Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
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Herausgeber: Hans Ulrich Sieveking
Leverkusen 2018
© Hans Ulrich Sieveking
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 9783746027517
Mein Vater, Sternzeichen Löwe, war klein, schmal, später leicht gebeugt – mit Geheimratsecken und sich langsam zur Tonsur auflichtendem Haupthaar (Abb. S. →). Er wies äußerlich nichts von dem ihn seit Geburt begleitenden Himmelszeichen auf, ja, er trug, seitdem ich denken kann, eine Brille. Als eine Art Universalgenie kochte er immer sonntags und machte den Braten. Ja, ich glaube, meine Mutter hat von ihm das Kochen gelernt. Und er beherrschte die verschiedensten Instrumente – bis auf die Geige. In der Wohnung meines Großvaters übte er auf seiner Geige unermüdlich Etüden – bis es diesem zuviel wurde. Mein Großvater (Abb. S. →) verbat sich „dieses ewige Gefiedel“.
In einem Wutanfall zerbrach mein Vater das Instrument über seinem Knie. Dafür spielte er später traumhaft Mandoline und beherrschte die so wenig bekannte Okarina.
Von meinem Vater hängen in meinem Wohnzimmer zwei treffende Rötelzeichnungen, eine Zeichnung von meiner Mutter und ein Selbstportrait. Die Ölgemälde von ihm kann ich nicht alle bei mir aufhängen.
In der Zeit der großen Arbeitslosigkeit bastelte er für mich alle Spielzeuge, die man sich damals wünschen konnte: eine große blaue Lokomotive, zwei Güterwagen, von denen einer zwei Schiebetüren besaß, so dass verschiedene andere Spielzeuge hineingelegt werden konnten. Weiter gab es einen braunen im Körper beweglichen Dackel und einen hoppelnden Hasen. Alles auf Rädern und zum Hinterherziehen. Natürlich aus Holz und beispielhaft bemalt. In unserem Familienalbum gibt es ein Foto von mir, auf dem ich auf meinem Stühlchen sitze und alle meine Tiere um mich herum versammelt habe. Natürlich wollte ich damals Zirkusdirektor werden. Später bekam ich einen Dolch aus Holz, der unserem Brieföffner nachempfunden war. Für ihn, als einen gelernten Schlosser, musste ich natürlich ein zentrales Werkzeug kennenlernen: den Hammer. Ich erhielt den Hammer aber ganz aus Holz, also Stiel und Hammerkopf aus demselben Material. Selbstverständlich war alles solide und robust gefertigt. Das hatte schlimme Folgen. Im Schlafzimmer meines Großvaters, in dem auch ich neben ihm schlief, stand ein großer weißer Kachelofen. Als ich wieder einmal ganz allein in dem Zimmer spielte und es mir mit dem Hinunter- und Herausrutschen unter den Betten zu langweilig wurde, holte ich den Holzhammer hervor. Ich begann ihn unten am Kachelofen auszuprobieren. Es gelang mir sehr schnell und erfolgreich, die Glasur der weißen Kacheln Stück für Stück abzuschlagen. Am Ende fand ich den unteren Teil des Ofens beachtlich verändert. Für meine Eltern und meinen Großvater war das eine Katastrophe, denn unser bärbeißiger Hausbesitzer wohnte mit im Haus. Wie sollten wir bei der kargen Rente meines Großvaters und dem geringen Verdienst meines Vaters die Reparatur bezahlen? Da half auch der Ausklopfer meiner Mutter, mit dem ich es danach zu tun bekam, wenig.
