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ISBN 978-3-492-97533-9
November 2016
© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016
Covergestaltung: Birgit Kohlhaas
Covermotiv: Janet Kimber/Getty Images
Datenkonvertierung: Fotosatz Amann, Memmingen

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Warum Skifahren göttlich ist

Ein verblasstes Schwarz-Weiß-Foto von Schellerhau im Erzgebirge: Ich versuche, mit meinen Holzski einen Hügel hinunterzurutschen. Meine Eltern – auf Bambusstöcke gestützt – feuern mich an; sie hoffen, dass ich beim nächsten Mal hinunterkomme, ohne zu fallen. Erst dann bin ich zufrieden, kann die Skiwanderung fortgesetzt werden. Ich trage eine selbst gestrickte Bommelmütze und Wollhosen. Meine Mutter trägt Steghosen und einen Anorak mit kunstpelzbesetzter Kapuze, mein Vater eine Laufjacke, die sich vor der Brust beult von Schokolade, Skiwanderkarte, Fotoapparat. Noch ist nicht die Rede von atmungsaktiven, wasserabweisenden, wärmespeichernden Membranen. Noch wird richtig geschwitzt und gefroren, noch vereisen Schweißdampf und Luftfeuchtigkeit als kristallines Muster auf Mütze und Schal.

Meine ersten Rutschversuche auf Ski fanden in den Siebzigerjahren statt. Wir liefen im Thüringer Wald, im Riesengebirge, am Fichtelberg Ski, manchmal im Vogtland, wenn es einen strengen Winter gab. Es gab damals öfter strenge Winter als heute. Winter, in denen der alte Škoda meiner Eltern auf der Fahrt im Schnee stecken blieb, nachdem wir uns auf der vereisten Straße gedreht hatten. Eine Schneefräse musste uns befreien.

Wir wohnten in den Fremdenzimmern von Gaststätten oder in Privathäusern unterm Dach, wo es keine Heizung gab, nur einen provisorisch aufgestellten Heizlüfter, vor dem die nassen Skiklamotten trockneten. Mein Vater war Sportlehrer. Er liebte Langlaufen. Er war es, der auf dem jährlichen Winterurlaub bestand, er brachte mir die Technik bei. Meine Mutter hatte die nötige Geduld, um mich auf den langen Tagestouren bei Laune zu halten, trotz kalter Zehen. Ein Ski, ein Stock, ein Ski, ein Stock. Dieses Mantra höre ich noch heute.

Seither weiß ich: Keine Sportart ist schöner.

Oder anders. Es gibt viele schöne Sportarten. Eistanzen zum Beispiel. Synchronspringen. Voltigieren. Die Sache ist nur: Alles, was die Eistänzer, Voltigierer und Synchronspringer mit ihren Gliedmaßen und mit denen anderer Lebewesen anstellen, wurde dem Skilaufen abgeschaut. Das Skilaufen war zuerst da. Irgendwann haben sich die verschiedenen Elemente, die das Skilaufen ergeben, zu eigenen Sportarten weiterentwickelt.

Glühende Ski-Enthusiasten wissen: Man kann mit Ski auch Schlittschuh laufen, das nennt sich »Skating«. Pirouetten lassen sich gut im Tiefschnee drehen oder bei Sprüngen über gefährlich hohe Felskanten. Man braucht keine Schwimmhalle, um synchron zu wedeln. Ein Bein lässt sich in vollem Galopp nicht nur auf einem Pferderücken, sondern auch auf einem Bergrücken in die Luft strecken. Wer aber auch im Winter von seinem Ross nicht lassen kann und es gern zum Skilaufen mitbringen möchte, spannt es einfach vor die Ski; das haben die Urahnen der Norweger und Schweden, zwei der großen Skinationen, beim Skijöring so gemacht.

Der Skilauf ist so etwas wie eine Ursportart, jedenfalls nördlich des Äquators. Ski sind das älteste Fortbewegungsmittel der Menschheit. Das Skifahren (bergab), das Skilaufen (geradeaus) und das Skitouren (bergauf und bergab) sind Fortbewegungsarten, die sämtliche körperlichen Fähigkeiten umfassend beanspruchen. Und Fridtjof Nansen hatte völlig recht, als er nach seiner Durchquerung von Grönland auf Ski feststellte: Skilaufen »ist anderen Sportarten weit überlegen in seiner Förderung von Geistesgegenwart und Mut«.

Besonders gesund am Skilaufen ist der Winter.

Die kalte und dunkle Jahreszeit ist bekanntlich die, in der Bewegung im Freien die größte Erholung bringt. Auf Ski wirkt der Winter nicht mehr bedrohlich, und kalt ist er nicht, weil man so schwitzt. Außerdem ist Skilaufen gelenkschonender als Joggen (in der nordischen Variante und solange man nicht stürzt), trockener als Schwimmen (wenn man die passende Kleidung trägt), und anders als beim Radfahren ist nie die Luft raus. Und wenn der Eiswind auf Kamm oder Gipfel so richtig weht, ist die Gesichtsmassage inklusive.

