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Unterdessen hatte Wyatt eine neue Bleibe gefunden. Er besaß Papiere für ein halbes Dutzend Identitäten, über Jahre zusammengetragen. Es bereitete ihm keine Mühe, weiterzuziehen und sich an einem anderen Ort unter anderem Namen
niederzulassen; sich von beidem zu verabschieden, sollte er drohen aufzufliegen. Nachdem er Wagen und Apartment in
Coogee aufgegeben hatte – wie eine Menge Besitz, die er in seinem Leben aufgegeben hatte –, hatte er einen Holden Pick-up gekauft, war Richtung Süden gefahren und hatte im Hinterland von Batemans Bay ein Farmhaus samt einem
Hektar Wiese und alten Obstbäumen gemietet. Er investierte ein wenig Zeit, um im Krämerladen einzukaufen, am Nachmittag im Pub ein Bier zu trinken, an der
Caltex-Tankstelle seinen Tank zu füllen, bis er ein paar Einheimische vom Grüßen her kannte. Er steckte einen Bibliotheksausweis in seine Brieftasche, eine
Kundenkarte der Autowaschanlage, einen Das-fünfte-Paar-gratis-Gutschein aus dem Schuhgeschäft. Darauf bedacht, auf unspezifische Weise beschäftigt zu wirken, aber immer präpariert, zu lächeln und zum Gruß eine Augenbraue hochzuziehen, sogar für einen sinnfreien Plausch stehen zu bleiben.
Und darauf bedacht, nicht die falsche Art von Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen – er warf nicht mit Geld um sich, fuhr nicht zu schnell, trank nicht zu viel, kam
nicht mit Rechnungen und Miete in Rückstand und animierte niemanden, der betrunken war oder einsam. Seine
Vermieterin, eine ältere Witwe, warnte ihn, dass Diebe dafür bekannt seien, es auf Immobilien in der Gegend abgesehen zu haben, aber Wyatt
besaß nicht viel, was eines Diebstahls wert gewesen wäre. Würde man bei ihm einbrechen, er würde es ohnehin nicht melden – er wollte vermeiden, dass Fingerabdrücke oder DNA ihn mit alten Straftaten in Verbindung brachten. Er war stets
vorsichtig gewesen, konnte aber nicht ausschließen, dass sich nicht doch in irgendeiner Datenbank Spuren von ihm finden ließen.
Und sollte jemand seinetwegen hier auftauchen, würde er einfach wieder verschwinden. Es sei denn, sie griffen brachial und
schnell genug zu, um ihm keine Wahl zu lassen.
Wyatt war ein Chamäleon, sozial gesehen. Was Kleidung, Umgangsformen, Lebensart und offenkundige Überzeugungen anbetraf, erschien er freundlich, tolerant, zurückhaltend. Eben unauffällig. Aber in zwei wesentlichen Punkten hob er sich ab: Er war groß, gelenkig, reaktionsschnell, und das in einem Land mit langsamen,
verweichlichten, schlaffen Menschen. Er hatte eine Geschichte parat, die das erklärte. In einem früheren Leben sei er Fitnesstrainer beim Militär gewesen; nun sehe er sich ein wenig von Australien an, unter dem Aspekt, sich
irgendwo niederzulassen, vielleicht sogar ein Fitnessstudio zu eröffnen. Er kannte die Menschen gut genug, um zu wissen, dass sie von Gesundheit
und Fitness besessen waren, ohne selbst etwas dafür zu tun. Sein offensichtliches Interesse für derlei Dinge machte ihn zu nichts Besonderem, es machte aus ihm einen
Langweiler, einen Typ von nebenan.
Zweitens: Sein Gesicht ließ Leute stutzen. Dunkel, schmal, mit leichter Hakennase und ein wenig
undurchdringlich, die olivfarbene Haut straff über den Knochen, war es eher Distanz gebietend als nahbar. Wenn auch nicht
ausdruckslos, so doch unbeteiligt. Ein- oder zweimal in seinem Leben war eine
Frau lange genug unter seinen Schutzpanzer geschlüpft, um ihm zu sagen, er solle mal lockerer werden; also wusste er, dass er an
seinem Gesichtsausdruck arbeiten musste, wenn er in der Öffentlichkeit war. Die Menschen erwarteten – brauchten – Wärme, Anerkennung, Respekt, kurzum: Bestätigung. Bekamen sie nur ein angenehm neutrales Gesicht, war auch das in Ordnung.
Aber sie erinnerten sich daran, wenn man ihnen das Gefühl gegeben hatte, unbedeutend zu sein.
