Das Buch

Die ergreifende Geschichte von Anastasia geht weiter ...

Anastasias Leben nimmt plötzlich eine dramatische Wendung, als sie ihre große Liebe Vincenzo für immer verliert. Er hinterlässt ihr sein Weingut in der Toskana. Nach anfänglichem Zögern beschließt sie, in Italien zu bleiben. Um dem Schmerz zu entfliehen, stürzt sie sich in die Arbeit, und wagte einen Neuanfang.

Als sie eines Tages dem rätselhaften Ben begegnet, erwachen in ihr längst vergessene Gefühle. Doch ist sie überhaupt bereit für eine neue Liebe? Außerdem scheint dieser Ben irgendetwas zu verbergen. Und woher hat er die große Narbe an seinem Hals? Wird Anastasia sein Geheimnis lüften, ihre Ängste überwinden und die Schatten der Vergangenheit hinter sich lassen?

Die Autorin

Jani Friese, geboren 1970, lebt mit ihrem Mann, ihrem Pferd und dem Hund im schönen Münsterland. Sie arbeitet als Intensivkrankenschwester und ist ausgebildete Tierheilpraktikerin und Heilpraktikerin. Die Leidenschaft, ihre Fantasien als Geschichten niederzuschreiben, entwickelte sich bereits in jungen Jahren. Einige Zeit lang verstaubten die Ideen zu vielen Geschichten in einer Hutschachtel unter ihrem Bett. 2012 begann sie, wieder zu schreiben und es entstand ihr erstes Buch. Bei ihren Reisen lässt sie sich gerne von Land und Leuten inspirieren, um neue Ideen für ihre Romane zu sammeln. Am besten entspannt sie sich in kreativen Pausen bei einem Ausritt in die Natur.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar

© 2017 Jani Friese

Umschlag: - © Screensun - Magret Weiper

Bilder Cover: - Fotolia

Layout: - Jani Friese

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Nordersted

ISBN: 9-783746-039015

Für all die, die mit mir geweint haben

Nach dem überraschenden Erfolg von

"Liebe in der Toskana",

nun endlich die Fortsetzung, die auch unabhängig vom
ersten Teil gelesen werden kann.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Die Sonne ging bereits unter und die Mücken tanzten zwischen den Weinreben umher, als ich den steinigen Weg von den Weinbergen zurück zum Gut lief. Hierher hatte ich mich geflüchtet, um nachzudenken. Ich fühlte mich einsam und verlassen. Es waren erst zwei Tage seit der Beerdigung vergangen. An genau diesem Tag, hatte ich mich für immer von Vincenzo verabschiedet. Alles kam mir so unwirklich vor. Alles war so wahnsinnig schnell gegangen. Unsere Liebe, unser Geheimnis, die Entscheidung, für immer zusammenzubleiben. Und schließlich der Unfall, der ihn für immer aus meinem Leben gerissen hatte.

Ich fühlte mich wie betäubt und irgendwie gelähmt. Wie sollte mein Leben nur ohne ihn weitergehen?

Vor einigen Stunden hatte ich erfahren, dass Vincenzo mir sein Weingut vermacht hatte. Was war nur in ihn gefahren, so etwas zu tun? Wie konnte er annehmen, dass ich die richtige Person für dieses riesige Unternehmen sein könnte? Ich kannte mich hier auf dem Gut kaum aus, alles war mir fremd. Wie sollte ich das nur schaffen? Ich hatte eine Ausbildung als Handelsfachwirtin in einer Weinkellerei absolviert und mich anschließend weitergebildet zum Sommelier. Ja, das schon, aber ganz alleine ein Weingut zu führen, war etwas völlig anderes.

Vincenzo war offensichtlich mehr von mir überzeugt, als ich selbst. Warum hatte er nicht darüber nachgedacht, was das für mich bedeuten würde? Ich konnte das doch unmöglich schaffen ohne ihn.

Ich fühlte mich total überfordert und brauchte Zeit, um zu trauern, mich mit der neuen Situation auseinanderzusetzen. Alles schien wie eine große Welle auf mich herunterzustürzen. Ich konnte so recht noch keinen klaren Gedanken fassen, geschweige denn die Zukunft planen. Es war alles zu viel für mich.

Ich ließ meine Blicke über die sanften Hügel der Toskana gleiten, und atmete den Duft von frischer Erde ein. Es hatte am Morgen für eine kurze Zeit geregnet, und der Boden war unter den Reben noch feucht. Jetzt jedoch stand die Sonne hoch, und schickte ihre warmen Strahlen hinab auf die Weinberge, an deren Reben bereits die grünen Trauben hingen. Einige Wochen würden sie noch brauchen, um zu reifen, und die perfekte Süße für den Wein zu erlangen. Viele kleine Insekten schwirrten zwischen den hellgrünen Blättern umher, offenbar auf der Suche nach Nahrung. Idylle pur, wären da nicht die schmerzlichen Erinnerungen an den Mann, den ich über alles geliebt hatte. Ich konnte es noch genau vor mir sehen, als ob es gestern gewesen wäre. Wir waren zusammen hierher in die Weinberge gefahren. Beim Absteigen hatte ich die letzte Stufe des kleinen Treckers, den er immer liebevoll Weinlimosine genannt hatte, verfehlt, und war geradewegs in seine Arme gestürzt. Wenig später hatte er mich zum ersten Mal geküsst.

Es schien eine Ewigkeit her zu sein, aber diesen Moment würde ich wohl nie vergessen. Ich versuchte gleichmäßig zu atmen, dagegen anzukämpfen, mich nicht gehen zu lassen. Ich wollte nicht schon wieder weinen, aber ich verlor diesen Kampf. Tränen schossen mir in die Augen und strömten über meine Wangen. Ich fühlte mich in diesem Augenblick so entsetzlich hilflos. Erschöpft ließ ich mich zu Boden sinken und bedeckte mein Gesicht mit den Händen. Ich weinte bitterlich, und der Schmerz durchbohrte erneut mein Herz. Er fehlte mir so unendlich, und die Sehnsucht nach ihm schien mich innerlich zu verbrennen. Wann würde das aufhören? Würde es überhaupt jemals aufhören? Ich hatte meine große Liebe verloren, bevor sie überhaupt richtig erblühen konnte. Wir hatten uns von Anfang an verbunden gefühlt, ohne zu wissen, welches Geheimnis hinter diesen Gefühlen steckte.

Das Schicksal wollte es offenbar, dass Vincenzo die Tagebücher seiner Mutter findet, und wir somit erfahren mussten, dass in unseren Adern dasselbe Blut floss. Nach ihren Aufzeichnungen zufolge, waren wir verwandt. Damit erklärte sich so manches. Wir versuchten, uns voneinander fernzuhalten, doch wir scheiterten kläglich. Vincenzo wollte unsere Liebe, ob verboten oder nicht, genau wie ich. Daher hatten wir auch die Entscheidung getroffen, es keinem zu sagen. Die wenigsten hätten es verstanden, oder akzeptiert. Niemand von uns konnte vorher sagen, was diese Tatsache für das Weingut bedeutet hätte, schließlich hatten wir uns über die Normen der Gesellschaft hinweggesetzt. Für uns zählte nur, dass wir uns liebten und für immer zusammen bleiben wollten. Leider jedoch stellte sich heraus, dass für immer kürzer war, als wir dachten.

