Sei schlau und hab‘ Dich lieb.
Du wirst Dein ganzes Leben
mit Dir verbringen.

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2021 Sabine Schumacher

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Cover, Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7543-8685-9

Inhaltsverzeichnis

EINS

Gerne würde ich dieses Buch mit den Worten beginnen: „Es war ein lauer Sommertag in München-Grünwald. Die Vögel zwitscherten munter in den Bäumen, und die Sonne schien warm vom wolkenlosen Himmel herab. Fröhlich hüpfte Charlotte Wagner in ihrem frisch geputzten Bad von der Personenwaage und reckte mit siegreicher Geste die Faust gen Zimmerdecke.“

Es wäre eine glatte Lüge. Leider. Zumindest ab „Fröhlich“. Ich muss es wissen, denn: Charlotte Wagner, das bin ich.

Fakt ist, dass ich die Zahlen auf der Waage gar nicht erkennen konnte. Busen und Bauch waren im Weg. „Ah! Schwanger!“, werden Sie jetzt denken, und ich weiß nicht, ob ich Sie dafür küssen oder erwürgen möchte. Ich bin fünfundfünfzig Jahre alt. Damals noch vierundfünfzig. Aber so prägnant ist der Unterschied nun auch wieder nicht. Fangen wir noch mal von vorne an. Diesmal ohne Flunkerei. Den Teil mit dem „lauen Sommertag“ kennen Sie ja schon.

Es war der Tag vor meinem fünfundfünfzigsten Jubiläum auf Erden. Ich stand also im Badezimmer, um zu duschen und versuchte, irgendetwas auf dem verdammten Kontrollgerät der Maßlosigkeit zu erkennen, dessen Grundfläche im Laufe der Jahre immer kleiner zu werden schien. Doch so sehr ich mich auch reckte, streckte und die Luft anhielt – mehr als den obersten Rand meiner Zehennägel bekam ich einfach nicht ins Blickfeld! Kurz überlegte ich, einen Handspiegel zur Hilfe zu nehmen, befand das dann aber doch als zu demütigend. Außerdem hatte ich Angst vor der Wahrheit. Also gab ich auf.

Leise ächzend bückte ich mich nach vorne, um den Fluch aller Frauen mit gesundem Appetit und schweren Knochen unters Waschbecken zu schieben, wo er von mir aus bis zur Unkenntlichkeit verstauben konnte. Warum musste ausgerechnet ich das Pech haben, in die Epoche einer Kultur hineingeboren worden zu sein, die den guten alten Rubens vergessen und stattdessen das Urteil über die Sinnlichkeit der Erscheinung einer Heidi Klum in die knochigen Pranken gelegt hatte? Wie jede Woche nahm ich mir auch heute vor, dieses Drecksding nie wieder anzusehen. Ich spreche von der Waage, nicht von Heidi.

Während ich nackt und zwischen Selbstgerechtigkeit, Missmut und Scham schwankend mein bleiches, gut gepolstertes Hinterteil in die Höhe reckte, hörte ich hinter mir die Tür aufgehen. Eilig richtete ich mich auf und wandte den Kopf. Zu eilig. Nur ein kleines bisschen langsamer, wenige Sekundenbruchteile später – ich hätte Geralds Gesichtsausdruck wahrscheinlich gar nicht mehr mitbekommen. Vermutlich wäre mein Leben dann anders verlaufen. Aber sicher bin ich mir nicht.

Früher hätte eine solche Situation zumindest einen Klapps auf den Allerwertesten provoziert, wahrscheinlich mit ein wenig Fummelei und einem eindeutig zweideutigen Angebot verbunden. Letztendlich wären wir im Bett gelandet. Heute musste ich mich der Tatsache stellen, dass mein Ehemann angewidert das Gesicht verzog, wenn er mich nackt im Badezimmer überraschte.

Es tat weh. Schließlich formten nicht nur Cola und Chips diesen wunderbaren Körper, sondern auch die drei Schwangerschaften, während derer ich seine Kinder ausgetragen hatte. Na ja – und meine natürlich. Aber trotzdem.

Gerald und ich hatten geheiratet, als Ralf unterwegs war. Es handelte sich um eine, sagen wir mal, „überraschende“ Hochzeit. Unser Ältester war inzwischen dreißig, in leitender Position bei einer Werbeagentur beschäftigt und lebte mit seinem Partner in Berlin. Sarah war siebenundzwanzig, Mutter von einjährigen Zwillingen und mit ihrem Mann nach Norwegen ausgewandert. Felix, der Jüngste, war zweiundzwanzig. Er studierte in Freiburg Medizin.

So würdevoll als möglich schnappte ich mir eines der großen, flauschigen Badetücher mit Aprilduft und wickelte mich darin ein. Gleichzeitig stellte sich mir die Frage, was mein Mann um diese Uhrzeit zu Hause machte. Es war kurz nach fünf Uhr nachmittags, er sollte eigentlich im Büro sein.

Als wir uns kennenlernten, hatte er für meinen Vater gearbeitet. Als Papa dann vor rund zwanzig Jahren in den vorzeitigen Ruhestand gegangen war, um meine Mutter zu pflegen, die an Multipler Sklerose erkrankt war, hatte Gerald die Maklerfirma übernommen. Mittlerweile lebten meine Eltern beide nicht mehr, doch der Name „Immobilien Schmaus – ihr Partner rund um Grund und Haus“ war nach wie vor eine angesagte Adresse.

