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© Paul Riedel, München 2018
Printed in Germany
Umschlag: © Paul Riedel, München 2018
Lektorat: Michael von Sehlen
Erste Auflage 2018
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
© 2018 Paul Riedel
Herstellung und Verlag
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 9783752843835
Geboren am 27. Mai 1960 in der brasilianischen Stadt Sao Paulo als Paulo Sergio Riedel, machte er den Namen seines Urgroßvaters zum Künstlernamen.
Er beendete 2010 eine erfolgreiche Karriere in der IT- und Datenbanken-Branche und widmet sich seitdem seiner bildenden Kunst und Literatur.
Zwischen 2007 und 2011 absolvierte er eine Ausbildung als Psychotherapeut nach dem Heilpraktikergesetz, die seine Kenntnisse von der menschlichen Psyche vertieft hat.
Seine Muttersprache Portugiesisch prägt seine Romane durch ihren reichen Wortschatz, genau wie sein Interesse für die Antike mit ihrem Reichtum an literarischen Formen seinen Stil beeinflusst.
Sein Outing kam vielleicht schon mit seiner Geburt, meint er in seinen Vorträgen. Der selbstbestimmte Umgang mit sich und anderen, die Unabhängigkeit von Dogmen und das Bestreben nach einer emanzipierten Freiheit sind seine künstlerischen Leitmotive.
Der Lebensweg eines Individuums wird von der Befruchtung der Eizelle an mit verschiedenen Hürden zugestellt. Hormone und Zusätze in der Nahrung können seine Gesundheit bereits früh beeinträchtigen. Einige diese Hürden sind Krankheiten, die man während seines Lebenslaufes bis zu einem letzten Kampf abwehrt, ein anderer Anteil besteht in Problemen mit anderen Individuen, auf die man im Leben trifft, und der größte Anteil der Fehden, die man im Leben ausfechten muss, besteht aus der Abwehr von Monstern, die wir selbst erschaffen haben.
Die Selbstbestimmung und eigene Orientierung im Leben werden selten der Vorstellung der Eltern entsprechen und wenn doch, sind die eigenen Varianten immer wieder Gegenstand von Kritik, die man bei Familientreffen kaum umgehen kann.
Das Glauben an Götter und andere mächtige Wesen ist eines dieser Monster, die nicht nur das Leben des Individuums selbst beeinträchtigen können, sondern alle anderen in seiner Nähe mit einer Konfrontation gegen das Unsichtbare beschäftigt, sogar wenn man nicht weiß, welche Errungenschaften am Ende dieses Kampfes zu erreichen sind. Der Glaube kommt oder besser gesagt reitet auf der friedlichen Erscheinung, ein Freund zu sein, aber diese gewaltlose Invasion in das Leben fordert irgendwann ihren Lohn.
Diese Aspekte des Lebens sind in diesem Roman in vier Akten in jeweils einer anderen Perspektive erzählt. Jeder ist in seiner Betrachtung gefangen, jeder in seiner Welt, jedoch alle teilen eine gemeinsame Geschichte.
Eine fünfte Perspektive der Fakten und eingebildeten Fakten wird nicht expliziert, ist dennoch durch einen nicht zu bestimmenden Faktor, den Leser, impliziert.
Viel Spaß mit dem Leben von Emilio und seiner Familie.
‚Man kann, wenn man mich zum ersten Mal sieht, behaupten, dass ich vielleicht etwas arrogant bin‘, gab ich in Gedanken zu.
Das Licht im Zimmer war noch ausgeschaltet und nur leise war ein kaum bemerkbarer Ton von meinem Wecker zu hören, der auf seinen Auftritt lauerte.
Meine Art, Menschen zum ersten Mal zu begegnen, ist etwas, was ich bestimmt von meiner Mutter Bianca geerbt habe. Man wirft es mir in Geschäftsumfeld auch vor, ich benehme mich etwas herausfordernd. Jedoch kann man es mir niemals vorwerfen, ich hätte nicht zuvor zart davor gewarnt, wo meine persönlichen Grenzen liegen und was einen nach Übertretung dieser Grenzen erwartet.
‚Gut, ich gebe zu. Ich bin etwas forsch.‘ Aber mit einer Statur von weniger als einem Meter siebzig muss man manchmal seine Größe ein wenig kompensieren.
Diese Gedanken kommen mir immer wieder in Selbstgesprächen, wenn ich mir selbst etwas vorwerfe oder Schuldgefühle entwickle, und das war durchaus einige Male in meinem Leben der Fall.
‚Ich bin ein arroganter Mensch, glaube ich‘, warf ich mir selbstbewusst vor.
Wenn man geboren wird, wird man kurz nach dem ersten Atmen bereits mit Herausforderungen konfrontiert und nicht gefragt, ob man sie übernehmen möchte.
Ein der größten Rätsel in meinem Leben ist die Religion, von der es in meiner Familie reichlich gibt. Der Glaube an einen Gott ist etwas, was ich trotz der Belehrungen meiner Mutter immer mit Argusaugen angesehen habe. Man erklärt Kindern, dass man keinen Fantasiefreund haben sollte, jedoch setzt ihnen von Geburt an einen ebensolchen vor. Einige meiner Freunde mussten wegen der Fantasiefreunde ihrer Eltern sogar die Vorhaut entfernen lassen.
‚Brrr‘, dachte ich.
Ich schauderte bei dem Gedanken an die Schmerzen, die mit einem solchen Vorgang verbunden sind.
