3Stefan Gmünder/Klaus Zeyringer
Das wunde Leder
Wie Kommerz und Korruption den Fußball kaputt machen
Mit einem Manifest von Ilija Trojanow und Klaus Zeyringer
Die Elf in weißen Trikots und schwarzen Hosen drängt. Sie liegt 1:2 zurück, nur noch acht Minuten sind zu spielen. Einen Angriff über links blocken die Gegner in den roten Shirts im Strafraum ab. Der Ball landet im halblinken Mittelfeld, von dort schlägt ein großer blonder Verteidiger eine hohe Flanke zurück in Richtung Tor.
Man schreibt den 14. Juni 1970. Im Stadion der mexikanischen Stadt Léon, 1800 Meter über dem Meeresspiegel gelegen, steht die Mittagshitze. Der Schiedsrichter hat das Match um zwölf Uhr angepfiffen, damit man es in Europa zur besten Sendezeit empfangen kann – in Farbe. Der Fußball hat global die Grautöne abgelegt, dabei hatte man den WM-Ball Telestar mit schwarzen Elementen extra noch für Schwarz-Weiß-Geräte optimiert. Beim Kameraschwenk über die nun plötzlich bunten Tribünen fällt die Vielzahl an breiten Hüten auf. Die Sonne brennt, viele Kicker haben sich deswegen die Haare wachsen lassen. Unten auf dem Rasen dürften die Beine schwer sein.
Am rechten Eck des englischen Fünfmeterraums ist ein Spieler in Stellung gelaufen, auf seiner hohen Stirn schützt kein Haar gegen die Sonne. Groß gewachsen ist Uwe Seeler nicht gerade, doch er entzieht sich geschickt seinem Gegenspieler. Mit dem Rücken zum Tor köpfelt er Karl-Heinz Schnellingers Flankenball über den englischen Torwart Peter Bonetti hinweg ins lange Eck. Die deutsche Elf gleicht aus – 2:2. Seeler, der Kapitän, sitzt 8auf dem Hosenboden und streckt die Arme in die Luft. Reißt sich nicht das Trikot vom Oberkörper, sprintet nicht zur Eckfahne, um daran zu rütteln, stellt sich nicht breit in Schützenpose, zieht keine Maske übers Gesicht. Uwe Seeler sitzt einfach nur da und »freut sich wie ein Bub«, wie die Medien damals wissen. Dann eilt der Spieler mit der Nummer 13 herbei und umarmt ihn. Seeler, gewiss einer der besten Mittelstürmer seiner Zeit, hat ihm diese Position überlassen, um selbst als hängende Spitze zu rackern. Gerd Müller wird in der Verlängerung das 3:2 und damit den Sieg im Viertelfinale einer Weltmeisterschaft fixieren, die vielen Experten bis heute als die beste aller Zeiten gilt.
Der Sieg über England ist auch eine Revanche für die Niederlage im Endspiel 1966. Ein weit verbreitetes Foto zeigt, noch in Schwarz-Weiß, wie »Uns Uwe« mit hängendem Kopf den »heiligen Rasen« des Wembley-Stadions verlässt, die Stätte eines Tores, das auch ein halbes Jahrhundert später noch Debatten befeuert – war der Ball hinter der Linie oder nicht?
»Uns Uwe« rief man den Weltklassestürmer, weil er Vereinstreue, Nähe, Ehrlichkeit und Kampfgeist verkörperte. Ein Typ, der immer wieder aufsteht. Mexiko war ein Endpunkt seiner langen Karriere, die zwar keine großen internationalen Titel brachte, aber eine Konstante im deutschen Fußball markierte: Seeler hat mit Fritz Walter und mit Franz Beckenbauer gespielt, den Kapitänen der Weltmeistermannschaften von 1954 und 1974.
