Kaspar Villiger
Demokratie
jetzt erst recht!
Politik im Zeitalter von Populismus und Polarisierung
NZZ Libro
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© 2018 NZZ Libro, Neue Zürcher Zeitung AG, Zürich
Der Text des E-Books folgt der gedruckten 1. Auflage 2018 (ISBN 978-3-03810-330-1)
Lektorat: Sigrid Weber, Freiburg
Titelgestaltung: TGG Hafen Senn Stieger, St. Gallen
Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck
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ISBN E-Book 978-3-03810-380-6
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NZZ Libro ist ein Imprint der Neuen Zürcher Zeitung
Meinen Enkelinnen Nova und Milla mit dem Wunsch, sie mögen in einer Welt voller Ungewissheiten niemals die Zuversicht verlieren!
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Über den Wert der Werte
Warum sich Demokratie an Werten orientieren muss
I. Werte allenthalben!
II. Fünf erste Erkenntnisse
III. Sind Demokratien Wertegemeinschaften?
IV. Werte prägen das Zusammenleben von Menschen
V. Fünf Thesen zum Problem der Werte
VI. Demokratie und Marktwirtschaft als institutionelle Umsetzung von Werten
VII. Kann man ein Volk auf Werte verpflichten?
VIII. Werte, nach wie vor!
Erfolgsstory Schweiz: Geschenk, Zufall oder Errungenschaft?
Warum die Balance zwischen genossenschaftlichen und freiheitlichen Werten nicht zulasten der Freiheit gestört werden darf
I. Das Paradies
II. Der Hochsitz
III. Spurensuche in der Vergangenheit
IV. Spurensuche in der Gegenwart
V. Zehn Thesen zum politischen und wirtschaftlichen Handeln von Menschen
VI. Charakteristika eines erfolgreichen Staates
VII. Die zwei eidgenössischen Duopole
VIII. Unsere Institutionen und ihre Bedeutung für die Erfolgsfaktoren
IX. Normale «Unvollkommenheiten» oder erste Warnsignale?
X. Der Fluch der schönen Tage
XI. Funktionieren unsere Institutionen unter den heutigen Bedingungen noch?
XII. Digitalisierung: Eine offene Frage
XIII. Acht Probleme, die es anzupacken gilt!
XIV. Es lohnt sich, am Erfolg der Schweiz weiterzuarbeiten!
Von Zufällen, starken Männern und der Mühsal der Demokratie
I. Zufall oder Fügung?
II. Helmut Kohl und bedeutende Männer
III. Vom Führen mit begrenzter Macht
IV. Worauf es bei Führung in der Demokratie ankommt
V. Zufall, Zeitgeist und Führung
VI. «Kranke machen Weltgeschichte»
VII. Von der Sehnsucht nach dem starken Mann
VIII. Die Unvermeidbarkeit von Mühsal in der Demokratie
Wahrheit, Unwahrheit und Lüge
Warum Wahrhaftigkeit eine zentrale Tugend ist. Nach wie vor!
I. Drei Fallbeispiele
II. Über die Wahrheit
III. Der Lügner
IV. Entlarvt der Wettbewerb die Lüge?
V. Vom Transistor zum Internet oder die industrielle Fertigung der Lüge
VI. Wir, die Belogenen
VII. Wo schwappt Zuspitzung in Lüge über?
VIII. Die Erinnerung, eine unzuverlässige Zeugin
IX. Wahrhaftigkeit: Jetzt erst recht!
Anmerkungen
Der Autor
Vorwort
Drei Lebensabschnitte
Wenn ich aus der Perspektive der zweiten Hälfte meines achten Lebensjahrzehnts – kaum zu glauben, wie rasch das eigentlich ging! – auf mein Leben zurückschaue, kann ich drei zentrale Abschnitte identifizieren: die Phase der Entdeckung, die Phase des Handelns und die Phase der Reflexion. Die Phase der Entdeckung dauerte von der Kindheit bis zum Abschluss des Studiums. Sie lehrte mich – am intensivsten wohl während der Gymnasialzeit –, wie vielfältig, spannend und faszinierend diese Welt mit ihren Kulturen, Wissenschaften und Geschichten ist. Aber sie lehrte mich auch, dass jede Entscheidung, etwas zu vertiefen, gleichzeitig den Verzicht auf tausend anderes bedeutet, das zu vertiefen ebenfalls lohnend wäre. Mit der Phase des Handelns begann vom ersten Tag an die Übernahme von Verantwortung. Umstände entwickelten ihre Zwänge, Entscheidbedarfe standen Schlange, Analyse und Handeln gerieten unter Zeitdruck einander ins Gehege, und schliesslich galt es, für das, was herauskam, geradezustehen. Dabei war trotz intensiven Weiterlernens der Entscheidbedarf meist grösser als der Vorrat zureichender Gründe. Ich empfand es stets als Privileg, auf verschiedensten Gebieten und in unterschiedlichsten Funktionen ein so reiches Berufsleben zu haben.
