Inhalt

Giftmüll

Seit dem verheerenden Tsunami, der Tuvalu verwüstet hatte, sind einige Jahre vergangen. Nui erstrahlt in neuem Glanz, Sirias Gewürzhandel floriert. Mario hat seine Forschungen auf das Gebiet um das Atoll spezialisiert, um dem Volk seiner Frau das Überleben zu sichern.

Gerade eben ging seine Yacht am Korallenriff vor Anker, wo sein Schwiegervater Tiku mit seinen beiden Freunden auf ihn wartete.

„Du siehst besorgt aus“, sagte er gleich nach der Begrüßung.

Tiku nickte. „Ich habe wieder dieses unangenehme Ziehen im Nacken. Irgendetwas stimmt nicht.“

„Und die Seeigel?“, fragte Mario, weil diese beim Beben, welches den Tsunami ausgelöst hatte, abgewandert waren.

„Deinen Indikatortieren geht es prächtig“, erklärte Tiku.

„Die haben sich rasant vermehrt. Wir können uns öfter einen gönnen“, verriet Auan.

„Wir haben ungewöhnlich viel Schiffsverkehr festgestellt, der nicht sein dürfte“, erzählte Mario.

Tiku nickte. „Ja das haben wir auch schon gemerkt. An manchen Tagen dröhnt einem regelrecht der Schädel vom Lärm der Schiffsmotoren. Aber das ist es nicht. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll.“

„Vorahnungen“, murmelte Mario.

Amar schaute ihn mit großen Augen an. „Was meinst du damit?“

„Ihr habt, seit ihr mit Sina in regelmäßigem Kontakt seid und Siria geboren wurde, große Veränderungen durchlebt. Ist euch nicht aufgefallen, dass ihr am Anfang nicht telepathisch mit meinem Vater sprechen konntet? Nun ist es ganz selbstverständlich, dass wir uns so unterhalten und die mögliche Entfernung beträgt inzwischen fast 100 Meter.“

„Du meinst, ich könnte sensibel auf ein Ereignis reagieren, das erst noch stattfinden wird“, bemerkte Tiku, der immer schneller dachte, als die beiden anderen.

„Richtig.“

Tiku setzt sich neben Mario auf den Rand der Taucherplattform. „Ich habe Angst, dass wir bald in die kalte Ostsee auswandern müssen. Wobei das tausendmal besser ist, als hier langsam zu sterben.“

„Hast du mit Siria gesprochen?“, staunte Mario.

Tiku schüttelte den Kopf. „Nein. Ich habe in letzter Zeit oft solche Gedanken.“

Die beiden anderen hoben ratlos die Schultern, während Tiku weitersprach: „Beim diesjährigen Paarungstanz sind nur noch drei Frauen und keine weiteren Männer erschienen. Wir sterben aus, Mario! Es ist bestimmt nicht mehr aufzuhalten.“

„Habt ihr Kontakt mit den Frauen?“

„Sinnlos. Ich habe es in jedem Jahr versucht.“ Tiku winkte ab. „Ich kann dir nicht mal sagen, ob sie nur aus Instinkt so handeln. Sie verraten uns ja nicht einmal, ob sie nach den Tänzen Kinder geboren haben.“

„Wir sind ihnen sogar schon heimlich gefolgt und haben überall nach Kindern gesucht. Es gibt keine“, fügte Auan hinzu. „Weder ganz Kleine noch Halbwüchsige. Die sind wie vom Haifisch verschluckt.“

„Deren Populationen haben sich nicht grundlegend verändert. Auch die Orcas haben nicht überdurchschnittlich zugelegt“, sinnierte Mario. „An eurer Zeugungsfähigkeit würde ich zu allerletzt zweifeln.“

„Na wenigstens eine gute Nachricht“, schmunzelte Auan.

„Könnt ihr mir Wasserproben aus den Regionen besorgen, wo sich die Frauen normalerweise aufhalten?“, bat Mario.

„Machen wir“, versprach Tiku. „Irgendwas müssen wir schließlich tun.“ Er bewegte langsam seine riesige Schwanzflosse auf und ab, die Mario immer wieder zutiefst beeindruckte. Kein Wunder, dass Adaia ihren letzten Tanz diesem Recken gewidmet hatte. Siria, Adaias und Tikus leibliche Tochter und zugleich Marios Frau, war stolz auf ihren Vater.

Tiku hatte recht, wenn er befürchtete, das Meervolk könne aussterben. Der Tsunami hatte unzählige Leben von den Nixen gefordert. Dass die Letzten ihrer Art nicht in kalte trübe Gewässer umsiedeln wollten, verstand Mario nur zu gut. Er ließ sich von der Besatzung drei Rucksäcke mit mehreren verschließbaren Behältern bringen.

Tiku prüfte die Tauglichkeit und stellte sofort fest, dass der Auftrieb äußerst störend war. „Dürfen wir sie schon jetzt füllen und am Einsatzort den Inhalt austauschen?“, fragte er.

„Aber natürlich“, beeilte sich Mario, zu sagen. „In den vorderen Taschen stecken bunte Gummiringe, mit denen ihr sie markieren könnt, damit ich einigermaßen weiß, woher sie stammen.“

Tiku hatte schon den Mund geöffnet, um etwas zu sagen, schloss ihn aber wieder und nickte zustimmend. „Wir werden in vier Tagen wieder hier sein“, merkte er noch an, ehe sie sich mit einem festen Händedruck verabschiedeten. Eine Geste, die er sich von den Menschen abgeschaut hatte, und nur jenen zukam, für die er höchste Achtung empfand. Für ihn waren das seine beiden Freunde, der nordische Nixen-Clan mitsamt seinen menschlichen Mitgliedern, Kirk Moore, die rechte Hand seiner verstorbenen großen Liebe, und Martin Spindler, der Tauchlehrer.