9Zugleich steht Mexiko aber auch für den Beginn der Fernsehära und des großen Fußballmarkts. Den brasilianischen Finaltriumph über Italien sahen 600 Millionen Menschen in 52 Ländern, ein Drittel mehr als vier Jahre zuvor. Neben der Farbe fügte das Fernsehen der Stadionwirklichkeit für das Publikum in den Wohnzimmern und Gaststuben eine technische Neuerung hinzu: Das »Replay« in Zeitlupe ermöglichte es, entscheidende Szenen besser zu erkennen. Die marktbestimmenden Sender setzten damals durch, dass die Anforderungen der Konsumenten und der Quote über die Bedürfnisse des Sports und der Spieler siegten. Sie mussten in der Mittagshitze kicken, damit die Europäer in der »Prime Time« ihr Match geliefert bekamen.
Vier Jahre später, unmittelbar vor dem Beginn der WM in der Bundesrepublik, hievte der deutsche Sportartikelhersteller Adidas João Havelange, den 1916 geborenen Sohn eines Waffenhändlers, an die Spitze des Weltverbandes Fifa. Seit 1958 war er dem brasilianischen Fußball vorgestanden, auch mithilfe von Pelés Ruhm hatte er Stimmen von afrikanischen Verbandsherren gesammelt, um damit dem Engländer Stanley Rous die Wiederwahl zu vermasseln. Der brasilianische Geschäftsmann herrschte despotisch und nahm Schmiergelder in Millionenhöhe an. Als er sein vorgebliches Ehrenamt in Zürich antrat, habe er »nur ein bisschen Geld in der Schublade« vorgefunden, erzählte er nach dem Ende seiner Präsidentschaft, während deren er Joseph Blatter (geb. 1936) zu seinem und zum Fifa-Generalsekretär bestellt hatte: »Und als ich 1998 meinen 10Posten räumte, besaß die Fifa Verträge und Besitztümer im Wert von vier Milliarden Dollar.« Und ein unkontrolliertes, korruptes System. Das runde Leder machte er zum Big Business und – wie nicht wenige internationale Beobachter meinen – die Fifa zu einem multinationalen Konzern, der eher der Cosa Nostra gleiche als dem Roten Kreuz. Laut Gesetz und auf dem Papier ist die Fédération Internationale de Football Association eine gemeinnützige Organisation. Ihren Wohlstand verdankt sie vor allem den nach 1970 sprunghaft gestiegenen Einnahmen aus den TV-Rechten, ihren globalen Einfluss der damit gefestigten Monopolstellung.
Seinen umfassenden Durchbruch schaffte der kommerzielle Fußball in Europa – und in der Folge weltweit –, als der »Wiederaufbau« geschafft war. In der sich etablierenden Freizeitgesellschaft begann mit dem Aufschwung der Sportartikelfirmen und des Fernsehens auch der Geldfluss für die Herren des runden Leders zunehmend üppiger zu sprudeln. Weitere große Schritte hin zum totalen Kommerz folgten 1992 mit der Etablierung der neuen Champions League, die den Trend hin zu einem Oligopol der Großklubs weiter befördern sollte; dann 1995 mit dem »Bosman-Urteil«, das »Mannschaften ohne Eigenschaften« und eine verstärkte Globalisierung begünstigt: Der Europäische Gerichtshof entschied, dass bislang geltende Restriktionen für ausländische Spieler von nun an weitgehend außer Kraft gesetzt werden sollten. Mit dramatischen Folgen: Während 1970 noch alle zweiundzwanzig Kicker des brasilianischen Weltmeisterkaders in der heimischen 11Liga gespielt hatten, waren bei der WM 2006 bis auf zwei Ausnahmen alle bei europäischen Klubs engagiert.