Der Zwang, zu heiraten und Kinder zu bekommen, ungeachtet dessen, ob man selbst ein Kind ernähren kann oder die Zeit hat, sie zu erziehen, sind mehr als nur Wünsche der Eltern, die, wenn man sie nicht erfüllt, zu Vorwürfen bei jeder passenden Gelegenheit führen. Viele andere Aufgaben und Vorgaben bekommt man als Einzelkind aufgetragen, als wäre man in der Rolle von Dornröschen in einem Märchen, umgeben von Feen, die Gaben und Vorahnungen aussprechen, allerdings in einer Gruselversion.
So wurde ich an einem Nachmittag im Sommer geboren, in einem katholischen Krankenhaus in Palermo.
Ich schaute bei dieser Erinnerung im Geist in den Spiegel und betrachtete meine stets deutlicher gewordenen Falten auf meiner Stirn.
‚Das war‘s dann wohl mit der Babyhaut.‘
Ich kam Ende der Siebziger zur Welt und es gab bereits damals im Krankenhaus keine Krankenschwestern mehr mit weißen Häubchen.
Ich muss dazu bemerken, dass ich in Weiß gekleidete Krankenschwestern mit Häubchen, bis auf einige Pornodarstellerinnen, ziemlich bescheuert finde.
Auf einigen Fotos von jenem Tag, die ich in der unteren Schublade einer Kommode im Wohnzimmer aufbewahre, hält meine Mutter mich als Baby in ihren Armen fest und dort konnte man um sie herum eine glückliche Familie betrachten, die mich als neues Mitglied empfing.
Bis ich mein siebtes Lebensjahr erreichte, wusste ich nichts über meine Sexualität, bis auf die Tatsache, dass meine Puppen keinen Penis hatten. Ich denke, in Italien ist das immer noch so der Fall, da scheinbar der katholische Hintergrund des Landes schon die Existenz eines Gliedes als Sünde betrachtet. Nicht selten zog ich mir die Hosen vor dem Spiegel runter und verglich erstaunt mit der verstümmelten Version von Männern in den Superhelden- oder Kampfsoldatenkostümen. Mein Vater sagte mal, dass sie den Penis in einem Kriegseinsatz verloren hätten, und ich bedauerte die Verletzten einige Jahre lang und schwor mir selbst, nie in den Krieg zu ziehen.
‚Meine Haare schwinden etwas‘, ging es mir durch den Kopf.
Ich kann mich nicht an irgendein besonderes Ereignis vor meinem siebten Lebensjahr erinnern, aber von da an scheint meine Welt aufgewacht zu sein und ich erlebte seitdem vieles, was als wertvoll im Leben zu bezeichnen ist.
Und von da an wurde mir auch leidvoll bewusst, dass manche Jungs Mädchen und andere sie nur als beste Freundinnen mögen. Ich gehöre zur zweiten und auch netteren, aber auch einsamsten Sorte.
Frauen gefiel ich von meiner Kindheit an unbewusst als bester Freund. Bei einigen Missverständnissen erklärte ich deutlicher, wo meine Gesinnung lag, was manchmal einige Mädchen dazu führte, weinend von mir wegzurennen. Einige Frauen scheinen auch heute noch meinen Beteuerungen nicht zu glauben und legen einen Zahn bei der Anmache zu, was bereits zu manchen Ärgernissen geführt hat. Ich denke, mit den meisten Frauen könnten wir uns, ohne Details zu erwähnen, von Anfang an verstehen.
Männer mieden immer, mit mir gesehen zu werden. Männerfreundschaften wurden mir verwehrt. Sogar die weniger Attraktiven wollten nicht mit mir spielen.
Dazu sollte ich erwähnen, dass ich bestimmt keine weiblichen Züge habe und meine Stimme in einer normalen Oktave der männlichen Skala liegt. Das Einzige, was mich von anderen Jungs unterscheidet, war und ist, dass ich härter arbeiten muss und bestimmt attraktiver war als die anderen und bestimmt nicht je ein Opfer sein werde, außer eventuell meines eigenen ungezügelten Mundwerks.
‚Tick‘, ließ mein Wecker verlauten, kurz bevor er endlich seinen täglichen Auftritt hatte.
Mit einer Hand zog ich den Vorhang zur Seite, den Kopf noch unter dem Kissen vergraben. Die Sonne des Augusts brütete am Himmel und ich nahm an, dass die Wolken bereits alle vom Himmel weg waren. Ich kann wirklich nicht mehr sagen, wie der Morgen an jenen Sonntag war, weil ich mit einem unheimlichen Kopfschmerz aufwachte. Ich kann mich nur an eines erinnern: Ich schwitzte unter der Decke auf meinem Bett und das Bettlaken klebte an meiner nackten Haut.
Ich zog eine Augenbraue hoch und versuchte mit einem Auge den Wecker, der seine Vorstellung erfolgreich beendet hatte, zu erfassen. Da mir dies schlecht gelang, wusste ich nicht, ob die verschwommene Anzeige acht Uhr dreißig oder neun Uhr dreißig bedeutete. Ich winkelte meinen Ellbogen an, hob meinen schweren Kopf und fixierte mit gerunzelter Stirn den Wecker.