Der Sprung in die Phase der Reflexion war brüsk. Irgendwie fehlten plötzlich Stress, Spannung und auch das Gefühl von Sinnfülle. Der – wie es halb zynisch, halb gönnerhaft so schön heisst – «wohlverdiente Ruhestand» erwies sich nach Jahren mit hoher Arbeitsbelastung zunächst als eher leer. Weil mir weder Golfen noch Jassen liegt und weil mich Reisen allein, so faszinierend es ist, auch nicht völlig zu erfüllen vermag, entdeckte ich die Reflexion, das Nachdenken über Phänomene und Geschehnisse, das Hinterfragen dessen, was man geglaubt hat und immer noch glaubt. Selbstverständlich wird die Reflexion von der Erinnerung an die Phase des Handelns, von der Erfahrung also, beeinflusst. Wenn man beispielsweise über Finanzkrisen nachdenkt, ist es ein Unterschied, ob man das auf der Basis eigener Erfahrung durch die Mitarbeit an der Stabilisierung einer taumelnden Grossbank mit allen Ängsten und schlaflosen Nächten tut oder auf der Basis von Grafiken und Tabellen wie beim Verfassen einer Dissertation. Dabei ist mir bewusst, dass die Nähe zum Geschehen die Sicht auch verfälschen kann. Der Reiz der Phase der Reflexion liegt darin, beides miteinander zu konfrontieren: die neueren Erkenntnisse aus Büchern, Zeitungsartikeln und wissenschaftlichen Publikationen mit den Erkenntnissen aus der eigenen Erfahrung. Was daraus resultiert, erhebt keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit. Darüber soll auch die lange Literaturliste dieses Buches nicht hinwegtäuschen. Es ist der Versuch, die Welt von heute mittels der Verbindung von eigener Erfahrung mit dem Wissen anderer besser zu verstehen. Man kann das natürlich auch ausschliesslich im Lehnstuhl tun, aber es schriftlich zu formulieren, erfordert mehr Disziplin im Denken. Es bereichert die Phase der Reflexion!
Drei Fragen
Ich suche in diesem Buch Antworten auf drei Fragen. Die erste Frage hängt mit dem zusammen, was mir meine Eltern während meiner Jugend beizubringen versuchten, nämlich Anstand, Fleiss, Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit, Einhalten von Versprechen und Hilfsbereitschaft. Ich will heute den Erfolg dieser Bemühungen nicht selber beurteilen. Aber wenn ich die Zeitung lese, habe ich den Eindruck, dass ganz andere menschliche Verhaltensweisen das Geschehen dominieren: Lüge, Vertuschung, Irreführung, Betrug, Intrige, Raffinesse, Verschleierung, Korruption, Masslosigkeit, Gewalt und Unterdrückung. Das führt mich zur ersten Frage: Haben denn die doch eher verstaubt, spiessbürgerlich, langweilig und bieder wirkenden Werte, an die meine Eltern glaubten, überhaupt noch praktische Bedeutung in diesem durch Globalisierung noch unberechenbarer gewordenen Hexenkessel menschlichen Tuns? Dieser Frage vor allem sind die Ausführungen über die Werte und die Lüge gewidmet.
Wenn ich nun wiederum die Zeitung zurate ziehe, sehe ich, dass gestandene Demokratien mit politischer Unrast, sozialen Turbulenzen und hoher Arbeitslosigkeit kämpfen, während «starke Männer» wie Xi Jinping, Putin oder Erdogan ihre Länder, zum Teil unter Nutzung pseudodemokratischer Mechanismen und unter Applaus ihrer Völker, konsequent und unter Missachtung von Rechtsstaat und Menschenrechten zu lupenreinen Autokratien umbauen. Aber auch in Staaten wie Polen, Ungarn und die USA zeigen vom Volk gewählte «starke Männer» wenig Respekt vor rechtsstaatlichen und demokratischen Errungenschaften. Das alles wirft die zweite Frage auf, die nach der Persistenz und Zukunftstauglichkeit ebendieser Errungenschaften.
Die dritte Frage ergibt sich fast wie von selbst, wenn man den im Vergleich beneidenswerten wirtschaftlichen und politischen Zustand der Schweiz betrachtet: Wie machen die das eigentlich, diese Schweizerinnen und Schweizer? Und ist das überhaupt nachhaltig, was die da tun?
Drei Antworten
Ich will versuchen, auf die drei Fragen in Kürzestform schon im Vorwort einzugehen. Die Antworten sind weder spektakulär noch sonderlich überraschend. Aber in einer Zeit, in der vor allem das Aufmerksamkeit erregt, was das Gegenteil von dem behauptet, was alle eigentlich wissen, ist es manchmal trotzdem wichtig, bestätigt zu sehen, dass alte und überlieferte Wahrheiten und Weisheiten ihre Gültigkeit nicht verloren haben. Schon gar nicht im Zeitalter von Fake News und Alternative Facts!