Die österreichische Fußballzeitschrift Ballesterer zitierte 2013 den englischen Schriftsteller Nick Hornby: Ein Tor gegen seinen Klub Arsenal London »war ein Kopfball von einem hünenhaften Serben, ein Holländer glich für Arsenal aus, und ein von einem russischen Club ausgeliehener Nigerianer erzielte dann den Siegestreffer nach einem lachhaften Defensivmissverständnis zwischen einem Franzosen und einem Polen. Wer waren diese Leute? Wieso spielten sie in Wembley bei einem nationalen Pokalfinale, und wieso hatte ich 90 Pfund fürs Zuschauen bezahlt?«
Uwe Seeler blieb seine gesamte lange Karriere von 1946 bis 1972 dem Hamburger Sportverein treu, für den er in 476 Ligaspielen 404 Tore erzielte. Das Gehalt dieses Weltklassespielers betrug etwa das Dreifache eines durchschnittlichen Arbeiters. Heute streicht ein Durchschnittskicker beim schlechten Bundesligisten HSV zehnmal so viel ein wie der deutsche Bundespräsident.
Ein Jahr nach der WM in Mexiko feierte der Präsident des soeben abgestiegenen Bundesligaklubs Kickers Offenbach seinen fünfzigsten Geburtstag. Auf der Party stellte er plötzlich ein Tonbandgerät auf und ließ mitgeschnittene Gespräche laufen, aus denen Bundestrainer Helmut Schön und andere verblüffte Gäste von Korruption und Schiebung in großem Umfang erfuhren. Zehn Vereine hatten im Abstiegskampf ein Dutzend 12Spiele manipuliert, über eine Million D-Mark hatte auf Autobahnraststätten und in Hinterzimmern den Besitzer gewechselt. Von den mehr als fünfzig Kickern, die zwei Jahre später verurteilt wurden, hatten vier 1970 dem WM-Kader angehört. Annulliert wurden die Spiele nicht, die Ergebnisse blieben regulär in den Listen der Bundesliga.
Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) hatte sich lange gegen die Einführung des Berufssports gewehrt, der in den Nachbarländern gang und gäbe war, in manchen schon seit den zwanziger Jahren. In der BRD wurden die Bundesliga und der Professionalismus erst 1963 eingeführt, allerdings mit einer Gehaltsobergrenze. Die meisten Klubs umgingen sie mit Schwarzgeld, dennoch heuerten einige Stars im Ausland an. Als Karl-Heinz Schnellinger 1963 vom 1. FC Köln zum italienischen Erstligisten AS Rom wechselte (der ihn zunächst an den AC Mantua verlieh, später feierte er große Erfolge mit dem AC Mailand), wurde er beinahe wie ein Vaterlandsverräter behandelt. Im sogenannten »Jahrhundertmatch«, dem auf das Spiel gegen England folgenden WM-Halbfinale, erzielte er gegen seine italienischen Ligakollegen in der 90. Minute das 1:1, mit dem die Nationalmannschaft sich in die Verlängerung rettete (wo sie schließlich mit 3:4 unterlag). »Ausgerechnet Schnellinger«, rief der deutsche Kommentator ins Mikrofon.
Uwe Seeler blieb beim HSV. Und nach dem Bundesligaskandal gab der DFB den Markt für die Gehälter frei.
13Fußball ist Kulturgeschichte. Fußball schafft Geschichten. Heute handeln sie von Helden wie von Gaunern.
Die Welt des Uwe Seeler gibt es nicht mehr.
Hinter der Fassade der Gemeinnützigkeit herrschen höchst bedenkliche Zustände: Neofeudalismus und Nepotismus, Manipulation und Verschleierung. Die Staaten überlassen den Verbänden die Stadien und deren unmittelbare Umgebung. Die ihrerseits kaum kontrollierten Herren des Sports kontrollieren die Fernsehbilder, die sie den Sendern verkaufen. Die Wettbewerbe sind finanzbestimmt, die Spielpläne sind aufgeblasen oder unübersichtlich auf mehrere Tage verteilt, um TV-Dauerpräsenz zu gewährleisten. Oligarchen und Ölmagnaten kaufen Klubs. Spieler werden wie Rennpferde gehandelt, ihre Leistungskurven wie Aktienkurse dokumentiert. Im Gegenzug verdienen sie und ihre oft dubiosen Agenten Unsummen, für die Stars wie Messi, Neymar und Cristiano Ronaldo keine entsprechenden Steuern abführen wollen.