Mein Mann arbeitete oft bis spät in die Nacht hinein. Viele Interessenten hatten erst abends Zeit, um sich die Objekte anzusehen. Als die Kinder noch kleiner waren, hatte er diese späten Termine vermehrt an unsere Angestellten delegiert, doch in den letzten Jahren waren sie häufiger und selbstverständlicher geworden. Bis es schließlich normal war, dass ich die meisten Abende allein verbrachte. Außerdem war mein Mann häufig auf Geschäftsreisen. Sie glauben ja nicht, wie viele Immobilienmessen es in Deutschland jährlich gibt. Und er musste natürlich bei jeder einzelnen dabei sein.

Es mag Ihnen merkwürdig erscheinen, aber bis zu diesem Nachmittag war mir kaum bewusst gewesen, wie sehr wir uns auseinandergelebt hatten. Ich hatte diesen schleichenden Prozess einfach verdrängt, wollte nicht kleinkariert und spießig erscheinen. Eine klammernde Ehefrau, die ihren Mann abends neben sich aufs Sofa tackert? Charlotte doch nicht! Die ist cool. Und tolerant. Und sooo selbständig. Tja – was soll ich sagen? Stimmt alles! Aber ich war noch mehr: Unglaublich dumm und naiv.

Leider komme ich nicht drumherum, nun mit einigen Klischees aufzuwarten, die Sie wahrscheinlich schon hundert Mal gehört und gelesen haben. Doch ohne deren Erwähnung würden Sie nicht verstehen, weshalb ich gezwungen sein sollte, in naher Zukunft rund 70 Euro Trinkgeld zu geben. Oder mit einer Packung Taschentüchern durchs Unterholz zu streifen. Von meiner ausgiebigen Unterhaltung mit einer Schnapsflasche und der drohenden Anzeige wegen Nötigung eines Golden Retrievers einmal ganz abgesehen. Sehen Sie? Ich kann es Ihnen also nicht ersparen.

Gerald hatte das Bad mit den Worten „sorry, komm‘ bitte ins Schlafzimmer, wenn du angezogen bist“ schnell wieder verlassen. Wenn ich nicht schon gespürt hätte, dass da etwas ganz gewaltig nicht stimmte, hätte ich es spätestens bei der Kombination von „Schlafzimmer“ und „angezogen“ in einem Satz mit Sicherheit wissen müssen.

„Jetzt mach‘ mal nicht die Kühe scheu“, sprach ich mir selbst Mut zu und verschob die Körperpflege kurzerhand auf später. „Du hast morgen immerhin Geburtstag. Einen halbrunden Schnapszahlgeburtstag. Vielleicht will er dich mit irgendetwas überraschen.“

Wie recht ich hatte!

Als ich schließlich in Jogginghose und T-Shirt zu meinem Mann ins eheliche, luftig-weiße Schlafgemach mit floraler Tapete trat – fast hätte ich zuvor noch an die Tür geklopft, so suspekt kam mir die Situation vor – stand der am Schrank und warf scheinbar wahllos alles, was ihm an Sommerkleidung unter die Finger kam, in einen großen Trolley, der geöffnet auf dem Bett lag.

„Du musst wegfahren?“, stammelte ich verwirrt. War er deshalb so früh nach Hause gekommen? Um zu packen? Oder…? „Vielleicht will er dir eine Reise schenken!“ Hoffnung keimte in mir auf. Ein kleiner Sprössling Optimismus. Ganz zart nur, wie der Keim, der im Frühling aus einer Herbstfrucht des Waldes dringt.

„Nein, ich muss nicht, aber ich möchte.“ Er drehte sich zu mir um. „Charlotte, ich verlasse dich.“

Peng! Gerald, das Wildschwein, fraß die Eichel samt Trieb – um bei dem Bild zu bleiben.

Ich plumpste aufs Bett. Fassungslos. Stumm. Mir war bewusst, dass ich Fragen stellen sollte, aber mir fielen keine ein. Es war, als würde mein Unterbewusstsein verzweifelt versuchen, mir Regieanweisungen zuzuflüstern, wie ich mich in dieser Situation zu verhalten hatte. Leider in einer fremden Sprache und ohne Untertitel. Ich verstand kein Wort. Stattdessen lief vor meinem inneren Auge ein Film ab; eigentlich waren es mehrere Filme gleichzeitig. Einer davon zeigte mich in dramatischer Pose auf die eheliche Schlafstatt zurücksinken, ein Unterarm über den Augen, das Becken leicht angehoben, die Brust herausgedrückt und leise schluchzend. Das hilflose Weibchen. In einem anderen sprang ich auf, gab Gerald eine schallende Ohrfeige und warf mich ihm dann heulend an den Hals. Das hysterische Weibchen. Dann war da noch eine verwirrende Szene, in der ich mich selbst wie einen Rennwagen beim Boxenstopp wahrnahm, nur dass mir in Sekundenschnelle fünfzehn Kilogramm Fett abgesaugt und sämtliche Körperteile gestrafft wurden, ich in ein neues, sexy Outfit gepresst wurde, die Haare gestylt und ein mondänes Makeup verpasst bekam. Schnell noch ein Sprühstoß Parfüm – das rundumerneuerte Super-Weibchen.

Ich schüttelte energisch den Kopf und kniff ein paarmal fest die Augen zusammen. Als ich sie wieder öffnete, kniete Gerald vor mir. Der Mistkerl hatte die Nerven, nach meinen Händen zu greifen und sie festzuhalten. Na ja, war vielleicht besser so. Ich hätte ihm vermutlich tatsächlich eine gescheuert.

„Das kommt jetzt bestimmt sehr plötzlich und überraschend für dich, aber Jenny und ich – wir lieben uns!“

Würg.

Melodramatische Theatralik hat mich schon immer kotzen lassen. Jenny. Seine junge, hübsche Sekretärin. Der Klassiker. Aber ich hatte Sie ja gewarnt.