Die Antwort auf die erste Frage lautet: Ja, die alten Werte und Tugenden sind noch immer wichtig, weil die Menschen in Staaten, Organisationen und Unternehmen besser leben, in denen sie beherzigt werden. Auf die zweite Frage lautet meine Antwort, dass nur in Demokratien die Menschen auf Dauer wirklich frei und in Würde leben können und dass es sich lohnt, auch unter widrigen Umständen dafür zu kämpfen. Aber auch Demokratie braucht Führung, selbst wenn das im Umfeld begrenzter Macht bisweilen mühsam ist. Um eine Antwort auf die dritte Frage zu finden, habe ich versucht, die Auswirkungen der Institutionen und der politischen Kultur des interessanten politischen Biotops Schweiz auf die Erfolgsmerkmale Freiheit, Wohlstand, Stabilität und Sicherheit herauszufiltern und zu ordnen. Dabei zeigt sich, dass der Erfolg der Schweiz auf einer komplexen und ausbalancierten Mischung von Freiheit, Machtbegrenzung und Bürgerbeteiligung beruht. Allerdings sind einige der Erfolgsfaktoren angefochten, sodass die erfolgsnotwendige Balance zwischen den verschiedenen Elementen immer wieder gefährdet ist, zurzeit vor allem zuungunsten der freiheitlichen Elemente. Denn wenn die Geschichte eines zeigt, so ist es dies: Nichts ist so wenig auf Dauer gesichert wie der Erfolg!
Dreimal danke
Zuerst danke ich meiner Frau für ihre unverzichtbare Unterstützung nach der zweiten nun auch in der dritten Lebensphase, aber auch für ihre Geduld, wenn ich hinter Büchern sitze, ohne dass ich das eigentlich müsste. Zweitens danke ich Professor Ernst Fehr, dem Direktor des UBS Centers of Economics in Society an der Universität Zürich, und Dr. Roman Studer, dem Chief Operating Officer des Centers. Sie beliefern mich immer wieder mit neuen Arbeiten und Erkenntnissen aus den Werkstuben der Ökonomen. Drittens danke ich Stefania Camatta für die zuverlässige Übertragung meiner Gedanken aus der Diktatform in die Schriftform des PC und den Verantwortlichen des Verlags NZZ Libro für die ausgezeichnete Zusammenarbeit. Seit ich ohne Stäbe und Infrastruktur arbeiten muss, weiss ich solche Hilfen umso mehr zu schätzen.
Drei Schlussbemerkungen
Die erste Bemerkung: Ich musste da und dort auf wichtige Probleme verweisen, die zwar unbedingt gelöst werden müssen, deren Lösung aber noch sehr unsicher ist. Die Altersvorsorge in der Schweiz ist ein Beispiel. Wer ein Buch schreibt, muss irgendeinmal Redaktionsschluss machen. Bei mir ist das Mitte Januar 2018. Die Erde dreht sich aber weiter. Sollte deshalb beispielsweise bei der Lektüre dieses Buches das Problem Altersvorsorge wider Erwarten schon gelöst sein, entschuldige ich mich für die Fehleinschätzung, aber ich würde mich trotzdem sehr darüber freuen. Zweite Bemerkung: Ich habe mir nach meinem Rücktritt vorgenommen, mich nicht mehr in die Tagespolitik einzumischen und mich aufs Grundsätzliche zu beschränken. Wenn man allerdings über die Perspektiven der Schweiz schreibt, mag es vorkommen, dass man in die Grauzone zwischen Tagespolitik und Grundsätzlichem gerät. Ich entschuldige mich auch dafür. Drittens gibt es in meinen Aufsätzen bisweilen Doppelspurigkeiten. Ich bitte um Verständnis dafür. Sie sind unvermeidlich, wenn man die Aufsätze auch je für sich allein soll lesen können.
Zug, im Januar 2018
Kaspar Villiger
Über den Wert der Werte
Warum sich Demokratie an Werten orientieren muss
I. Werte allenthalben!
Albert Rösti, der Präsident der Schweizerischen Volkspartei, erinnerte anlässlich des Nationalfeiertags 2017 die «lieben Schweizerinnen und Schweizer» in einem bezahlten Inserat an die Stärken und Werte unseres Landes, die uns Freiheit, Wohlstand und Sicherheit gebracht hätten. Es seien dies Unabhängigkeit, Selbstbestimmung, Neutralität, eine freiheitliche Rechtsordnung, die direkte Demokratie und der Föderalismus.1 Der Präsident der Christlich-Demokratischen Volkspartei (CVP) der Schweiz, Gerhard Pfister, bezeichnet auf seiner Webseite die Werte der CVP als Massstab seiner Politik. Als Gründe für das Erfolgsmodell Schweiz führt er Solidarität und Gemeinsinn, direkte Demokratie, liberale Wirtschaftsordnung, Freiheit der Bürgerinnen und Bürger, Selbstverantwortung, Föderalismus und ausgezeichnete Bildung an.2 Die FDP. Die Liberalen gibt Freiheit, Gemeinsinn und Fortschritt als Basis ihrer Politik an.3 Und die Sozialdemokratische Partei (SP) der Schweiz will ihre Politik auf den drei Grundwerten Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität abstützen.4 Ich gebe gerne zu, dass ich in meinen wenigen Augustreden auch schon zur Besinnung bewährter Schweizer Werte aufgerufen habe.