Nun saß ich hier zwischen den alten Weinstöcken der Familie Di Monte, die Vincenzos Ururgroßvater vor so vielen Jahren mit seinen eigenen Händen angepflanzt hatte. Welches Recht hatte ich, dieses Gut weiterzuführen?

Ich gehörte nicht zur Familie oder sagen wir, nicht direkt. Was hatte Vincenzo sich nur dabei gedacht?

Je länger ich darüber nachgrübelte, desto mehr erkannte ich, warum er es getan hatte. Ich erinnerte mich daran, dass wir einmal zusammen in den Weinbergen unterhalb des Gutes gearbeitet hatten. Ich erzählte ihm damals, wie verbunden ich mich mit diesem Land fühlte. Dass es vielleicht daran liegen könnte, dass mein Vater hier in der Gegend aufgewachsen war, und er mich in Deutschland von klein auf mit in die Weinberge genommen hatte.

Schon sehr früh wurde mir klar, dass ich später einmal etwas in dieser Branche lernen wollte. Vincenzo und ich teilten die Leidenschaft für Weine und alles, was damit zu tun hatte. Er wollte seinen Besitz in guten Händen wissen, bei jemandem, der, wie er selbst, mit Herz und Seele alles dafür gab. Ich wusste, was ihm das Weingut bedeutete und auch den Wein in Deutschland zu vermarkten. Er hatte damals Kontakt zu meinem Arbeitgeber Hajo aufgenommen, und ihn zu sich auf das Weingut eingeladen. Zu dem Zeitpunkt war mein Vater gerade gestorben. Hajo und seine Frau Adele schlugen mir vor, sie doch in die Toskana zu begleiten, um ein wenig Abstand zu gewinnen. Nach einigen Überlegungen sagte ich schließlich zu. Dort begegnete ich Vincenzo. Hajo war begeistert von seinem Wein, sodass er ihm ein lukratives Angebot gemacht hatte, das er nicht abschlagen konnte.

Ich erinnerte mich daran, wie stolz Vincenzo damals wegen dem Vertrag mit ihm gewesen war. Mittlerweile liefen die Geschäfte gut, denn Hajo hatte alles daran gesetzt, den Wein auf dem deutschen Markt zu etablieren.

Der Absatz hätte nicht besser sein können.

Ich hatte ihn kurz vor der Beerdigung angerufen, und ihm von dem Unglück erzählt. Er war erschüttert und sprachlos zugleich gewesen. Ich wusste, dass er kein Mensch der großen Worte war, daher machte ich es kurz und versprach, mich bald wieder zu melden. Ein paar Tage später erhielt ich eine Beileidskarte. Ich erkannte sofort, dass Adele die Karte geschrieben hatte. Ihre warmen, tröstenden Worte hatten mich zu Tränen gerührt.

Was würden sie wohl dazu sagen, dass das Weingut nun mir gehörte? Ich konnte nicht aufhören zu grübeln und zu denken, aber nach einer Weile endlich aufhören zu weinen. Es half alles nichts, ich musste mich um so viele wichtige Dinge kümmern. Das Weingut durfte nicht einfach stillgelegt werden, es musste weiterlaufen. Bald begann die Weinlese, und es gab viel zu organisieren. So sehr ich mich auch am liebsten in eine Ecke verkrochen hätte, um zu trauern, so genau wusste ich nun auch, dass dafür keine Zeit blieb. Ob ich es wollte oder nicht, ich musste funktionieren, für Vincenzo. Das war ich ihm schuldig. Er sollte nicht von oben herab sehen und bereuen, dass er sich für diesen Schritt entschieden hatte.

Er glaubte an mich, also musste ich dasselbe tun.

Entschlossen wischte ich mir die Tränen fort, stand auf, und lief hinauf zum Gut.

Meine Mutter und meine Großmutter Finola, saßen auf der Terrasse. Besorgt sahen sie mir entgegen.

»Ana«, rief meine Mutter, »wo warst du so lange? Wir haben uns Sorgen gemacht. Ist alles in Ordnung mit dir?«

»Ja, alles in Ordnung, Mama. Tut mir leid, ich brauchte die Zeit, um mir über einiges klar zu werden. Ich habe eine Entscheidung gefällt.«

Beide blickten mich erwartungsvoll an.

»Ich werde Vincenzos letztem Willen Folge leisten und das Erbe annehmen. Noch weiß ich nicht, wie ich das bewältigen soll, aber ich werde versuchen seinem Wunsch gerecht zu werden. Er wollte, dass ich hier bleibe und das Weingut weiterführe. Wie könnte ich mich also dagegen entscheiden? Ich hätte das Gefühl, ihn zu verraten, wenn ich es ablehnen würde. Außerdem liebe ich diese Weinberge genauso, wie ich Vincenzo geliebt habe. Es wird sicher nicht einfach, da mich alles hier an ihn erinnert. Andererseits brauche ich diese Erinnerungen, um ihm nah zu sein. Ab morgen werde ich anfangen, mich um die Geschäfte zu kümmern. Zuerst muss ich den Anwalt anrufen und ihm mitteilen, dass ich das Erbe antrete.

Anschließend werde ich den weiteren Ablauf planen. Außerdem möchte ich noch einmal mit dem Mann vom Amt sprechen, der die Unterlagen des Gutes bearbeitet hat, bevor feststand, dass ich die Erbin bin. Vielleicht kann er mir helfen, einen Überblick zu bekommen.« Ich überlegte kurz, ob ich an alles gedacht hatte. Nun ja, fürs Erste würde es reichen.

»Da hast du dir ja eine Menge vorgenommen«, bemerkte meine Mutter. »Ich bin sehr stolz auf dich, dass du dich dazu durchgerungen hast, diese große Verantwortung zu übernehmen. Wie ich schon sagte, ich werde dir helfen.

Auch ich habe mir Gedanken gemacht und mit Finola darüber gesprochen. Wir werden dich beide bei deinem Vorhaben unterstützen, schließlich sind wir eine Familie.

Ich werde hierher ziehen, wenn es dir recht ist.«

Ich schaute sie groß an. »Ob es mir recht ist, fragst du?« Tränen stiegen mir in die Augen. »Aber natürlich ist es das. Was für eine Frage! Ist das wirklich dein Ernst, Mama?«

»Aber ja. Ich kann dich doch nicht hier alleine lassen.« Ich umarmte sie erleichtert.

»Schon gut, Ana. Wir schaffen das. In den nächsten Tagen muss ich darüber nachdenken, was ich in Deutschland zu erledigen habe. Ich werde zurückfliegen und eine Weile brauchen, um die notwendigen Dinge zu regeln. Du musst auch zurück, um dich abzumelden, und was sonst noch anliegt. Die Wohnung lösen wir auf und verkaufen die Sachen, die wir nicht mehr brauchen. Das wird ein riesiges Projekt, aber ich freue mich darauf, mein Schatz.«

Ich umarmte sie dankbar.

Finola meldete sich zu Wort. »Oh, Ana, ich bin so froh, dass du hier bleibst. Wir haben so viel nachzuholen. Ich kenne einige Leute, die dir helfen können. Unter anderem jemanden, der ein Transportunternehmen besitzt, das auch nach Deutschland fährt. Da lässt sich bestimmt etwas machen.«

»Das ist ja fantastisch, Finola. Vielen Dank für deine Hilfe. Ich verspreche dir, dass wir all die Jahre nachholen werden, die wir miteinander versäumt haben.«

Jeden Morgen traf ich mich zur Besprechung mit Francesco, dem Vorarbeiter des Gutes.