‚Scheiße. Es ist bereits nach neun.‘
Es war wirklich heiß und ich stank nach Rauch und etwas Unbeschreiblichem, von dem ich vermutete, dass es der verdorbene Atem eines wenig interessanten Mannes war, der in der vergangenen Nacht immer wieder versucht hatte, mich an der Bar anzubaggern. Sein unüberhörbares Rülpsen bei der Unterhaltung klebte offensichtlich an meiner Haut und in meinem olfaktorischen Gedächtnis.
Ich konnte mich noch an einige seiner anmutig gemeinten Sätze und Lobeshymnen über meinen Körper entsinnen.
„Geiler Arsch“, oder so ähnlich hatte er gestammelt.
Die widerlichen Erinnerungen brachten mich schneller dazu, mein Bad aufzusuchen und die Dusche aufzudrehen.
‚Welcher Duft könnte mich diese Momente der letzten Nacht vergessen machen?‘, dachte ich in der Hoffnung, mich nicht wieder an den blondierten Mann erinnern zu müssen.
Ich entschied mich für ein Lavendel Ylang-Ylang Duschgel. ‚Für den Mann‘ las ich auf der schwarzen Plastikflasche.
Der blonde Mann war übrigens ein verheirateter Chorleiter aus der Kirche, in die ich jeden Sonntag mit meiner Mutter gehe. Seit ich ihn einmal in einer Schwulenbar getroffen und ihn unvorsichtigerweise in meine Wohnung eingeladen hatte, nahm er an, dass wir ein Geheimnis teilten. Die Details der Eskapade der Chorleiter waren für ihn interessanter als für mich. Er hoffte auf einen erneuten Besuch in meiner Wohnung und bestimmt auf eine Stunde in meinem Bett, aber dies versuchte ich seither diplomatisch zu vermeiden.
‚Ja. Ralph heißt er‘, erinnerte ich mich wieder.
Das Wasser lief aus einem breiten Wasserhahn in meine Duschkabine und prasselte ziemlich laut auf eine blaue Gummimatte. Während der Schall des herunterfließenden Wassers sich mir in den Kopf drängte, hörte ich im Wohnzimmer, wie mein Telefon wieder einmal um Aufmerksamkeit bettelte.
Ich stieg aus der Dusche und mein Körper verlangte nach der Erfüllung der Notdurft, und das noch vor dem Telefonieren. Mit einer Hand stützte ich mich an der Badezimmerwand über der Toilette ab, während meine Blase sich von den letzten Spuren eines Saufgelages verabschiedete.
‚Kein Mann, der sich etwas wert ist, sollte nach einer Nacht wie dieser im Sitzen pinkeln müssen.‘
Die letzte Spur meines männlichen Stolzes wurde vom jammernden Ton meines Festnetztelefons verscheucht.
Ich sah, wie die letzten Tropfen rannen, und dachte, diese Nacht auch in meine Liste der Bußen für meine nächste Beichte aufzunehmen, als wieder mein Handy erklang.
Ich schlenderte nackt durch den Flur und versuchte das Telefon zu erreichen, noch bevor die störende Melodie erneut anfangen würde.
‚Zu spät‘, dachte ich und grapschte in die Luft, während die Vibration des Apparats zu einem neuen Tanz über den antiken Holztisch ansetzte, begleitet von einem Disco-Song, den ich als Klang ausgesucht hatte.
‚Ich war bestimmt vom Teufel besessen, als ich dieses Lied ausgesucht habe‘, ging es mir durch den dröhnenden Kopf.
„Bolsoni“, sprach meine Baritonstimme. Ich selbst liebte meine Stimme nach einem solchen Abend. Leider war dieser Effekt vergänglich und schon am Nachmittag sollte ich wieder wie ein billiger italienischer Sänger auf einer Kreuzfahrt klingen.
„Hier ist Mamma. Wieso bist du nicht da? Wir sind zu spät für die Sonntagsmesse, oder?“, sprach meine Mutter in schwerem neapolitanischen Singsang. Obwohl sie Deutsch bestens beherrschte, klang sie, als würde sie immer Italienisch sprechen.
Kurz überlegte ich, wer Mamma ist und welche Messe gemeint war, und da ich mich für keine Antwort entscheiden konnte, blieb mir nur ein Ausweg.
„Warte mal kurz. Mir geht’s schlecht.“
Ich holte tief Luft, presste mir Daumen und Zeigefinger über meine Augen und versuchte die Fakten zu sammeln und war leicht besorgt, dass das Wasser in der Dusche tropfte.
„Emilio. Was ist mit dir los?“ Die Stimme meiner Mutter klang noch besorgter als sonst. Ich denke, das ist ein Kulturgut aus Italien. Alle Mütter, die ich kenne, klingen immer besorgt. Ob sie ‚Marcello ist gestorben‘ oder ‚Marcello hat eine neue Freundin‘ sagen, egal, was nach dem Namen ihres Sohnes kommt, sie klingen immer gleich besorgt.
„Emilio. Parla“, forderte meine Mutter mich auf, wieder zu sprechen.
„Mutter, bitte. Schrei doch nicht so.“ Das zweite Kulturgut der Italiener ist ihre Lautstärke.
„Was ist mit dir los?“
Ich fühlte mich meistens unbehaglich, wenn ich mit meiner Mutter telefonierte und dabei nackt war. So hielt ich eine Hand schützend vor meinen Penis und meine Hoden und hatte in der anderen das Telefon. Nach einem Blick auf die Uhr wurde mir jedoch klar, dass ich sie tatsächlich vor zehn Minuten hätte abholen sollen.
