Augsburg 1497. Die lebenslustige Patriziertochter Sibylla wird von vielen Männern umworben. Bis sich ihre Wege mit dem Mann kreuzen, der die damalige Welt beherrscht: Sein Name ist Jakob Fugger, und er verspricht Sibylla, ihr die Sterne vom Himmel zu holen. In Augsburg führt Sibylla das Leben einer Fürstin und ist häufig Mittlerin für Jakobs politische Ränkespiele. Aber sie diskutiert auch mit Albrecht Dürer und Martin Luther und gründet die erste Armensiedlung. Doch dann nimmt ihr Leben eine dramatische Wendung: Sibylla trifft auf ihren Jugendfreund Konrad Rehlinger, den sie immer noch liebt … Zutiefst menschlich und faszinierend in seiner Vielschichtigkeit erzählt der Roman die Geschichte einer leidenschaftlichen Frau an der Seite des mächtigsten Mannes der damaligen Welt.
Peter Dempf, geboren 1959 in Augsburg, studierte Germanistik und Geschichte und unterrichtet heute an einem Gymnasium. Der mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnete Autor schreibt neben Romanen und Sachbüchern auch Theaterstücke, Drehbücher, Rundfunkbeiträge und Erzählungen. Bekannt wurde er aber vor allem durch seine historischen Romane. Peter Dempf lebt und arbeitet in Augsburg, wo auch seine beiden letzten Mittelalter-Romane »Fürstin der Bettler« und »Herrin der Schmuggler« spielen.
PETER DEMPF
DAS
AMULETT
DER
FUGGERIN
Historischer
Roman
beHEARTBEAT
»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment
Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln
Digitale Neuausgabe vermittelt durch AVA international GmbH, München www.ava-international.de
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2006 by Bastei Lübbe AG, Köln
Umschlaggestaltung: Manuela Städele-Monverde unter Verwendung eines Motives von © shutterstock: Darja Vorontsova
eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-3366-4
www.be-ebooks.de
www.lesejury.de
Früher träumte ich insgeheim davon,
ich könnte einmal alles zusammenfügen,
einen Schlussstrich ziehen unter alles.
Um am Ende sagen zu können:
So war es, so ging es zu, dies ist die ganze Geschichte.
Doch das wäre wider besseres Wissen.
Wider besseres Wissen ist andererseits eine gute Art,
nicht aufzugeben.
Wüssten wir es besser, gäben wir auf.
PER OLOV ENQUIST
(1479–1497)
Man hofft ja immer auf ein Wunder.
Hoffte man nicht, wäre man wohl kein Mensch.
Und eine Art Mensch ist man wohl doch.
PER OLOV ENQUIST
Für die Rose war es bereits zu kalt. Die Hüllblätter rollten sich an den Rändern und färbten braun ein. In ihnen geborgen lag die Knospe, blutrot und frisch. Mit der Hand schützte die Wehmutter die zarte, unfertige Blüte vor der wütenden Wetterfrau. Anna Gabriela hielt sie sich vor die Nase und roch darin den scheidenden Sommer und das Blut der Geburt, zu der sie gerufen wurde.
Böen fuhren in die Gassen. Blitze zuckten dazwischen, und doppelter, dreifacher Donner rollte die alte Via Claudia hinauf. Der Vollmond verbarg sich hinter regenschweren Wolken, nur gelegentlich riss der Nachthimmel auf und gewährte einen Blick auf sein fahles Antlitz.
Er zog, der Frauenmond, der Kindermond.
An solchen Tagen drängten die Kinder aus den Leibern der Frauen, als werfe das Unwetter nicht nur Regen und Sturmböen, sondern Menschenleiber auf die Erde.
Anna Gabriela Brunnerin humpelte mit ihren siebzig Jahren so schnell sie konnte zum Rathaus hinauf. Sie kämpfte gegen die Böen, die sie beinahe umwarfen und ihr die Luft zum Atmen nahmen. Ihr schwaches Bein machte ihr Sorgen. Zwischendurch musste sie stehen bleiben und Luft holen. Ihr Körper war für die Strapazen zu alt und zu gebrechlich. Schließlich hatte sie sich selbst vor ein paar Jahren aufs Altenteil geschickt und der Tochter Johanna die Aufgaben der Wehmutter übertragen. Nur bei besonderen Fällen holte Johanna ihren Rat ein.
Die Artztin lag in den Wehen. Seit eineinhalb Tagen schon, aber es wollte nicht vorwärts gehen. Johanna war bei ihr geblieben, hatte ihr beigestanden – und eben nach Anna Gabriela geschickt, weil sie glaubte, Mutter und Kind könnten Schaden nehmen. Anna Gabriela blickte hinauf in den unruhigen Himmel. Der Herrgott würde ihr und der Mutter helfen, der Herrgott und die Natur. Halb Augsburg hatte sie ans Licht der Welt gezerrt, Knaben und Mädchen schreien hören und ebenso viel zusammen mit ihren blutjungen Müttern sterben sehen, aber die Artztin war ein kräftiges Weib, gesund im Fleisch und mit einem Willen begabt, wie sie ihn selten bei den Patrizierinnen gesehen hatte.
Anna Gabriela keuchte vorwärts. Ihren Stock hatte sie zu Hause gelassen und dafür die Rose aus ihrem Garten mitgenommen. Einer Eingebung hatte sie nachgegeben, dem verrückten Gedanken eines Augenblicks, als sie zum Gartentor hinaus war.
Die Böe traf sie unglücklich auf der Seite ihres schwachen Fußes. Sie glitt aus, schlug hin. Ihre Finger schlossen sich um die Blüte.
Aus dem ersten Regenschleier preschte ein Pferd heran, ein Fuchs, stoppte kurz vor ihr. Ein junger Kerl sprang aus dem Sattel, beugte sich über sie, half ihr auf. »Brunnerin! Wehmutter!«, rief er. »Habt Ihr Euch verletzt?«
Anna Gabriela schüttelte den Kopf. Das Kleid war verdreckt, ein Strumpf zerrissen, aber die Rose heil.
Sie musterte den jungen Mann, der knapp zwanzig Lenze zählen durfte.
»Ich kenn dich, Bub!« Die Brunnerin kniff die Augen zusammen und sah dem Jungen ins Gesicht. »Solche wassergrauen Augen hat nur einer besessen.«
Der junge Kerl erwiderte nichts, ließ sich mustern. Die Augen blickten so leblos, dass sie Angst davor bekam. »Du bist der jüngste Fugger, nicht? Der Jakob.«
Jakob Fugger lächelte mit schmalen Lippen.