Es war noch früh am Morgen und so schwammen die drei Meermänner nach kurzer Beratung los, um ihren Auftrag zu erfüllen. Je eher Licht ins Dunkel des Nixensterbens kam, umso besser für alle.

„Du siehst besorgt aus“, stellte Siria fest, als Mario zurück an Land kam.

„Oh je! Genau diese Worte habe ich vorhin zu Tiku gesagt!“ Mario beugte sich zu ihr hinunter, um sie zu küssen.

Seine Frau hatte heute ihren Fischschwanz in einem dünnen Schlupfsack verborgen, weil Gäste in Martins Tauchschule weilten. „Mein Rollstuhl will heute nicht so recht“, stöhnte sie, das Joystick der Steuerung antippend.

Es gab zwar Hovercrafts, aber die wirbelten den feinen Sand auf, was den Kiemen der Nixe nicht gut bekam und so fuhr sie lieber mit dem altmodischen vierrädrigen Gefährt.

„Ich bitte Martin dann gleich, ihn sich anzuschauen“, versprach Mario, auf Handbetrieb umschaltend, damit er seine hübsche Frau ins Haus schieben konnte.

In ihrem Büro angekommen, hob er sie vom Sitz und trug sie zu ihrem bequemen Chefsessel, der nach Körpermaß und Befindlichkeiten einer Nixe gefertigt worden war und innerhalb der barrierefreien Villa auch als Fortbewegungsmittel diente. Dann stellte er Fruchtsaft für sie bereit, ehe er von seinem Treffen mit den Meermännern zu erzählen begann.

Siria schloss die Augen, als er geendet hatte. „Tiku ist vernünftig genug, von Orten zu verschwinden, die gefährlich werden könnten“, murmelte sie schließlich. „Es war gut, dass du ihnen gleich die Behälter gegeben hast. Wirst du mit Sina sprechen?“

„Aber sicher. Sie ist schließlich die Einzige, die Tiku, Amar und Auan eine neue Heimat geben kann, wenn hier wirklich Alarmstufe rot eintreten sollte. Der nordische Clan schätzt sie sehr, aber keiner würde sich um die drei Fremdlinge kümmern. Das kann nur Sina tun, denn du wirst hier gebraucht.“

Sina, die ältere Schwester seiner Frau und zugleich offiziell seine Mutter, lebte noch immer mit ihrem Mann, Peter Neuberg, in Dranske. Die beiden und Martin waren einsame Spitze darin, jemandem eine Heimat zu geben, wie er am eigenen Leib erfahren hatte. Ohne den pfiffigen Tauchlehrer und seine Adoptiveltern wäre Mario womöglich in einer Familie gelandet, die ihm nicht so viel Liebe, Fürsorge und Entwicklungsmöglichkeiten gegeben hätte.

„Du hast wieder diesen verträumten Glanz in den Augen“, schmunzelte Siria.

Mario nickte. „Ja, ich bin gerade wieder der glücklichste Mensch, weil ich der Sohn einer Nixe bin, eines dieser wundervollen Wesen zur Frau und eines als Tochter habe. Wo steckt Liana überhaupt?“

„Noch bei ihrem Lehrer. Die beiden modellieren aus Ton ein Kunstwerk, das wir noch nicht sehen sollen.“

„Die Kleine ist begabt.“ Mario ließ seine Fingerspitzen über die Skulptur eines Seepferdchens gleiten, welche die Siebenjährige ohne fremde Hilfe gefertigt hatte. Das Brennen hatte dann ein Profi übernommen, den man kurzerhand als Lehrer für Liana engagierte.

Lianas Rollstuhl war wendig und mit einer Hubvorrichtung versehen, sodass sie auch an größeren Dingen arbeiten konnte. Und wie alle anderen Nixen betonte sie immer wieder Fremden gegenüber, dass sie, wie viele in der Familie, durch einen Gendefekt ohne Füße geboren worden sei und aufgrund von diversen Unverträglichkeiten nicht operiert oder mit Prothesen ausgestattet werden könne.

Siria blinzelte fröhlich: „Dann wird es wohl nicht mehr lange dauern und die Welt wird die nächste Künstlerin mit Handicap aus dem Wilson-Clan feiern.“

Mario nickte begeistert. „Wenn die wüssten! Ich erinnere mich noch, als sei es erst gestern gewesen, an jenen Tag, als mir mein Vater offenbarte, dass meine vermeintlich behinderte Großmutter Adaia eine Nixe sei, und dass meine Mutter Sina auf genau dieselbe Weise keine Füße habe.“ Er hob Siria aus ihrem Sessel, drückte sie ganz fest an sich. „Ich sollte Glück als zweiten Vornamen tragen.“

Siria kuschelte sich an. „Ich auch. Ohne die Hilfe der Familie und der menschlichen Technik wäre ich schon lange Meerschaum.“

„Bei dir trifft ja zudem wörtlich zu, was uralte Dichter besingen: Aus Meerschaum geboren.“

„Damit wären wir wohl wieder beim Ausgangsthema“, seufzte Siria.

Mario trug sie zu ihrem Sessel zurück. „Ich mache mich auch sofort an die Arbeit, wenn die Männer die Wasserproben bringen.“

Darauf musste er nicht einmal die veranschlagten vier Tage warten. Tiku, der Einzige, der inzwischen weite Telepathie beherrschte, meldete sich schon 24 Stunden früher.

„Habt ihr ein paar Stunden Zeit, mitzukommen, weil ich die Proben gleich sichten und kartieren möchte?“, fragte Mario.

„Selbstverständlich“, antworteten die Meermänner synchron und Mario ließ die Tauchplattform einziehen.