„Mamma, ich habe eine Magenverstimmung. Nichts Schlimmes. Nimm ein Taxi, wir treffen uns an der Tür der Kirche. Ich muss mich noch anziehen.“
Alle diese Sätze zu stammeln, ohne dabei zu sabbeln, fiel mir schwer und die Pausen und Kommas meiner Sätze wurden vom besorgten Stöhnen meiner Mutter ausgefüllt.
„Ich habe bereits ein Taxi bestellt. Ich wollte fragen, ob ich dich mit dem Taxi abholen sollte.“
Wieder gingen mir viele Gedanken durch den Kopf und ein stinkender Mund von einem blonden Mann namens Ralph kam wieder mir in Erinnerung.
„Nein, Mamma. Wir treffen uns vor der Tür. Lass mich bitte jetzt was anziehen, oder ich bekomme eine Erkältung.“
„Ciao, ciao“, verabschiedete sich meine Mutter.
Ich bedeckte weiterhin meine Genitalien mit der linken Hand, als wäre mir meine Mutter über die Computerkamera zugeschaltet.
Dampf füllte den Raum des Badezimmers und dabei fiel mir ein, dass ich vergessen hatte, die Dusche kälter zu stellen.
Nach einer sehr kurzen, spartanischen Toilette, bei der Lavendel und Ylang-Ylang die gröbsten Spuren eines nicht erinnerungswürdigen Abends mit Anbaggern von Ralph überdeckten, trocknete ich mich mit zwei Badetüchern.
‚Wie hält Ralphs Frau ihn aus?‘, fragte ich mich.
Zwischen Haarkämmen und Anziehen hüpfte ich auf einem Bein durch den Flur, griff mit der freien Hand den Autoschlüssel und rannte zum Auto.
Die Sonne traf meine unvorbereiteten Augen hart und es wurde mir schwindelig.
Eine SMS erreichte mein Handy und das kurze Brummen in meiner Hosentasche ließ vermuten, dass ich entweder jemandem meine Handynummer gegeben hatte oder meine Mutter das Simsen gelernt hatte. Da mir die zweite Möglichkeit zu skurril vorkam, entschloss ich mich, die Meldung erst später zu lesen.
Ich musste mein Auto suchen und da fiel mir ein, dass es einen Elektroschlüssel mit Funk hatte, der mit einem Ton antwortete. Ich hob den Schlüsselbund in alle Richtungen und presste dabei den Knopf.
„Quock“, antwortete gequält ein roter Oldtimer-Zweisitzer. Das Exemplar aus dem Jahr 1968 war auf Öko-Sprit umgerüstet und hatte das Modernste, was die Autoindustrie damals geboten hatte. Es war teuer, aber für eine Fahrt in diesem Auto ließen sich sogar die tugendhaftesten Männer das Risiko einer Fahrt mit mir ins Ungewisse ein.
Es war nicht leicht, sich im Auto zurechtzufinden, aber das war nicht das erste Mal, dass ich etwas verspätet zur Kirche kam, und auch nicht das letzte Mal. Das bestimmt. Mamma war noch sehr kräftig und solang sie lebte, würde ich mit ihr jeden Sonntag zur Kirche fahren müssen.
‚Vor allem, seit der neue Priester da ist‘, fuhr es mir durch den Kopf.
Einige Wolken zogen am Himmel auf, aber anstatt die Sonne zu bedecken, schienen diese Wolken das Gleißen der grellen Sonnenstrahlen nur zu verstärken, und ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass meine Mutter bestimmt bereits in der ersten Reihe in der Kirche Platz genommen hatte und mit einem Fremden über meine in der Hölle auf der Teufelsgabel baumelnde Seele sprach.
Ich muss dazu bemerken, dass die christlichen Vorstellungen von Heldentum und Selbstaufopferung mehr Tragödien umfassen, als jedes Kind ertragen kann. Ich habe beim Anblick solcher Gemälde und Skulpturen von pfeildurchbohrten Männern, Frauen mit ausgerissenen Augen, von Menschen, die entweder gekreuzigt oder gesteinigt wurden, bestimmt ein Trauma erlitten. Ich verstand nie den Mehrwert solcher Bilder für die Kindererziehung.
Während mich einige Gedanken plagten und ich den Weg zur Kirche suchte, sprach Tom aus dem Navigationsgerät und gab mir Anweisungen für eine schnelle Fahrt.
„Nächste links abbiegen“, sagte die einladende Stimme und ich wünschte mir, am Ende der Fahrt wäre Tom in seiner Wohnung anzutreffen und er würde nackt auf dem Bett liegen und sagen: „Die Wäsche am Boden liegen lassen und zu mir ins Bett springen.“
Ich lachte über den unkeuschen Gedanken und konzentrierte mich wieder auf die Fahrt.
„In zweihundert Metern haben Sie Ihr Ziel erreicht“, sprach Tom fröhlich. Wenn er wüsste, was mir die nächsten zwei Stunden bevorstand, hätte er seine Fröhlichkeit gemäßigt.
Ich parkte etwas schlampig auf einer Einfahrt zur Kirche und sprang aus dem Auto. Fast athletisch, muss ich dazu sagen.
‚O.k. Aber nur fast‘, mahnte mich meine innere Stimme.
Ich nahm meinen bewusst dynamisch gehaltenen Gang etwas zurück, erreichte die Sonntagsmesse, als alle bereits auf den verschiedenen Plätzen saßen. Meine Mutter winkte von der dritten Reihe.