Die Migration hat in den europäischen Ländern eine breite Debatte über Werte entfacht. Lebhaft wird die Frage diskutiert, ob es legitim oder gar nötig sei, Migranten, die sich in unseren Demokratien niederlassen wollen, auf die Beherzigung gewisser Grundwerte zu verpflichten. Dabei ist meist die Rede von demokratischen, abendländischen, europäischen oder gar christlichen Werten. In Deutschland ist ein Streit darüber entbrannt, ob es sogar eine Art Leitkultur brauche, die von Bürgerinnen und Bürgern zu akzeptieren sei, um ein friedliches Zusammenleben auch mit Migranten zu gewährleisten. Niemand weiss allerdings so ganz genau, was darunter zu verstehen ist. Dass Ehrenmorde, Beschneidungen von Mädchen, Auspeitschungen oder Kinderehen mit einer solchen Leitkultur nicht vereinbar wären, ist in unseren Breiten wohl unbestritten. Aber wie steht es mit den Grauzonen, etwa mit dem Tragen der Burka oder der Verweigerung des männlichen Handschlags Frauen gegenüber?
Oft hilft bei der Klärung einer Frage eine Recherche mit Google. Bei Wikipedia wird erklärt, dass Werte im allgemeinen Sprachgebrauch als erstrebenswert oder moralisch gut betrachtete Eigenschaften oder Qualitäten bezeichnen, die Objekten, Ideen, praktischen beziehungsweise sittlichen Idealen, Sachverhalten, Handlungsmustern oder Charaktereigenschaften beigemessen werden. Wenn eine Werteordnung einen alleinigen Anspruch auf Wahrheit enthalte, sei dies das Kennzeichen einer Ideologie. So weit, so gut!
Wenn man nun nach Wikipedia weitere Google-Treffer anklickt, werden Werte noch und noch ausgespuckt. Das Möbelhaus Ikea beispielsweise verkündet, seine Arbeitsweise werde von den Werten «Bescheidenheit und Willensstärke, Führung durch beispielhaftes Verhalten, Mut zum Anderssein, Zusammengehörigkeit und Enthusiasmus, Kostenbewusstsein, Wille zur Erneuerung sowie Verantwortung übernehmen und delegieren» bestimmt. Die Migros handelt offenbar gemäss den fünf Kernwerten «Swissness, Regionalität, Nachhaltigkeit, Frische und Preis-Leistung». Und die Helvetia Versicherung lässt ihr Handeln von den Werten «Vertrauen, Dynamik und Begeisterung» leiten. Welcher Stellenwert ist solchen Beteuerungen beizumessen?
II. Fünf erste Erkenntnisse
Aus diesem zufällig zusammengestellten Wertepotpourri kann man zunächst fünf einfache Erkenntnisse gewinnen. Sofern man der Umgangssprache mächtig ist, versteht man erstens sofort, was mit diesen Wertebezeichnungen wahrscheinlich gemeint ist. Zweitens geben sich Organisationen offensichtlich gerne eine Art ideeller Leitplanken, die ihrem Handeln Richtung und Ziel vorgeben und die das Betriebsklima und die Arbeitsweise der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Sinne ihrer Strategie beeinflussen sollen. Dabei geht es auch um die Schaffung von Vertrauen, Berechenbarkeit und Verlässlichkeit. Eine dritte Erkenntnis ist die, dass nicht nur ein einziger Wert massgeblich zu sein scheint, sondern dass Werte zu in sich möglichst stimmigen Wertebündeln zusammengefasst werden. Viertens zeigt sich, dass bei näherer Betrachtung an sich leicht verständliche Begriffe plötzlich unscharf und mehrdeutig werden. So ist etwa die Freiheit, wie sie die Freisinnigen verstehen, vom Freiheitsverständnis der Sozialdemokraten ziemlich weit entfernt. Erdogan und Putin gebrauchen das Wort Demokratie kaum weniger häufig als Merkel oder Macron, und doch trennen sie Welten. Fünftens schliesslich ist offensichtlich, dass Werte im gleichen Wertebündel einander gegenseitig ins Gehege kommen können. So sind etwa totale Freiheit und totale Sicherheit kaum gleichzeitig zu haben, so wenig wie bei der Migros Swissness, Nachhaltigkeit und Preis-Leistung vermutlich immer zugleich realisierbar sind.