»Wohin unterwegs, Mutter?«
Anna Gabriela hörte nicht hin. Sie öffnete ihre Finger, betrachtete die Knospe. Die Rose hatte tatsächlich keinen Schaden genommen. Energisch winkte sie den Fugger heran, der sich zu seinem Pferd umgedreht hatte. »Leih mir deinen Arm, Jüngelchen. Es geht in deine Richtung zum Haus am Rohr. Die Artztin liegt in den Wehen. Es steht nicht gut um sie und das Kind.«
Der Fugger nickte. »Die Artztin«, murmelte er. Er schob seine Seidenkappe zurecht, die ihm beim Sprung vom Pferd verrutscht war. Während er der Alten den rechten Arm anbot, griff er mit der linken Hand nach den Zügeln seines Pferdes.
»Woher kommt ihr, Weber? Von jenseits der Alpen?«
Ernst sah der junge Fugger Anna Gabriela an, die schmerzhaft das Gesicht verzog, wenn sie auf ihrem schwachen Bein auftrat. »Aus Venedig. Gerade rechtzeitig, bevor das Unwetter losbricht.«
»Ein Bengel warst, als sie dich nach Herrieden ins Kloster geschickt haben, die Brüder. Als wenn du ein Mönch hättest werden können. Und jetzt bist du ein Herr. Man sieht’s dir an.«
»Du hast mich erkannt, Brunnerin«, nickte der junge Fugger. Er betrachtete die Stadt, als wäre ihm alles fremd. Für einen Augenblick wusste die Alte nicht, wer wen lenkte. Erst als ihr Bein wieder wegbrach und nur der feste Griff des Jungen sie vor einem Sturz bewahrte, spürte sie, dass er es war, der sie führte.
»Siehst du die Rose, Fugger? Es wird ein Mädchen bei der Artztin. Das fühlt man als Wehmutter. Deshalb die letzte Rose vor dem Winter.« Sie schnaufte. »Der Vater hofft so auf einen Jungen. Er wird sich in das Mädle finden müssen!«
Der Regen hatte wieder aufgehört, und für wenige Augenblicke wärmte eine Luft, als hätte der Frühling einen Finger in die Kälte gehalten. Überrascht sah die Wehmutter hoch. Tiefschwere Wolken rasten über Augsburg weg, so dass ihr schwindlig wurde. Plötzlich riss eine Lücke auf und gab die Sicht nach Süden frei. Wie sauber gewischt wirkte der Himmel zwischen den Wolkenfetzen. Anna Gabriela deutete mit der Hand hinauf. »Jesusmaria!«, flüsterte sie und bekreuzigte sich.
Fugger folgte ihrem ausgestreckten Arm mit seinem Blick. Zwischen den schwarzen Rändern der Wolken, inmitten eines Sternenmeeres stand ein Schweifstern, ein Komet.
Als würde der Stern ihren Blick magisch festhalten, starrten die beiden ihn an. Der Fingerzeig des Herrn. Anna Gabriela spürte, wie sich ihr die Haare auf den Armen aufstellten, wie die Kälte plötzlich aus dem Inneren ihres Körpers nach außen kroch. Ihre Stimme versagte. Sie brachte nur ein mühsames Krächzen zustande. Und sie fühlte, dass es dem jungen Fugger neben ihr ebenso erging. Der Arm der Alten zitterte, dann verschwand das Bild so schnell, wie es erschienen war. Gewölk bedeckte die Stelle wieder, Graupel rauschte nieder. Die weißen Körner tanzten auf den Steinen.
»Maria und Joseph«, murmelte die Wehmutter. »Das gibt ein Unglück. Ein Unglück!«
Der junge Fugger lenkte ihren Weg unter eine Traufe. Hier waren sie vor den Böen sicher.
»Brunnerin!«, mahnte er die Alte, griff unter seine Regenschaube. Er nahm ein Goldstück aus einer Tasche seines Wamses und ließ es auf seiner Handfläche tanzen. »Behaltet es für Euch. Ihr habt den Stern niemals gesehen. Habt Ihr verstanden? Niemals. Es gibt genug abergläubisches Pack in der Stadt. Der Wind böt stark heute. Wir könnten uns ebenso gut getäuscht haben.«
Er drückte ihr das Goldstück in die Hand. Die Brunnerin hätte es gern in den Mund genommen und drauf gebissen, um seine Echtheit zu überprüfen, aber sie hatte keinen einzigen Zahn mehr im Mund. Sie steckte die Münze dennoch hinein und ließ sie in einer Backentasche verschwinden.
»Ich weiß, was ich weiß«, sagte sie herausfordernd und hielt ihm die Rose entgegen.
»Endlich!« Der Stoßseufzer entwich der Brust ihrer Tochter, als die Brunnerin das Geburtszimmer betrat. Es stank nach Blut, Urin und Kot und dem süßlichen Duft des Fruchtwassers. Die Alte sog den Geruch ein, der sie beinahe ein ganzes Leben hindurch begleitet hatte. Es roch nach Tod. Ein rascher Blick auf die Gebärende zeigte ihr, dass sie nicht lange zögern durfte. Das Kind musste auf diese Welt, tot oder lebendig. In beiden Fällen konnte sie für das Leben der Mutter nur mehr beten.
»Zeig mir das Wasser«, herrschte sie Johanna an, die vor der groben Art ihrer Mutter zurückwich. Als sie ihr die Schüssel mit dem Fruchtwasser zeigte, tauchte Anna Gabriela den Zipfel eines weißen Tuches hinein, faltete es auf und hielt es gegen eine Kerze. Neben Blutschlieren zeigte das Tuch eine grünliche Färbung.
Das Fruchtwasser der Gebärenden war verdorben. Die schwarze Galle hatte bereits die Gebärmutter überschwemmt. Die Brunnerin gab für das Kind keinen Pfifferling mehr. Ohne den Gedanken laut auszusprechen, drehte sie sich zu ihrer Tochter um und zuckte mit den Schultern. Dann krempelte sie ihre Ärmel bis über die Ellenbogen hoch, schmierte ihre Arme mit Rindertalg ein und trat ans Bett.
»Artztin, hört Ihr mich?«
Die junge Frau öffnete die Augen. Ihr Gesicht war wie ausgeschwemmt. Es enthielt keine Konturen mehr, sondern nur noch die Spuren einer grenzenlosen Erschöpfung und eine Blässe zum Tode hin. Sie lächelte, als sie die Brunnerin vor sich sah.