‚Ungewöhnlich‘, dachte ich.
„Qui, Emilio“, sagte sie, als hätte ich oder irgendwer sie übersehen können.
„Klar, Mamma, klar. Ich habe dich doch gesehen“, flüsterte ich und lächelte einen Gruß an alle Unbekannten in der Nähe.
Ralph war auf der rechten Seite des Altars mit dem Männerchor postiert und von seinem Ausflug in der vergangenen Nacht war ihm nichts anzusehen, bis auf die leicht geröteten Augen, die sogar von weitem zu sehen waren.
„Amalia sitzt in der ersten Reihe und ich will nicht, dass sie sieht, dass du getrunken hast. Das spricht sich nur rum.“
Ich prüfte meinen Atem und stellte fest, dass ich vielleicht die Zahnseide gründlicher einsetzen sollte, aber ansonsten fand ich ihre Behauptung unbegründet.
„Mamma, lass das sein. Deine Streitereien mit Amalia sind kindisch.“
Amalia war eine Frau, ebenfalls aus Palermo, die einen deutschen Mann geheiratet hatte, der sie angeblich wegen einer Russin verlassen hatte. In unserer Gemeinde munkelte man, dass Amalia eine schlechte Ehefrau war und die Dramen um diese Geschichte wurden von Mal zu Mal bunter und theatralischer. Ich überlegte einmal, eine Version zu verbreiten, dass er sie wegen einer nepalesischen Transe verlassen hatte, aber ich lache einfach zu viel bei der Vorstellung und um das ernsthaft als Tratsch verbreiten zu können, reicht das nicht aus. Meiner Unfähigkeit bewusst, Klatsch und Tratsch zu verbreiten, rief ich meine Mutter zur Vernunft und bat sie, Amalia nicht immer zu belästigen, was mir scheinbar nicht allzu gut gelang. Das lenkte auch ihre Aufmerksamkeit auf meinen Alkoholkonsum ab.
Ich gebe zu, dass ich mit den fortschreitenden Jahren meine Einsamkeit zunehmend mit Alkohol betäubt habe, und die Vorstellung, im Alter allein, besoffen und verlassen tot in meiner Wohnung von Beamten gefunden zu werden, machte mich umso depressiver.
In diesem Moment schien Amalia mich bemerkt zu haben und drehte sich um und winkte mir zu, sich der bösen Zunge meiner Mutter bewusst. Ich bemühte mich sehr zu lächeln und keinen Grund zu der Annahme zu liefern, ich hätte einen Kater. Zugegeben, die Anstrengung des Winkens drückte auf meinen sensibel gewordenen Schädel.
Das Mikrofon tönte und ein recht adretter Messdiener in sehr engen Jeans tappte auf das Mikrofon und testete, ob es funktionierte.
Ralph nickte dem jungen Chormitglied zu und ich fragte mich, ob seine Frau auch merkte, wie er die Kurven an dem strammen Hintern des Junges anschaute.
„Tunk. Tunk.“ Räuspern. „Tunk.“ Ein schrilles Pfeifen. Der Test schien erfolgreich zu sein. Der Junge kannte sich offenbar mit Mikrofonen aus.
Ich lachte halblaut über meinen eigenen Witz und wurde vom strengen Blick meiner Mutter wieder zur Ordnung gerufen.
Die Organistin setzte mit einer fröhlichen Melodie ein und scheinbar erlag sie genüsslich der Selbsttäuschung, dass jeder im Raum ihre Missgeschicke am Keyboard überhören würde.
Mein Kopf dröhnte heftiger und ich hielt es für geschickter, den Kopf zu senken und weiter zu wünschen, dass diese Messe bald vorbei wäre.
Ein weiterer Messdiener mit einem roten Lappen um den Hals bewegte sich zum Pult und schlug die Bibel für den Priester an einer offensichtlich zuvor markierten Stelle auf.
Den Priester war mir seit seiner Ankunft in dieser Gemeinde nicht unbemerkt geblieben.
‚Benimm dich‘, ermahnte ich mich selbst in Gedanken.
Nun kam der fröhlich aussehende Mann am Altar an und einige noch murmelnde Stimmen bemühten sich zu verstummen.
Wie jeden Sonntag suchte er Augenkontakt mit jedem Besucher der Kirche und ich bildete mir ein, dass er mich immer ganz besonders lange ansah. Er lächelte meine Mutter an und da fiel mir ein, dass sie ihm einmal ohne meine Zustimmung meine Leistungen als Fahrer und Tourismusführer angepriesen hatte. Über die Beweggründe meiner Mutter kann ich nur Vermutungen anstellen. Trotzdem fühlte ich mich etwas beschämt, als wäre ich ein Junge auf einer Geburtstagsparty, der mit dem unbekannten Gastgeber spielen soll.
Ob ich es mir nur einbildete oder ob er meiner unschuldigen Miene besonders verfallen war, konnte ich nicht entscheiden, aber mir war klar, dass er mich nicht übersehen konnte. Meine Mutter hätte dies niemals zugelassen.
„Liebe Brüder und Schwestern der Gemeinde. Willkommen zu unserer Sonntagsmesse. Heute möchte ich insbesondere an einige Worte des Paulus zum Thema Sünde erinnern.“
Da war ich mir sicher, dass mein Tag bereits gelaufen war, bevor er richtig angefangen hatte.