Man hat Funktionäre verhaftet, Kicker und Manager verurteilt. Die Verantwortlichen, allen voran der Fifa-Präsident, haben sich aufs Beschönigen verlegt und für die Öffentlichkeit eine saubere Kulisse errichtet, während »Moral« auf der Hinterbühne ein Fremdwort bleibt. Es wird weiter getäuscht und gedopt, das Geschäft läuft, die Reichen werden reicher. Die Ticketpreise steigen.
Während des DFB-Pokalfinales skandieren am 27. Mai 2017 beide Fanblocks in seltener Einigkeit »Fußballmafia 14DFB«. Es geht nicht um den Skandal rund um die Vergabe der WM 2006, als Millionen verschoben wurden, deren Destination und Zweck bis heute nicht geklärt sind. Die Fans im Berliner Olympiastadion haben vielmehr das diffuse Gefühl, von den Verbänden verschaukelt zu werden, und protestieren gegen die zunehmende »Eventisierung«.
Nachdem der Schiedsrichter abgepfiffen hat, jubeln und tanzen die Kicker von Borussia Dortmund; jene von Eintracht Frankfurt stehen enttäuscht auf dem Rasen, einige legen sich hin und weinen. Wenige Wochen zuvor war ein Bombenanschlag auf den Dortmunder Mannschaftsbus verübt worden, als dieser sich gerade auf den Weg zum Champions-League-Viertelfinale gemacht hatte. Der Attentäter wollte der Aktiengesellschaft BVB schaden, um vom dadurch ausgelösten Kurssturz zu profitieren – wohl ein Höhepunkt der Neoliberalisierung des Sports. Schon am nächsten Tag mussten die Dortmunder Spieler antreten, um das Match nachzuholen. Psychologen betrachteten dies als unmenschliche Zumutung für die traumatisierten Kicker. Doch die prall gefüllten Spielpläne ließen keine weitere Verschiebung zu, erklärten die Verantwortlichen.
Im Berliner Endspiel verteidigte bei der Frankfurter Eintracht unter anderem Michael Hector. Für den Engländer mit jamaikanischen Wurzeln stand ein Marktwert von vier Millionen Euro zu Buche – und auf dem Markt befand sich Hector bis dahin eigentlich dauernd: Mit seinen vierundzwanzig Jahren war er schon für mehr als ein Dutzend Vereine aufgelaufen; Saison für 15Saison verlieh ihn sein Besitzer an einen anderen Klub. Ein Leasing-Kicker wie viele in der Frankfurter Elf.
Das höchste Gehalt der Mannschaft, die gegen Dortmund 1:2 verlor, betrug gut fünfmal so viel wie das der Bundeskanzlerin, dreißigmal das einer erfahrenen Krankenschwester oder eines Lehrers.
Seit den Zeiten Uwe Seelers, vor allem seit Einführung des Privatfernsehens ist Fußball zu einem Geldautomaten geworden. Im Zeitalter des Neoliberalismus blinkt er mit all seinen Eventsternen. Seine Betreiber kassieren, sie pfeifen auf andere Bezugsgrößen.
Der mit der Moderne in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte Sportbetrieb ist seit damals ein gewichtiger gesellschaftlicher Faktor. Fußball vermag sozial als Kitt oder Ventil zu dienen. Wie 1970 in Mexiko kann er ein faszinierendes Spektakel bieten.
Heute aber steht der Fußball in einem empörenden, skandalösen Rahmen.
Es ist dringend notwendig, die Zustände im Fußballfeudalismus öffentlich zur Diskussion zu stellen: die Machenschaften und dunklen Geschäfte, die soziale Ungerechtigkeit und die Aussetzung staatlicher Hoheitsrechte, das kaum kontrollierte Monopol einer elitären Gruppe auf »Kulturgüter der Menschheit«. Denn all dies betrifft beileibe nicht nur den Sport, sondern ganz allgemein die Ausrichtung heutiger Gesellschaften.