»Brunnerin! Wehmutter!«, flüsterte die Artztin leise. »Holt mir das Kind. Es soll leben – und lasst mich verderben. Ich kann nicht mehr.«
»Es wird etwas wehtun«, entgegnete die Brunnerin energisch. »Und vom Sterben haben wir noch nicht gesprochen. Alles zu seiner Zeit. Ich habe Euch eine Rose mitgebracht. Für Euer Mädchen.«
Die Hände der Brunnerin glitten währenddessen den prallen Leib entlang. Die Artztin bäumte sich unter einer Wehe, warf den Kopf hin und her, hatte aber keine Kraft mehr zu schreien. Ein lang gezogenes Wimmern füllte den Raum. Geschickt griff die Alte zu, drückte, tastete, bohrte ihre Finger zwischen Gebärmutter und Leib. Zuletzt stieß sie ihre Hand in das Geschlecht der Artztin, um den Geburtsfortgang zu überprüfen. Was sie spürte, ließ sie erschrecken. Als die Schmerzen nachließen und die Artztin schnell und heftig nach Luft schnappte, forderte die Alte einen Strick. Ihre Tochter nickte und griff in einen Sack, der in unmittelbarer Nähe des Bettes lag. Ein kurzes Hanfseil kam zum Vorschein, speckig und dunkel, weil es bei unzähligen Geburten Dienst getan hatte. Langsam schmierte Johanna das Seil mit Rindertalg ein.
»Wir werden dein Kind holen, Artztin«, sagte Anna Gabriela so zuversichtlich, dass der werdenden Mutter ein Lächeln über die Lippen lief, ohne dass sie die Augen öffnete. »Es hat sich eine eigene Art gesucht, in diese Welt zu treten.«
»Es bringt mich um!«, flüsterte die Artztin.
Die nächste Wehe kündigte sich an. Blitzschnell nahm die Alte den Hanfstrick, der auf einer Seite eine Schlinge aufwies. Während die Artztin sich bäumte, schob sie die Schlinge mit der Hand in die Geburtsöffnung und schlang sie um das Bein, das sich dort aus dem Muttermund schob. Die Artztin schrie. Ihre Stimme kreißte schrill, höher, immer höher, und brach gurgelnd ab.
Die Brunnerin hatte selbst neun Kinder geboren und kannte den Schmerz. Was sie der Artztin jetzt zufügen musste, hielten nur kräftige Naturen aus. Das Kind kam mit den Beinen voran, genauer mit einem Bein voran und steckte tief in der Geburtsöffnung. Wo sich das andere Bein befand, konnte die Brunnerin nur vermuten, glaubte aber, dass es genau dieses Bein war, das die Geburt so hässlich verzögerte.
Aus dem Unterleib der Artztin ragte der Strick, den sich jetzt die Brunner-Tochter um das Handgelenk wickelte, während die Alte mit beiden Beinen auf das Bett kniete, um sich von oben auf den Bauch werfen zu können.
Die Wehmutter betrachtete die Augen der Artztin. Schmerzstillenden Tee brauchte sie nicht mehr zu geben, auch keine Blätter, die Krämpfe linderten. Die geweiteten Pupillen zeigten ihr deutlich, dass Johanna alles versucht hatte.
Wieder deutete sich eine Wehe an. Die Brunnerin wartete, bis sich das Gesicht der Gebärenden verzerrte, dann nickte sie. Im gleichen Augenblick begann ihre Tochter das Seil zu spannen und vorsichtig zu ziehen. Die Brunnerin legte sich auf den Oberbauch, fuhr mit den Händen die Seiten der Artztin entlang und drückte, schob, presste. Die Artztin schrie, als würden sie ihr bei lebendigem Leib die Gliedmaßen ausreißen. Anna Gabriela hoffte, dass dem Kind eben diese Prozedur erspart bleiben würde und es zumindest in einem Stück kam. Johanna nickte. Tatsächlich erschien in der Scheide der Fuß des Kindes, blau verschwollen.
Die nächsten Minuten vergingen im Flug. Der Fortschritt der Geburt hatte die Wehen wieder geweckt. Sie durchliefen in schneller Folge den Körper der Artztin. Das Bein erschien ganz, der Strick wurde überflüssig. Johanna nahm jetzt die Position der Wehmutter ein und drückte gegen den Bauch, während die Alte mit ihren schmalen Händen das zweite Bein suchte, das steil aufgestellt erst mit dem Oberkörper kam. Am schwierigsten war das Köpfchen, das die Alte mit geschickter Drehung der Schultern aus der Öffnung zog. Ein Schwall grüner Flüssigkeit quoll heraus. Übler Duft füllte den Raum. Blut schoss hinterher.
Anna Gabriela interessierte das alles nicht mehr. Ein Mädchen – wie sie es vorhergesagt hatte. Das Körperchen gänzlich blau, die Lippen geschlossen. Sie nahm die Kleine, nabelte sie ab, hielt sie kopfunter und gab ihr einen Klaps auf den Po, aber sie rührte sich nicht, wollte nicht schreien. Innerlich betete Anna Gabriela, dass der Dämon am Himmel keine Macht über das Wesen bekam, dass es nicht an seinem Schweif hängen blieb auf seinem Weg vom Himmel herab auf diese Erde. Sie legte das leblose Kind auf den mit weißen Tüchern bedeckten Tisch neben dem Bett. Am Kopfende lag die Rose. Das Beinchen, an dem der Strick noch hing, schien länger zu sein. Anna Gabriela strich die Hüften entlang, um zu sehen, ob es ausgerenkt war. Es bestand kaum Hoffnung. Das Kind war tot.
»Eine Schönheit wärst du nicht gerade geworden, kleine Artztin«, flüsterte sie mehr zu sich und musterte die spitze Nase und das verquollene Gesicht. Trotzdem rubbelte sie den winzigen Körper ab, säuberte ihn von Blut und Talg, knetete ihn durch. Irgendetwas sagte ihr, dass sie nicht aufhören sollte, es zu versuchen. Sie bewegte die Beinchen, drückte sie bis über den Kopf, um sie in das Hüftgelenk einspringen zu lassen, und plötzlich schrie das kleine Wesen, schrie es erbärmlich in die Kälte dieser Welt hinein, schrie mit der Verzweiflung, die wusste, dass es den Mutterschoß für immer verlassen hatte und nie würde dorthin zurückkehren können.
»Es ist ein Mädchen«, sagte die Alte, als sie sich zur Artztin umwandte und ihr das Kind auf die Brust legte. »Ein starkes Kind. Wenn auch etwas eigenwillig.« Diese lächelte mit geschlossenen Augen. Der Zug des Todes um ihre Nasenspitze war verschwunden.
»Das darf es sein«, flüsterte sie kaum hörbar.
»Ein Mädchen?« Die Stimme gehörte dem Hausherrn, der beim ersten Schrei des Kindes das Zimmer betreten hatte. »Nur ein Mädchen?«
Wilhelm Artzt war ein breitschultriger Mann mit Vollbart und weit auseinander stehenden Augen. Sein fülliger Leib zeugte von seinem Gewicht bei den Entscheidungen der Stadt. Trotz der Wärme im Raum trug er ein Wams mit Pelzbesatz und wollene Strumpfhosen unter einem bodenlangen Hausmantel. Er dunstete einen Weingeruch aus, der mit dem Geruch des faulen Fruchtwassers mithalten konnte.