Wenn nun aber viele Werte unscharf und mehrdeutig sind und einzelne gewissermassen in einem Konkurrenzverhältnis zueinander stehen, stellen sich mehrere Fragen. Sind solche Wertepakete überhaupt sinnvoll und bewirken sie etwas, oder handelt es sich lediglich um billige, umfrageinduzierte Konstrukte findiger Kommunikationsagenturen? Oder noch wichtiger: Braucht auch ein Volk einen gemeinsamen Vorrat an ungeschriebenen, aber gelebten Werten, um ein erfolgreiches Gemeinwesen aufbauen zu können? Ist es gar so, dass beispielsweise Migranten einen Teil ihrer Wertvorstellungen aufgeben müssen, wenn diese mit den im Gastland vorherrschenden nicht vereinbar sind? Solche Fragen sind keineswegs trivial, wie etwa durch die Tatsache belegt wird, dass offensichtlich die grosse Mehrheit der in Deutschland vermeintlich gut integrierten Deutschtürken für Erdogans Verfassungsreform gestimmt haben, die allem widerspricht, was wir in Europa unter demokratischen Werten verstehen.
III. Sind Demokratien Wertegemeinschaften?
Im Verlauf des Jahres 2017 hat die Neue Zürcher Zeitung einige Leitartikel und Gastkommentare der Frage der Werte gewidmet. Ich will einige interessante Aspekte dieser Debatte hier zusammenfassen. Andreas Urs Sommer zeigt, dass in Europa Werte erst dann wortreich beschworen wurden, als im 19. Jahrhundert die religiösen, moralischen und politischen Gewissheiten Alteuropas zerbrachen und damit auch der Glaube an den einen Gott, an das eine Gute und die eine Obrigkeit. Werte seien stets relativ und grundsätzlich verhandelbar und gewännen jeweils abhängig vom Rahmen und den Umständen Geltung. Moderne Gesellschaften bräuchten indes keine «letzten Begründungen», sondern höchstens «regulative Fiktionen», mit denen sie sich über das Gewollte und Gesollte immer wieder neu verständigen müssten. Politische und soziale Kommunikation, so Sommer, sei immer ein Markt, in dem Werte Verhandlungssache seien.5 Für Martin Seel sind Werte in kulturellen und sozialen Praktiken und Traditionen verankert. Allerdings gerieten unterschiedliche Wertordnungen stets miteinander in Konflikt. Moderne pluralistische Gesellschaften und Demokratien seien deshalb keine übergreifenden Wertegemeinschaften mehr. Demokratische Gesellschaften eröffneten vielfältige Spielräume der individuellen und kollektiven Lebensgestaltung, Lebensweisen und Denkweisen. Aber die demokratische Rechtsordnung sichere gleiche Grundrechte für alle, und deshalb habe das Recht Vorrang vor den Werten.6
Thomas Ribi stellt sich die Frage, ob es gesellschaftliche Grundwerte gebe, etwa christliche, abendländische oder westlich-traditionelle, die in unsicherer Zeit Halt böten. Auch er kommt zum Schluss, dass es keine absoluten Werte gebe, auf die der liberale Staat die Bürger verpflichten dürfe. Es müsse ihm genügen, wenn sich die Bürger an die Gesetze hielten, die er als Rahmen für das Zusammenleben setze.7 In seinem Leitartikel zum Nationalfeiertag konstatiert Marc Tribelhorn, dass die Unsicherheit in Europa zurück sei. Das steigere das Bedürfnis der Menschen nach Halt, etwa durch den Ruf nach Besinnung «auf die eigenen Werte» oder nach einer «Leitkultur». Dieser Begriff impliziere allerdings ein hierarchisches Verhältnis zwischen verschiedenen Kulturen, was in einer pluralistischen Gesellschaft grundsätzlich problematisch sei. Es gebe auch keine gemeinsame kulturelle Eigenart, welche die Schweiz zusammenschweisse. Was uns zusammenhalte, sei die Respektierung unserer demokratischen Verfahren, die uns mehr eine als die konkreten Inhalte, die politisch verhandelt würden.8 Jürgen Wertheimer schliesslich hält das Begriffsdouble «europäische Werte» lakonisch für «die Mutter aller Leerformeln» und behauptet, dass wir selbst nicht mehr wüssten, was wir meinten, wenn wir von Werten redeten.9 Wobei sich natürlich die Frage stellt, wen das «wir» alles einschliesst.
IV. Werte prägen das Zusammenleben von Menschen
All diesen Überlegungen ist die Überzeugung gemeinsam, dass es keine absolut gültigen Werte gebe, auf die der Staat seine Bürger verpflichten dürfe. Er könne nur die Einhaltung des demokratisch gesetzten Rechts verlangen und sonst nichts. So schlüssig diese Gedanken aus liberaler Sicht auch sein mögen, so sehr stellen sich auch kritische Fragen: Genügt es wirklich, den demokratischen Rechtsstaat in institutionell geeigneter Form zu implementieren und durchzusetzen, um eine funktionierende und erfolgreiche Demokratie zu schaffen? Oder gibt es nicht doch Werte, die sich in der Geschichte der Menschheit herausdestilliert haben, die vielleicht keine absolute und unverrückbare Gültigkeit beanspruchen dürfen, deren Beherzigung aber mit eine Voraussetzung dafür ist, dass eine Demokratie in der Praxis funktioniert und erfolgreich ist? Oder anders gefragt: Könnte man Rechtsstaat und Demokratie als institutionell verdichtete Werte auffassen, die trotz aller Relativität durch praktische Bewährung eine gewisse universelle Gültigkeit beanspruchen dürften?