Am Steg erwartete man sie schon mit den Rollstühlen und Sichtschutzdecken für die Fischschwänze. Wie immer, wenn sie sich zum Landgang entschlossen, gab es zuerst ein gemeinsames Essen mit allen, die eingeweiht waren, ehe man sich den ernsten Themen widmete.

Liana begrüßte die Männer jedes Mal besonders freudig, wobei sie am Tisch immer an der Seite ihres Lebensretters Auan Platz nahm. Und der sprach heute laut aus, was viele schon lange dachten: „Du wirst immer hübscher und siehst Siria immer ähnlicher.“ Daraufhin schauten wieder einmal alle Tiku an, der die Augenbrauen hob und mit den Schultern zuckte. Die Wahrscheinlichkeit, dass er der biologische Vater der Kleinen war, hatten alle von Anfang an mit mehr als 60-prozentiger Sicherheit eingeschätzt.

Liana schmunzelte. „Umso besser. Die Menschen sind zu vollen 100 Prozent überzeugt, dass ich die leibliche Tochter von Siria und Mario bin und dabei soll es offiziell auch immer bleiben.“

Etwas später saßen die Meermänner mit Mario im Labor und packten ihre Rucksäcke aus. Der bekam riesengroße Augen, als er das erste, mit einem farbigen Gummi, markierte Glas in die Hand nahm. Auf dem Etikett standen, zwar in krakeliger aber lesbarer Schrift, alle Daten, die er mindestens benötigte.

Tiku grinste jungenhaft. „Ich war so frei, die Proben vor Ort zu beschriften, um dir die Arbeit etwas zu erleichtern.“

„Seit wann kannst du schreiben?“, staunte Mario.

„Schon ein Weilchen“, schmunzelte Tiku. „Kirk, Martin und Siria waren so lieb, es mir beizubringen. Ich habe auch immer einen Vorrat an geeigneten Stiften und laminiertem Material in der Grotte.“

„Darauf malt er auch ganz wundervolle Bilder!“, platzte Amar heraus.

Mario schüttelte beeindruckt den Kopf. „Unglaublich! Die musst du mir unbedingt zeigen!“

Während er sprach, schob er die Hälfte der ersten Probe in ein Spektrometer und in den Rest hängte er einen Sensor, der die chemische Zusammensetzung an seinen Computer sandte. Sofort griff er nach dem nächsten Glas. Beim siebenten Behälter erklang ein schrilles Klingeln, rote Warnlampen blinkten auf und eine Trennwand schob sich vor die Messgeräte, die den Raum hermetisch abriegelte. Die vier Männer waren beim ersten Ton zusammengezuckt. Mario stoppte den Alarm und checkte die Daten am Computer.

„Giftgas“, flüsterte er erbleichend. „Wer von euch hat die Probe entnommen?“

„Auan“, erwiderte Tiku mit tonloser Stimme. „Und zwar genau dort, wo sich immer die Frauen aufgehalten haben, wenn Stürme den Ozean aufwühlten.“

Auan hatte inzwischen die Farbe einer frisch gekalkten Wand angenommen. „Da waren solche Blasen ... die kamen aus dem Boden ... ich habe zwei oder drei ins Glas blubbern lassen ...“

Mario brachte die geschockten Meermänner in sein zweites Labor. „Hast du die Blasen berührt?“, fragte er Auan.

Der schüttelte heftig den Kopf. „Das habe ich nicht gewagt, weil mir schon vom Wasser dort furchtbar übel war. Ich hatte starken Brechreiz und habe alles doppelt gesehen.“

„Du solltest besser ein paar Tage hier bleiben“, schlug Mario vor. „Ich möchte sicher sein, dass du in Ordnung bist.“

„Wir bleiben alle“, legte Tiku fest. „Wir werden Auan jetzt nicht allein lassen. Und wenn du irgendwas hast, wobei ich dir helfen kann, dann sag es.“

„Ich werde mich um Auan kümmern“, versprach Amar.

Siria kam herein. „Was ist passiert? Ich habe den Alarm gehört.“

Mario berichtete mit wenigen Worten, was geschehen war und fügte hinzu: „Die Neutralisation im abgeriegelten Laborbereich läuft bereits und sollte in einer Stunde abgeschlossen sein.“

Was war es denn für Gift?“, fragte Siria.

„Tabun“, erwiderte Mario. „Das verdünnt sich im Wasser und wird biologisch abgebaut. Nur dauert das seine Zeit. Ich habe aber keine Ahnung, wie der Kampfstoff in unser Meer gelangt sein kann. Eigentlich ist das nur möglich, wenn vor langer Zeit Munition versenkt worden ist. Fakt ist, dass dieser Giftstoff sowohl Unfruchtbarkeit als auch in höherer Dosierung den Tod verursachen kann.

Wir haben an der Stelle, wo Auan die Probe genommen hat, zudem eine Strömung, die einem großen aber langsamen Wirbel gleicht und das Zeug beinahe auf der Stelle hält.“

„Oh Gott!“, rief Siria entsetzt. „Dann ist das Jahrhunderte lang absolut sichere Refugium zur Todesfalle geworden und die Frauen haben es nicht einmal gemerkt.“

Die Männer nickten mit düsteren Mienen.

„Was können wir tun?“

„Nichts. Wir müssen versuchen, die Nixen zu warnen“, murmelte Mario.

„Das werde ich tun, falls ich denn überhaupt noch eine finde“, sagte Siria mit fester Stimme. „Vielleicht hören sie ja auf eine Frau. Wenn nicht, dann gibt es nur noch drei mögliche Wege.“

„Drei?“, fragte Tiku erstaunt.