»Seid froh!«, blaffte ihn die Wehmutter an. »Ein Junge hätte Eurer Frau das Leben gekostet.«
»Mein Gott, mein Gott«, rief Wilhelm Artzt, als er seine Frau sah, die wie eine Leiche zwischen den Laken steckte, bleich und still.
Johanna hatte die Kleine bereits gewickelt, die blutigen Laken weggepackt und in einen Sack gestopft und frische Tücher ausgelegt. Sie warteten auf die Nachgeburt.
Johanna trug die Kleine zu ihrem Vater, deckte die Windel auf, damit er sehen konnte, dass es sich um ein Mädchen handelte. Wilhelm Artzt fluchte leise, aber Anna Gabriela, die das vorausgesehen hatte, berührte ihn am Arm.
»Ich habe ihr eine Rose mitgebracht, aus dem Garten. Es ist die letzte vor dem Winter.«
Sie ging zum Tisch hinüber, auf den sie die Kleine zuvor gebettet hatte, und nahm die Rose. In der Wärme des Zimmers war sie vertrocknet. Die abgestorbenen Hüllblätter bröselten ab. Anna Gabriela sah auf die welke Blume und musste schlucken. »Wie soll die Kleine heißen?«, fragte sie und räusperte sich.
»Sibylla!«, hauchte es vom Bett her. Die Mutter lächelte schwach.
Sie wird die Männer locken, dachte Anna Gabriela für sich, räusperte sich wieder. Selbst wenn sie keine Stadtschönheit wird. Womöglich wächst sich die Nase aus, und das verlängerte Bein wird sich geben …
»Dann will ich dir, Sibylla Artzt, diese Rose schenken. Du wirst aufblühen und duften wie diese Blume.« Die Wehmutter stockte, weil das letzte dürre Deckblatt auf die Windel gefallen war und eine trockene Knospe freigelegt hatte. »Aber …«, setzte sie an, konnte jedoch nicht weitersprechen.
Wilhelm Artzt stand vor dem Wickelbündel, das Johanna auf dem Arm hielt, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, als bereite ihm die Berührung Unbehagen.
»Was aber, Brunnerin? Wenn ihr schon Prophezeiungen aussprecht, dann will ich die ganze Wahrheit wissen. Verhext mir das Kind nicht. Artzt ist Artzt, ob Mann oder Frau«, drängte er mit bedrohlich tiefer Stimme.
»Ja«, krächzte die Alte und zögerte. »Aber … sie wird, einmal gebrochen, früh verdorren.«
Es war still im Raum. Nur das schwere Atmen der Mutter und das saugende Suchen des Neugeborenen waren zu hören.
»Ihr findet Euer Geld draußen, Wehmutter«, presste Wilhelm Artzt zwischen den Zähnen hervor.
Die Artztin begann erneut zu stöhnen.
»Das ist nichts mehr für euch Mannsbilder«, brummte die Wehmutter. »Das Kind habt Ihr gesehen. Jetzt schleicht Euch.« Sie schob den Mann mit aller Kraft zur Tür. Verständnislos blickte er auf seine Frau, die sich erneut unter Krämpfen wand. Dann drehte er auf dem Fuß um und verließ wortlos das Zimmer.
»Wir müssen die Nachgeburt beschauen!«, flüsterte die Alte ihrer Tochter zu, als sie die Artztin wieder aufdeckte und gleichmäßig, aber kräftig an der Nabelschnur zog. »Heute steht kein Glück über der Stadt.«
Jakob Fugger führte das Pferd die letzte Strecke bis vor das Haus am Rohr. Er musste sich zügeln, denn seit Venedig brannte er darauf, den Bruder zu treffen und ihm seine neue Idee vorzustellen. Sie gärte in ihm und hatte sich auf dem Weg hierher wie ein Bibersee hinter seiner Stirn gestaut. Der Damm musste endlich brechen dürfen, sonst würde er verrückt werden.
»Nur alles mit Bedacht und Überlegung«, zwang er sich flüsternd.
Bevor er ans Tor schlug, rückte er seine Kappe zurecht, strich den Mantel sauber und blickte die Giebelfront hinauf. Er verbot sich den Gedanken sofort, der sich ihm aufdrängte. Denn er verglich die weiten Kanäle Venedigs mit den engen Gassen in Augsburg, die weitläufigen Palazzi am Rialto mit den schmalen und geduckten Häusern seiner Heimatstadt und zog einen Vergleich zwischen Wohnen und Denken.
Ein Donner rollte den Weinmarkt hinunter und auf ihn zu. Von Südwesten her türmten sich Wolken gegen die Stadtmauer, in denen Blitze zuhauf zuckten, einer am anderen in rascher Folge, so dass es beinahe taghell herleuchtete, was das Wolkengebirge noch höher in den Himmel wachsen ließ. Fasziniert blickte Jakob in das Geblitz. Selbst darin unterschieden sich die Städte. So gewaltig hatte sich in den letzten beiden Jahren im Veneto kein Gewitter aufgebaut. Der Herrgott zeigte sich seinen Venezianern gewogen und bestrafte gelegentlich mit Überschwemmungen, nicht aber mit dem Blitzhammer der Voralpen. Die Lichtreflexe wirbelten durch die Wolken, zuckten hier auf und da, sprangen vor und zurück, als suchten sie eine Form, bis sie sich in einem gewaltigen Strahl entluden, der außerhalb der Stadt in einen Baum oder ein Haus fuhr und ohrenbetäubend krachte. Einen Lidschlag lang zeichnete der Lichtfinger eine Haspel ans Firmament, einen Stiel und drei Zacken, die zur Erde hinabfuhren. Ohne die Augen zu schließen, starrte Jakob in dieses Zeichen, das ebenso rasch verschwand, wie es an den Himmel gerissen worden war. Die Haspel, das Fuggerzeichen, golden auf schwarzem Grund. Unter diesem Zeichen waren er und seine Brüder groß geworden, unter diesem Zeichen hatte er in Venedig gearbeitet.
Jakob riss sich vom Schauspiel des Himmels los und wandte sich dem Tor zu. Schräg über dem Eingang hing das neue Wappen der Fugger von der Lilie. Er lächelte dünn, als er das Holzschild entdeckte. Er schlug mit der Faust gegen das Tor.
Es dauerte eine Weile, bis man ihn hörte, bis der Riegel entfernt und geöffnet wurde. Ohne zu zögern, schob er sich an dem alten Matthias vorbei ins Innere.