Es kam noch besser: „Den Kindern habe ich bislang nichts gesagt. Ich denke, es wäre von Vorteil, wenn sie es zunächst nicht erfahren.“

„Feiger Drecksack“, empörte sich meine innere Stimme unflätig.

„Die nächsten zwei Wochen sind wir erstmal auf Malle, Jenny und ich“, fuhr Gerald ungerührt fort. „Du hast also genug Zeit, dich nach einer neuen Bleibe umzusehen. In der Firma helfen sie dir sicher gern. Wir haben ein paar hübsche Zweizimmerwohnungen in Neuperlach im Angebot. Sogar mit Ausblick. Zwölfter Stock oder so.“

„Das hier ist mein Elternhaus“, blaffte ich bestürzt. Dass es sich eigentlich um eine stattliche Villa mit großem Garten handelte, erschien mir als irrelevant. „Elternvilla“ sagt man ja auch nicht.

„Genau genommen gehört es Immobilien Schmaus, mein Schatz, und damit mir.“

Doppelwürg.

„Nenn‘ mich nicht Schatz“, brachte ich heraus und starrte auf unsere verschlungenen Hände.

Es stimmte. Er hatte recht. Die Firma gehörte ihm. Ihm allein. Und die Villa wiederum der Firma. Irgendwas Steuerliches, von dem ich keine Ahnung hatte. Aber ich wusste, dass meine Eltern es genauso gehandhabt hatten. Also konnte es nicht falsch sein. Dachte ich. Damals. Heute bin ich schlauer. Andererseits würde ich immer wieder genauso handeln, denn so bin ich nun mal: vertrauensselig. Und wenn ich mir eines nicht von Gerald habe nehmen lassen, dann ist das mein Charakter. Ja, ich weiß. Ebenfalls ziemlich melodramatisch, wobei ich mich an dieser Stelle korrigieren möchte. Ich habe mir meinen Charakter vom Leben nicht nehmen lassen. Gerald spielt da eine eher untergeordnete Rolle. Das war mir lange nicht bewusst gewesen, doch dazu später mehr.

Jetzt erstmal zurück ins Schlafzimmer: Ich befreite meine Finger ruckartig aus seinem Griff. Instinktiv duckte er sich und hob schützend die Hände über den Kopf. Oh – wie ich diese wenigen Sekunden genoss, in denen er ängstlich vor mir kauerte! Aber ich verbot mir jede Form der körperlichen Gewalt. Zumindest in der Realität. In meiner Vorstellung spielte sich hingegen ein regelrechtes Massaker ab. Die Details möchte ich Ihnen ersparen, aber es hatte viel mit Blut und der guten alten indianischen Tradition des Skalpierens zu tun. Gerald war ja so stolz auf sein Haupthaar, das er sich in mühsamer und kostenintensiver Kleinstarbeit hatte transplantieren lassen. Damit würde ich ihn wirklich treffen; bis in die hintersten Verästelungen seines männlichen Egos.

Meine Fantasie beruhte also nicht ausschließlich auf blutrünstiger Barbarei, sondern ebenso auf perfiden Rachegelüsten. Beides natürlich absolut unentschuldbar – außer, man ist eine hormongestresste Frau in den Wechseljahren, die gerade von ihrem untreuen Ehemann auf kaltblütigste Art und Weise verlassen und um ihr elterliches Erbe gebracht wird.

Ich stellte mir vor, wie ich mir aus seinem Skalp einen kleinen Beutel nähen lassen würde, in dem ich dann seine Hoden um den Hals tragen… – nun gut, das führt jetzt wirklich zu weit.

Als Gerald begriff, dass ich ihn weder schlagen, aus dem Fenster werfen, noch in irgendeiner anderen Form aufhalten würde, rappelte er sich hoch und packte weiter Kleidung in den Koffer.

Damit war alles gesagt. Ich hatte zu gehen. Den Platz an seiner Seite für eine Jüngere freizumachen. Schade, dass wir nie Eheringe getragen hatten – sonst hätte ich ihm meinen jetzt wenigstens mit großer Geste vor die Füße schleudern können.

Als er mich fragte, ob ich wisse, wo seine Badehose sei, stand ich wortlos auf und verließ das Zimmer. Ein boshaftes Lächeln umspielte meinen Mund. Ich wusste: Er würde sie niemals finden. Nicht in diesem Leben. Genauso wenig wie den Stützstrumpf für sein rechtes Knie, den er beim Bergsteigen tragen musste. Oder die Manschettenknöpfe mit den Löwen drauf. Es gibt Dinge im Leben eines Neunundfünfzigjährigen, die weiß nur seine Frau.

ZWEI

Meine hämische Freude hielt nicht lange an. Natürlich würde er sich einfach eine neue Badehose kaufen. Am besten eine mit Elefantenrüssel für sein bestes Stück. Stückchen. Das würde Jenny sicher gefallen. Jung genug war sie ja noch, um mit Handpuppen zu spielen.

„Pfui“, schalt ich mich selbst. „Sie ist immerhin Mitte dreißig. Dir kommt sie nur wie ein Küken vor, weil du selbst ein altes Huhn bist!“

Gack-gack.

Ich schnappte mir eine angebrochene Flasche Hugo aus dem Kühlschrank, um meine Selbstgespräche auf der Terrasse weiterzuführen. Warum nicht unter freiem Himmel in der Sonne sitzen und mit einem kühlen Alkoholgetränk der Selbstkasteiung frönen. Darin bin ich super! Also sowohl im In-der-Sonne-sitzen als auch in der Selbstkasteiung. Und das hat nichts mit meinen oberbayerischen – sprich: katholischen – Wurzeln zu tun. Oder nur wenig. Glaube ich zumindest.