Wir wissen, dass es vor allem die Religionen sind, die versuchen, absolut gültige Werte zu definieren, und von den Gläubigen fordern, sie einzuhalten. Bekannt ist allerdings auch, dass immer wieder blutige und unvorstellbar grausame Konflikte im Namen religiöser Werte ausgetragen wurden und werden. Der Theologe Hans Küng hat deshalb den interessanten Versuch unternommen, grundlegende gemeinsame Wert- und Moralvorstellungen herauszudestillieren, die den wichtigsten Weltregionen eigen sind und die Grundlage für einen Wertekatalog sein könnten, der ein friedliches Zusammenleben der Menschen ermöglicht. Seiner Meinung nach muss ein Konsens über einen gemeinsamen Vorrat an Werten, Normen und Grundhaltungen geschaffen werden, damit die Religionen überhaupt einen Beitrag zum Weltfrieden leisten können. Als Beispiel für einen solchen Wert wird häufig die berühmte goldene Regel erwähnt, nach der man sich seinen Mitmenschen gegenüber so verhalten soll, wie man selbst behandelt werden möchte. 1995 gründete Hans Küng die Stiftung Weltethos, die sich im Rahmen interreligiöser Forschung, Bildung und Begegnung mit solchen Werten befasst.10
Auch wenn Werte und Überzeugungen noch so unscharf und relativ sind, sich gegenseitig ins Gehege kommen, ihre Substanz mit der Zeit verändern und wenn kluge Denker die faktische Substanz von Werten in Zweifel ziehen: Womöglich sind sie die wichtigsten Einflussfaktoren überhaupt auf die Art und Weise, wie wir Menschen zusammenleben. Das entspricht meiner Erfahrung in Politik und Wirtschaft und lässt sich meines Erachtens auch empirisch belegen. Jede Führungskraft, ob in der Wirtschaft oder der Politik, muss sich deshalb mit Werten befassen. Das möchte ich im Rahmen dieses Aufsatzes begründen.
V. Fünf Thesen zum Problem der Werte
Ich will das komplexe Problem der Werte zunächst mit fünf einfachen Thesen angehen.
Erste These: Die Menschen sind, wie sie sind
Menschen sind ungleich und leiden an kognitiven Verzerrungen
Konrad Adenauer soll einmal gesagt haben, man müsse die Menschen nehmen, wie sie seien. Man kriege keine besseren. Dieser Satz drückt eine tiefe Wahrheit aus. Alle Versuche, vor allem linker Ideologien, die Menschen auf Dauer zu verändern, sind gescheitert. Vielleicht ist die Gentechnologie dereinst in der Lage, menschliche Eigenschaften gezielt zu beeinflussen. Aber weil es wiederum normale Menschen wären, die eine solche Manipulation vornähmen, könnte sich diese Aussicht zur Horrorvision entwickeln.
Als Individuen könnten wir Menschen unterschiedlicher nicht sein: Wir alle haben Stärken und Schwächen, sind mehr oder weniger intelligent, haben mehr oder weniger von diesen oder jenen Talenten, sind eher altruistisch oder egoistisch, tragen «gute» und «schlechte» Eigenschaften in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen in uns. Zwar besitzen wir die Fähigkeit zur Analyse dieser Welt und zu rationalem Handeln. Aber häufig urteilen wir auch «aus dem Bauch heraus» und agieren emotional und unlogisch. Unabhängig von unserer Intelligenz werden wir mehr oder weniger von sogenannten kognitiven Verzerrungen heimgesucht. Das bedeutet, dass psychologische Fehlleistungen und Voreingenommenheiten unser Denken und Handeln beeinflussen können. So gehen wir etwa Risiken ein, die wir nicht verstehen, sehen die Welt durch eine rosarote oder brandschwarze Brille, überschätzen die Richtigkeit unserer subjektiven Ansichten, glauben, bestehende Trends würden sich ungebremst fortsetzen, oder nehmen nur Meinungen zur Kenntnis, die unsere eigenen Ansichten bestätigen, um nur einige Beispiele zu erwähnen.11
Menschen sind nicht nur Individuen, sondern auch Teil von Kollektiven
Aber wir Menschen sind nicht nur Individuen, sondern auch Teil von Kollektiven, von Gemeinschaften, Organisationen, Staaten. Es ist offensichtlich, dass solche Kollektive, die alle aus gewöhnlichen, fehleranfälligen Menschen bestehen, unterschiedlich erfolgreich sind. Während Alitalia permanent am Abgrund steht, floriert Swiss. Nordkorea leidet unter Armut und Hungersnöten, Südkorea ist hingegen eine erfolgreiche Wirtschaftsnation. Diese simplen Beobachtungen lassen zwei Schlussfolgerungen zu: Erstens wäre ein Individuum ohne Einbindung in ein Kollektiv nicht überlebensfähig, und zweitens gibt es Organisations- und Kooperationsformen, die ein würdiges und erfolgreiches Zusammenleben von Menschen mit ihren Fehlern ermöglichen. Was sind die Voraussetzungen dafür, dass eine Organisation, eine Firma oder ein Staat erfolgreich sind? Hier nun kommen Werte ins Spiel!