„Ja, drei. Der erste wäre: Hunderte von Jahren abzuwarten, bis sich die Population von allein erholt. Der zweite heißt: In die Ostsee auswandern und der dritte, nordische Damen zu finden, die den südlichen Herren Gesellschaft leisten wollen, um das Überleben hier zu retten, was wir bei Weg eins nicht garantieren können.“

„Nordische Damen?“, echoten die Meermänner sehr interessiert.

Siria musste lachen. „War ja klar, dass euch diese Variante am meisten behagt. Da heißt aber noch lange nicht, dass die Damen wirklich auf einen von euch fliegen.“

„Stimmt.“ Tiku betrachtete die Sache nüchtern. „Aber wenigstens erhöht das die Chance, zu überleben.“

Siria fackelte nicht lange. Sie stellte die Verbindung zu Sina her und aktivierte die Videowand.

Das Gesicht der goldblonden Nixe erschien schon nach wenigen Sekunden. „Hallo, ihr Lieben! Verwandtschaftstreffen?“

„Überlebensberatung“, korrigierte Siria. „Sina, du musst uns helfen. Hier stehen alle Zeichen auf Weltuntergang für unseren Clan.“

Sina hörte schweigend, aber aufmerksam, zu, als Mario die Fakten nannte. Sie reagiert auch nicht sofort, als er geendet hatte. Mit beiden Händen rieb sie ihr Gesicht, bevor sie sagte: „Ich werde auf alle Fälle mit den Damen sprechen. Was dabei herauskommt, werden wir sehen. Fairerweise muss ich sie über alle Gefahren unterrichten, die vor dem Atoll lauern, Orcas, Haie, giftige Fische und giftiges Gas sind da nur ein paar Beispiele. Ich werde interessierten Nixen anbieten, für vier Wochen Gast auf Tuvalu zu sein, damit sie sich vor Ort ein Bild machen können. Wobei es natürlich sein kann, dass sie zwar den Urlaub dankbar annehmen, aber von vorn herein im Herzen nein zur Umsiedlung sagen.“

„Das müssen wir riskieren“, pflichtete Tiku bei.

„Egal, was sonst noch passiert, ich werde ein Tauchboot chartern und versuchen, die Quelle des Gases zu finden, sie zu neutralisieren und herauszufinden, woher das Zeug stammt“, überlegte Mario laut. „Es vergiftet ja auch unsere Nahrungsfische, sodass es die hier lebenden Menschen ebenfalls schädigen kann.“

„Wie geht es Peter?“, wollte Tiku wissen.

„Ganz gut“, verriet Sina. „Ihm geht es wie seinem Vorgänger in der Zahnarztpraxis. Er will auch nicht aufhören, weil er keinen Nachfolger findet. Zwei Mal die Woche hält er noch Sprechstunden ab und das Wartezimmer ist immer brechend voll.“

„Grüß ihn von uns allen“, bat Siria beim Abschied.

Eine Katastrophe kommt selten allein

„Zuerst will ich aber wissen, dass Auan gesund ist“, erklärte Mario. „Vorher geht hier gar nichts los.“

„Danke.“ Siria streichelte seine Hand. „Du wirst Martin brauchen, wenn du da runter gehst. Wer soll der dritte Mann sein?“

Tiku wandte sich ihr zu. „Ich. Irgendwie werde ich es schon schaffen, in das Tauchboot zu klettern.“

„Das sollte kein Problem sein. Wir nehmen einfach den kleinen Materialkran und seilen dich durch die Luke ab. Unten nimmt dich einer in Empfang und trägt dich zum Sitz.“ Mario freute sich, den ortserfahrenen Meermann im Team zu haben.

Siria atmete auf. „Dann sind die drei fähigsten Männer des ganzen Atolls am Start und jeder weiß, dass er sich voll und ganz auf den anderen verlassen kann. Das beruhigt mich sehr. Was mir aber Sorgen macht, sind die vielen kleinen seismischen Beben, die in den letzten Monaten wieder gehäuft auftreten.“

„Vielleicht sind die ja schuld, dass das Giftgas einen Weg aus zerfallender Munition gefunden hat“, mutmaßte Mario. „Es sind jetzt auch öfter wieder Monsterwellen gesichtet worden. Davon sind mindestens zwei Informationsquellen absolut zuverlässig.“

Amar hatte die Wucht einer dieser Wellen zu spüren bekommen. Sie hatte ihn einfach angesaugt und seemeilenweit mitgerissen. Dem befreundeten Rudel Pottwal-Junggesellen war es zu verdanken, dass er heil nach Hause gekommen war, denn die Orcas hatten schon leichte Beute in ihm gesehen.

Dabei hatte der Meermann keine Ahnung, dass sich die Welle fast 20 Meter über den normalen Wasserspiegel erhoben hatte. Frühere Seefahrer hatten diese monströsen Wellen Kawenzmänner genannt, was fast immer unter Seemannsgarn abgetan worden war. Erst im 21. Jahrhundert hatte man die Existenz der Monsterwellen mit moderner Technik bewiesen.

„Ihr solltet ein paar Stunden in den Pool gehen“, riet Mario, denn die Haut der Meermänner begann auszutrocknen.

Siria lächelte. „Liana und ich gehen mit hinein. Sie hat, besonders Auan, so viel zu erzählen, dass die Zeit bis zum Abendessen wie im Flug vergehen sollte.“

Mario wusste, dass zu Eifersucht kein Grund bestand. Die drei hatten geschworen, ihm sein kurzes menschliches Leben nicht vergällen zu wollen, indem sie seine Frau anbaggerten. Dass sie es mit Liana tun würden, sobald sie geschlechtsreif sei, lag klar auf der Hand und das hatten sie oft genug betont.