Vielleicht denken Sie jetzt, dass ich eine verzogene Mitfünfziger-Hausfrau bin, die ihre Tage damit verbringt, dem Gärtner auf den strammen Po zu starren oder den Pool-Boy dabei zu beobachten, wie er… – Moment. Habe ich jetzt Po geschrieben? Entschuldigung. Ich meinte natürlich Rücken… Die ihre Tage damit zubrachte, dem Gärtner auf den strammen Rücken zu starren oder den Pool-Boy dabei zu beobachten, wie er mit einem Kescher einzelne Blätter aus dem Wasser fischt, während die Muskeln seiner eingeölten Oberarme die Nähte des engen Tanktops zu sprengen schienen.

Seufz.

Tja, falsch gedacht. So war ich überhaupt nicht. Und das lag nicht nur daran, dass Gärtner Karl über siebzig war, nur alle zwei Wochen kam und auch den Pool reinigte. Das lag primär an meiner Dings, meiner Lebenseinstellung. Unabhängigkeit war mir schon immer wichtig. Auch damals. Gut, wir hatten eine Zugehfrau. Olga Kowalczyk machte an drei von sieben Tagen sauber. Sie erledigte die Wäsche und ging einkaufen. Aber ansonsten wuppte ich den Haushalt ganz allein. Olga war irgendwie aus der Zeit übriggeblieben, als das Haus noch voller Kinder war. Sie musste mittlerweile fast so alt wie Karl sein! Was wäre ich für ein Mensch, würde ich der alten Dame ihre Arbeit wegnehmen?! Nein. Das konnte ich nicht.

Es stimmt natürlich: Ich hätte mich auf den Lorbeeren meines Vaters Schaffen ausruhen können, zumal mein Mann die Firma wirklich sehr gut und mit Fleiß führte. Gerade die letzten Jahre. Oft hatte er bis spät in die Nacht… – ach so, stimmt ja.

Jedenfalls hatten wir genug Geld. Trotzdem war ich stets meinem Beruf nachgegangen, wenn auch nicht in Vollzeit. Oder halbtags. Aber stundenweise. Ich bin Journalistin. Zum Zeitpunkt meines Verlassenwerdens betreute ich eine Kolumne als Lebensberaterin. Oder, besser gesagt, den wöchentlich erscheinenden Kummerkasten einer Hochglanzillustrierten. Sie wissen schon: „Fragen Sie Tante Carla.“ Was das mit Journalismus zu tun hat? Hm, keine Ahnung.

Jedenfalls hatte ich das Gefühl, wissen zu müssen, was jetzt zu tun war. Sozusagen auf professioneller Basis: „Liebe Tante Carla, mein Mann vögelt seine Sekretärin und will, dass ich in zwei Wochen aus unserer Villa verschwunden bin. Bitte helfen Sie mir! Was soll ich nur tun?!“

Während ich auf der Terrasse saß und in meinen mehr oder minder gepflegt wirkenden, englischen Garten blickte, den Vögeln beim Zwitschern zuhörte und einen großen Schluck Hugo direkt aus der Flasche trank, versuchte ich, die Prioritäten einer noch hypothetischen To-Do-Liste in eine Skala von eins bis zehn zu pressen. Das mache ich gerne. Es verschafft mir ein wenig Zeit, bevor ich mich tatsächlich zu einer Handlung aufraffen muss. Außerdem dient es selbstverständlich der Übersicht und hilft, die Kontrolle über eine Situation zu bewahren.

„Erstens: Ruhig bleiben. Sehr wichtig. Eine glatte Zehn.“ Automatisch griff ich nach einem Kugelschreiber, der zusammen mit dem Kreuzworträtsel aus der „Süddeutschen“ auf dem Tisch lag, und begann, auf der Zeitung Notizen zu machen. „Zweitens: Schuhe kaufen.“ Ich runzelte die Stirn und strich den Punkt wieder durch.

„Wenn du nicht mit dem nötigen Ernst an die Sache herangehst, kannst du es auch gleich bleibenlassen!“, schallte eine Stimme durch meinen Kopf.

Na gut. Überredet. Ich legte den Stift wieder weg. Dann eben keine Liste. Stattdessen stand ich auf, um mir eine neue Flasche Holunderprosecco zu holen. Die erste war nicht mal halbvoll gewesen. „Jetzt Schuhe kaufen zu wollen, ist sicher nur eine Übersprungshandlung, mit der mein Unterbewusstsein versucht, den großen psychischen Druck zu kompensieren, unter dem ich stehe“, rechtfertigte ich mich selbst. „Das musst du doch verstehen!“

Wie recht ich hatte, zeigte sich nur wenige Sekunden später, als ich hörte, dass die Haustür ins Schloss fiel. Hinter meinem Mann ins Schloss fiel. Kurz darauf vernahm ich das vertraute Röhren seines Porsche 992, doch da saß ich bereits mit angezogenen Knien auf dem Küchenboden und schluchzte zum Gotterbarmen.

Er war ohne ein Wort des Abschieds gegangen. Nach all der gemeinsamen Zeit. Nach drei Kindern und zwei Enkelkindern. Nach dem Tod meiner Eltern und seiner Mutter. Nach Dotcom-Blase, Bankenkrise und dem Wasserrohrbruch vor drei Jahren, als der ganze Keller vollgelaufen war.