Er informierte mich über die Abläufe auf dem Gut und fuhr mit mir Vincenzos Ländereien ab. Überwältigt von der tatsächlichen Größe des Weingutes, wuchs in mir die Angst zu versagen. Auf was für ein Abenteuer hatte ich mich da nur eingelassen?

Es würde eine ganze Weile dauern, bis ich mich eingearbeitet hatte. Bis dahin lief hoffentlich alles seinen gewohnten Gang. Ich stellte mich bei den Mitarbeitern vor und setzte ein Schreiben auf, das ich an alle Händler und Firmen schickte, die mit dem Weingut zusammenarbeiteten. Schließlich mussten sie ja erfahren, dass ich die neue Besitzerin des Weingutes war, sich aber sonst vorerst nichts ändern würde. Zu einem späteren Zeitpunkt würde ich sie einladen müssen, um mich persönlich vorzustellen. Jetzt jedoch war ich noch nicht in der Lage dazu.

Giulietta, Vincenzos Haushälterin, lag mir besonders am Herzen. Daher sprach ich sie sofort nach meiner Entscheidung an, und fragte sie, ob sie weiterhin auf dem Gut arbeiten wollte. Sie weinte und umarmte mich erleichtert. Von klein auf hatte sie sich um Vincenzo gekümmert. Ihn wie ihren eigenen Sohn mit groß gezogen.

Auch nach dem Tod seiner Eltern war sie ihm eine große Stütze gewesen. Daher hatte sie sein Unfall mitten ins Herz getroffen. Sie schaffte es nicht einmal, auch nur ein Wort über ihn zu verlieren, ohne dass sie in Tränen ausbrach.

Jeden Tag gab es neue Herausforderungen für mich, doch ich wusste, ich würde daran wachsen. Meine Mutter wollte in vier Tagen vorerst zurück nach Deutschland fliegen, um sich um alles zu kümmern. Den Lkw zum Transport unseres Hab und Gutes, hatte Finola bereits bestellt. Alles schien reibungslos zu klappen. Später würde ich ebenfalls nach Deutschland fliegen, um meine persönlichen Angelegenheiten zu regeln. Danach sollte Italien für immer meine Heimat sein.

Ich fürchtete mich ein bisschen vor der Zeit, in der ich alleine hier auf dem Gut sein würde. Mutterseelenallein in diesem großen Haus. Leichte Angstgefühle überkamen mich. Ob ich nachts vielleicht besser bei Finola schlafen sollte? Andererseits, das Weingut alleine lassen?

Bald stellte sich heraus, dass meine Sorgen überflüssig waren. Finola kam auf mich zu und bot mir an, in der Zeit bei mir zu wohnen. Voller Freude und Erleichterung fiel ich ihr um den Hals.

»Was denkst du dir, meine Süße. Ich werde dich doch nicht hier alleine in der Wildnis lassen. Nichts da, deine Großmutter konnte früher nicht auf dich aufpassen, daher nutze ich die Gelegenheit, es jetzt zu tun.« Sie lächelte zufrieden.

Als Nächstes musste ich unbedingt Nevio anrufen, Vincenzos besten Freund. Ich wollte mich entschuldigen, und ihn bitten, mir bei dem Wirrwarr von Papieren zu helfen. Ob er das tatsächlich tun würde, wusste ich nicht, schließlich hatte ich bei ihm nicht den besten Eindruck hinterlassen.

Es tat mir noch immer leid, dass ich ihn auf dem Friedhof einfach so hatte stehen lassen. Ich erinnerte mich genau daran, wie er mit Tränen in den Augen seinen toten Freund zu seiner letzten Ruhestädte begleitet hatte.

Als er mich jedoch ansprach, fühlte ich mich total überfordert mit der Situation. Ich war nicht in der Lage, an diesem Tag mit ihm über Vincenzo zu reden. Hoffentlich verstand er mein Verhalten. Wir waren uns zuvor noch nie begegnet, aber Vincenzo hatte mir einige Geschichten über ihre Freundschaft erzählt. Ich wusste schon damals, dass ich ihn auch mögen würde, nur hatte ich nicht damit gerechnet, ihm auf Vincenzos Beerdigung zum ersten Mal zu begegnen.

Jetzt hatte ich endlich den Kopf dafür frei, mich bei ihm zu melden und mich für mein Verhalten zu entschuldigen.

Sein Vater besaß ebenfalls ein Weingut und Nevio sollte es eines Tages übernehmen. Er konnte mir vielleicht mit ein paar Dingen helfen, mich beraten und die Geschäftspapiere mit mir durchgehen. Vincenzo hatte ihm vertraut, er war sein bester Freund, also musste auch ich ihm vertrauen.

Entschlossen nahm ich mein Telefon und wählte seine Nummer. Mein schlechtes Gewissen plagte mich noch immer, aber da musste ich jetzt wohl durch. Es klingelte und klingelte. Dann meldete sich eine männliche Stimme.

»Si, Nevio Sabadini.«

»Hallo Nevio, hier spricht Anastasia Corella.«

Stille am anderen Ende der Leitung. Er überlegte bestimmt, ob er überhaupt mit mir reden sollte.

»Oh, Anastasia. Schön, dass du dich meldest. Bitte entschuldige mein Auftreten am Friedhof, ich wollte dir nicht zu nahe treten.«

»Nein, ich muss mich entschuldigen, ich war nicht ich selbst.«

»Ich verstehe das, wirklich. Es war ein Schock für uns beide. Ich hätte dich einfach ein paar Tage später besuchen sollen.«

»Nein, nein, es tut mir wirklich leid, ich wollte dir nicht vor den Kopf stoßen.«

»Das hast du nicht, ich habe es verstanden.«

»Das beruhigt mich, Nevio. Weißt du, er hat mir oft von dir erzählt. Du hast ihm unendlich viel bedeutet, warst wie ein Bruder für ihn.«

Ich spürte, wie der Schmerz in mir hochkam, dennoch redete ich weiter.

»Ich würde dich gerne treffen und etwas mit dir besprechen, wenn das in Ordnung für dich ist.«

»Aber natürlich, fangen wir noch einmal von vorne an. Wie wäre es heute Abend?«

»Ja, gerne, komm doch vorbei. Ich würde mich wirklich freuen.«

»Sehr gut, mir geht es ebenso. Dann bin ich gegen sechs Uhr da.« Ich fühlte mich erleichtert. Er schien überhaupt nicht böse auf mich zu sein.

Es blieb noch genug Zeit, bis Nevio vorbei kam, daher machte ich mich auf den Weg in die Stadt, um ein paar Dinge auf dem Markt einzukaufen und die Unterlagen des Weingutes zu holen. Eine vorübergehende, schriftliche Verfügung erlaubte mir, sämtliche Papiere des Gutes bei der Stadt einzusehen. Ich wollte Kopien von den Unterlagen machen, um sie am Abend Nevio zu zeigen. In der Stadt angekommen, die ich mittlerweile sehr gut kannte, parkte ich den Wagen in einer der verwinkelten Nebenstraßen der Altstadt. Nachdem ich im Rathaus die Unterlagen kopiert und in meiner Tasche verstaut hatte, schlenderte ich gemütlich Richtung Marktplatz. Die alten Häuser in den engen Gassen des kleinen Ortes, spendeten ausreichend Schatten. Im Gegensatz zu dem Marktplatz, auf dem in der prallen Sonne die Stände aufgebaut waren.

