parramatta zurück. Sam Henderson vom Raub erwartete ihn bereits. Muecke war nicht überrascht. Detectives seiner Abteilung arbeiteten oft mit den Abteilungen Raub und Schwerkriminalität zusammen, da beide dem Dezernat für Schwerverbrechen unterstanden.
Henderson ließ Muecke kaum Gelegenheit, den Raum zu betreten.
»Hat der Junge was geliefert?«
»Nichts von Bedeutung«, sagte Muecke. Er hängte sein Jackett über die Stuhllehne.
Henderson schüttelte den Kopf. »Von vorn bis hinten versiebt.«
Er war ein Ass auf der Überholspur, ein Hochschulabsolvent in edlem Zwirn, mit teurem Blondhaarschnitt und Anspruchshaltung. Das gepaart mit Ungeduld und kaum verhohlener Geringschätzung gegenüber Kollegen alter Schule wie Muecke, der in der Hierarchie über ihm stand.
»Man kann nicht immer gewinnen«, sagte Muecke.
Henderson verzog die Lippen. »Nun, was haben Sie in Erfahrung gebracht?«
Mit flacher Stimme schilderte Muecke Carl Ayliffes Eindrücke von dem Mann, der sich anscheinend mit Sam Kramer ausgetauscht hatte.
»Nun denn, nicht Neues.«
Nichts Neues? Ein Typ, extrem umsichtig in einem Gespräch mit seinesgleichen, dachte Muecke.
»Soweit wir wissen, handelte es sich bei ihm um einen Behördenmitarbeiter«, sagte Henderson verächtlich, »und sie haben über winterharte Stauden gesprochen.«
Muecke schüttelte den Kopf.
»Ich habe es überprüft.«
»Wenn er Ihnen nicht entwischt wäre … «
Wenn ich mehr Beamte gehabt hätte, um ihn besser beschatten zu lassen, dachte Muecke. Wenn es für mich mehr Zusammenarbeit mit dem Raub gegeben hätte anstelle dieses fortlaufenden, absolut beschissenen Konkurrenzgehabes.
»Zweimal ist er Ihnen jetzt durchs Netz gegangen«, sagte Henderson, mit sich selbst im Reinen, doch nicht mit der Welt als Ganzem.
Unzutreffend.
Die Operation in der Art Gallery of New South Wales war ein Erfolg gewesen, insofern als Mueckes überlastetes Team den Mann bis zu einer Adresse in Coogee hatte verfolgen können und von dort aus bis zu einem Bistro am Wasser. Außer dass etwas oder jemand ihn aufgeschreckt hatte, woraufhin er abtauchte. Seinen Wagen zurückließ und das Apartment.
Heute jedoch hatte ihn nichts aufgeschreckt. Was das betraf, war Muecke extrem vorsichtig vorgegangen.
»Und nun?«, fragte Henderson, sein Tonfall bedeutungsschwanger: Jeder Plan Ihrerseits ist ungeeignet, uns mit Ruhm zu bekleckern.
»Stellen Sie ein paar Kräfte für mich ab und wir werden die Gegend beim nächsten Mal durchkämmen können.«
Henderson legte mit überheblicher Miene den Kopf in den Nacken: die Pose des brillanten Geistes bei der Arbeit. »Mehr fällt Ihnen nicht ein?« Sprach’s und verschwand.

Muecke ließ sich auf seinen Drehstuhl fallen und fuhr seinen Rechner hoch, bestrebt, etwas zu tun. Zum einen handelte es sich jetzt um ein Geduldsspiel. Geduldig warten, dass Kramer und Warner – sofern das sein Na­me war – Kontakt aufnahmen. Geduldig darauf warten, dass Gerüchte in die Gruppe der Insassen der Watervale Haftanstalt tröpfelten – was eher früher als später der Fall sein konnte. Gerüchte im Knast verbreiten sich wie Kleinstadtklatsch.
Zum anderen waren Beinarbeit, Telefonate und E-Mails gefragt.