Die Gewissheit, dass niemand in einem solchen Auto bequemen Sex haben konnte – nicht einmal eine sportlichschlanke Mittdreißigerin namens Jenny –, war nur ein schwacher Trost. Wahrscheinlich nahm er sie einfach direkt auf der Motorhaube. – „Hoffentlich verbrennt sie sich dabei ordentlich den Hintern!“

Ich weiß nicht, woher dieser Gedanke kam. So etwas passiert mir ständig! Kennen Sie das auch? Plötzlich – zack! – rutscht mir irgendein Schwachsinn durch die Synapsen. Als ob es zu diesem Zeitpunkt relevant gewesen wäre, wie gut oder schlecht sich ein hypermoderner Sportwagen zum außerehelichen Beischlaf eignet!

Wobei – mein Micro-Van wäre quasi wie dafür geschaffen. Die hintere Sitzbank lässt sich unter den Vordersitzen versenken, nicht nur umklappen. Sie ist einfach weg, und es entsteht eine ansehnlich große, waagrechte Fläche. Perfekt für Spontaneinkäufe in schwedischen Möbelhäusern und dänischen Kojen-Kammern. Außerdem sind die Scheiben getönt. Ich liebe meinen Wagen und würde nie einen anderen haben wollen. Er heißt Rosi. Gerald wollte mir zwar ständig einen neuen vor die Tür stellen – wieder aufgrund irgendwelcher Steuervorteile, von denen ich nichts verstand –, aber ich lehnte es kategorisch ab. Er fand das spießig.

Pfff.

Seit Jahrhunderten dieselbe Frisur tragen zu wollen – sogar mit schönheitschirurgischer Unterstützung mittels Haarimplantaten – das war spießig!

Ich schnäuzte ausgiebig ins neben mir hängende Küchentuch und nahm mir vor, es anschließend in den Wäschekorb zu geben. Gleich nach meinem Nervenzusammenbruch. Direkt im Anschluss an die zweitgrößte Krise, mit der ich im Leben konfrontiert wurde.

Die größte war der Tod meiner Eltern gewesen, die in gemeinschaftlichem Suizid aus dem Leben geschieden waren. Das war für mich nicht einfach zu verstehen gewesen. Beziehungsweise, verstehen – im Sinn von „nachvollziehen“ – konnte ich es durchaus. Mein Vater hatte mir einen langen Brief hinterlassen, in dem er ihrer beider Beweggründe darlegte, aber es war schwer gewesen, sie zu akzeptieren. Ehrlich gesagt: So ganz gelungen ist mir das bis heute nicht. Und damals, als ich frisch verlassen auf dem Fußboden in der Küche saß, brach es wieder über mich herein: Das plötzliche und totale Gefühl von Einsamkeit.

Schnief.

Gerald hatte die komplette Villa direkt nach ihrem Ableben renovieren und umbauen lassen. Auch der Garten war nicht verschont geblieben. Außer dem Grundriss erinnerte nichts mehr an die Zeiten meiner hier verbrachten Kindheit und Jugend, geschweige denn an meine Eltern. Er hatte ihr Andenken ausradiert, wegdesignt, überpinseln lassen.

Mir schlief der Po ein. Die Fliesen waren hart, kalt und ungemütlich.

„Also doch nicht so doll gepolstert“, schoss es mir durch Kopf. Oder war das tröstend gemeint?

Oh, Mann.

Ich rappelte mich auf. Das Küchentuch ließ ich aus Versehen hängen. Möge Olga Kowalczyk mir verzeihen. Mit kribbelnden Beinen schleppte ich mich zurück ins Schlafzimmer. Auch hier erinnerte nichts mehr an die unabänderliche, bedingungslose Liebe, die meine Eltern verbunden haben musste, als sie Hand in Hand auf dem Ehebett liegend dem Tod entgegengesehen hatten.

„Bedingungslose Liebe“, meldete sich meine innere Stimme prompt erneut zu Wort. „So ein Blödsinn. Wenn sie bedingungslos wäre, würde sie ja jeden anspringen und niederlieben. Egal wen.“

„So habe ich das nicht gemeint, und das weißt du auch ganz genau“, raunzte ich zurück. „Und jetzt würde ich gerne in aller Ruhe ein wenig in Selbstmitleid baden dürfen. Schließlich wurde ich gerade nach über dreißig Jahren Ehe von meinem Mann wegen einer Jüngeren verlassen!“

„Melodramatische Theatralik, die Zweite“, stichelte es süffisant zurück. Ich achtete nicht weiter darauf, sondern warf mich bäuchlings aufs Bett, vergrub den Kopf in den Kissen und weinte. Und weinte. Und – weinte.

Ich musste kurz eingeschlafen sein, denn als ich meine Augen das nächste Mal öffnete, spürte ich das sehr dringende Bedürfnis, umgehend die Toilette aufsuchen zu müssen. Benommen wankte ich ins Badezimmer und ließ mich mit heruntergelassenen Hosen auf die Keramik sinken. Meine verquollenen Lider brannten vom vielen Heulen. Wie spät mochte es sein? Neben dem Waschbecken lag noch mein Handy. Blinzelnd machte ich mich so lang wie ich konnte, ohne daneben zu pullern, und schaltete es ein. Umgehend erschien die Gewichtskurve meiner neu installierten Abnehm-App auf dem Bildschirm und ermahnte mich vorwurfsvoll: „Tragen Sie nun Ihr Körpergewicht in Kilogramm ein.“ Ich löschte die unliebsame Errungenschaft der modernen Selbstquäl-Mechanismen kurzerhand und sah auf die Uhr. Es war kurz vor sieben. Morgens! Ich hatte fast zwölf Stunden durchgeschlafen. Mir blieb der Mund offen stehen.

Krass!