Zweite These: Leistungsfähige Organisationen beruhen auf Werten
Menschen reagieren auf Anreize
Die Verhaltens- und die Institutionenökonomie belegen, dass das konkrete Verhalten von Menschen nicht nur von deren individuellen Eigenschaften abhängt, sondern durch vielerlei äussere Faktoren beeinflusst wird. Unter veränderten Umständen können sich die gleichen Menschen grundlegend anders verhalten. So hat etwa die Kulturnation Deutschland während der Zeit des Nationalsozialismus unmenschliche Zustände verursacht und toleriert, die auch vielen Deutschen im Rückblick wie irreale Albträume vorkommen. Nach dem Zusammenbruch hat das gleiche Volk eine vorbildliche, höchst erfolgreiche Demokratie aufgebaut.
Menschen reagieren auf Anreize, die ihnen aus unterschiedlichen Bereichen vermittelt werden, angefangen beim familiären und gesellschaftlichen Umfeld über die herrschende Kultur und dominierende sittliche Normen bis zur staatlichen Gesetzgebung. So ist jeder Mensch einer Unzahl äusserer Anreize ausgesetzt, die sein Handeln beeinflussen. Es sind im Wesentlichen die Institutionen und die Kultur, die die Anreize setzen, wobei ich unter Kultur veränderliche Gruppierungen von dominanten sozialen Normen, Werthaltungen und Gewohnheiten verstehen will, die erhebliche materielle Auswirkungen haben. Institutionen und Kultur sind nicht angeboren oder gottgegeben, sondern von Menschenhand gemacht und gestaltbar, und sie können auch wieder zerfallen. Sie setzen Anreize durch Belohnungen – und sei es nur das Wohlwollen oder der Applaus der Gruppe – sowie durch Sanktionen – in der Gruppe beispielsweise durch Ächtung oder beim Staat durch gesetzlich definierte Strafen.
Kooperative Kollektive sind leistungsfähiger
Wir wissen heute, dass Gruppen umso leistungsfähiger sind, je besser ihre Mitglieder miteinander kooperieren. Der Kooperationswille – in der Fachsprache die Kooperations- oder Fairnesspräferenz – ist aber individuell sehr verschieden. Nur wenige von uns sind bedingungslos und unabhängig von der Kooperationsbereitschaft anderer kooperationswillig. Viele sind nur bedingt kooperationswillig und richten ihren Einsatz danach aus, wie viel andere zu leisten bereit sind. Ein beträchtlicher Teil der Menschen sind Trittbrettfahrer, die ungeachtet der Beiträge anderer an gemeinsame Güter diese wohl nutzen, selber aber nichts beisteuern wollen.
Die soziale Umgebung beeinflusst nun aber die Kooperations- und Fairnesspräferenzen und damit die Gruppenidentität, also das Selbstverständnis, das man als Mitglied einer Gruppe hat.12 Ernst Fehr und andere wiesen nach, dass Menschen mit Fairnesspräferenzen bereit sind, diejenigen zu bestrafen, die Fairnessregeln verletzen, oft sogar unter Inkaufnahme eigener Nachteile. Das schafft auch für Egoisten Anreize, Fairnessnormen einzuhalten und damit eine Fairness-Reputation zu erwerben, um der Sanktion zu entgehen. So kann auch eine Gruppe eine Fairness- und Kooperationskultur entwickeln, die nur minderheitlich aus Menschen mit Fairnesspräferenzen besteht.13
Paul Collier verweist auf den wichtigen Zusammenhang von Kooperation und Vertrauen: Dauerhafte Kooperation braucht und fördert Vertrauen, was wiederum soziale und Transaktionskosten verringert, weil Menschen dann besser zusammenarbeiten und es damit weniger Zwangsmassnahmen bedarf. Deshalb sind soziale Normen ebenso wichtig wie formelle Institutionen.14 Alain Cohn, Michel André Maréchal und Christian Zünd gehen von der Erkenntnis aus, dass nie alle mit dem wirtschaftlichen Austausch verbundenen Eventualitäten vertraglich geregelt werden können. Deshalb sei in einer Welt unsicherer und unvollständiger Kontrakte ehrliches Verhalten ganz entscheidend. Die Autoren zeigen, dass die Einhaltung prosozialer Normen wie Ehrlichkeit oder das Halten von Versprechen wichtige Stützen von Vertrauen und Tauschgeschäften sind und damit auch Bestandteile des wirtschaftlichen Erfolgs von Unternehmen, Regionen und Ländern. Und sie machen deutlich, dass zwischen Ehrlichkeit und Wirtschaftsleistung in einer grossen Anzahl von Ländern eine positive Korrelation besteht, ebenso zwischen Ehrlichkeit und Vertrauen.15
Was aber sind soziale Normen wie Fairness, Kooperationspräferenz, Altruismus und Ehrlichkeit anderes als Werte?