Im Gegensatz zu Siria, als kleines Nixlein, hatte sich Liana noch nie dazu geäußert, sich zu einem Mann besonders hingezogen zu fühlen. Wobei es ganz einfach sein konnte, dass sie vorsichtiger in ihren Worten war. Den besonderen Draht zu Auan, ihrem Lebensretter, hatte sie und pflegte ihn. Der Meermann ahnte nicht, dass er bei Liana eine Art Superheldenstatus einnahm, weil er, nur mit einem Korallenast bewaffnet, einen riesigen Hai verprügelt hatte, um sie zu retten. Nun spürte sie instinktiv, wie alle ihre Fürsorge auf ihn richteten.

„Was ist mit dir?“, fragte sie ihn direkt, während sie Runde um Runde an seiner Seite in dem riesigen Meerwasserbecken drehte.

Auan zuckte mit den Schultern. „Das wissen wir noch nicht. Wenn ich Glück habe, dann ist gar nichts.“

„Und wenn du kein Glück hast?“

„Wird Mario bestimmt etwas einfallen, wie er mir helfen kann.“

Liana seufzte. „Pa ist dann wirklich der Einzige, der etwas ausrichten kann. Vielleicht sollte ich Ärztin werden?“

Auan stoppte. „Warum? Du fertigst umwerfend schöne Skulpturen. Das ist wohl eher deine Bestimmung.“

„Das eine schließt doch das andere nicht aus.“ Liana setzte sich langsam wieder in Bewegung.

„Na ja, wo du recht hast, hast du recht.“ Der Meermann brachte sich mit ein paar schnellen Flossenschlägen wieder an ihre Seite.

Wir werden dir in jeder Hinsicht zur Seite stehen, hörte Liana Papa Mario telepathisch sagen, obwohl er sich noch im Haus befand.

„Und wir auch, so gut wir können“, versprach Tiku.

Beim Abendessen taxierte Liana Auan immer wieder von der Seite, ohne etwas zu sagen.

„Hast du einen Wunsch?“, fragte er schließlich.

Sie fasste nach seiner Hand. „Nur den, dass du nicht krank sein darfst.“

Siria schaute kurz auf, wechselte einen Blick mit Mario und widmete sich wieder dem Essen. Alle anderen hatten den Satz ebenfalls registriert, wie die kurzen Augenkontakte verrieten.

„Wenn es allein in meiner Macht stände, würde ich dir den Wunsch sofort erfüllen“, murmelte Auan.

Die Meermänner blieben eine volle Woche in der Villa und Mario konnte schließlich Entwarnung geben. Die vorliegenden Daten über die Biologie der Meervölker, ließen keine Anomalie bei Auans Organen erkennen.

Bernd Neuberg, der erste Menschenmann von Adaia, der nordischen Nixe und Familienclangründerin, hatte begonnen, anatomische und gesundheitliche Daten zu sammeln. Ihr gemeinsamer Adoptivsohn Peter hatte das Werk fortgeführt und nun kümmerte sich Adaias Enkel, Mario Neuberg, der Meeresbiologe, um die Vorsorge für alle Nixenwesen im Clan. Es war also nicht wirklich verwunderlich, dass Liana den Wunsch äußerte, Ärztin zu werden.

Man durfte nicht völlig von den Menschen abhängig werden. Denn wenige Stunden, nachdem die Meermänner in den Ozean zurückgekehrt waren, erschütterte erneut ein mittelstarkes Seebeben das Atoll.

„Ich kann Tiku nicht erreichen!“, klagte Siria. „Befiehl bitte, das Schiff klarzumachen. Ich will zur Grotte.“

Mario schüttelte den Kopf. „Nein, das werde ich nicht zulassen. Unterhalb der Oberfläche sind sie sicher, solange sich kein Tsunami zusammenbraut. Dafür fehlen im Augenblick alle Anzeichen.“

„Aber es hat Monsterwellen gegeben“, widersprach Siria. „Deine Messgeräte zeigen sie deutlich an.“

„Das ist exakt“, erklärte Mario. „Nur kommen die nicht in voller Höhe an die Strände. In der Grotte hingegen könnten sie schon einiges durcheinanderwirbeln.“

Er wollte noch etwas hinzufügen, als sich das Kommunikationssystem meldete und Kirks Gesicht auf dem Monitor erschien: „Schaltet den Nachrichtensender ein! Die bringen etwas über ein Tankerunglück und eine drohende Ölpest!“

Während Mario die Tasten drückte, fragte Siria aufgeschreckt: „Wo???“

„Ich habe es nicht genau mitbekommen. Es war aber auch von unserem Atoll die Rede.“ Kirk blendete sich wieder aus.

Mario musste nicht lange suchen, denn das Bild eines Regierungssprechers erschien auf allen Kanälen.

„Oh mein Gott!“, hauchte Siria nach dessen ersten Worten.

„Du warst einer derjenigen, die in ihrer Expertise vehement die Pipeline auf dem tektonisch instabilen Meeresgrund abgelehnt haben und ihr habt recht behalten.“

„Ich wünschte, ich hätte mich geirrt“, knirschte Mario und aktivierte den Alarm. „Zieht die Ölsperren in doppelter Reihe!“, tönte seine Stimme kurz darauf aus allen angeschlossenen Havarie-Lautsprechern Nuis.

Siria schlug die Hände vors Gesicht. „Ich glaube, nun haben wir schlimmere Probleme, als sie der Tsunami damals brachte.“

„Fahre mit Martin raus und suche die Männer“, bat Mario mit leiser Stimme. „Und passt bitte auf euch auf.“

„Ich will mit!“, ertönte es von der Tür, wo Lianas Miene eindeutig sagte: Egal, was ihr mir erzählt und verbietet, ich werde es ignorieren.