Die zwei Stunden der Messe verstrichen wie Kaugummi und ich fühlte mich, als hätte ich der unendlichen Predigt des jungen Priesters mindestens vier Stunden lang zugehört. Meine Mutter stupste mich in die Seite und bemerkte, dass meine Gedanken offensichtlich ganz woanders waren.
„Du hättest auf seine Worte hören sollen. Er ist sehr engagiert“, mahnte sie mich und dehnte das e im Wort engagiert sehr lang, um zu zeigen, wie hart er für diese Kirche gearbeitet hatte.
„Mamma. Ich komme hierhin, nur um bei dir zu sein. Für mich bist du die einzige Göttin, die ich anbete.“ Charmant zu sein ist kein Beruf, aber wenn es einer wäre, hätte ich den Meistertitel verdient.
„Du bist schlimm, aber ich liebe dich. Ich will Pater Stephen, bevor wir wegfahren, begrüßen. Ach ja, du musst etwas für mich tun“, sagte meine Mutter liebevoll, aber ich überhörte nicht, dass sie mich zu irgendetwas verpflichten wollte. Das hatte sie sie bereits Tage zuvor gesagt.
Amalia musterte uns schweigend, während meine Mutter mich mit der Amalia entgegengesetzten Richtung und mit erhobenem Kinn zum Ausgang der Kirche zerrte. Mir war klar, dass meine Mutter irgendetwas ausgeplaudert hatte, was man Amalia als Boshaftigkeit meiner Mutter zugetragen hatte. Ich versuchte entschuldigend zu lächeln und nickte zweimal zum Abschied.
„Lass das, Emilio. Mit solchen Maledetta-Frauen sollte man nicht reden. Mit Sicherheit verbreitet sie wieder Gerüchte.“
Meine Mutter maß nur knapp über einen Meter fünfzig, aber man konnte sie nicht übersehen. Sie kleidete sich immer elegant, mit festen hohen Absätzen in Lackschuhen und ihre blondgefärbten Haare waren immer hochtoupiert, damit sie wie ein Meter siebzig wirkte.
„Bianca“, begrüßte uns der Priester fröhlich und breitete seine Arme aus.
Ich denke, ich muss nicht erwähnen, dass Männer in Kleidern für mich sehr uninteressant sind, und Pater Stephen in Rot und Weiß war für mich auch nicht gerade das, was ich als attraktiv bezeichne. Doch sein Lächeln war betörend, muss ich zugeben.
Amalia, die bisher die Szene beobachtet hatte, rümpfte die Nase und bewegte sich neben uns zum Ausgang. Ich mochte nicht einmal denken, welche Gerüchte meine Mutter über sie verbreitet hatte, aber es musste etwas Schlimmes gewesen sein.
„Signore Stephen.“ Ich dachte, er würde sie umarmen, aber es war nur eine Willkommensgeste. Er gab ihr die Hand und sie mimte einen Handkuss, wie es in Italien Brauch ist.
„Meinen Sohn Emilio kennen Sie bereits, oder?“, fragte meine Mutter, was ziemlich überflüssig war. Wir sahen uns seit sechs Wochen jeden Sonntag. Ich bin nicht sehr kommunikativ, denke ich. Daher schaute ich ein wenig verstohlen auf meine Füße.
Er war vor sechs Monaten oder vielleicht etwas früher gekommen, aber ich selbst bemerkte ihn erst vor einigen Wochen. Da er eine sehr positive Wirkung auf alle älteren Damen der Kirche hatte, war er Thema in jedem Gespräch, zu dem meine Mutter mich mitnahm. Ralph, der Chorleiter, machte einige sehr indiskrete Bemerkungen über Pater Stephen und bat die Zuhörer seiner Ausführungen um extreme Vorsicht, damit Erna keine Gerüchte aus der Bäckerei zu Ohren kamen. Sie war bekannt für ihre Übertreibung und indiskrete Schwatzhaftigkeit, aber ich hielt mich aus diesem Tratsch heraus.
Seit Pater Stephen da sei, seien die Damen der Kirchengemeinde mehr motiviert, gemeinsam zu sticken, basteln oder sogar Karten zu spielen, berichtete meine Mutter. Meine Mutter schien bei ihm eine besondere Stellung in solchen Gruppen zu genießen. Nicht selten brachte sie etwas, was sie selbst gebacken hatte. Neulich brachte sie Chiacchere, die sie stolz an alle ihre Bekannten verteilte. Bestimmt außer Amalia, aber das lassen wir hier unerwähnt.
„Emiglio. Was für ein schöner Name. Stephen ist mein Name.“ Er nickte beinahe förmlich und schaute wieder errötet auf meine Füße.
„Pater Stephen. Aber nur Emilio“, nickte ich ebenso förmlich.
„Bitte keine Titel. Stephen allein ist mehr als genug. Titel und besondere Anreden verderben nur den Charakter und helfen uns nicht, uns unserer minderen Stellung in der Welt und Natur bewusster zu werden.“
Ja, ich muss zugeben, er konnte besonders charismatisch, wenn auch etwas gekünstelt sein.
Die Augen meiner Mutter schielten von ihm zu mir und zurück und ich überlegte in meinem brummenden Schädel, was sie im Schilde führte.
‚Klar. Ich soll den Mann irgendwohin chauffieren‘, erinnerte ich mich vage an den Gefallen, um den Mamma mich gebeten hatte.