Als wir 1941 in Dessau endlich eine Wohnung bekamen und mein Vater nicht mehr von Roßlau nach Dessau zu den Junkers-Werken fahren musste, hatten wir das Glück, dass zu der Wohnung direkt vor dem Schlafzimmer ein kleiner Garten gehörte, achtzig Quadratmeter. Dieser half uns in Zeiten knapper Lebensmittel – alles war rationiert –, den größten Hunger zu lindern. Ein besonderes Hilfsmittel waren da die Kaninchen. Ein Kaninchenstall musste her. Platz dafür gab es auf einmal. Ich weiß heute noch nicht, wo mein Vater die Bretter, das Drahtgitter für die Türen und die Dachpappe für das Dach her bekam. Die ersten Kaninchen, die wir hatten, waren weiße Wiener. Diese überzüchtete Rasse hatte jedoch einen genetischen Fehler. Die Tiere bekamen immer die Schüttellähmung, an der sie schnell starben. Also wechselten wir zu den belgischen Riesen, die wir von dem Freund meines Vaters, dem Meister Große, bekamen. Mit dem Sohn von Herrn Große ging ich zur selben Schule, dem Goethe-Gymnasium im Bauhaus. Gerhard Große war allerdings in einer Parallelklasse. Die belgischen Riesen gediehen prächtig, unsere Zucht wuchs. Leider mussten wir trotz der väterlichen Freundschaft für jede Paarung zahlen, und bei einem erfolgreichen Wurf hatten wir außerdem noch mindestens zwei Junge abzuliefern. Das war jedoch das geringste Problem. Die größte Schwierigkeit bestand darin, das Futter für die wachsende Kaninchenschar zu beschaffen. Bewaffnet mit einem Marmeladeneimer zog ich los, um bei gutbekannten Familien Kartoffelschalen einzusammeln. Fast nie bekam ich den Eimer wirklich voll. Zu allem Übel landeten die Schalen hin und wieder auf der Herdplatte, wo sie gebraten wurden. Also musste anderes Futter her. Da bot sich geradezu der hochwachsende Beifuß an, der überall als Unkraut wucherte, wenn er nicht schon von anderen Futtersuchenden abgeerntet worden war. Immerhin blieben die großen Strünke, die wegen der festen Stiele weniger Blätter boten, aber schnell den großen Luftschutz-Papiersack füllten. Die Papiersäcke waren ursprünglich die Hüllen für die Luftschutzbetten. Mein Vater, der seine Lieblinge unter den Kaninchen hatte, fütterte sie oft mit einigem leckeren Grünzeug aus dem Garten, das sie gern fraßen. Wenn sie aber alle gierig an das Drahtgitter stürzten, schaute er gründlicher nach. Fand er dann die abgefressenen zurückgebliebenen Beifußstrunke, musste ich noch einmal los, um weiteres Futter zu besorgen.
Ganz in der Nähe des benachbarten Ortsteils Alten entdeckte ich eine neue Möglichkeit: Auf einem Acker wurden Lupinen angebaut. Mit einer Sichel, die wie eine verkürzte Sense geformt war – also nicht wie die Sichel im Banner der Sowjetunion –, zog ich mit meinem Strohsack los und begann schnell, die Lupinen hineinzustopfen. Doch bevor ich mein Tagessoll erfüllt hatte, tauchte der Bauer auf. Mit dem Sack und der Sichel darin begann ich so schnell wie möglich davon zu laufen. Jetzt erwies sich die schnell sichelnde Kleinsense als sehr behinderlich. Durch das Auf und Ab des schwingenden Sacks bohrte sie sich durch den Sack und hackte mir in die Wade. Es schmerzte heftig. Das steigerte jedoch mein Tempo. Ich lief wie um mein Leben. Der Bauer gab schließlich auf. Atempause. Erst jetzt merkte ich, wie mir das Blut am Bein herunterlief. Immerhin hatte ich einen halbvollen Sack mit Lupinen für unsere Kaninchen gerettet, da war mir die beachtliche Wunde egal. Den Rest stoppelte ich mit Beifuss und brav gesammelten Kartoffelschalen zusammen.
Zu meinen Aufgaben gehörte auch, im Sommer die am Dach des Stalles befestigten leeren Säcke zur Kühlung zu befeuchten. Wie das bei Jugendlichen so ist, hatte ich es an einem sehr heißen Tage wieder einmal nicht getan. Zwei Jungtiere hatten die zu große Hitze nicht ausgehalten und lagen im Koma. Meine Mutter beauftragte mich, die vom Tode bedrohten Tiere zu schlachten.