„Akzeptiert“, seufzte Mario. „Ich weiß, dass ich euch jetzt weder halten kann noch darf. Kommt alle heil zurück. Viel Glück!“

Mutter und Tochter holten alles aus ihren Rollstühlen, weil in der Tat jede Sekunde zählte. Martin und ein Matrose trugen die Nixen an Deck, ein anderer zog die Gangway ein, dann wurde auch schon der Anker gelichtet. Mit voller Kraft voraus, ging es zur Nixengrotte.

Die Männer waren tatsächlich nicht da. Siria versuchte erneut, sie telepathisch zu orten. Tief beunruhigt tauchte sie auf.

„Fahren Sie soweit an den Ölteppich heran, wie gerade noch vertretbar ist“, befahl sie dem Kapitän.

Eine Viertelstunde später verriet schon der Gestank, dass man sich dem Katastrophengebiet näherte.

„Halten Sie das Schiff außerhalb der Zone und denken Sie intensiv an mich, wenn die Situation brenzlig wird!“, rief sie, sich mit Liana einfach von den Rollstühlen ins Meer stürzend.

Zwei Matrosen brachten die Gefährte rasch in Sicherheit und zurrten sie fest. Der Käpt’n kratzte sich am Kopf. Wie meinte Mrs. Neuberg das nur, mit dem intensiv Denken?

Sie arbeiten bereits an der Wiederherstellung der Pipeline, teilte Siria ihrer Tochter mit.

Worauf diese zu deren Überraschung erwiderte: Es sind knapp 200 Männer und ich kann fünf Energien vom Meervolk spüren. Eine davon ist deine, die anderen kann ich noch nicht zuordnen. Beeilen wir uns!

Siria brauchte keine zweite Aufforderung. Wie Torpedos jagten die Nixen durch das Wasser, auf dessen Oberfläche ein ekliger Ölfilm die Wellen glättete.

Mir wird von dem Gestank und dem Geschmack schon übel, bemerkte Liana, Siria am Arm packend und die Richtung ändernd.

Da! Sie stoppte abrupt. Was ist das? Ein paar Meter vor ihnen trieb etwas regungslos mit der Strömung.

Robben? Sirias Vermutung klang wenig überzeugend. Dafür waren die Wesen einfach zu schlank. Nur die dunkle Farbe erinnerte an Seehunde.

Meermänner, hauchte Liana. Sie sind komplett ölverschmiert.

Tauchplattform runterlassen! Siria wiederholte den Befehl immer wieder, in der Hoffnung, dass der telepathische Ruf den ungeübten Kapitän erreichen möge.

Gleichzeitig schwamm sie mit Liana auf die drei Verunglückten zu, um sie zum Schiff zu lotsen, ehe es für eine Rettung zu spät war.

Der Kapitän fühlte aus heiterem Himmel ein Stechen hinter der Stirn. Er musste sogar die Augen schließen, um den Schmerz ertragen zu können. In diesem Augenblick hörte er deutlich die Worte: „Tauchplattform runterlassen!“ Er war so perplex, dass er gleich selber den Befehl ausführte.

Liana fasste einen der Männer an der Hand, Siria gleich zwei, um sie rasch dahin zu ziehen, wo das Schiff manövrierte. Die Tauchplattform war tatsächlich im Wasser. Ein Matrose beobachtete sie und ließ sie anheben, als die fünf Personen darauf lagen.

Siria steckte den Kopf aus dem Wasser und ließ stoppen, als die Körper der Männer gerade noch von den Wellen umspült wurden.

„Bitte sofort ein Mann mit Geschirrspülmittel zu uns!“, rief sie hinauf, während sie, wie Liana, versuchte, Mund und Nase der halb toten Männer vom Öl zu befreien.

Sekunden später arbeiteten sie zu dritt, jeder an einem Verunglückten.

„Ich habe Tiku!“ Liana hatte als Erste so viel Schmiere entfernt, dass sie Gesichtszüge erkennen konnte.

„Und ich Amar“, meldete der Matrose.

Siria zog die Augenbrauen zusammen. „Dann habe ich einen Fremden.“ Sie arbeitete verbissen weiter. „Aber wo steckt Auan?“

Liana zog die Nase hoch, während sie weiter Tiku vom Öl befreite. „War er überhaupt bei den beiden anderen? Wo müssen wir suchen?“

Auan ist abgesunken, wir konnten ihm nicht helfen, hörten sie Tiku wispern.

Da war Lianas Platz auch schon leer. Die kleine Meerjungfrau schoss wie Pfeil durch das Wasser, um den Vermissten zu suchen.

Siria atmete tief durch. „Bitte noch ein Mann zu mir.“ Und an den neuen Helfer gewandt: „Reinigen Sie zuerst die Hautpartien weiter, die Schuppen nur mit dem Spülmittel benetzen, damit sich das Öl schon mal lösen kann.“

Viel Glück, Liana!

Das werde ich brauchen! Die Jungnixe tauchte beinahe senkrecht ab, als sie die Stelle erreichte, wo sie die drei anderen gefunden hatten.

Eigentlich ist das Selbstmord, überlegte sie, trotzdem weitertauchend. Außer üblem Geschmack hatte das Wasser nichts zu bieten. Selbst Delfine und Orcas schienen, schon geflohen zu sein.

Ein riesiger dunkler Schatten näherte sich.

Ein U-Boot? Nein. Liana bekam einen gewaltigen Schreck. Es war ein Pottwal-Junggeselle, der irgendwie den Anschluss verpasst haben musste. In der Verzweiflung machte sich die Nixe dem gigantischen Tier bemerkbar.

Bitte hilf mir, flehte sie! In der Tiefe muss ein Meermann liegen, den ich retten will. Sei so gut, nimm mich an deiner Flosse mit hinunter.

Der Wal schien die Botschaft empfangen zu haben, denn er hielt inne. Liana schwamm vorsichtig zu der kleinen Erhebung auf seinem Rücken und klammerte sich fest. Da drehte sich das Tier auch schon und strebte abwärts.