Es herrschte bereits ein reges Treiben. Leute unterschiedlichen Alters standen vor den Ständen, um frische Lebensmittel für die nächsten Tage einzukaufen.

Typisch italienisch, redeten sie ohne Punkt und Komma, während sie mit ihren Händen wild gestikulierten. Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. Ich liebte diese Atmosphäre und den Geruch von landestypischen Spezialitäten, der mir schon beim Betreten des Marktes, um die Nase wehte. Zuerst steuerte ich den Stand mit den Antipasti an. Freundlich begrüßte ich den Mann, der mich lächelnd anblickte. Durch mein südländisches Aussehen, das ich von meinem Vater geerbt hatte, hätte ich als Einheimische durchgehen können. Spätestens aber bei meiner Bestellung wurde jedem bewusst, dass ich nicht hier aufgewachsen war. Ich ließ meinen Blick über all die Köstlichkeiten wandern. Eingelegte Tomaten, Zucchini, Auberginen, Pilze. Verschiedene Käsesorten und Aufstriche. Es duftete herrlich und das Wasser lief mir im Mund zusammen. Es fiel mir schwer, mich zu entscheiden.

Nachdem der Mann mir ein paar Leckereien zum Probieren über die Theke gereicht hatte, wurde es noch schwieriger. Wenig später legte ich die kleinen Tüten mit den Köstlichkeiten in meinen Korb und musste mir eingestehen, dass ich mal wieder maßlos übertrieben hatte.

Anschließend kaufte ich noch ein wenig Obst und Gemüse.

Als ich wieder auf dem Weg nach Hause war und die Serpentinen entlang fuhr, kam mir plötzlich ein Gedanke. Mein Magen drehte sich augenblicklich dabei um. Angst kroch in mir hoch. Ob ich schon bereit dafür war? Sollte ich mir das überhaupt antun? Würde es nicht nur wieder Wunden aufreißen, die ich jeden Tag aufs Neue versuchte zu heilen? Nein, ich musste es tun, ich konnte nicht anders. Bei der nächsten Möglichkeit wendete ich den Wagen und fuhr wieder Richtung Stadt. Näher und näher kam ich dem Ort, an dem ich mich erneut der Realität stellen musste. Noch eine Bergkuppe, und dann hinunter in die Kurve. Mein Herz schlug mir bis zum Hals.

Automatisch nahm ich den Fuß vom Gas und fuhr langsamer. Dann erblickte ich den Baum, der mächtig und stark an seinem Platz stand. Warum hatte man ausgerechnet in so einer Kurve einen Baum gepflanzt?

Wäre er nicht dort gewesen, hätte Vincenzo vielleicht überlebt. Wäre der andere Fahrer nicht so unachtsam und schnell gefahren, hätte er ihn niemals gerammt. Jedoch halfen weder Hätte noch Wäre, Vincenzo war tot und nichts brachte ihn mir zurück. Ich hielt auf dem Seitenstreifen an, stellte den Motor aus und starrte auf den Baum.

Dieser Moment fühlte sich so unwirklich an. Das, was hier passiert war, ging über meine Vorstellungskraft hinaus.

Ich hatte gar keine Assoziation zwischen Vincenzo und dem Ort hier. Mein Inneres verdrängt es offenbar.

Nachdenklich blickte ich über die Straße zu dem Baum hinüber. Einen Augenblick lang zögerte ich, öffnete dann jedoch langsam den Anschnallgurt und stieg aus. Ich versuchte tief durchzuatmen, aber es kam mir so vor, als läge ein riesiger Stein auf meiner Brust. Was hatte ich mir nur dabei gedacht, hierher zu fahren? Mir wurde kalt, obwohl es mindestens weit über zwanzig Grad waren. Nun stand ich also hier, an dem Ort, wo Vincenzo sein Leben verloren hatte und ich somit meine große Liebe.

Entschlossen überquerte ich die Straße. Mit jedem Schritt wurden meine Beine schwerer, während ich den Baum ehrfürchtig ansah. Als ich schließlich direkt vor ihm stand, überkam mich ein Anflug von Wut und Trauer. Ich konnte noch die Spuren des Aufpralls an seiner Rinde erkennen, sonst schien er unbeschädigt davongekommen zu sein.

Langsam berührte ich seine Verletzungen, zog jede Absplitterung der Rinde mit dem Finger nach. Tränen rollten mir über die Wangen und tropften auf den moosbewachsenen Boden. Ich blickte hinauf zu seiner Krone, die weit in den Himmel ragte. Die Sonne schickte ihre warmen Strahlen durch die Blätter und Äste, herunter zu mir. Doch es half nichts, mein Körper begann zu zittern. Vincenzo war allein gewesen, als er starb.

Niemand hatte ihm die Hand gehalten, niemand war bei ihm gewesen in diesem Moment. Ich konnte nicht bei ihm sein! Diese Erkenntnis versetzte mir einen direkten Stich ins Herz.

Ich begann, mir den Kopf zu zermartern, was ich hätte tun können, damit dieser schreckliche Unfall nicht passiert wäre. Was wäre gewesen, wenn …?

Ich spürte, wie ich mich in sinnlose Überlegungen verrannte und meine eigenen Vorwürfe mich herunterzogen in einen Strudel aus Selbstmitleid. Ich durfte das nicht zulassen, denn mein Verstand wusste, dass ich hätte gar nichts ändern können. Das Schicksal hatte uns zusammengebracht und das Schicksal hatte ihn mir genommen.

Vincenzo war fort, für immer. Ich aber musste weiterleben, ohne ihn. Das was mir jedoch niemand nehmen konnte, waren die wundervollen Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit. Er würde immer ein Teil von mir sein, für den Rest meines Lebens.

Ich versuchte erneut tief durchzuatmen, und berührte noch ein letztes Mal kurz die Rinde des Baumes. Dann ging ich zurück zum Wagen, stieg ein, und startete den Motor.

Ich hatte genug gesehen.

Kapitel 2

Am späten Nachmittag sortierte ich die Papiere, die ich mit Nevio durchgehen wollte. Gerade jetzt musste ich mich ablenken. Das Leben ging weiter, und ich versuchte stark zu sein. Über Tag gelang es mir, aber abends holte mich die Realität ein, die mir immer wieder bewusst machte, dass Vincenzo nie wieder zu mir zurückkommen würde. Ich vermisste ihn unendlich. Alles erinnerte mich an ihn und unsere gemeinsame Zeit. Wenn dann irgendwann meine Tränen versiegt waren, drehte ich mich um, nahm sein Kopfkissen in meinen Arm und stellte mir sein Gesicht vor. Vielleicht würde ich ihm im Traum begegnen? Ihn vielleicht dort noch einmal berühren können. Jeden Morgen jedoch musste ich feststellen, dass ich nicht von ihm geträumt hatte. Schnell verdrängte ich die Gedanken, denn ich wollte nicht, dass Nevio mich hier völlig aufgelöst vorfinden würde. Hoffentlich erklärte er sich dazu bereit, mir zu helfen. Ich war der italienischen Sprache mächtig, aber die bürokratischen Formulierungen erforderten doch bessere Sprachkenntnisse als die, die ich besaß.