Nun muss man wissen, dass wir zwar alle gern Kaninchenbraten aßen, aber meine Mutter und ich vor dem Schlachten flüchteten. Mein Vater, der an jenen seltenen Fleischfesttagen auch den Braten bereitete, übernahm wie selbstverständlich das Schlachten. Meine Mutter und ich sahen beim ersten Schlachten genau zu. Zuerst betäubte mein Vater das ausgewählte Tier mit einem Hammerschlag auf den Kopf, dann schnitt er mit einem sehr scharfen spitzen Messer die Halsschlagader auf. Sei es, dass er an einem Tag nicht richtig betäubt hatte oder die Ader nicht genau traf, jedenfalls schrie das Kaninchen wie ein schmerzerfülltes kleines Kind. Von dem Tage an blieben wir beim Schlachten nicht mehr in der Wohnung.
Aber diesmal musste ich ran. Mein Vater war nicht da, und ich musste die karge, seltene Fleischration retten. Ich wusste, wie ich vorzugehen hatte – und das gleich zweimal. Das Schlachten verlief so, dass kein Laut zu hören war. Mein Vater hatte, um das Fell abzuziehen, eine Art eisernen Bügel angefertigt, an dem die beiden vorderen Läufe aufgehakt wurden. Das ging bei mir gut, da die Tiere noch dünn waren, sich also leicht abziehen ließen. Als mein Vater am Abend wiederkam, lagen die Jungtiere ausgeweidet und bratenfertig auf dem zuklappbaren Abwaschtisch. Mein Vater sagte kein Wort. Dieses Schweigen war der schlimmste Vorwurf, der mich je traf.
Das erste Wort, das ich nach Auskunft meiner Mutter (Abb. S. →) zu sprechen versuchte, lautete Bubbabong. Was soviel wie Luftballon heißen sollte. Ich erinnere mich noch gut an den Geruch und die Auslagen des Seifengeschäfts Lamperts in Roßlau, wo ich oft nach dem Einkauf einen aufgeblasenen Luftballon erhielt, der an einem Kupferdraht befestigt war. Am Ende klemmte eine konisch gedrehte Spirale den Ballonnippel fest. Der Seifenduft dieses Geschäfts blieb in meinem Gedächtnis und führte bei mir als kleiner Junge zu merkwürdigen Handlungen. Als meine Mutter wieder einmal im Krankenhaus lag und sich das Krankenhauszimmer mit vielen anderen kranken Frauen teilen musste – man sollte daher eher von einem Krankenhaussaal sprechen –, wanderte ich von Nachttisch zu Nachttisch der anderen Patientinnen und probierte deren Toilettenseife. Ich biss einfach hinein, unter heftigem Protest meiner Mutter. Immer wieder versuchte ich es bei all den herrlich duftenden Stücken. Ich konnte es einfach nicht glauben, dass etwas, was so gut roch, nicht auch so gut schmeckte. Natürlich lachten die Frauen darüber, denn es blieb bei einem Biss, bis auch die letzte Patientin mir ihr Seifenstück gereicht hatte und ich enttäuscht von dem bitteren Geschmack endlich aufhören musste.
Die Faszination der glatten und schönen Formen der Toilettenseife, ihr betörender Duft, blieb mir für immer erhalten. Besonders schmerzlich empfand ich daher den Verlust während des Krieges, als es nur Tonseife (RIF 42) gab, die kaum schäumte und ganz ohne Parfümierung geliefert wurde. Die sogenannte Schwammseife aus dieser Zeit schäumte zwar, verbrauchte sich aber wegen ihres hohen Luftgehalts rasend schnell. Natürlich roch sie ebenfalls nicht. Meine Mutter hatte sich aber aus Vorkriegszeit etliche Toilettenseifenstücke aufbewahrt, die zum Beduften im Kleiderschrank versteckt gelagert waren. Als ich sie entdeckt hatte, kam zunächst ein klares Nein. „Wer weiß, wann es wieder welche gibt! Vielleicht erst, wenn der Krieg zu Ende ist. Also allenfalls zu Weihnachten und zu Ostern können wir sie einweihen.“ Noch heute lege ich mir exquisite Toilettenseifenstücke in meinen Kleiderschrank, um mit ihrem Duft meine Wäsche zu veredeln.