Das war mir schon lange nicht mehr passiert! Normalerweise scheuchte mich der nächtliche Harndrang zuverlässig mindestens einmal aus dem Bett. Seit der ersten Schwangerschaft, um genau zu sein. Durch Ralfs Geburt hatte sich die Gebärmutter gesenkt und irgendwas mit meiner Harnröhre gemacht. Fragen Sie meine Gynäkologin, wenn Sie es genauer wissen möchten, die kann es Ihnen bestimmt erklären.

Wow.

Das musste ich mir unbedingt für den Kummerkasten merken. „Liebe Tante Carla, seit Tim-Finn unterwegs war, muss ich jede Nacht raus. Haben Sie einen Tipp für mich? Ihre Lena.“ – „Liebe Lena, bitten Sie Ihren Mann, die Sekretärin zu bumsen. Wenn er Sie dann verlässt, werden Sie schlafen, wie ein komatöses Murmeltier. Ihre Tante Carla.“

„Hör mit dem Gequatsche auf“, meldete sich meine innere Stimme zu Wort. „Sarkasmus steht dir nicht.“

„Tut er wohl“, grunzte ich schlechtgelaunt zurück.

„Nein.“

„Tut er wohl.“

„Nein.“

„Tut er wohl.“

„Nein.“

„Ach – lass mich doch in Ruhe!“, rief ich laut und griff nach dem Toilettenpapier. Vor dem ersten Kaffee sollte mich besser niemand ansprechen.

DREI

Es ist an der Zeit, Ihnen von Sammy zu erzählen. Eigentlich Samantha. Sie war schon immer da, solange ich denken kann. Meine frühesten Kindheitserinnerungen hängen mit ihr zusammen. Wir haben uns Geschichten erzählt, über Probleme diskutiert, Streiche ausgeheckt…

Streng genommen ist Sammy nur eine Stimme in meinem Kopf, aber sie ist auch ich. Bevor jetzt Gerüchte über eine mögliche Schizophrenie die Runde machen: Blödsinn. Ich erfreue mich reger geistiger Gesundheit, und es gab nie einen Anlass, daran zu zweifeln. Außer vielleicht, wenn ich gerade von Aggression, Depressionen oder welcher Art von „-ssionen“ auch immer übermannt werde, was sicher gänzlich den Wechseljahren geschuldet ist. Ich erwähnte das bereits.

Sammy ist eher so etwas wie eine imaginäre Freundin. Manchmal auch Feindin oder entfernte Bekannte.

Wenn wir sie jetzt selbst fragen würden, wie sie ihre Existenz definiert, würde sie antworten: „Scheißegal, man muss nicht alles verstehen.“

Inzwischen war Sammy mein Geheimnis. Ich hatte schnell gelernt, nicht jedem von ihr zu erzählen. Heute gibt es nur noch einen anderen Menschen, der von ihr weiß: Meine beste Freundin Rita, mit der ich quasi aufgewachsen bin. Wir waren zusammen im Kindergarten, später in der Schule. Rita ist eine Frau aus Fleisch und Blut. Ich erwähne das nur vorsichtshalber. Damit keine Missverständnisse aufkommen.

Nun aber zurück zum eigentlichen Thema: Ohne Kaffee bin ich nach dem Aufwachen unerträglich. Und da ist es völlig irrelevant, ob der Tag um 12 Uhr mittags oder um sieben Uhr morgens beginnt. Das geht so weit, dass ich eine Zeitschaltuhr an der Maschine habe, damit die Motivations-Plörre fertig ist, wenn ich aufstehe. Allerdings funktioniert so ein Timer natürlich nicht intuitiv, sondern muss manuell eingestellt werden. Auch das Gerät selbst füllt sich nicht automatisch jeden Tag mit frischem Wasser, Filtertüte und Pulver. Normalerweise erledigte ich beides am Abend zuvor. Aber gestern hatte ich es – im wahrsten Sinne des Wortes – verpennt.

Ich schleppte mich also vom Bad in die Küche, um Kaffee aufzusetzen, ohne beim Händewaschen in den Spiegel gesehen zu haben. Das ist einer der Vorteile des Alters: Man lernt aus Erfahrung.

Während das stimulierende Heißgetränk durch den Filter tropfte und mit seinem wohlaromatisierten Geruch meine Gier nach Koffein ins Unermessliche steigerte, trabte ich durch die Räume, um nachzusehen, was mein Herr Gemahl außer seinen Sommerklamotten und Hygieneartikeln noch mitgenommen hatte. Dass Rasierapparat, Aftershave und Zahnbürste fehlten, war mir vorhin schon aufgefallen und hatte mir einen Stich versetzt.

Die traurige Wahrheit lautete: nichts. Absolut gar nichts schien ihm wichtig genug gewesen zu sein, um es einzupacken. Weder Fotos der Kinder noch die goldene Uhr, die ich ihm zu unserer Silberhochzeit geschenkt hatte. Dann fiel mir ein, dass er ja nur in den Urlaub geflogen war. Dass er wieder hierher zurückkehren würde und ich diejenige war, die ausziehen sollte. Der Gedanke war so absurd und gleichzeitig so unerträglich, dass ich fast wieder geheult hätte.