„Ach ja“, schien Stephen sich an etwas erinnert zu haben, und ich hoffte, er würde nicht mit einer Einladung zur Abendmesse kommen.
„Ich sprach mit Bianca und versprach, dich auf eine Bergtour einzuladen. Sie meinte, dass du Mittwochnachmittag vor dem Feiertag auch frei hättest.“ Er schaute mich an und eine lange Pause folgte, da ich von der Einladung überrascht war, und noch mehr war mir unangenehm zu erfahren, dass meine Mutter sich bei einem Priester über mich ausgelassen hatte. Als Stephen meine Verwirrung bemerkte und seine Mundwinkel etwas nach unten zogen, fügte er etwas verunsichert hinzu: „Darf ich dich duzen, oder ist es dir unangenehm?“
Da fiel mir ein, dass ich etwas antworten sollte.
„Keineswegs. Bitte, es hat nichts mit Duzen zu tun. Ich bin nur etwas unpässlich heute. Ich leide unter Migräne, denke ich.“ Die Augen meiner Mutter schrumpften unter einem mahnenden Schlitz ihrer Augenlider zu Rosinen, als würde sie mich zur Wahrheit zwingen wollen. Ich tat so, als hätte ich dies nicht bemerkt, und wandte meinem Blick von ihr ab. Es folgte ein Stupser von ihr, der mich aufforderte, wie erwartet zu antworten, und mir wurde klar, was sie zuvor mit einem Gefallen gemeint hatte.
„Ach, das kenne ich, aber in den Bergen fühlt man sich bestimmt besser. Was hältst du davon, wenn du mich am Mittwoch begleitest? Ich habe auch am Nachmittag frei und danach ist Feiertag.“
Ich mag nicht mit Kirchenmenschen ausgehen, weil mir einfach nichts einfällt, worüber man sich ungezwungen unterhalten kann. Jedoch sprach er das Wort Feiertag mit solcher Begeisterung aus, als würde er sich seit Jahren danach sehnen. Es war nicht schwierig, an ihn zu denken und zu vergessen, dass er ein Mann war. Diese Priestersachen verzehren jegliche männliche Anmut, die einer hat.
„Ich denke, dass ich nicht unbedingt der beste Begleiter für einen Priester bin. Ich muss zugeben, dass ich kein gläubiger Katholik bin. Ich begleite nur meine Mutter …“ Bevor ich den Satz noch geschickt beenden konnte, wurde ich von meiner Mutter unterbrochen.
„Er bezahlt aber sehr wohl Kirchensteuer und ich hatte Pater Stephen versprochen, dass du ihn am Mittwoch begleitest. Du hast am Mittwoch ab zwölf sowieso keine Arbeit mehr. Tue das für deine alte Mutter.“
‚Was führt sie im Schilde?‘, dämmerte es mir durch den Kopf, aber es wäre unhöflich und unangenehm gewesen, die Einladung wieder mit einer Entschuldigung auszuschlagen.
Ich stand im Schach und meine Mutter blickte mit einem leidenden Blick, um mich zu bewegen, auf ihre Forderungen einzugehen.
Ich nahm mir vor, bei der nächsten Sonntagsmesse demonstrativ Amalia vor meiner Mutter mit einem Kuss zu begrüßen, nur aus Rache.
Mir war klar, dass sie mit dem Begleitservice für den Priester erreichen wollte, dass ich dann irgendein Projekt leiten würde. Voraussichtlich den Weihnachtsbazar, der in meiner Vorstellung bevorstand.
„Ja, das stimmt“, platzte es aus mir heraus. „Ich habe am Mittwoch nichts zu tun. Meistens mache ich Wäsche, Computerspiele oder lese in einem Buch. Aber warum nicht etwas wandern. Ich freue mich auch auf die Feiertage.“ Das war etwas zu dick aufgetragen, aber was tut man nicht alles für seine Mutter? „Wo soll es hingehen?“
Stephen drehte sich kurz zu anderen Gästen, die sich verabschiedeten, und ich nutzte dieses Intermezzo, um meine Mutter um Mäßigung zu bitten.
„Mamma, wieso machst du Termine für mich?“, flüsterte ich meiner Mutter zu.
„Er ist neu hier in München und du gehst auch wandern. Darum sagte ich ihm, dass du ihm gerne die Umgebung zeigen würdest. Tue das für …“
Ich ließ sie nicht wieder das gleiche Theater spielen.
„Basta!“, fauchte ich und hob mahnend meine Hand. „Ich gehe mit ihm wandern, aber du zahlst die Rechnung.“
Sie nickte zustimmend, senkte ihren Blick auf meine Füße und fasste mich am Arm und noch bevor Pater Stephen sich uns wieder zuwandte, sagte sie: „Und sei nett zu ihm und mache keine verdorbenen Witze, wie sie deine Zia Erica macht.“
Tante Erica war die ältere Schwester meiner Mutter und Witwe. Sie sprach mit einem derben Matrosenvokabular über viele Dinge, die meine Mutter ungerne hörte, und ich fasste die Empfehlung in meinem Kopf zusammen, als Stephen sich uns wieder widmete.
„Tut mir leid, aber so viele Menschen zu verabschieden, nimmt etwas Zeit in Anspruch. Darf ich dich abholen, oder treffen wir uns hier, sagen wir so um eins?“
Ich konnte so schnell keinen klaren Gedanken fassen und wurde wieder von meiner Mutter bevormundet.