»Herr, was begehrt Ihr?«, fragte der Diener erschrocken, weil ihm bewusst wurde, dass er die Frage zuvor hätte stellen sollen, durch das Türlein hindurch, bevor er den ganzen Flügel öffnete.
»Kennst mich nimmer, Mattheis?«, fragte Jakob, ohne sich weiter um den Alten zu kümmern. Er nahm den Mantelsack von der Kruppe des Tieres, gab dem Pferd einen Klaps auf den Schenkel. Schnaubend trabte es in eine dunklere Ecke. Jakob blickte hinauf in die Stuben. Licht drang von dort hinunter in den Innenhof. Ein wehmütiges Gefühl überkam ihn. Hier hatte er den jungen Maximilian getroffen, den Herzog, von hier war er nach Herrieden abgefahren und ebenso nach Venedig, hier hatte er die Mutter begrüßt, als die Brüder ihn zurückbeordert hatten – und hier traf er wieder ein, nachdem er seine Lehr- und Gesellenzeit in Venedig abgeschlossen hatte. An diesem schmalen Hof haftete ein Stück seiner persönlichen Geschichte. Er atmete einen Atemzug lang tiefer, schluckte, bis er sich wieder in der Gewalt hatte, seinen Mantel raffte und dem Eingang zulief, ohne auf das verstörte Meckern des Dieners zu achten, der ihn nicht erkannte, sich jedoch nicht getraute, ihn aufzuhalten.
»Ulrich«, rief er die Treppen hinauf. »Mutter!« Er nahm zwei Stufen auf einmal, bis er die Tür aufstoßen konnte und mitten in der Stube stand. Verschreckt blickte die Familie auf. Die Mutter und Veronika Lauginger saßen eng beieinander und spendeten sich Trost vor dem Donnergrollen. In der Ecke brannte eine Kerze. Ulrich, der Bruder, war aus der Schreibstube heruntergekommen, um den Frauen Gesellschaft zu leisten, und beugte sich über ein Bündel Papiere. Er drehte sich ebenfalls um, stand auf, um den Fremdling zu begrüßen. Jakob ließ seinen Mantelsack fallen, breitete die Arme aus und ging auf Ulrich zu.
»Ulrich! Bruder!« Jakob schloss den Ältesten in die Arme, der zögernd seinen Druck erwiderte, bis er begriff, wen er da im Arm hielt.
»Jakob, du?« Ulrich strahlte.
»Bevor die Pässe gänzlich eingeschneit waren, bin ich drüber. Es ist schön, wieder hier zu sein.« Jakob sprach leise. Selbst ihm fiel der welsche Tonfall auf, den sein breites Augsburgerisch angenommen hatte. »Es friert mich schon jetzt.«
Die Mutter war aufgestanden. Sie zitterte vor Freude, nahm ihn in den Arm, ließ nicht mehr los, bis sich Jakob gewaltsam befreite.
»Ihr müsst mir Luft zum Atmen lassen, Mutter.«
Der Schwägerin reichte er die Hand, küsste sie verschämt auf die Wange. Sie knickste vor ihm. Ein fesches Frauenzimmer hatte sich der Bruder mit Veronika Lauginger in Haus geholt, eine tüchtige Hausfrau würde sie werden, eine ebenso liebevolle Ehefrau. Die Mutter griff nach seiner Hand, hielt sie, streichelte sie, und Jakob wagte nicht, sie ihr zu entziehen, obwohl das Drücken und Halten ihm nicht behagte.
»Du bist ohne Kutsche gekommen?«, fragte Ulrich. Der ältere Bruder empfand offenbar ähnlich: Wiedersehen umgab sich mit lästigen Ritualen. Man sollte das weibische Gefühlsduseln sein lassen und zu den Geschäften kommen.
Jakob zuckte mit den Schultern.
»Sie musste in Meran zurückbleiben. Unmöglich, sie über die verschneiten Pässe zu bringen. Ich habe ein Pferd genommen.«
»So hast du …«
Die Enttäuschung stand Ulrich ins Gesicht geschrieben. Keine Waren, keine Münzen, keine Metalle – ein halbes Jahr verfloss unnütz, während der Wagen in Meran herumstand und das Gespann Logisgeld kostete.
Die Frauen hatten das Mienenspiel der Brüder mit Unbehagen verfolgt. Schließlich feierte man eine Rückkehr wie die von Jakob. »Ich lasse Most aus dem Keller holen, Ulrich«, lenkte die Mutter ein. »Jakob wird hungrig sein. Wir wollen etwas essen.«
Jakob machte eine Handbewegung. »Geht schon einmal voraus. Ulrich und ich haben noch etwas zu bereden.«
Er wartete kaum ab, dass die Frauen den Raum verlassen hatten, da griff er schon nach seinem Mantelsack, den er einfach hatte fallen lassen, nachdem er die Stube betreten hatte. Er wollte nicht länger warten mit dem, was er dem Bruder mitgebracht hatte. Rasch schnürte er das wasserdichte Öltuch auf und zog ein Buch heraus, hielt es Ulrich hin.
»Ulrich, wenn du das hier siehst, machst du dir keine Gedanken mehr über den Wagen in Meran.«
Der Bruder betrachtete den schlichten Ledereinband, schlug das Buch auf, blätterte unschlüssig darin und sah Jakob schließlich verständnislos an. Jakob musterte das Gesicht des Bruders voller Erwartung.
»Was soll das, Jakob? Erzähl mir nicht, die Zahlenkolonnen darin könnten den Verlust des Wagens über den Winter ausgleichen.«
Jakob, der bis zu diesem Zeitpunkt eine innere Unruhe und Anspannung gefühlt hatte, wurde gänzlich ruhig. Da war es wieder, das Denken, wie er es bereits in Venedig mehrfach an sich erlebt hatte: kühl und überlegt, klar und frei von Furcht. Wenn der Bruder nicht erkannte, welchen Schatz er in Händen hielt, würde es die Augsburger Kaufmannschaft ebenfalls nicht erkennen. Neuerungen standen die etwas trägen, aber soliden Kaufherren ohnehin skeptisch gegenüber. Das musste sich in Verdienst ummünzen lassen.
»Mehr als das«, antwortete er. »Es ist eine neue Buchführung, Bruder.«
Ulrich hob beide Augenbrauen und schüttelte den Kopf.
»Deshalb hast du eine gute Fuhre stehen lassen?«
Jetzt glühte der Ehrgeiz in Jakob auf. Verspotten lassen brauchte er sich nicht. Er nahm Ulrich den Band aus der Hand, legte ihn auf den Tisch, mitten in die Papiere des Bruders, der dagegen protestieren wollte, aber durch Jakobs energisches Auftreten eingeschüchtert wurde. Jakob schlug den Band auf und blätterte auf die aktuelle Seite.