Dritte These: Erfolgreiche Unternehmen brauchen eine Wertebasis
Eine gute Unternehmenskultur begünstigt den Erfolg
Die Frage der Werte in der Wirtschaft hat zwei Aspekte: einen unternehmensspezifischen und einen gesamtwirtschaftlichen. Brauchen erstens Unternehmen eine Werteorientierung, um langfristig erfolgreich zu agieren, und hätte zweitens der durch Wirtschaftskrisen und Firmenskandale befeuerte Vertrauensverlust der Wirtschaft gemildert oder gar vermieden werden können, wenn die Wirtschaftsakteure Werte stärker beherzigt hätten?
Ich will mit der ersten Frage beginnen. Natürlich finden sich immer wieder auch Beispiele von Firmen, die von skrupellosen Managern moralisch grenzwertig unter Inkaufnahme eines miserablen Betriebsklimas erfolgreich geführt werden. Das mag an einer genialen Geschäftsidee oder an sonstigen günstigen Umständen liegen – die Regel ist es jedoch nicht. Die meisten nachhaltig erfolgreichen Firmen verfügen über eine Firmenkultur im Sinne positiver sozialer Normen und Werthaltungen, die sich positiv auf das Handeln der involvierten Mitarbeitenden auswirken. Firmenkulturen sind stets komplex, teils aus bewährten Traditionen heraus gewachsen, teils bewusst gestaltet und gefördert, können sich je nach Bedarf auch verändern und enthalten immer Wertorientierungen. Auch wenn sie nicht immer rational komplett erfass- und erklärbar sind, bewirken oder verhindern sie doch sehr Konkretes. Die Beispiele gescheiterter Fusionen, weil «die Firmenkulturen nicht zusammenpassten», sprechen Bände.
Ich kenne kein Lehrbuch, das als Anleitung zur Schaffung einer absolut und eindeutig guten Firmenkultur dienen könnte. Es gibt aber durchaus Kriterien, anhand derer eine solche beurteilt werden kann. Besteht ein Vertrauensverhältnis zwischen Belegschaft und Kadern? Werden Versprechen eingehalten? Steht der Dienst am Kunden wirklich im Zentrum der Bemühungen? Ist das Klima innovationsfreundlich? Fühlen sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als Mitglieder eines leistungsfähigen Teams? Basieren Beförderungen auf Leistung oder auf Beziehungen? Vermitteln die Vergütungssysteme die richtigen Anreize und werden sie als fair empfunden? Besteht ein gutes Zusammenarbeitsklima oder beherrschen Intrige und Eifersucht die Bühne? Werden auch Querdenker oder nur Ja-Sager geduldet? Werden staatliche Vorschriften ernst genommen und sorgfältig eingehalten, oder wird auch Schummelei im Erfolgsfall toleriert?
So könnte man noch viele wichtige Fragen stellen, die im Rahmen einer Unternehmenskultur von Bedeutung sind. Während in kleineren mittelständischen Firmen der Chef durch sein Verhalten und Vorbild sowie durch die Auswahl der Mitarbeiter die Firmenkultur praktisch automatisch prägt, bedarf dies bei grösseren Unternehmungen aktiver Massnahmen, angefangen bei der schriftlichen Formulierung der wichtigsten Grundsätze und Werte über Reglemente und Weisungen bis zur Verinnerlichung durch Schulung und Diskussion von konkreten Geschäftsvorfällen. Doch all das ist vergebliche Liebesmühe, wenn die Verantwortlichen als Vorbilder versagen. Schlechte Vorbilder, meinte Helmut Schmidt einmal, verdürben die Sitten.16 Berlusconi oder Trump sind beredte Beispiele für den verheerenden Einfluss moralisch fragwürdiger Führer auf die politische Kultur ihrer Länder. Alle Aspekte einer guten Unternehmenskultur basieren letztlich auf Werten wie Fairness, Gerechtigkeit, Ehrlichkeit, Kulanz, Qualität, Zuverlässigkeit und was der Dinge mehr sind.
Moralisches Versagen von Managern befeuert Überregulierung
Die zweite Frage nach der Bedeutung der Werteorientierung der Wirtschaft für unsere Gesellschaft im Allgemeinen ist nicht weniger wichtig. In allen demokratischen Staaten ist der Verlust des Vertrauens in die Wirtschaft mit Händen zu greifen. Das hat vielfältige Gründe, etwa die hohen Arbeitslosenraten, die vielen schmerzhaften Unternehmensrestrukturierungen im Rahmen der Finanz- und Wirtschaftskrise oder die durch den rasanten technologischen Wandel erzeugten Ängste. Man darf aber auch die verheerende Wirkung des teilweise spektakulären Versagens von Topmanagern nicht unterschätzen. Ich erwähne nur die Skandale von Enron und Worldcom, die Fehlleistungen hoher Bankenverantwortlicher in der Finanzkrise, die Masslosigkeit von Saläransprüchen auch mittelmässiger oder gar scheiternder Topmanager oder die systematischen Verfälschungen von Resultaten von Abgastests in der Autoindustrie.