„Er hat einen 68er Gordini. Ein wunderbares Auto. Du holst Pater Stephen ab, nicht wahr?“
Wer italienische Frauen kennt, zweifelt, dass das Land von Männern regiert wird, weil sie sehr autoritär sind.
„Klar, klar doch.“ Ich wusste gar nicht, was man während einer Wanderung macht, weil ich sonst nur Berghütten besuche und dann betrunken den Berg hinunterrutsche, aber mehr auch nicht.
„Was zieht man an?“, musste ich fragen.
„Es wird warm sein und ich empfehle kurze Hosen und auf jeden Fall einen Hut“, empfahl Stephen als ein offensichtlich in diesem Metier Erfahrener.
‚Ich? In kurzen Hosen und mit Hut?‘ Bilder gingen mir durch den Kopf und ich wusste, dass ich weder kurze Hosen trug und niemals einen Hut, und wenn doch, dann nur eine Mütze.
„Ja. Das müsste gehen.“
„Wo fahren wir denn hin? Deine Mutter meint, dass du die Umgebung bestens kennst.“
Seine Augen waren fast wie zwei Glasaugen, mit einem leichten Glanz, den man nicht richtig definieren kann. Für einen Augenblick verlor ich mich darin.
„Oberammergau. Da fahren viele …“ Ich überlegte meine Wortwahl.
„Ach, das Theater. Klar. In der Umgebung gibt es auch viele Berge.“ Wie alle Priester, die ich kannte, war er sehr wortgewandt und wusste bestimmt einen Small Talk stundenlang am Leben zu halten.
„Die höchsten von Europa“, antwortete ich.
Einige Messebesucher waren bereits draußen und andere standen hinter Pater Stephen und warteten, dass er auf sie aufmerksam würde.
„Ich muss andere Gäste verabschieden. Dann sagen wir bis Mittwoch. In Ordnung?“ Er klopfte mir an die Schulter und gab mir einen festen Händedruck.
‚Jung. Jung und Spontan. Wann war ich auch mal so?‘, fragte ich mich. Sicherlich war das lange her.
Nun, etwas Abwechslung wäre nicht schlecht. Ich winkte ‚Auf Wiedersehen‘ und dachte daran, ein wenig im Internet zu recherchieren und nach interessanten frommen Themen zu suchen. Themen, bei denen Zia Erica bestimmt einschlafen würde.
„Fahre mich bitte nach Hause. Meine Füße schmerzen und ich habe eine neue Minestra für uns gekocht. Sie sollte jetzt perfekt sein.“
„Klar, Mamma, klar.“
Auf dem Weg zum Auto nahm ich mir am Eingang einige Flyer aus dem Spender. Eines davon war vom Männerchor. Eine Gesellschaft, die mir ohne Hintergedanken am meisten gefiel.
Wir gingen gemeinsam zum Parkplatz und mit etwas Murren stieg sie in meinen 68er Gordini und wir fuhren fröhlich los.
Doch ein Gedanke plagte mich weiter: ‚Was sollte ich mit einem Priester sprechen?‘
Der Montag verlief ereignislos. Meine Mutter war unterwegs und nicht zu erreichen. So hinterließ ich ihr eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter, dass ich sie am Dienstag anrufen würde.
Ich kam am Dienstag nach der Arbeit nach Hause und zog meine Klamotten wie gewöhnlich an der Tür aus und warf die verschwitzte Hose und das Hemd in einen Korb. Im Sommer riechen alle Kleider nach zweimaligem Tragen nicht mehr gut. Ich vergaß zu erwähnen, dass ich eine Gärtnerei besitze. In einer Gärtnerei zu arbeiten, ist hart und sogar im Winter schwitzt man ziemlich viel.
Ich holte ein Badetuch und breitete dieses auf meinem Sofa aus, setzte mich nackt darauf und atmete zum ersten Mal tief ein, während meine Haut sich etwas frische Luft gönnte. Da brummte mein Handy. Dabei fiel mir ein, dass ich am Sonntag eine SMS bekommen und sie nicht gelesen hatte.
‚Ich bin heute Abend allein in meiner Wohnung und warte mit einem Steifen auf dich.‘
Ich las dieses Beispiel hoher Literatur und überlegte, aus welcher Toilette der Autor das abgeschrieben hatte. Eine Visitenkarte war an der SMS angehängt und poppte auf. Dort konnte man das Gesicht des blonden Ralphs vom Samstag in einem nüchternen Zustand sehen, so wie er etwa vor fünf Jahren ausgesehen hatte.
Ich überlegte kurz, diese SMS zu blockieren oder an seine Frau weiterzuleiten, aber ich entschied mich, sie einfach zu ignorieren. Ich konnte mich nicht mehr erinnern, ihm meine Handynummer gegeben zu haben, aber es war offensichtlich, dass ich den Fehler begangen hatte.
Es war für mich ein immer wiederkehrendes Problem. Wenn ich zu viel trank, traf ich schlechte Entscheidungen.
„Wuuup!“, verabschiedete sich die SMS mit dem lächelnden Gesicht meines Verehrers samt seinen Aphorismen in den virtuellen Papierkorb.
Die nächste SMS war von Stephen gekommen, mit Angabe seiner Kontaktdaten und einer langen Entschuldigung dafür, dass meine Mutter ihm meine Privatdaten gegeben hatte.
‚Wen kümmert es, wenn ein Priester seine Privatdaten hat?‘, überlegte ich.