Die Operation Cirrus hatte vor einem Jahr Gestalt angenommen, nachdem Muecke Gemeinsamkeiten bei einer Reihe von Einbrüchen festgestellt hatte, bei der es um Hochkarätiges gegangen war. In zwei Fällen hatte der Dieb den Raub in Anwesenheit der Besitzer begangen, die ihn als groß, athletisch, ruhig, gelassen, effizient und überaus bedrohlich beschrieben. Sollte derselbe Mann hinter den anderen Einbrüchen stecken, bestand seine Beute aus Münz- und Brief­markensammlungen, seltenen Uhren, der Kellyana-Sammlung eines Mannes und, jüngst, zwei seltenen Fünfdollarnoten.
Muecke hatte sich sein Kontaktnetz seit geraumer Zeit zunutze gemacht: Streifenpolizisten, Sicherheitsleute, Pfandleiher, Türsteher, Taxifahrer, kleine Ge­schäf­te­macher, die Diebesgut aus Einbrüchen vertickten, und Hehler. Wie üblich waren die durchsickernden Gerüchte widersprüchlich: Die Einbrüche waren die Arbeit eines Diebes; sie waren die Arbeit von zweien oder dreien, abhängig von ihren jeweiligen Fähigkeiten. Der Dieb kam von hier; der Dieb flog aus einem anderen Staat ein, zog den Einbruch durch, flog wieder weg. Die Einbrüche wurden allein ausgeführt; sie waren das Werk eines kleinen Teams; sie geschahen nicht gezielt; sie wurden vermittelt und vorfinanziert.
Aber es läpperte sich zusammen und zwei Namen wurden mehr als einmal erwähnt: Warner und Kramer. Diese Namen waren ebenfalls strittig. Es hatte mal einen Dieb namens Warner gegeben. Und Kramer war nicht dafür bekannt, den Diebstahl seltener Münzen und Brief­marken zu organisieren. Er war im Gefängnis ge­landet, weil er Zigaretten im Wert von eins Komma sieben Millionen erhalten und verschoben hatte, die aus einer Lagerhalle in Smithfield gestohlen worden waren.
Ein Rätsel, dieser Kramer. Wortgewandt, akademische Ausbildung, großväterlich. In North Shore aufgewachsen, wurde ihm jedoch nachgesagt, in den späten Neunzigerjahren an einer Reihe bewaffneter Überfälle auf Banken und Geldtransporter beteiligt gewesen zu sein oder sie zumindest organisiert zu haben. Die meiste Zeit freundlich, bei wenigen Gelegenheiten mit einem vulkanischen Temperament ausgestattet.
Wenn er draußen einen Mann hatte, der für ihn die Raubzüge durchzog, wie kommunizierten sie miteinander? Also hatten Muecke und sein Team die Besucherlisten überprüft und die ein- und ausgehenden Telefonate. Nichts. Dann hatten sie Kramers Familie oberserviert – den Versager von einem Sohn, die behinderte Frau, die sie pflegende Tochter. Wohin sie gingen, wer sie be­suchte, Telefongespräche, Bankgeschäfte.
Und das hatte ihnen das Zusammentreffen in der Art Gallery of New South Wales geliefert, ein Beinahe-Ge­spräch zwischen Frau und Tochter mit einem Fremden vor einem Landschaftsbild. Ein Fremder, der, wie es schien, auf dem Weg nach Hause jede Menge Umwege und Schlenker fuhr. Und dann verschwand. Aus der Stadt, soweit Muecke wusste.
Erst als er die Überwachungsfotos und das Videomaterial der Galerie ein weiteres Mal gesichtet hatte, war ihm ein Detail des Kommunikationsprozesses klargeworden: Phoebe Kramer und der Mann aus Coogee hatten ähnliche Rucksäcke getragen.
Vor dem Gespräch mit Ayliffe in Watervale hatte Muecke an alle seine Kontakte Überwachungsfotos aus dem Centennial Park verschickt. Jetzt sah er, dass er ein Ergebnis hatte: Eine E-Mail von einem Hehler namens Hartzer aus Wollongong: Er nennt sich Warner.
Wieder dieser Name. Muecke schwang in seinem Drehstuhl herum. Er hatte einige Informationen mit Sam Henderson und dessen Team vom Raub geteilt und könnte weitere mit ihnen teilen. Oder auch nicht.