»Hör mir zu, Ulrich. Dann wirst du verstehen«, sagte er bestimmt und ließ den Finger über die Zahlen gleiten. »Für jeden Wareneingang gibt es einen doppelten Kontovermerk. Nicht nur bei Wareneingang, sondern auch einen beim Geldausgang. Hier. Die letztmonatigen Eingänge im Fondaco zu Venedig, dem Warenlager der ausländischen Kaufleute: ein Zentner Kupfer, zu sechs Gulden den Zentner, dann dreißig Mark zwölflötiges Silber, zwölf Barren Barchent, ebenso viel feste Leinwand und noch einmal so viel Tuch. Hier vermerkt und hier«, Jakob deutete mit flüchtigen Bewegungen auf andere Zahlengruppen, »als Ausgaben. Dafür sind Gelder eingegangen. Der Verkauf von Segelleinwand an Venedig, Tuche für Rom, für Sizilien. Kupfer an den König, natürlich Silber für die Münze in Rom. Wieder notiert. Hier als Ausgang und hier als Einnahme. Schwierig wird es, wenn die Ballen geöffnet werden und die Ware verteilt wird. Was ist noch vorhanden? Was ist weg? Wie wird rotes und schwarzes Schlepptuch gehandelt? Was erbringen Taft, Samt, Damast, Bombasin? Wie soll das von Augsburg aus kontrolliert werden? Kein Problem, Ulrich. Schau, die Zahlen dort und dort und dort.« Wieder flogen die Finger über das Blatt. »Der aufgeteilte Ballen in einzelne Ellen umgerechnet, hier abgezogen, weil er nicht mehr ganz im Lager steht, und hier aufgerechnet. So behält man den Überblick, Bruder.«
Ulrich hatte sich abgewandt. Überließ dem Jüngeren die Erklärung, blickte hinaus in den Hof. Jakob wusste, dass Ulrich ihm zuhörte, dass er aufmerksam war. »Vertrau keinem Schreiber. Teile die Hauptbücher auf. So gewinnt keiner einen Überblick über die Geschäfte. Nur hier«, Jakob tippte auf sein Kontobuch, »führen alle Zahlen zusammen. Wir wissen Bescheid. Jederzeit.«
Ulrich besaß eine vorsichtige Natur, war kein eigentlich kaufmännischer Charakter, der auf Risiko abstellte, sondern solide Geschäfte bevorzugte. Das hatte Jakob in Venedig erfahren. Man musste ihn also mit etwas überzeugen, was ihn beeindruckte. Diesen Trumpf spielte er ganz zum Schluss aus. Innerlich vibrierte Jakob noch vor Begeisterung für das neue System, das er den Venezianer Kaufherren abgeschaut hatte, das er sich mehr heimlich erworben hatte und sich viele Gulden hatte kosten lassen, nachdem er dessen Vorteil erkannt hatte.
Er trat neben Ulrich und sah durch das Fenster hinaus in den Herbststurm.
»Ulrich, sag, wie viel Vermögen können wir sofort in Silber anlegen?«
Überrascht blickte der Bruder ihn von der Seite her an. Aber auf Jakobs schmalen Lippen spielte kein Lächeln. Er meinte es ernst.
»Wir sitzen gerade über der Jahresrechnung, dein Bruder Georg und ich. Aber Georg musste nach Nürnberg, die Unterlagen einholen. Ich erwarte ihn erst am Sonnabend zurück.«
Jetzt musste Jakob doch lächeln. Er presste die Lippen aufeinander, so dass nur ein schmaler, kaum sichtbarer Mundspalt zurückblieb.
»Heißt das, ihr beide könnt nicht sagen, ob die Gesellschaft Fugger dieses Jahr mit Gewinn abschließt?«
»Jakob, du weißt, was Brauch ist. Niemand kann es sagen, solange er den Jahresabschluss nicht kennt.«
Jakob verschränkte die Arme vor der Brust. Sein Blick folgte einem Tropfen, der innen an der blasigen Scheibe hinabrann.
»Niemand wollte es bislang wissen, Ulrich. Das ist ein Unterschied.« Er nahm den Bruder am Arm, führte ihn vor das Kontobuch, zeigte auf eine Zahl. »Das hat der Fondaco bis zum Monatsletzten dieses Jahres an Gewinn abgeworfen. Wenn ich den Schnitt der letzten elf Monate aus den Saldi errechne, Ulrich«, Jakob blätterte zurück und zeigte dem staunenden Bruder die Zahlen, »kann ich zumindest auf den zwölften Monat schließen und weiß, wie viel wir umgesetzt haben und was an Gewinn herauskommen wird. Natürlich muss alles wie bislang im Einzelnen geprüft werden – aber ich habe eine schnelle Übersicht. Mein System der Berechnung verschafft uns einen Vorsprung. Während andere Kaufherren noch rechnen, wissen wir, wie viel Geld wir ohne Sorge investieren können.«
Jetzt war Ulrich elektrisiert.
»Botenausgaben, Fuhrwerker, Mietkosten, Bewachung, die Beträge sofort herausgenommen«, flüsterte er, während er blätterte. »Und alles in arabischen Ziffern.«
»Sie rechnen sich schneller, Ulrich.«
Ulrich blätterte die Seiten um, addierte stumm und sah wie gebannt auf die in roter Tinte ausgewiesenen Saldi am Ende der Doppelseite, verglich Betrag mit Übertrag und rechnete abermals im Kopf nach. Endlich stützte er sich mit beiden Händen auf der Tischplatte ab, schüttelte das Haupt mehrmals.
»Jakob, das ist Zauberei. Ich habe dich nicht nach Venedig geschickt, um Alchemie zu erlernen!«
Jetzt lachte Jakob laut auf und klopfte dem Älteren auf die Schulter.
»Die neue Buchführung, Ulrich, setzt uns in Vorteil gegenüber allen Kaufherren dieser Stadt. Wir wissen immer, wie es um unsere Lager und unser Geld steht. Das ist keine Alchemie, das ist das Denken einer neuen Zeit.«
Die Tür öffnete sich, und ein Lakai erschien, um sie zum Essen zu rufen. Jakob nickte. Der Same war gesät. Er sah es in den Augen des Bruders. Jetzt musste das Korn nur aufgehen und Frucht bringen. Dafür würde er sorgen. Ein wenig lächelte er in sich hinein, unauffällig. Die neuen Bücher, die neue Art, die Konten zu führen, waren erst der Anfang. Als ahnte Ulrich, was ihn erwartete, legte er dem jüngeren Bruder den freien Arm um die Schulter und drückte ihn an sich.