Als der Druck so hoch wurde, dass Liana die Schmerzen kaum noch ertrug, wechselte der Riese zu ihrem Entsetzen die Richtung und nahm waagerechte Position ein. Die Nixe bekam große Augen. Der Wal hatte sie direkt zu einem Felsen getragen, neben dem ein Körper lag, der unter einer Schicht Öl fast völlig verschwand.

Er musste aber noch am Leben sein, denn sonst hätte er sich schon lange in Schaum aufgelöst. Warum er abgesunken war, blieb vorerst ein Rätsel. Der Wal wartete, während Liana den Meermann vom Felsen zu ziehen versuchte. Es gelang ihr auch nach mehreren Versuchen nicht. Schließlich sah sie, was ihn hielt. Er hatte sich mit der Flosse in der Ankerkette einer kleinen Yacht verfangen, welche die Ölschicht regelrecht mit ihm verschweißte.

In ihrer Panik begann Liana, auf den Wal einzureden und irgendwie musste er wohl begriffen haben, was zu tun war. Er kam langsam heran, öffnete das wahnsinnig große Maul mit den gewaltigen Zähnen und packte die Kette, an welcher sich nun auch Liana festhielt.

Es fühlte sich wie in einem superschnellen Aufzug an, denn innerhalb weniger Minuten stieß der Wal durch die Wellen, atmete mit einem weithin sichtbaren Blas aus und verharrte wie gebannt. Liana rief Siria um Hilfe. Das motorgetriebene Schlauchboot machte den Wal nervös und Liana beeilte sich, den Giganten zu streicheln und ihm ein Nixenlied zu singen.

Trotz aller Sorge musste Siria lächeln. Ihr Kleine wusste sich bestens zu helfen. Sie hatte den idealen Partner für die Rettung des Ölverschmierten gefunden und all ihr Können angewandt, die Mission zu einem erfolgreichen Ende zu bringen.

„Vielen Dank, mein Freund. Alles Gute und auf Wiedersehen!“, rief Liana dem Wal hinterher, als er, von seiner Last befreit, ins Dunkel der Tiefe zurückkehrte.

„Du bist sicher, dass das hier Auan ist?“, fragte Siria, wobei sie auf dem Rückweg zum Schiff, die ersten Notmaßnahmen ergriff.

„Nein“, gab Liana zu. „Ich hoffe es nur inständig. Aber jeder andere Meermann hat es genau so verdient, gerettet zu werden.“

Auf der Brücke herrschte Alarmstufe rot. Mario hatte vor wenigen Sekunden gemeldet, dass die Vorboten des Ölteppichs bereits den Hafen erreicht hätten. Man zog das Boot mitsamt Insassen aus dem Wasser und nahm Kurs auf die Insel.

Die drei zuerst Geretteten waren inzwischen wieder bei Bewusstsein und beobachteten nun mit bangem Blick die verzweifelten Versuche, den Vierten am Leben zu halten. Dem fremden Meermann war es inzwischen völlig egal, dass man ihn an Land zu bringen gedachte. Nur weg aus der Ölhölle!

„Es ist Auan!“, verkündete Liana erleichtert. Dabei ließ sie hurtig das Tuch mit dem Geschirrspülmittel um Mund und Nase gleiten, damit die Atemwege richtig frei wurden.

Siria und die beiden inzwischen gut eingearbeiteten Matrosen versuchten, die Kette zu lösen und die erstarrende Ölschicht aufzuweichen. Der Kapitän ließ einen Trennschleifer bringen, um wenigstens den lose hängenden Teil der Kette zu entfernen.

Mario wartete schon mit Martin, Kirk und ein paar Angestellten auf die Ankömmlinge. Man verfrachtete den fremden Meermann in Auans Rollstuhl, weil Auan selber auf einer Trage ins Haus gebracht werden musste. Der Fremde verhielt sich erstaunlich ruhig. Er hatte von Tiku und Amar die nötigsten Informationen bekommen und mit eigenen Augen gesehen und am eigenen Leibe auf dem Schiff erfahren, mit welcher Ehrerbietung man ihnen entgegentrat.

Liana blieb direkt hinter den Männern, die Auan in Marios Labor trugen, wo sie sofort die unterbrochene Arbeit fortsetzte. Ein paar Mal sah es so aus, als wolle der Meermann wegdämmern, um nie wieder aufzuwachen. Tiku und Amar ballten die Fäuste, Siria half mit Tränen in den Augen Liana.

Der Fremde schaute sich vorsichtig um, aber auch immer wieder zu den beiden Nixen, die fieberhaft die feste Ölschicht bekämpften. Soeben stockte wieder Auans Atem. Liana riss eine Sauerstoffmaske aus einem Notfallkoffer, drückte sie Auan auf Mund und Nase und flüsterte: „Tu mir das nicht an. Ich habe nicht mein Leben riskiert, damit du deins jetzt aufgibst. Wenn ich dir irgendwas bedeute, dann kämpfe!“

„Die Wahl werde ich akzeptieren“, sagte Tiku im selben Augenblick, als es Amar dachte.

„Dann wäre die Katze also aus dem Sack“, murmelte Mario, dem Meermann eine Infusionsnadel in den Arm stechend. Tiku hängte die Flasche mit der Natriumchlorid-Lösung auf und schaute zu, wie die ersten Luftblasen aufstiegen.

Nach einer kleinen Ewigkeit öffnete Auan die Augen. Im nächsten Moment spürte er schon, wie Liana seine Finger streichelte.

„Wir müssen das Menschenalter auf 16 Jahre anpassen“, schlug Mario Siria mit einem verschwörerischen Blinzeln vor.

„Danke!“, schmunzelte Liana, Auan einen Kuss auf die Wange hauchend.