„Jetzt reiß dich gefälligst mal zusammen!“ Sammy hatte kein Verständnis für meine Emotionen. „Wenn dir etwas nicht passt, musst du dich wehren. Kämpfen!“

„Was soll ich denn machen? Es ist nun mal sein Haus!“

„Du könntest dich verbarrikadieren. Oder auf den Markt fahren und Meeresfrüchte kaufen. Besser noch frischen Fisch. Den stopfst du dann in die Hohlräume der Vorhangstangen.“ Sammy kicherte. „Was meinst du, wie der nach einiger Zeit zu stinken anfängt?! Und finden tut das Zeug da kein Mensch, das ist ein absolut sicheres Versteck. Nach ein paar Wochen oder Monaten schenkt er dir die Villa – mit Handkuss!“

„Manchmal machst du mir direkt Angst.“

„Ich will nur helfen.“

Es zischte und röchelte aus der Küche. Der Kaffee war durchgelaufen. So schnell mich meine rosa Hasenpantoffeln mit Plüschohren trugen, eilte ich der ausladenden, antiken Anrichte entgegen, in der wir unser Geschirr aufbewahrten, und holte eine Tasse heraus. Ich entschied mich für die größte. Die mit dem Garfield-Schriftzug: „Ich liebe Lasagne!“. Fragen Sie mich bitte nicht, weshalb das jemand auf eine Tasse druckt. Oder wer so etwas kauft.

Seit einiger Zeit trank ich ihn schwarz. Der Figur zuliebe; außerdem sollte es angeblich gesünder sein. Seitdem war Kaffee für mich vom Genussmittel zur schlichten Notwendigkeit mutiert. Ich beschloss spontan, das wieder zu ändern, und gab drei Stück Würfelzucker und reichlich Vollmilch dazu. Noch im Stehen schlürfte ich den ersten Schluck. Lecker! Außerdem nicht so heiß.

Garfield, Sammy und ich setzten uns raus auf die Terrasse. Es war schon hell, die Sonne schien. In der leeren Hugo-Flasche hatten ein paar Ameisen über Nacht Party gefeiert. Es gab drei Todesopfer zu beklagen. Mein Blick fiel auf die angefangene To-Do-Liste – und schon hielt mich der ungläubige Schmerz des Verlassenwerdens wieder in seinen grässlichen Klauen. Wenigstens hatte ich den ersten und einzigen Punkt der Aufstellung, nämlich „Ruhig bleiben“, ganz gut hinbekommen. Fast schon zu gut.

„Vielleicht befinde ich mich in einer Art Schockstarre.“

„Mhm, kann schon sein“, stimmte Sammy zu.

„Ich sollte überlegen, was ich als nächstes mache.“

„Duschen?“

„Jetzt bleib‘ doch mal ernst! Ich meine: Mit meinem Leben. Was ich als nächstes mit meinem Leben mache.“

„Ich bin ernst. Du solltest endlich duschen. Und Zähneputzen.“

Argh.

Das Telefon läutete. Es war gerade mal halb acht. Das konnte nur eins bedeuten: Sarah. Als junge Mutter war sie nicht nur früh auf den Beinen, sondern um diese Uhrzeit schon seit mindestens zwei Stunden wach.

„Hallo?“

„Hi Mama! Alles Gute zum Geburtstag!“

„Was?“ Im Hintergrund hörte ich meine beiden Enkel brabbeln. Torben und Sören. Geben Sie nicht mir die Schuld, ich wurde bei der Namensgebung nicht gefragt.

„Ich sagte: Alles Gute zum Geburtstag, Mama! Hast du unsere Karte bekommen?“

Stimmt ja. Es war mein Geburtstag. Bei all dem anderen Ungemach hatte das ganz vergessen. Juhu! Endlich näher an der 60 als an der 50. Ich nahm das Mobilteil mit nach draußen. „Danke Schätzchen. Ja, gestern schon. So putzig! Wie hast du es nur hinbekommen, dass die beiden ihre Hände so ordentlich aufs Papier gedrückt haben?“

Sarah lachte. „Frag mich nicht, wie die Küche hinterher ausgesehen hat! Eigentlich wollte ich noch ihre Fußsohlen blau anmalen, aber da hatte ich keine Chance. – Wie geht es dir? Was hast du geplant an deinem Ehrentag?“

„Duschen und Zähneputzen“, rutsche mir unbedacht heraus. Ich spürte förmlich durch den Hörer hindurch, dass in Norwegen gerade eine Stirn gerunzelt wurde. Zwei Sekunden Stille, dann siegte die gute Erziehung. Oder die Gleichgültigkeit.

„Ah! Schön! – Ist Papa auch da?“

Diese Frage brachte wiederum mich kurz aus dem Konzept. „Nein, nicht mehr“, stammelte ich schließlich und wurde feuerrot. Zum Glück war dies kein Video-Call. Wenn ich etwas überhaupt nicht gut kann, dann ist das lügen. Ich meine: So richtig. Die Wahrheit ein wenig verbiegen, beschönigen, hier und da etwas weglassen oder hinzufügen – kein Problem. Die Zwillinge greinten mittlerweile.

„Schade – Ich soll dich auch lieb von Janne grüßen“, setzte sich Sarah mit leicht erhobener Stimme über die ihrer Sprösslinge hinweg.

Janne war Sarahs Ehemann. Ihm hatte ich zu verdanken, dass meine süße kleine Tochter mit meinen beiden süßen kleinen Enkeln so weit weg lebte. Aber ich will nicht ungerecht sein. Er war ein netter Kerl, der Frau und Söhne förmlich vergötterte. Es war nicht seine Schuld, dass er Skandinavier war.

Das Weinen wurde lauter. „Danke Schätzchen“, antwortete ich erneut. „Sag ihm auch einen lieben Gruß von mir! – Was ist los mit den beiden Zwergen? Wieder die Zähnchen?“

„Ich befürchte schon. Sören hat ja die unteren und oberen beiden schön länger. Aber bei Torben…“

Entspannt lehnte ich mich im Korbsessel zurück und schlürfte genüsslich meinen süßen Milchkaffee. Wenn Mütter erst einmal anfangen, über ihre Babys zu sprechen, hören sie so schnell nicht wieder auf damit.