»Jakob, du machst mir Angst.«
Anna saß über der Stopfwäsche. Mit dem Fuß stieß sie die Wiege an. Sibylla schlief, den Daumen im Mund. Ihre Augen rollten unter den Lidern, und manchmal fing sie heftig an zu nuckeln. Anna blickte dann über den Wiegenrand und dachte mit Vergnügen daran, wie sich das Mädchen an ihrer Brust festsaugte und trank.
Sie saß gern im Kinderzimmer. Das Holz der getäfelten Wände war hell. Die Stoffbahnen, die um Tür und Fenster hingen, wirkten wie Lichtflecken, freundlich und heimelig. Sonnenstrahlen streuten durch die blasigen Scheiben in den Raum und wärmten kräftig, so dass Anna das Fenster geöffnet hatte. Sie wollte mit der Kleinen heute noch auf den Markt, die erste Wärme genießen. Sibylla würde das sicher gefallen, vor allem jetzt, da sie zu laufen begann, ihre Welt mit ersten unsicheren Schritten erkundete. Aber zuerst mussten die Löcher in den Windeln gestopft und die in den Kinderjoppen geflickt werden. Woher sie nur immer kamen, wunderte sie sich. Schließlich lag Sibylla die meiste Zeit im Bett und schlief.
Anna seufzte. Einerseits war sie froh darüber, eine Anstellung als Amme gefunden zu haben, andererseits würde sie lieber bei sich zu Hause sitzen und ihr eigenes Kind stillen. Der Herrgott hatte ihr zwar Milch gegeben, nicht aber das Glück eigener Kinder. Die waren allesamt nach der Geburt gestorben. Drei in Folge.
Anna wollte sich nicht grämen. Der Herrgott gab’s, der Herrgott nahm’s. Daran durfte man nicht rühren. Froh war sie, im Haus der Familie Artzt untergekommen zu sein. Die Hausfrau schien sie zu mögen – und die kleine Sibylla trank sich groß an ihr. Sie gedieh und streckte sich.
Anna sah von der Nadel auf, weil Sibylla im Bett maunzte. Sie blickte über den Korbrand, aber das Mädchen schlief tief, die Ärmchen an die Brust gezogen.
Als Amme und Magd hatte sie ihr Auskommen, besser als Karl, der Vater ihrer toten Kinder, der die Tage auf den Baustellen mit Handlangertätigkeiten oder in den Schankstuben verbrachte.
Anna nahm eine der Windeln, hielt sie gegen das Licht, machte die dünnste Stelle aus und legte den Stopfpilz darunter. Sie summte eine Melodie, die seit einiger Zeit auf den Straßen gesungen wurde und ein Lied begleitete, das von der Hinrichtung des Bürgermeisters Schwarz handelte, dem Freund der Armen. Von den Patriziern war er in eine Falle gelockt und schließlich hingerichtet worden. Ein mutiger Mann, der dem Rat und damit den feisten Wänsten der Kaufherren und des Adels die Stirn geboten hatte. Einer der ihren, ein Zunftbürgermeister, der die einfachen Leute wohl verstand.
Sie räusperte sich, summte die Melodie zuerst nur, dann versank sie ganz in ihr Lied und sang schließlich leise vor sich hin:
»… erzählen, wie er in alten Zeiten,
von den gefangen genommenen Leuten,
denen er für Gulden rot,
geholfen hat aus ihrer Not,
einen Schatz erpresset hat,
gegen den Augspurger Hohen Rat.
Das war nicht recht das Amt geführt,
wie es dem Heiligen Geist gebührt.
Deshalb und weil die großen Herren,
sich gegen Neuerungen sperren,
haben sie ihn hingericht,
am Galgen wie es ihre Pflicht.
Seither spukt unser Bürgermeister
nachts durch die Gossen wie die Geister …«
Sie summte wieder und wiederholte die eine Strophe, die spöttisch das Unrecht brandmarkte, das an diesem Mann begangen worden war.
»Was singst du?«, herrschte sie eine Stimme von hinten an.
Anna fuhr erschrocken auf, stieß sich dabei die Nadel in den Finger.
»Ihr habt mich erschreckt, Herr!«
Wilhelm Artzt war ins Zimmer getreten. Er schloss lautstark das Fenster.
»Ich habe gefragt, was du da gesummt hast?«
Anna stotterte, als sie dem Hausherrn eingestand, dass sie das Lied über die Hinrichtung des Augsburger Zunftbürgermeisters gesungen hatte. Ihr Finger blutete, und sie steckte ihn in den Mund.
Wilhelm Artzt, der in seiner Fülle den Kaufmannsspross verkörperte, der mit den bedeutendsten Männern Augsburgs verwandt war, lief im Gesicht rot an, schnaufte mehrmals, als müsse er sich aufpumpen, und schrie sie endlich an, was ihr einfalle, seiner Tochter Gossenlieder vorzuplärren und solch unanständige dazu? Man könne ihr Schandlied bis hinaus auf den Weinmarkt hören. Schließlich hätten sie einen Ruf zu verlieren. In der Familie habe man ein Mitglied der Mehrer der Gesellschaft.
Anna kannte das Lamento zur Genüge und sprach innerlich mit: Der Onkel besaß einen Sitz in der Herrenstube, war Zwölfer der Zunft der Kaufleute, würde irgendwann zum Inhaber des Stadtpflegersamts, hatte Reichsambitionen. Die Nichte war nicht irgendeine Partie, sie war die beste Partie, die er sich zukünftig für Augsburg vorstellen konnte. Das dürfe man sich nicht durch lästerliche Lieder verbauen lassen, schon gar nicht von einer, die im Haus nur geduldet sei, weil sie Milch habe.
Anna hielt den Kopf gesenkt, ließ das Donnerwetter über sich ergehen. Der Stich pochte schmerzhaft. In ihr regte sich Widerspruch. Weder musste sie sich dem Hausherrn gegenüber rechtfertigen noch brauchte sie sich alles gefallen zu lassen. Die Hausherrin würde ihr helfen.
»Dann säugt Euer Bankert allein!«, fauchte sie, warf ihre Stopfarbeit in den Korb neben der Wiege und stand auf. Sie spielte mit dem Feuer. Wilhelm Artzt war bekannt als Mann, der nicht lange fackelte und selbst schnell Hand anlegte, wenn es galt, einen Lakaien hinauszuwerfen. Trotzdem durfte sie diesen Ton nicht dulden. Auch sie war freie Bürgerin dieser Stadt wie die Familie Artzt.
Sibylla muckte, rief zaghaft nach ihr. Anna rührte sich nicht.
»Ihr habt die Kleine aufgeweckt mit Eurem Geschrei!«, kommentierte sie das Rütteln und Schütteln der Wiege, die langsam dringlicheren Bitten der Kleinen, die in einem kaum verständlichen Kauderwelsch immer lauter hinausposaunt wurden.