Und so arbeitete Wyatt an seinen Gesichtsmuskeln, und er arbeitete an seinem Äußeren. Kurzes, gepflegtes Haar. Gründliche Rasur. Einfache Brille mit schwerem Gestell; ein dauerhaft angedeutetes
Lächeln.
Er vermutete, wieder von den falschen Leuten aufgespürt werden zu können, allerdings dem Pech geschuldet, nicht einer Familie oder Freunden oder
Liebschaften oder Gewohnheiten oder Interessen. All das machte ihn nicht aus.
Sollte man Wyatt aufspüren, dann durch etwas, wofür er nicht planen konnte – sein Gesicht als eines unter Schaulustigen auf einem Zeitungsfoto, eine alte
Bekanntschaft, die ihn zufällig auf der Straße entdeckte.
Er sann über Geschehnisse in Sydney nach. Möglich, dass jemand, der sein Gesicht kannte, ihn mal beim Verlassen oder
Betreten des Apartments in Coogee gesehen und die Kunde entlang einer Kette
weitergegeben hatte. Wesentlich wahrscheinlicher jedoch war es, dass er über die Verbindung zu den beiden Frauen der Familie Kramer aufgespürt werden könnte. Er musste einen anderen Weg finden, um ihnen Sams Geld kleckerweise
zukommen zu lassen.
Er hatte nichts mehr von Phoebe Kramer gehört, bis zu diesem Tag Ende April, als die Küstenstädte mit der Entscheidung rangen, ob das Wetter sich nun abkühlen solle oder nicht. Sam hatte einen neuen Job für ihn. The Rocks, so lautete die E-Mail im Ordner. Dazu die Angabe von Tag und Uhrzeit. Er hatte
sich ein Mountainbike beschafft und Fahrradklamotten und ging durch die Gegend, bis er Sam und die anderen Freigänger vor einer Wand beim Kratzen an Plakatresten entdeckte. Er fummelte an
seiner Fahrradkette herum, bis Sam näher kam. Hörte zu. Stellte ein paar Fragen, als Sam ihm erklärte, wo er zwei Fünfdollarnoten aus dem Jahre neunzehnhundertsiebenundsechzig finde, die noch nie
in Umlauf gewesen waren. Normalerweise war ein solcher Geldschein nicht viel wert, nur war
die letzte Null der Seriennummer per Hand hinzugefügt worden, was sicherstellte, dass der Gesamtwert beider Scheine bei etwa
hunderttausend Dollar lag. Er stahl sie in derselben Nacht.
Wie praktisch, dass der beste Hehler für die Geldscheine ein Mann namens Barry Hartzer in Wollongong war, das auf
seinem Heimweg lag. Hartzer, dünnes Haar und mit der Statur eines Jockeys, war wortkarg wie Axel Blackstock,
mit Ausnahme einer Bemerkung, die er machte, als Wyatt sich verabschiedete: »Bis zum nächsten Mal, Mr. Warner.«
Für gewöhnlich wusste Wyatt nicht, wann er das nächste Mal auf einen der Männer, auf eine der Frauen treffen würde, die mit den Gegenständen hehlten, die er stahl. Es hing davon ab, ob Kramer es war, der einen Job für ihn hatte, es hing von der Art des Diebesgutes ab. Aber er hatte sofort
gewusst, dass es kein nächstes Mal mit Barry Hartzer geben werde. »Warner« war einer von Wyatts alten Namen, zuletzt vor fünfzehn Jahren verwendet. Das war Barrys Art, ihm gegenüber eine Warnung auszusprechen. Vielleicht wurde ihre Begegnung aufgezeichnet,
Video oder Audio, oder die Polizei oder jemand aus seiner Vergangenheit hatte
sich blicken lassen. Fragen, Drängen, zu viel an Neugier. Wyatt war beunruhigt. Leute hielten nach ihm Ausschau.
Nachdem er einen Peilsender hatte ausschließen können, benötigte er zwei Tage, um nach Hause zurückzukehren, mit einem Umweg in die Mitte des Staates, wieder zurück, dann runter nach Victoria und die Küste rauf. Das reichte, um Verfolger abzuschütteln, aber sollten sie ihn von vorn überwachen, wären sie schwerer auszumachen.
Und heute dann eine weitere E-Mail: Centennial Park, Uhrzeit und Datum.
Für den zufälligen Beobachter war Wyatt jemand vom öffentlichen Dienst. An ein Klemmbrett befestigter Papierkram, Kopfbedeckung von
SunSafe, eine Warnjacke mit dem Aufdruck Sydney City Councel auf der Brusttasche. Wie ein Mann, der ein Taxi fährt oder in grauem Anzug und mit schlenkernder Aktentasche über die Straße geht, ist ein solcher Mann weitestgehend unsichtbar. Und für die Dauer seines Aufenthaltes im Park war Wyatt ein öffentlich Bediensteter mit einem Klemmbrett, er schauspielerte nicht. Er
begutachtete die Wege und Beete im Centennial Park, hockte sich hin, um die
Sichtlinien zu erfassen, machte sich Notizen, so versunken in seine Aufgabe,
dass niemand ihn etwas fragte oder ihn unterbrach.