Erst, als ich genaustens über Windelsoor, Stuhlkonsistenz, Hochzieh-Fortschritte an diversen Möbelstücken und Schlafdauer unterrichtet worden war, fasste ich mir ein Herz. Der Entschluss kam ganz plötzlich. Er tauchte gemeinsam mit der Erinnerung an den verächtlichen Gesichtsausdruck auf, mit dem Gerald mich im Bad gemustert hatte. Ich sah ihn wie auf einem Foto vor mir. Oder einem Standbild: herabgezogene Mundwinkel, gekräuselte Nase, die Augen leicht geschlossen. Weshalb sollte ich ihn schützen? Warum seinen Anweisungen Folge leisten und den Kindern die Wahrheit verschweigen? Der Mistkerl hatte kein Recht, von mir noch überhaupt irgendein Entgegenkommen zu erwarten! Trotzdem hatte ich von jetzt auf gleich einen dicken Stein im Bauch. Mein Mund wurde trocken. Ich schluckte. „Schätzchen, ich muss dir etwas sagen…“

„Wääähhh!“

Meine Worte gingen in empörtem Geplärre unter. „Mama? Ich muss Schluss machen. Sören hat Torben das Fläschchen über den Schädel gezogen“, schrie mir meine schlagartig gestresste Tochter atemlos entgegen. „Tut mir leid, sei nicht böse! Bussi, hab dich lieb! Feier schön!“

Tut – tut – tut.

Ich starrte verdattert auf das Telefon in meiner Hand. Nach einigen Sekunden drückte ich ebenfalls den roten Hörer. „Hm. Vielleicht besser so“, murmelte ich, ohne zu wissen, ob ich das auch so meinte.

„Feigling“, kommentierte Sammy trocken.

Ich ließ mich nicht provozieren. Sollte sie doch denken, was sie wollte. Der Moment, an dem ich kurz davorgestanden hatte, Sarah vom Verrat ihres Vaters zu erzählen, hatte mir den Angstschweiß auf die Stirn getrieben. Als wäre durch die Tatsache, es laut auszusprechen, die Ungeheuerlichkeit erst real geworden. Aufdringlich hämmerte der Puls in meinen Ohren.

„Probier’s halt aus“, schlug Sammy vor.

„Wenn du meinst“, willigte ich zögernd ein und holte tief Luft. „Dein Vater und ich haben uns getrennt“, sprudelte ich hervor und lauschte dem Klang meiner Stimme nach. Verdammt. Es stimmte tatsächlich. Die Erkenntnis traf mich mit voller Wucht. Allerdings diesmal auf der rationalen Ebene. Nicht auf der emotionalen. Obwohl sich ja genau genommen nur Gerald getrennt hatte. Aber beim Verlassenwerden ist es wie beim Zusammenkommen: allein funktioniert es nicht.

„Jetzt hörst du dich schon an wie Tante Carla.“

„Ich bin Tante Carla.“

„Aber doch nicht in der Freizeit!“, empörte sich Sammy.

Und das völlig zurecht. Privat war ich offenbar keine Expertin für Probleme von A, wie Ameisen nachhaltig und umweltbewusst vom Balkon vertreiben, bis Z, wie Zettelwirtschaft im Haushaltsbuch und ihre dramatischen Folgen.

Sonst hätte ich gewusst, was ich nun tun sollte, als einseitig getrennte Frau Mitte fünfzig. „Außer Duschen und Zähneputzen“, fügte ich wohlweislich hinzu.

Auf weitere Geburtstagsglückwünsche hatte ich definitiv keine Lust. Ebenso wenig auf Feierlichkeiten jedweder Art. Gut. Damit war eine Entscheidung bereits gefallen, denn ich hatte mich mit Rita für zehn Uhr zum Festtagsbrunch in unserem Lieblingscafé verabredet. Ich musste ihr absagen. Das Problem: Rita würde keine Ausreden gelten lassen, sondern so lange nachfragen und bohren, bis sie den wahren Grund für meine Unlust herausgefunden hätte. Als Rechtsanwaltsgehilfin einer großen Kanzlei war sie in dieser Hinsicht geschult.

„Und dann steht sie hier auf der Matte“, führte Sammy den Gedanken zu Ende. „Mit einem Blumenstrauß, drei Flaschen Prosecco und einer Großpackung Kosmetiktüchern in einer praktischen Box im Leopardendesign.“

„Kann gut sein“, stimmte ich zu. Tierfellmuster waren gerade besonders hipp.

„Um dich zu trösten!“

„Ja, das auch.“

„Am besten schickst du ihr eine Nachricht per WhatsApp.“

„Und was soll ich schreiben?“ Ich war aufgestanden und hatte mir einen zweiten Kaffee eingeschenkt. Gedankenverloren rührte ich um.

„Wie wäre es mit der Wahrheit?“

„Hm – gute Idee!“ Ich schnappte mir die Tasse und ging zurück nach draußen, wo mein Smartphone lag. „Hi Süße, möchte heute lieber allein sein. Melde mich wieder.“ Nachdem die wenigen Wörter zusammen mit rund zwanzig Bussi- und Umarm-Emoticons, ein paar Herzchen und Blümchen versandt waren, verspürte ich umgehend Erleichterung. Es war die richtige Entscheidung gewesen. Ich aktivierte den Flugmodus und stellte das Schnurlosgerät des Festnetzanschlusses auf lautlos.

„Wenn du jetzt noch die Klingel an der Haustür ausschaltest, bist du so abgeschottet, wie es nur möglich ist.“

„Ich weiß nicht, wie man das macht“, gab ich zurück. „Du vielleicht?“

„Sehr witzig.“

„Dann werde ich jetzt duschen gehen – da hör‘ ich sie auch nicht.“

„Endlich.“

VIER