Ich setzte mich auf die Terrasse mit einem Glas Wein und wartete auf ihn. Es wurde bereits dunkel, als meine Mutter durch die Tür trat, gefolgt von Nevio.

»Dein Besuch ist da, Ana.«

»Danke, Mama.«

Ich ging auf Nevio zu, der mich freundlich anlächelte.

Etwas verunsichert erwiderte ich seinen Blick, und ergriff die Hand, die er mir entgegenstreckte. Er küsste mich zur Begrüßung rechts und links auf die Wange.

»Ich danke dir sehr, dass du gekommen bist.«

Nevios dunkelbraunen Augen strahlten so viel Wärme und Zuversicht aus, dass ich plötzlich ganz ruhig wurde und mich entspannte. Obwohl wir kaum ein Wort gewechselt hatten, wusste ich, dass er ein ganz besonderer Freund für mich werden würde.

»Komm«, forderte ich ihn auf, »lass uns ein Glas Wein trinken.«

Er folgte mir und setzte sich auf die alte Holzbank.

»Hier haben Vincenzo und ich oft gesessen und über unsere Zukunft philosophiert«, erzählte er. »Wie es sein würde, wenn wir beide unsere eigenen Familien hätten.

Wie sich die Weinbranche im Laufe der Zeit entwickeln würde. Sein Traum war es immer, den Wein auch im Ausland vermarkten zu können, sodass er auf der ganzen Welt bekannt würde. Ich habe ihm gesagt, er sei ein Träumer. Das hat ihn aber nie interessiert. Er sagte immer zu mir: Nevio, du wirst schon sehen, irgendwann wird es so kommen, ich weiß es.« Nevio schluckte, und ich erkannte in seinen Augen die Trauer um seinen besten Freund.

Einen Augenblick später versuchte er zu lächeln.

»Worauf wollen wir trinken, Anastasia?«

Ich erhob mein Glas und versuchte, meine Stimme nicht zu zerbrechlich klingen zu lassen.

»Wir trinken auf den Mann, für den du wie ein Bruder warst. Auf den Mann, der mein Herz mit Liebe gefüllt und der alles hier zu dem gemacht hat, was es heute ist. Und zu guter Letzt auf die Freundschaft, die sich hoffentlich zwischen uns entwickelt. Salute!«

Wir stießen die Gläser zusammen und Nevio blickte gen Himmel. »Salute, mein Freund. Auf dich«, rief er und schluckte mit dem Wein seine Tränen hinunter.

»Also, Anastasia, worüber wolltest du mit mir sprechen?«

Ich lächelte etwas zögerlich. »Nun, zuerst möchte ich, dass du mich Ana nennst. Alle meine Freunde nennen mich Ana.«

Er grinste. »Okay. Also, Ana, wobei kann ich dir helfen?«

»Wie du ja sicher schon weißt, hat Vincenzo mir das Weingut vermacht. Ich weiß nicht, wie er auf die Idee gekommen ist, das zu tun. Und warum ausgerechnet mir?

Und so kurz vor seinem Unfall?«

Nevios Lächeln verschwand und sein Gesichtsausdruck spiegelte nun sein Mitgefühl.

»Ana, er hat mir erzählt, dass er dich als Erbin einsetzen möchte. Er hat mit mir darüber gesprochen.«

Erstaunt zog ich die Augenbraue hoch.

»Vincenzo war jemand, der sich immer eine Menge Gedanken gemacht hat. Er versuchte die Dinge von allen Seiten zu betrachten, bevor er sich für etwas entschied.

Eines Abends kam er zu mir. Er hatte mir bereits eine Menge über dich erzählt und schwärmte geradezu von dir.

Er meinte, du seist seine Seelenverwandte. Er hätte es schon bei eurer ersten Begegnung gespürt. Für ihn warst du die Liebe seines Lebens. Niemals hat er bei einer anderen Frau dieses Gefühl verspürt, dass er für dich empfunden hat.«

Trauer kam in mir hoch und der Schmerz. Ich kämpfte mit den Tränen.

Nevio nahm tröstend meine Hand. »Ich weiß, Ana, dass es schwer ist, aber höre mir zu. Bitte«, flüsterte er mit ruhiger Stimme.

Ich nickte.

»Also, wie gesagt, Vincenzo kam zu mir, während du in Deutschland deinen Umzug organisiertest. Er meinte, er müsse mit mir reden. Es ginge um das Weingut. Da Vincenzo keine Verwandten mehr hatte, die das Gut, falls ihm etwas zustoßen würde, weiterführen könnten, hat er nach dem Tod seiner Eltern ein Testament gemacht.«

Ich erinnerte mich an die Worte des Notars, der mir nach Vincenzos Tod, sein Testament vorgelesen hatte.

»Vor dir war jemand anderes als Nutznießer eingetragen gewesen, Ana. Ich weiß nicht wer, aber Vincenzo hat sich umentschieden, und alles dir vermacht. Er erzählte mir, dass er einen furchtbaren Traum hatte. Er sah dich, wie du an seinem Sarg standest, und ihn zum Abschied geküsst hast.«

Ich starrte Nevio an. Erneut kullerten Tränen über meine Wangen und ich spürte, wie ich zu zittern begann.

»Ana, entschuldige«, versuchte Nevio mich zu beruhigen. »Ich wollte dich nicht so aus der Fassung bringen. Vincenzo hat dieser Traum nicht losgelassen, sodass er sich dafür entschied, dich als Erbin einzusetzen.

Ich möchte dir nur damit sagen, dass es ihm wichtig war, dass du dein neues Zuhause behältst. Und dass er glaubte, dass das Weingut bei dir in den besten Händen sein würde.

Er hat dich sehr geliebt, Ana.«

Ohne nachzudenken, lehnte ich mich an Nevio und weinte. Tröstend legte er seinen Arm um mich. Eine ganze Weile verharrten wir so, ohne dass jemand von uns ein Wort sprach.

Irgendwann richtete ich mich auf und blickte ihn an. Ich erkannte, dass auch er geweint hatte. Hier saßen nun zwei Menschen, die um jemanden trauerten, der für jeden von ihnen etwas Besonderes war.

»Es ist so unsagbar schwer ohne ihn«, ergriff ich das Wort. »Ich vermisse ihn jede Minute und weiß nicht, wie ich alles ohne ihn schaffen soll. Er war die Liebe meines Lebens und wird es immer bleiben. Aber soll ich dir was sagen, Nevio, das Schicksal ist ein mieser Verräter, so wie in dem Film. Erst führt es uns zusammen und hebt uns auf den Wogen der Liebe davon, bis es uns aber letztendlich doch wieder zurück auf den Boden holt und uns für immer auseinanderreißt. Ich verachte das Schicksal und will nie wieder etwas davon hören. Alles in meiner Macht stehende werde ich dafür tun, dass das Weingut weiterläuft und erfolgreicher wird. Ganz genau so, wie es Vincenzo sich erträumt hat. Es war seine Vision, den Wein in Europa und in der ganzen Welt bekannt zu machen. Genau das ist nun meine Aufgabe und ich werde ihn nicht enttäuschen, das schwöre ich dir. Ich werde ihm beweisen, dass er mir das Weingut zu recht anvertraut hat. Aber ich brauche ebenfalls jemanden, dem ich vertrauen kann und der mir dabei hilft. Ich würde mir wünschen, dass du dieser Jemand bist, Nevio. Vincenzo hat dir vertraut, und somit vertraue ich dir auch.«

Nevio versuchte zu lächeln.