Gegenwärtig bewegte er sich auf drei Gärtner zu, die Jeans trugen, Baumwolljacken, Stiefel und Arbeitshandschuhe, und
auf zwei sich langweilende Wachleute auf einer Bank in der Nähe. Es gab nichts, was die drei Ersten als Freigänger kennzeichnete. Ein Mann um die zwanzig, zaghaft, angespannt, mit hübschem Gesicht, lockerte die satte Erde rund um die Gruppe aus Känguru-Pfoten. Der zweite Mann war Mitte dreißig, untersetzt, mit rasiertem Schädel, stoppeligen Wangen und einem kleinen Barcode-Tattoo unterhalb eines Ohrs.
Seine Hände zeigten kundigen Einsatz, sodass sich niemand über seine Arbeitsmoral beschweren konnte, seine Miene jedoch war abfällig. Gartenarbeit war definitiv unter seiner Würde. Alle drei befanden sich in einiger Entfernung. Wyatt am nächsten stand Sam Kramer – in den Sechzigern, mit einer ihm von der Nase rutschenden Brille, abstinent,
geschickt, akribisch. Ein Mann, der vielleicht sein Leben damit zugebracht
haben könnte, wissenschaftliche Aufsätze zu begutachten, statt Investoren zu verladen oder Informationen über Raubgut an Männer wie Wyatt weiterzugeben.
Die Zeit verstrich. Nach einer Weile näherte sich Kramer der Stelle, wo Wyatt hockte und eine Beeteinfassung
betrachtete. Kramer beugte sich hinunter, um ein wenig Unkraut zu entfernen. »Danke, dass du meiner Familie hilfst, Kumpel«, murmelte er.
Wyatts Gesicht spiegelte nichts wider, aber er war überrascht. Er hatte sein Wort gegeben. Warum sollte er Zusagen nicht einhalten?
Wie auch immer, deswegen war er nicht gekommen. »Was für ein Job?«, fragte er mit sich kaum bewegenden Lippen.
»Jack Tremayne«, sagte Kramer, wohl wissend, dass Wyatt sich an den Namen erinnern und
Recherchen anstellen würde.
Wyatt stand auf. Blätterte durch die Papiere auf seinem Klemmbrett, ein beschäftigter Mann. Kramer zupfte weiter Unkraut. Neben den Wachen und den restlichen Freigängern hielten sich in diesem Bereich des Parks Touristen auf und Büroangestellte, die die Sonne genossen. Sprenkel des Sonnenlichts wie
hingeworfene Münzen am Boden; dazu der Geruch nach feuchter Erde und das Gickeln des
Rasensprengers.
»Tremayne droht Gefängnis wegen eines Ponzi-Spiels«, sagte Kramer leise. »Sein Partner sitzt bereits. Kyle Roden.«
Wyatt verstand sofort. »Roden hat dir was erzählt.«
»Richtig«, sagte Kramer. Als hätte er zu niemandem etwas gesagt. Er wischte sich die Erde von den Handschuhen
und fischte in seiner Tasche nach einem Taschentuch. Ein Mann, dem ein wenig die Nase lief.
Wyatt wartete. Kramer würde ihm unaufgefordert alles erzählen, was er wissen musste. Er rückte einen Meter nach links. Seine Augen waren in Bewegung, ohne den
entsprechenden Anschein zu erwecken, sein Gesicht war ohne Regung, ein Mann,
allein mit seinen Gedanken. Aber er hatte bereits Inseln mit den wichtigsten
Fluchtwegen ausgemacht und war sich auf übernatürliche Weise der Wachen gewahr und anderer Männer und Frauen in Uniform oder mit der verborgenen Kontur einer Waffe unter
ihrer Kleidung. Der Morgen war frisch und friedlich. Die anderen Freigänger gruben, harkten, kratzten weiter.
»Als die Sache für Tremayne und Roden brenzlig wurde, fingen sie an, Geld beiseitezuschaffen.
Rodens Anteil ging für Geldstrafen und Gerichtskosten drauf, aber er glaubt, dass Tremayne nahezu
eine Million in liquiden Mitteln auf die Seite gebracht hat. Er beabsichtigt,
das Land zu verlassen, wenn die Sache zu heiß wird.«
Das war der Job. Tremayne um seine Million erleichtern. Wyatt sagte nichts,
seine breiten Hände, die sehnigen Unterarme hielten das Klemmbrett, als er eine kurze Strecke
ging, sich hinhockte, um einen Pfad zwischen zwei Blumenbeeten in Augenschein
zu nehmen, wieder aufstand und es bewerkstelligte, sich Sam Kramer erneut zu nähern.