Schon als Kind schlief ich gern. Wie mir meine Mutter erzählte, konnte ich mich mit den Holzklammern im Bett stundenlang beschäftigen und schlief darüber regelmäßig ein. Später, als ich aus den Klammern schon Flugzeuge zusammensteckte, überfiel mich die Müdigkeit, und ich dusselte manchmal ein. Als ich als Student regelmäßig am Wochenende mit dem frühen Zug um sechs Uhr von Dessau nach Leipzig fuhr, weckte mich meine Mutter so spät wie möglich. Sie gab mir für das eingesparte Frühstück, dick mit Butter beschmierte Brötchen mit, die ich im Zug verzehren konnte. Noch heute liebe ich das lange morgendliche Ausschlafen. Wenn mich dann aber meine liebe Partnerin zärtlich weckt und dabei leise stöhnt: „Ich habe ja so einen entsetzlichen Hunger“, bequeme ich mich endlich, mit ziemlichem Schuldgefühl aufzustehen und mich im Schnellgang zu waschen und anzuziehen.
Als Junge träumte man von einer Hose mit vielen Taschen. Die Matrosenanzüge der damaligen Zeit, ob in weiß mit blauen Kragen oben oder in blau mit weißem Kragen, selbstverständlich mit Schlips, hatten überhaupt keine Taschen in der Hose. So nähte mir meine Muter aus vorhandenem grünen Stoff eine Hose, aber nur mit einer Tasche. Ich war tief enttäuscht. Es gab doch so viele Sammel- und Fundstücke: Bindfäden, herrlich glatte Steine mit seltsamen Färbungen, Glasmurmeln und und und … Wo sollte man damit hin? Das Argument, dass es so schwierig sei, eine Hosentasche aus festem speziellen Taschenstoff zu nähen, ihn womöglich zu kaufen, wo wir doch für alles so wenig Geld hatten, überzeugte mich nicht. Meine Mutter hatte die eine Tasche aus einer alten Hose meines Vaters mühselig zusammengenäht. So trug ich die grüne Hose nur ungern. Da der Matrosenanzug immer nur sonntags zum Ausgehen getragen wurde, war mir die taschenlose Hose des Anzugs egal. Zum Sammeln und Finden gab es bei solchen Gelegenheiten sowieso keine Möglichkeit.
Meine Mutter war eine wunderbar fröhliche Frau, trotz ihrer Gehbehinderung und ihrer vielen Operationen. Sie konnte so herzhaft und ansteckend lachen, dass man einfach mitlachen musste. Und sie konnte ergreifend schön singen. Während mein Vater nur brummte, dafür aber herrlich Mundharmonika oder Okarina spielte, zu Weihnachten sogar zur Mandoline griff, fanden zu diesem Fest und zu meinem Geburtstag unvergessliche Konzerte statt. Durch meinen Vater inspiriert, hielt ich bald mit der Mundharmonika mit, sogar mit eingelegtem Zungenschlag. Später kam bei mir noch die Ziehharmonika dazu, die ich aber nur ohne Noten handhabte. Dafür konnte ich dabei unbeschwert singen. Am liebsten hörte sie, wenn mein Vater nicht in der Nähe war, von mir das Lied: „Alle, die Weiber und Branntwein lieben, müssen Männer mit Bärten sein. Jan und Hein und Klaas und Pit, die haben Bärte, die haben Bärte, die fahren mit.“ Natürlich mit Ziehharmonikabegleitung. Weder mein Vater noch ich trugen jemals einen Bart.
Mein Vater war ein Universalgenie, aber auch ein Patriarch. Nur meiner Mutter gelang es von Zeit zu Zeit, ihn zu überlisten.