»Weißt du, Ana, wir waren wie Brüder. Ich liebte ihn fast mehr als meinen eigenen Bruder. Als ich von dem Unfall erfahren hatte, wollte ich es nicht wahrhaben. Eines Abends fuhr ich zu der Stelle, wo der Unfall passiert war.

Ich setzte mich unter diesen verdammten Baum, dachte an unsere gemeinsame tolle Zeit, die niemals wiederkehren würde, und betrank mich sinnlos. Irgendwann schlief ich ein, und erwachte am nächsten Morgen mit einem riesengroßen Kater. Vincenzo hätte mir eine Moralpredigt gehalten, wäre er jetzt hier, glaub mir. Er war immer der Vernünftigere von uns beiden. Verdammt, er fehlt mir. Ich denke, wir brauchen einfach Zeit, das zu verwinden.« Für einen kurzen Moment starrte er vor sich hin, dann wandte er sich mir wieder zu.

»Nun aber genug. Wie kann ich dir helfen, Ana?« »Oh, da gibt es eine Menge. Vincenzo hat mir mal erzählt, dass du ihm nach dem Tod seiner Eltern sehr geholfen hast, mit dem ganzen Papierkram. Und dass er das ohne dich niemals geschafft hätte. Diesmal bin ich es, die dabei wirklich deine Hilfe gebrauchen könnte.«

»Wenn es mehr nicht ist. Außerdem habe ich gar keine Wahl. Vincenzo würde persönlich von der Wolke steigen und mich verprügeln, wenn ich dir absagen würde. Nein, ganz im Ernst, ich werde dir helfen, wo immer ich kann.

Ab heute sind wir Freunde, das verspreche ich dir. Wenn du mich brauchst, ich bin für dich da.«

»Danke, das hatte ich gehofft.« Ich sprang auf und holte die Unterlagen, die mir so viel Kopfzerbrechen verursachten.

Ich wuchtete den Stapel Papiere auf den großen Tisch.

»Okay, Signor Nevio Sabadini. Mal sehen, ob dein Angebot noch immer steht. Und um es gleich vorwegzunehmen, dieser kleine Teil hier sind nur Dinge, die ich noch in der nächsten Woche erledigen muss.« Seine Augen weiteten sich, und er warf mir einen schelmischen Blick zu.

»Ach, Signorina Anastasia, das ist doch eine Kleinigkeit.

Sie haben es hier mit einem äußerst kompetenten Menschen zu tun, falls sie es noch nicht wissen. Ich bin prädestiniert dazu, schwierige Fälle zu lösen. Also schauen wir mal, was wir da haben.«

Ich hatte eine Liste mit kurzen Notizen erstellt, um die Sache übersichtlicher zu gestalten. Prioritäten mussten gesetzt werden, damit nicht alles völlig chaotisch endete.

Nevio rieb sich die Hände und setzte sich auf einen der Stühle. »Schenkst du uns noch ein Glas ein, ich denke, das wird hier länger dauern«, bat er mich und machte sich an die Arbeit.

Es dauerte länger. Bis spät in die Nacht saßen wir über den Papieren. Irgendwann legte er die letzten Unterlagen zur Seite.

»So, das wäre es erst einmal. Solltest du in der Zwischenzeit Fragen haben, ruf mich an. Ebenso wegen der Ernte. Wenn du Hilfe brauchst, melde dich.«

»Das werde ich, Nevio. Vielen Dank.«

»Ich werde mich jetzt auf den Weg machen.« Er stand auf und ich brachte ihn zur Tür. Es war draußen noch immer angenehm warm, obwohl die Uhr bereits weit nach Mitternacht anzeigte. Ich umarmte ihn zum Abschied und sah ihm nach, als er in der Dunkelheit verschwand.

Zufrieden schloss ich die Tür und ging nach oben. Im Haus hörte man kein einziges Geräusch, außer meine Schritte auf der alten Holztreppe. Nachdem ich mich ins Bett gelegt hatte, begannen die Gedanken zu kreisen.

Vincenzo hatte einen Traum, und seinen Tod vorausgeahnt? Wie konnte so etwas sein?

Die Erinnerung an diesen endgültigen Abschied kam in mir hoch. Der Anblick seines leblosen Körpers in dem Sarg, seine blasse Haut, seine dunklen langen Wimpern.

Ich erinnerte mich an jedes Detail und auch daran, wie seine kalten Lippen sich anfühlten, als mein Mund ihn zu letzten Mal geküsst hatte.

Zwei Tage später brachte ich meine Mutter zum Flughafen.

»Bitte pass auf dich auf, Ana. Übernimm dich nicht, du bist noch nicht stark genug. Es ist zu viel passiert.«

»Es ist alles gut, Mama. Sorge dich nicht, ich habe doch eine würdige Vertreterin für dich, bis du wieder zurück bist. Finola wird schon auf mich achtgeben. Ich schaffe das, denn ich habe deine Gene geerbt, vergiss das nicht.«

Jetzt lächelte sie und drückte mich fest an sich. Aber ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Mama, bitte weine nicht. Alles wird gut. Gemeinsam schaffen wir das. Du in Deutschland und ich hier, bis wir wieder vereint sind. Die Corellas sind nicht kleinzukriegen, hab ich recht?«

Meine Mutter nickte, während eine kleine Träne über ihre Wange rollte.

»Mama, sag es! Hab ich recht?«

»Ja, Ana, du hast recht. Zusammen sind wir stark.«

»Genau, das sind wir. Und wenn du nicht sofort aufhörst zu weinen, dann breche ich hier zusammen. Das möchtest du doch nicht, oder?«

Sie schüttelte vehement den Kopf, schniefte noch einmal und wischte sich die Träne fort.

»Sehr gut, Mama. Du musst jetzt los, sonst geht der Flieger ohne dich. Sobald ich das Wichtigste hier erledigt habe und die Weinlese vorbei ist, komme ich nach und wir kümmern uns um den Rest.«

»In Ordnung, Ana, so machen wir es. Ich bin so erleichtert, dass Finola bei dir bleibt und du nicht alleine auf dem Gut bist. Wer weiß….«

Ich ließ sie nicht weiter zu Wort kommen, sondern schob sie direkt zum Sicherheitscheck. Zum Abschied umarmten wir uns ein letztes Mal für längere Zeit. Ich blickte ihr noch kurz hinterher, als sie durch die Tür schritt, dann drehte ich mich schnell um und lief zum Ausgang. Auf keinen Fall sollte meine Mutter die Sturzbäche sehen, die aus meinen Augen flossen. Am Auto angelangt, brauchte ich einen Augenblick, um mich zu beruhigen. Ihre Abreise verursachte mir Ängste, ihr könnte etwas zustoßen. Was, wenn ich auch sie nicht wiedersehen würde, ihr etwas Schlimmes passierte? Nein, ich durfte dieses Gefühl nicht zulassen, ich musste es stoppen, es weit von mir schieben.