Dann murmelte er: »Eine Million. Klotzig.«
»Eine Mischung aus Bargeld, Schmuck und Inhaberpapieren, vermutlich. Dokumente,
ob in papierner oder elektronischer Form, wären für ihn zu riskant. Die Polizei hat ihn im Visier, glücklose Investoren, die SIPC.«
Die Securities and Investments Probity Commission. Ein recht zahnloser Tiger,
aber manchmal trieb man unverfrorene Ponzi-Schema-Glücksritter wie Tremayne und Roden durch die Gerichtssäle. Wyatt sagte: »Weiß Roden, wo Tremayne sein Geld hat?«
»Nein. Bei Tremayne gab’s mehrere Haussuchungen, Beschlagnahme von Akten, solche Sachen, von Geld war
nie die Rede, also würd ich vermuten, dass es bei einem Freund ist oder in einem Schließfach. Er ist schlau, Kumpel. Aalglatt. Bis jetzt hat er jeden vorgeführt, der ihm ans Leder wollte.«
»Verheiratet?«
Kramer nickte. »Sie dürften sie ebenfalls genau unter die Lupe genommen haben.«
»Freunde? Familie?«
»Gleiches Verfahren, bei denen, die noch da sind. Er wird nicht besonders geschätzt.«
Wyatt setzte den gewohnten Prozess in Gang, begab sich unter die Haut eines
anderen. Tremayne sollte gewusst haben, dass ihm Haussuchungen bevorstanden, dass er Kandidat war für Durchsuchungsbefehle, dass seine Telefongespräche abgehört, seine Bewegungen überwacht, seine Belege genau nachgeprüft würden.
Gab es jemanden, dem er vertraute?
Ein Aspekt der Geschichte behagte Wyatt nicht: dass Tremaynes Geschäftspartner Sams Quelle war. Er war in den Knast gewandert; nicht so Tremayne. Er
dürfte verbittert sein. Er würde Tremayne die Tour vermasseln wollen. Wem sonst noch hatte er etwas erzählt?
»Roden«, sagte Wyatt.
»Ich weiß, was du denkst«, sagte Kramer. »Ich halte ihn für glaubwürdig. Ich habe ihn beschützt, Kumpel. Ich habe ihn unter meine Fittiche genommen. Er ist ein armes
Schwein, unterhält zu niemandem sonst Kontakt.«
Wyatt sah unauffällig hinüber zu den anderen Freigängern. Der junge Typ mühte sich noch immer mit seiner Harke ab. Der Untersetzte streckte den Rücken durch. »Weshalb hat er dir von Tremaynes Geld erzählt, was glaubst du?«
»Gute Frage. Zum einen hohles Geschwätz. Aber ich denke, dass er irgendwie hofft, ich würde angesichts der Informationen reagieren. Er ist davon überzeugt, dass Tremayne windig genug ist, um ungeschoren davonzukommen.«
Das war der Moment, als die Wachleute Wyatt mehr als nur den gelegentlichen
Blick zuwarfen. Er sagte nichts mehr, sondern entfernte sich, gab sich den Anschein, als habe er den auf seinem Klemmbrett vorgegebenen Auftrag beendet.
Hinter ihm murmelte Sam Kramer: »Enges Zeitfenster, Kumpel. Tremayne wird es vermutlich bald mit einem Beweisaufnahmeverfahren zu tun bekommen.«
Die Aufmerksamkeit wieder auf Blicke gerichtet, die ihm auszuweichen schienen
oder zu lange an ihm klebten, ging Wyatt auf einem Seitenweg zu einem
Toilettenhäuschen. Niemand in den Kabinen oder an den Urinalen. Er streifte die Jacke ab
und stopfte sie zusammen mit dem Klemmbrett in einen Abfallbehälter, feuchtete ein halbes Dutzend Papierhandtücher an und stopfte sie hinterher. Dann zog er sich einen khaki Frotteehut über den Kopf, setzte eine Sonnenbrille auf und ging zum Ausgang.
Ein Wachmann und der Freigänger mit dem Bubigesicht versperrten ihm den Weg. Es gab ein kleines Hin und Her, wer nun zuerst,
bis Wyatt einen Schritt zur Seite machte, um sie vorbeizulassen. Im Weggehen hörte er einen der beiden sagen: »Mach hinne.«
Der andere antwortete: »Knastfraß, Kumpel. Schlägt auf die Verdauung.«