Mittlerweile benötigte ein Haufen anderer Fälle seine Aufmerksamkeit. Am nächsten Tag verschlug es ihn in einen Reparaturbetrieb für Boote in Sans Souci; ein routinemäßiges Nachfassen für die South Australia Police, die nach einer Jacht suchte, die in Tumby Bay auf der Eyre Peninsula gestohlen worden war. Ein chaotischer Fall. Gut, dass von ihm nicht mehr erwartet wurde, als ein wenig herumzustochern. Die Jacht Sandman hatte zu gleichen Teilen einem Bauunternehmer namens Dirk van Horen und seinem Bruder Albert gehört, dem Inhaber einer Motelkette. Dirk, knapp bei Kasse, nachdem sein Geschäft den Bach runtergegangen war, verkaufte seinen Anteil an Albert für fünfundvierzigtausend Dollar. Albert bot die Sandman für einen Preis von zweihundertfünfzigtausend Dollar sofort am Markt an, woraufhin Dirk und seine Ehefrau Missy mit ihr davonsegelten. Seitdem war die Sandman zweimal gesichtet worden. Zuerst in der Nähe des Lake Entrance in Victoria und später mit Sturmschäden in den Gewässern vor der Byron Bay. Jetzt war ein anonymer Anruf eingegangen, demzufolge die Jacht unter dem Namen Santa Ana bei Rowntree Marine in Sans Souci aufgetaucht sein sollte. Die Anruferin hatte ihren Namen nicht genannt.
Muecke parkte. Rowntree Marine war ein abgewrackter Ort: verrostete Treibstofffässer, verschimmelte Seilrollen, Gerippe vor sich hin rottender Wasserfahrzeuge mit Schlagseite. Über allem der Pesthauch der Kieljauche. Das einzige blitzblanke Objekt hier war ein glänzend-schwarzer Audi SUV, für Muecke ein Indiz, dass die meisten Geschäfte bei Rowntree Marine schwarz abgewickelt wurden. Er fühlte sich müde. Das war ihm nicht wichtig. Wichtig war ihm nur, dass der Hinweis ein anonymer gewesen war – mehr wert, irgendwie, als die bloße Fehleinschätzung eines Hafenmeisters.
Missy, die Ehefrau des Diebes? Bis über den Hals mittendrin?
Er betrat das Büro, die Nachbildung einer Kajüte, die unter seinem Gewicht ächzte. Ein mitgenommener Empfangstresen, dahinter eine junge Frau, die auf eine Tastatur einhackte und kurzsichtig auf einen staubigen Bildschirm blickte. Auf einer Bank hinter ihr ein Schiffsfunkgerät, Seekarten und ein alter Nackedei-Kalender an den Wänden.
Die Frau sah hoch, holte Muecke blinzelnd in ihr Blickfeld: »Kann ich Ihnen helfen?«
Muecke zeigte seinen Ausweis vor. »Wenn ich mal mit dem Chef sprechen könnte?«
Sie sah ihn hilflos an. »Den Chef ...?«
Muecke bewegte seinen Kopf mit einem Rucken. »Der schwarze Audi – gehört er Ihnen?«
Ihre Hand sauste zu einem silbernen Amulett an einem Lederband um ihren Hals. Überall Silber, registrierte Muecke: Ohrringe, Ringe, Piercings an Nase und Augenbrauen, Armreifen. »Oh. Der gehört Mr. Rown­tree.«
Geduldig sagte Muecke: »Kann ich ihn sprechen?«
»Er ist segeln.«
Muecke nickte. »Sie nehmen hier Reparaturen und Überholungen vor?«
Sie nickte, jetzt auf eher sicherem Terrain. »Das tun wir.«
»Da ist eine Jacht reingekommen, die Santa Ana
Schweigen. Etwas in ihrer Körpersprache.
»Sie haben die Polizei angerufen?«
Sie nickte wieder, sah ihn aber nicht an.
»Warum?«
»Da stimmt was nicht.«
»Sie stecken nicht in Schwierigkeiten und ich werde Ihre Identität niemandem preisgeben«, sagte Muecke sanft, »aber können Sie mir einen Hinweis geben ...?«
»Gehen Sie, schauen Sie selbst«, sagte die junge Frau und zeigte auf das Gerümpel hinter dem Fenster.