»Beruhigt sie!«, fuhr Wilhelm Artzt Anna an.
Anna griff in die Wiege, nahm die noch schlafwarme Sibylla heraus – und drückte sie dem überraschten Vater in den Arm.
»Sie muss gewickelt und gefüttert werden. Aber Ihr könnt das ja übernehmen, Herr«, gelang es ihr zu sagen, ruhig und ohne Bitterkeit in der Stimme. Allein das Gesicht Wilhelm Artzts entschädigte Anna für die Demütigung von eben.
»Was soll ich damit?«
Wilhelm Artzt sah bestürzt das Kind an und dann die Kindsfrau. Anna ließ Wilhelm Artzt stehen und lief aus der Kinderstube.
»Anna, so hilf mir doch!«, rief er. Anna stolzierte mit hoch erhobenem Haupt den Flur entlang. Sibylla, die gefüttert und gewickelt werden wollte, schrie ihr nach.
»Anna! Bitte!«
Die Stimme des Hausherrn, die eben so gebieterisch und hart geklungen hatte, säuselte geradezu. Das Kind weit von sich gestreckt, lief er ihr nach. Sibylla schrie aus Leibeskräften. Ihr Gesicht war puterrot angelaufen, Tränen perlten aus den Augenschlitzen. Anna jubilierte innerlich. Sibylla war ein Schatz.
»Anna!«, stöhnte Wilhelm Artzt und drückte ihr die kleine Sibylla in den Arm. »Ich wusste nicht, dass sie so ein kleiner Teufel sein kann.«
Jetzt hatte Anna endgültig die Oberhand gewonnen.
»Versündigt Euch nicht, Artzt«, säuselte sie scheinheilig und süffisant, um im nächsten Moment mit schneidender Stimme hinzuzusetzen: »Die Herrin wird es nicht gerne hören, wenn Ihr ihren Augenstern einen Teufel nennt. Auch wenn es nur ein kleiner ist.«
Anna drückte die Kleine an ihren Busen, die sofort verstummt war, nachdem sie ihre Wärme und den Herzschlag gefühlt hatte. Hoch erhobenen Hauptes rauschte sie an Wilhelm Artzt vorüber, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Als Anna Sibylla trinken ließ und danach auf der Wickelkommode säuberte und trocken legte, spürte sie, wie ihre Hände zitterten. Jetzt musste sie erst einmal ins Freie, musste durchatmen. Das Mädchen strampelte und strahlte sie an mit Augen so schön wie der Frühling draußen.
Anna zog die kleine Artztin warm an, band sich ein Tragetuch um den Rücken, setzte Sibylla auf ihre Hüfte und summte trotzig das Schwarz-Lied.
Draußen empfing sie ein warmer Tag. Die Bürger auf der Straße lachten sich gegenseitig an. Die Gosse war zwar noch feucht und glitschig, und in den Ecken lagen Schneereste, aber alles folgte den behaglichen Lüften nach draußen. Eine Katze begrüßte sie, als Anna mit Sibylla im Hüfttuch aus der Haustür trat. Die weißgefleckte Schönheit trabte aus der Einfahrt auf sie zu, dehnte sich mit Würde zu einem Buckel, und sah zu ihnen hoch, als wollte sie fragen, wohin es gehe. Anna lenkte ihre Schritte zum Brotmarkt hin, sie wollte einen Laib kaufen und beim Lebzelter einen Pfefferkuchen für Sibylla mitnehmen. Den hatte sie verdient. Die Katze federte mit leichtem, flüchtigem Schritt vor ihnen her, als gehörten sie seit jeher zusammen.
Immer wieder blieb Anna stehen und erklärte der staunenden Sibylla die Menschen und die Dinge. Sie ließ Sibylla an den Gewürzsäcken riechen und mit Erlaubnis des Salzsieders ein wenig bitteres Steinsalz schmecken.
Beim Stand des Lebzelters hielt Anna an. Die Katze, die bislang ruhig gewesen war, fauchte entschieden, wollte sie vom Karren des Lebzelters weglocken, lief weiter, blickte zu ihnen zurück, kehrte um und verschwand schließlich mit hoch aufgestelltem Schwanz zwischen den Passanten.
Der Holzkarren des Lebzelters war über die ganze Länge des Brotmarkts hin zu riechen. Kuchen fanden sich dort auf der schräg gestellten Ladefläche und weißes Brot mit eingebackenen Rosinen, Butterlaibchen, Spezereien und die feinen Lebzelter, für die der Bäckermeister berühmt war, geschnitten zu kleinen Ecken. An den Stangen des Segeldaches hingen Zuckerkringel. Es roch nach Bienenwachs und Honig. Anna hätte Stunden vor dem Wagen verbringen und die Düfte einatmen können, wenn nicht der Lebzelter selbst gewesen wäre, ein kleiner Mann mit speckigen Haaren, Läusen in den Augenbrauen und einem fettigen Grinsen im Gesicht, mit dem er sie von oben bis unten musterte, bis sie rot wurde. Was ihn interessierte, wollte er nicht verbergen. Dennoch konnte sie sich nicht beklagen. Er gab sich freundlich und beschäftigte sich geradezu liebevoll mit Sibylla.
»Kommt mich die Prinzessin wieder besuchen?«, begrüßte er die Kleine.
Sibylla, die bislang die Erklärungen Annas aufgesaugt hatte, turnte unruhig in ihrem Hüfttuch. Anna fragte scherzhaft, was sie denn habe, aber das Mädchen deutete auf die kleinen braunen Ecken und rief in einem fort: »Haben! Haben! Haben! …«
Der Lebzelter kannte das Spiel. Obwohl Anna sein anbiederndes und süßliches Gehabe nicht mochte, hatte Sibylla ihren Narren an dem Mann gefressen. »Da … haben«, forderte sie, »Da. Da. Da. Haben.« Sie bettelte und bat und bettelte, bis Anna lachend nachgab und ihr der Lebzelter ein Körbchen mit ausgesuchten Leckereien reichte.
Anna blickte über den Brotmarkt hinweg. Die Karren mit ihren an Segel erinnernden Regendächern standen aufgereiht wie die Stadtschergen vor dem Rathaus. Durch den Stoff hindurch schien das Licht fleckig und warf dunkle Schatten.
Anna schloss die Augen, hörte auf die Geräusche. Die Bäcker schrien ihre Ware aus. Die Stimmen der Händler und Käufer mischten sich zu einem beständigen Summen. Kutschen und Karren ratterten über das Kieselpflaster.
Anna mochte diesen geschäftigen Lärm, doch Sibylla störte sie in ihrem Genuss. Das Mädchen strampelte und zerrte an ihrem Ärmel. Sie wollte auf den Boden, wollte laufen.