Ich stellte das Radio an und startete den Wagen. Schon fast zwanghaft überlegte ich, was ich in den nächsten Tagen erledigen musste. Die Weinlese begann in der nächsten Woche. Prall und dunkel hingen die Trauben an ihren Reben und warteten nur darauf, von den Helfern gepflückt zu werden. Anschließend würden sie zu dem besten Wein verarbeitet, den die Welt je gesehen hatte.

Das waren Vincenzos Worte, und ich wünschte mir, dass er damit recht behielt.

Der Wein würde ein ganz besonderer Jahrgang werden, denn er stammte aus der Zeit, in der ich meine große Liebe fand, nur um sie wieder zu verlieren. Welchen Sinn konnte das haben? Auf diese Frage würde ich wohl niemals eine Antwort bekommen. Aber eines wusste ich ganz sicher, ich würde ihn lieben, für immer!

In dem Augenblick schoss mir ein Gedanke durch den Kopf. Sofort verknüpften sich die Synapsen in meinem Gehirn und ich begann zu planen. Ich hielt es vor Aufregung kaum aus. Diese Neuigkeit musste ich loswerden, und zwar sofort. Ich betätigte die Freisprechanlage meines Autos und rief Nevio an.

Nach zweimaligem Klingeln nahm er ab.

»Buongiorno, Nevio. Ich muss dir etwas erzählen: Ich habe eine Idee.«

»Oh fantastisch, ich liebe gute Ideen, also raus mit der Sprache.«

»Es geht um den Wein in diesem Jahr. Ich würde ihm gerne einen besonderen Namen geben.«

Ich ließ mir absichtlich Zeit, bevor ich weitersprach. Ich wollte, dass er vor Neugierde platzte.

»Ja, und, Ana? Welchen Namen möchtest du ihm geben?«

»Es soll ein ganz besonderer Name sein, weil es ein ganz besonderer Jahrgang ist.« Wieder legte ich eine Pause ein.

Mal sehen, wie geduldig er war.

»Ana? Bist du noch da?«, fragte er am anderen Ende der Leitung.

»Ja, bin ich.«

»Sehr gut, aber warum machst du es denn so spannend?«

»Nun, weil es ein würdiger Augenblick ist, den ich mit einem Freund teilen möchte.«

»Sehr schön, Ana, das ehrt mich. Aber stell dir vor, genau den hast du nun am Apparat. Also leg los, und spann mich nicht länger auf die Folter!«

Ich musste grinsen, denn er reagierte genau so, wie ich es erwartet hatte.

»Aber was ist, wenn er dir nicht gefällt? Oder du daran herumkritisierst?«

Er atmete hörbar laut ein, und fast schon ein wenig genervt wieder aus.

»Ana, würde ein Freund so etwas tun? Allerdings muss ich zugeben, dass ich ungehalten werden könnte, wenn du mir nicht langsam den Namen sagst. Also, Signorina Ana, den Namen bitte.«

»Hm, ich muss sagen, mir gefällt es, wenn du bettelst«, antwortete ich keck.

Am anderen Ende der Leitung stöhnte Nevio erneut auf.

»Okay gut, Nevio, ich bin soweit. Ich werde den Wein per sempre nennen.«

Stille. Nichts, er sagte kein Wort.

»Bist du noch da, Nevio?«

»Ja, bin noch da. Also gut, was sag ich dazu? Hm, das ist schwierig.«

»Wieso schwierig?«, fragte ich leicht enttäuscht.

»Nun ja, ein markanter Name, der etwas Bedeutendes aussagt.«

»Ja eben, soll er ja auch. Findest du den Namen nicht gut?«

»Ähm, wie gesagt, schwierig.«

»Okay, du findest ihn nicht gut, das akzeptiere ich. Du musst ihn auch nicht gut finden. Ich wollte ja nur deine Meinung dazu hören. Und du warst ehrlich, das schätze ich an Freunden. Was jedoch nicht bedeutet, dass ich den Namen ändern werde. Entschuldige bitte, das bringe ich nicht übers Herz. «

»Ana?«

»Ja?«

»Ich habe nicht gesagt, dass ich ihn nicht gut finde. Nur, dass es schwierig ist, und er viel aussagt.«

»Ja, aber wieso? Das ist doch dasselbe.«

Lachen am anderen Ende der Leitung. »Da soll man die Frauen verstehen. Das ist so typisch für euch. Ihr lasst den Mann einfach nicht ausreden.«

»Jetzt verstehe ich gar nichts mehr? Es hörte sich nicht danach an, als wolltest du dich noch positiv dazu äußern.«

»Würde es dich überraschen, wenn ich dir sage, dass ich den Namen großartig finde?«

Jetzt war ich sprachlos.

»Ist das wahr, Nevio? Dir gefällt der Name?«

»Ja, ich finde ihn perfekt und ich bin mir sicher, das wäre in Vincenzos Sinne gewesen. Per sempre, für immer.«

»Ja, genau. Die Erinnerungen an unsere Liebe und die Weinberge werden mich für immer mit ihn verbinden.«

»Gefällt mir, Ana. Also, Per sempre, kleine Freundin.

Und viel, viel Erfolg mit dem Wein.«

»Danke, Nevio. Bis bald, ich melde mich wieder.«

»Si, bis bald.«

Kapitel 3

Als ich durch das schmiedeeiserne Tor fuhr, sah ich vor dem Haus ein Auto stehen. Wer mochte das sein? Bei genauerer Betrachtung erkannte ich, dass es sich um einen Leihwagen handelte.

Noch während ich überlegte und die Treppen zur Haustür hinaufging, hörte ich Stimmen, die mir bekannt vorkamen. Das konnte doch wohl nicht wahr sein? Nein, das war unmöglich. Ich öffnete hastig die Haustür und tatsächlich, vor mir standen Hajo und Adele.

»Mein Gott, was macht ihr denn hier?«

Adele stürzte sich geradezu auf mich und nahm mich fest in ihre Arme.

»Ana, meine Liebe, was hast du nur mitgemacht? Ich kann es noch immer nicht fassen. Das hast du einfach nicht verdient.«

Sie weinte, und ich spürte, dass auch mir die Tränen in die Augen schossen.

Immer wieder drückte sie mich an sich, bis Hajo dazukam.

»Ana, auch mir tut es so unsagbar leid. Ich habe Vincenzo sehr gemocht. Er war ein guter Kerl und ein herausragender Winzer.«

Auch er umarmte mich tröstend. Diese beiden Menschen waren mittlerweile zu Freunden geworden. Besonders in diesem Augenblick spürte ich wieder, wie nah sie mir waren.

Ich versuchte, meine Gefühle unter Kontrolle zu bekommen.

»Meine Güte, ich fasse nicht, dass ihr hier seid. Warum habt ihr nichts gesagt?«

»Wir wollten dich überraschen und persönlich sehen, wie es dir geht«, erwiderte Adele.

»Das ist ganz lieb von euch, eine tolle Idee.«

»Außerdem habe ich noch ein paar Geschäftstermine hier, sodass wir den Besuch bei euch, sehr gut verbinden konnten«, sagte Hajo

»Ich freue mich riesig, dass ihr da seid. Ich werde Giulietta informieren, dass sie euer Zimmer vorbereitet und uns etwas zu essen macht. Geht doch schon mal auf die Terrasse, ich komme gleich nach.«

Ich machte mich auf die Suche nach Giulietta, und fand sie schließlich im Obergeschoss, wo sie bereits das Zimmer vorbereitete.