Auan lag mit großen Augen da und merkte plötzlich, dass er noch immer Lianas Hand hielt, die er nun fest drückte. Dass sie sich für ihn entscheiden könnte, hatte er für weitestgehend unmöglich gehalten. Zumal dieses Sozialverhalten nur den nordischen Nixen eigen war und eigentlich auch nur, wenn sie mit Menschen zusammenleben wollten.

„Menschliche Prägung“, ließ sich Kirk vernehmen, worauf alle heftig nickten.

Ich habe ganz und gar nichts dagegen, in einem Familienverband zu leben, erklärte Auan telepathisch, weil er noch nicht sprechen konnte. Allein wäre ich damals da draußen schon im Netz des Trawlers verendet, als ich auf Seeigelsuche war.

„Und mich hätte der Hai als Nachtisch gefressen“, warf Liana ein.

„Nachtisch ist das Zauberwort“, rief Kirk. „Ich lasse für euch das Essen hier auftragen.“

„Super Idee!“, freute sich Siria.

„Wie heißt du eigentlich?“, wandte sie sich an den Fremden.

„Tamik. Ich stamme aus der Gegend um Vaitupu.“

„Nicht gerade um die Ecke“, meinte Amar.

Tamik hob hilflos die Schultern. „Meine Schlafhöhle ist beim letzten Seebeben in sich zusammengefallen. Da bin ich geflohen und mit einer Herde Delfine mitgeschwommen, so weit meine Kräfte reichten. Dann geriet ich in das Inferno, aus dem ihr mir, zu helfen versucht habt. Jetzt kann ich auch endlich danke sagen. Ich hoffe, dass er bald wieder gesund wird.“ Tamik deutete mit dem Kopf auf Auan.

Es klopfte. Kirk öffnete die Tür und ließ das Küchenpersonal herein, das in Windeseile Tische aufstellte und für jene, die nicht im Rollstuhl saßen, Stühle hereinbrachte, um sofort darauf köstliche Dinge aufzutafeln. Tamik kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Es überstieg bei weitem sein Vorstellungsvermögen, als immer mehr Menschen hereinkamen, die die Anwesenheit von Nixen und Meermännern als völlig normal ansahen.

Ihm dämmerte auch langsam, dass Siria an der Seite Marios die Anführerin aller sein musste, egal, von welchem Volk sie stammten. Dass der äußerst muskulöse Tiku ihr Vater und zugleich der Wortführer der Meerwesen war, fand er auch allein heraus.

Liana stellte soeben einen Käseteller mit den Lieblingssorten Auans zusammen und begann, ihn mit winzigen Bröckchen zu füttern. Hin und wieder aß sie selber einen Happen.

„Ohne die Menschen und das, was wir von ihnen gelernt haben, wären wir schon lange Meerschaum“, sagte Tiku, der Tamiks Gedanken deutlich fühlen konnte. „Die Mutter meiner hübschen Tochter war eine nordische Nixe mit wundervollem goldblondem Haar. Siria hat einige Fähigkeiten von ihr geerbt, die wir gar nicht haben, oder nur sehr mühsam erlernen können. Aber selbst das ist nicht allen gegeben. Liana ist zwar nicht ihre leibliche Tochter, aber unglaublich begabt in jeder Hinsicht.“

Dann erzählte er, auf welche Weise Auan Lianas Lebensretter geworden war, die sich nun offenbart hatte, mit ihm leben zu wollen, sobald die Zeit reif war. Dass sie für ihren Auserwählten alles tun werde, war jedem offensichtlich, der die letzten Stunden erlebt hatte.

Nach dem Essen schaltete Mario auf Videokonferenz mit Sina und Peter.

„Oha, Sippenzuwachs!“, waren ihre ersten Worte, denn sie hatten sofort Tamik entdeckt.

Der bekam tellergroße Augen beim Anblick der hellhäutigen Schönheit und stotterte: „Ich bin Tamik.“

„Wo habt ihr Auan gelassen?“, fragte Peter.

Siria seufzte: „Da hinten im Überlebensbehälter. Ihn hat es erneut böse erwischt. Aber Liana tut alles, damit er bald wieder auf der Flosse ist.“

Liana winkte in die Kamera.

Mario begann, vom Bruch der Pipeline zu berichten und Siria fügte hinzu, wie sie mit Liana auf die Suche geschwommen war und als dritten Mann nicht Auan, sondern Tamik völlig verölt aus dem Wasser gefischt hatte.

Als Liana erzählte, wer ihr geholfen hatte, Auan zu retten, gestand sich Tamik ein, dass er vor Angst Reißaus genommen hätte, statt den Pottwal zu fragen, ob er helfen könne.

„Kommt ihr allein klar oder braucht ihr Hilfe?“, fragte Peter.

„Das wissen wir noch nicht“, gab Mario zu. „Im Augenblick halten unsere Ölsperren. Wie es morgen aussieht, oder wenn der Wind auffrischt, können wir nicht sagen.“

„Was gibt es bei euch Neues?“, wollte Tiku wissen.

Sina blinzelte: „Interessierte Damen.“

„Wirklich?“, schnappte Amar, worauf alle Eingeweihten zu lachen begannen.

„Macht euch nicht zu viele Hoffnungen“, dämpfte Sina die Stimmung. „Denkt an meine Worte vom netten Urlaub.“

Amar ließ buchstäblich die Ohren hängen. „Manchmal bekomme ich Lust, mir eine Menschenfrau zu suchen. Aber dann meldet sich mit Macht die Erkenntnis, dass ich sie nicht dauerhaft bei Laune halten könnte, wenn ihr versteht, was ich meine.

„Ich verstehe dich“, tröstete ihn Peter. „Es funktioniert wirklich nur die Verbindung Nixe mit Menschenmann.“