»Liegeplatz zwei.«
Bis zum Liegeplatz zwei war es nur eine kleine Strecke entlang eines Piers aus morschen Planken. Muecke stieß auf eine von Schäden gezeichnete Jacht, die sich außerhalb des Wassers in einer hydraulischen Halterung be­fand, auf zwei gelenkige junge Männer beim Schaben am Rumpf und auf einen rundlichen Mann auf dem Kabinendach, dabei, an etwas herumzufummeln, was Antennen oder Windmesser hätten sein können. Für Muecke sah es so aus, als hätte das Trio bislang kaum Hand angelegt: die Segel zerrissen, die Spitze eines Mastes abgebrochen, ein Kabinenfenster abhandengekommen, ein kleines Loch oberhalb der Wasserlinie.
Eine Frau in einem Liegestuhl sah vom Pier aus zu – sah den jungen Männern zu, wie Muecke annahm. Im Bikini, ungeachtet der kühlen Luft; eine Zigarette in der einen Hand, ein Glas Wein in der anderen. Sie glaubt vermutlich, sie sei an der Riviera, dachte Muecke. Es war ein gespenstisches Bild.
Zuerst ging er zu ihr. Die Männer waren beschäftigt. »Mrs. van Horen?«
Sie sah ihn über den Rand ihrer Sonnenbrille hinweg an, ein personifiziertes alterndes Dekolleté samt ein paar Fetzen Stoff »Bitte, wer?«
»Sind Sie Missy van Horen?«
Sie war erstaunt. »Nein. Wer sind Sie?«
Der rundliche Mann kletterte herunter, um sich hinzuzugesellen, machte ein regelrechtes Trara, als könne die stabil gelagerte Jacht ihn ins Meer befördern. Reckte die Säufernase gen Muecke und bestand darauf, nicht Dirk van Horen zu sein. Wie Muecke darauf komme? Eigentumsurkunde? Pass? Kein Problem, kommt sofort.
Während der Mann zurück an Bord kletterte und unter Deck verschwand, nahm Muecke die jungen Helfer ins Visier, sofern sie nur das waren. Schlanke junge Götter ohne Hemd. Sie schabten weiter die Seepocken vom Rumpf, schienen sich jedoch gemessen an der Spannung in ihren muskulösen Oberkörpern Mueckes sehr bewusst. Interessant.
Er wandte sich wieder der Frau zu. Auch sie machte einen angespannten Eindruck.
»Sturmschaden?«
»Was? Oh nein, nur eine Überholung. Wir machen uns auf zu einer Weltumsegelung.«
»Nur Sie beide?«
Sie schüttelte den Kopf. »Das ginge ein wenig über unsere Möglichkeiten. Nein, die Jungs kommen mit.«
»Ihre Söhne?«
Sie vermied es, ihn anzuschauen. »Genau.«
Muecke betrachtete die Jacht. »Noch viel zu tun?«
Sie zögerte. Sie kann schlecht in Abrede stellen, dass noch mehr Arbeit ansteht, dachte Muecke, will jedoch keinen Zeitrahmen festlegen für den Fall, dass die Polizei die Gelegenheit nutzen und ein wenig graben würde, bevor die Santa Ana wieder Segel setzt. Ihr Mann rettete sie mit ein paar Papieren, die zu bestätigen schienen, dass die Jacht als Santa Ana registriert und Eigentum von Bryce und Felicity Reschke war.
»Können Sie sich ausweisen?«, fragte Muecke.
Der Mann runzelte die Stirn. »Nein, können wir nicht. Ist alles zu Hause.«
»Wo wohnen Sie?«
Der Mann namens Reschke gestikulierte. »Drüben in Sylvania.«
»Sie kommen ursprünglich aus South Australia?«
»Was? Nein. Ist etwas im Gange? Müssen wir uns Sorgen machen?«
Muecke ließ es dabei bewenden. Es waren Aufgaben zu erledigen, Ganoven zu ergreifen. Er würde die South Australia Police bitten, ihm Fotos von Dirk und Missy van Horen zu schicken – im Nachhinein betrachtet, hätte er das als Allererstes tun sollen.