»Giulietta, du bist einfach die Seele dieses Hauses. Was würde ich nur ohne dich tun?«

»Signorina, ich freue mich sehr für Sie. Die Karstens sind nette Leute, und ihr Besuch wird Sie etwas ablenken.

Ich werde gleich etwas Schönes für sie kochen.«

»Sie sind einfach unbezahlbar, Giulietta. Danke.« Schnell hüpfte ich die Stufen hinunter und lief in die Küche. Nachdem ich ein paar Getränke, etwas zum Knabbern und eine Flasche Wein zusammengestellt hatte, betrat ich die Terrasse.

Hajo und Adele saßen bereits an dem großen Tisch und warteten auf mich.

Nachdem ich die Gläser gefüllt hatte, stießen wir an.

»Auf eine schöne Zeit. Ich freue mich sehr, dass ihr hier seid. Das bedeutet mir wahnsinnig viel«, sagte ich und schluckte.

»Salute«, rief Hajo und setzte ohne ein weiteres Wort das Glas an seinen Mund. Adele und ich taten es ihm nach, und ich dachte an das letzte Mal, als wir hier auf der Terrasse zusammen Wein getrunken hatten. Damals war es Vincenzo gewesen, der ihn eingeschenkt hatte.

Ich riss mich zusammen, um nicht in Tränen auszubrechen, während ich von seinem Unfall berichtete.

Zu guter Letzt erzählte ich Ihnen, dass er mir das Weingut vererbt hatte. Sie schauten mich mit großen Augen an.

»Er hat dir das Gut vermacht?«, hakte Hajo nochmals ungläubig nach.

»Ja, das hat er«, bestätigte ich.

»Das ist wirklich unglaublich. Er muss eine Menge Vertrauen in dich gesetzt haben. Wie ich schon einmal sagte, er hatte von Anfang an dein Potenzial erkannt.«

»Nun ja, wobei er mehr von mir gehalten hat als ich selbst.« Traurig senkte ich den Blick, während Adele meine Hand nahm.

»Ich finde es ganz wunderbar, dass dir nun dieses Weingut gehört, Ana. Du liebst es doch und du fühlst dich hier zu Hause. Eure Liebe ist hier erblüht, und sie wird dich immer begleiten, egal was du tust. Ich bin mir sicher, du schaffst das. Hier sind deine Wurzeln, die schon mehr mit diesem Land verwachsen sind, als du es vielleicht denkst.«

»Genau, Ana. Adele hat recht«, meldete sich Hajo zu Wort. »Auch ich bin mir sicher, dass du das schaffst. Ich weiß, was das Führen eines Weingutes bedeutet, es ist harte Arbeit. Aber diese Weinberge haben großes Potenzial, und das weißt du auch. Vincenzo hat hervorragende Arbeit geleistet, und du wirst es in seinem Namen weiterführen. Du kennst den Absatz, den ich bereits mit seinem Wein erzielt habe, und dies ist erst der Anfang. Wenn du möchtest, helfe ich dir, falls du Fragen hast. Wir bleiben eine Woche, da kann man eine Menge schaffen. Also, was meinst du, Ana?«

Ich lächelte glücklich und erleichtert. »Natürlich nehme ich dein Angebot an, Hajo. Du bist doch mein Lehrmeister.

Nevio, Vincenzos bester Freund, hat sich schon mit mir durch einen Teil der Papiere gearbeitet. Er ist ebenfalls Winzer und übernimmt eines Tages das Weingut seines Vaters. Vielleicht wäre ein Geschäft mit ihm auch interessant für dich. Er ist sehr nett und hilfsbereit.«

»Wir werden sehen. Jetzt gibt es erst einmal Wichtigeres.«

Ich erhob erneut das Glas. »Salute. Auf gute Zusammenarbeit und auf die Freundschaft.«

»Salute«, erwiderten die beiden Menschen, die einen ganz besonderen Platz in meinem Herzen hatten.

Später am Abend gesellte sich meine Großmutter Finola zu uns. Sie hatte bereits ein paar ihrer persönlichen Sachen mitgebracht. Bis zu meinem Abflug nach Deutschland würde sie bei mir wohnen.

Sie freute sich sehr, die Karstens endlich kennenzulernen. Hätten die beiden mich nicht mit nach Italien genommen, wäre ich meiner Großmutter wohl nie begegnet. Mit Vincenzo hatte ich mich auf die Suche nach meiner italienischen Familie gemacht. Meine Großmutter zu finden, kam mir noch heute vor wie ein Wunder. Finola berichtete den Karstens von dem Moment, als ich mit Vincenzo plötzlich vor ihrer Tür gestanden hatte. Es war unübersehbar, dass sie das noch immer sehr bewegte.

Selbst Adeles Augen wurden feucht, obwohl sie die Geschichte ja bereits von mir gehört hatte.

»Wir freuen uns sehr, das Ana Sie gefunden hat. Das Sie allerdings jetzt für immer hier in Italien bleibt … Hm, hätten wir das vorher gewusst, hätten wir sie sicher nicht mitgenommen. Wer konnte denn auch ahnen, das Vincenzo ihr so sehr den Kopf verdreht, dass sie alle Zelte in Deutschland abbrechen würde. Er hat sie um den Finger gewickelt und sofort erkannt, welche Qualitäten sie besitzt. Tja, und ehe ich mich versah, hat er sie abgeworben, und ich war um eine sehr gute Mitarbeiterin ärmer. Das hat mich schon geärgert, aber was soll man gegen die Liebe tun?«

Einen kurzen Momentlang herrschte Stille. Ich schluckte, denn meine große Liebe war fort, für immer.

Meine Großmutter nahm meine Hand und ergriff das Wort.

»Sie sind eine Mitarbeiterin ärmer, Signore Karstens, aber ich habe meine Enkelin gefunden, oder sagen wir sie mich. Dafür werde ich Ihnen ein Leben lang dankbar sein.

Es ist ein Geschenk, dass ich die wenigen Jahre, die mir noch bleiben, mit Ana verbringen darf. Wir haben so viel nachzuholen, stimmt’s, Ana?«

Ich lächelte ihr zu und drückte ihre Hand.

Am nächsten Tag erwachte ich und fühlte mich wie erschlagen. Leichte Übelkeit überkam mich.

Wahrscheinlich war das letzte Glas Wein eins zu viel gewesen. Wir hatten noch bis spät in die Nacht draußen gesessen und über alte Zeiten geredet. Nachdem ich mich schließlich aufgerafft hatte und frisch geduscht die Treppe hinunter lief, ging es mir etwas besser. Giulietta stand schon in der Küche, und bereitete das Frühstück vor. Wie immer ließ sie sich nichts aus der Hand nehmen, sodass sie mich aus der Küche verbannte. Ich trat nach draußen in die Morgensonne, die bereits über den Weinbergen aufgegangen war. Ich liebte diesen Augenblick völliger Ruhe, wenn der Tag erwachte. Tief atmete ich die klare Luft ein. Schon bald würden die warmen Sonnenstrahlen die Morgenfrische vertreiben, bis die Abenddämmerung ihren Platz einnahm. Das Wetter war perfekt, um in den nächsten Tagen die Trauben noch ein bisschen reifen zu lassen.

Finola saß bereits an dem großen Tisch und trank eine Tasse Kaffee.

»Buongiorno, meine Süße«, begrüßte sie mich. »Wie hast du geschlafen?«