Gegenüber landläufigen Sportarten wie Boxen oder Handball hat das Skifahren eine weitere Besonderheit. Es braucht dazu gewisse orografische und meteorologische Voraussetzungen. Genauer gesagt: Skifahren geht nur in einer speziell geformten Landschaft und dank jener Form des festen Niederschlags, die am häufigsten auftritt, dem Schnee. Während Boxen oder Handball nie in Gefahr sein werden auszusterben, weil man auch in hundert Jahren noch Mehrzweckhallen mit Boxringen und Toren errichten kann, sind Skiläufer von unwägbaren Kräften der Natur abhängig. Sie müssen sich einstellen auf Klima und Witterungsverhältnisse, auf Schneebeschaffenheit und Geologie. Aus dem Bestreben, diese Kräfte zu verstehen, ja sogar sie zu beschwören, erwächst eine außerweltliche Euphorie. Wenn alles grandios zusammenkommt und einen perfekten Skitag ergibt, wähnen sie sich im Einklang mit dem Universum, mit der reinen, göttlichen Existenz.

Eine solche Euphorie lässt einen nie wieder ganz los. Das Skifieber krempelt den gesamten Lebensstil um. Ich habe das an mir beobachtet. Natürlich räume ich meine Ski den Sommer über in den Keller und lasse sie nicht wie die Leute in Lappland gleich in der Flurgarderobe stehen, bis die lästigen heißen Tage vorbei sind.

Ansonsten aber sprechen die Zeichen für sich: Die Menge an Fleecepullovern, Softshelljacken und Funktionsunterhosen in meinem Kleiderschrank nimmt jedes Jahr zu. Statt einer Mütze liegen dort vier. Ich würde nie einen Fahrradhelm kaufen, besitze aber zwei Skihelme. Im Keller gibt es ein eigenes Regal fürs Skiwachs. Ich bin Abonnentin einer Skizeitschrift, im Portemonnaie steckt die Kundenkarte eines einschlägigen Sportfachhandels, und ich denke immer wieder ernsthaft darüber nach, einem Skiclub beizutreten. Auf meinem Handy finden sich Apps von Skigebieten, die die Schneehöhen der nächsten Saison am besten schon ab August täglich prognostizieren, die Bronzeplastik eines Skiläufers steht auf meinem Schreibtisch, und unter den Büchern neben meinem Bett häufen sich Titel wie »Skitouren-Know-how«, »Lawinenkunde«, »Two Planks and a Passion« oder »Bretter, die die Welt bedeuten«.

Im Internet wurde ich als Zielgruppe ausgespäht und bekomme regelmäßig Angebote für Skiurlaube, die ich mir sehnsüchtig anschaue, weshalb ich noch regelmäßiger noch mehr und teurere Angebote bekomme. An meiner Küchenwand hängt ein auf Plakatgröße gezogenes Foto von einem Schlepplift am Stubaier Gletscher. Auch im Arbeitszimmer Winterbilder. Verschneite Pisten. Loipen. Gischtender Schnee. Ein glitzernder Kältetraum durchzieht die Wohnung, den ich ganzjährig träume. Hätte ich das verfügbare Kleingeld, würde ich mir ein Haus in der Nähe eines Gipfels kaufen oder wenigstens ein Apartment für die Saison mieten. Ist die Saison vorbei, fahre ich trotzdem Ski: Rollski.

Längst habe ich vormals Ahnungslose angesteckt. Die mir engsten Menschen sind inzwischen komplett eingekleidet und ausgerüstet und fahren so begeistert Ski, dass sie vergessen haben, wie es war, bevor sie mich kannten.

Auch das vermag der Skisport; er begeistert die unterschiedlichsten Typen. Das Vergnügen an Loipe oder Piste vereint Menschen, die von so verschiedenem Charakter sind, dass ihr Zusammentreffen, geschähe es an gewöhnlichen Orten wie im Fußballstadion oder in einer Kneipe, im Faustkampf enden würde. Diese Sportart aber sorgt für friedliches Miteinander, trägt also zu nichts Geringerem bei als der Entwicklung sozialer Kompetenz. Skifahren wirkt zivilisatorisch.

Gruppendynamische, impulsive und extrovertierte Menschen laufen ebenso gern Ski wie introspektive Individualisten. Man findet den auf Elektrolyte schwörenden Asketen ebenso wie die adrenalinbewusste Partylöwin. Der Asket pirscht sich mit Fellen oder Harscheisen unter den Laufsohlen in blendend leere Gletscherlandschaften vor oder gleitet im Doppelstockschub über vereiste finnische Moore. Er liebt die einsame, funkelnde Loipe, das blaue Licht, das die Kälte aus der Landschaft treibt, wo nichts den stillen Lauf stört als das Geräusch des eigenen Atems.

Die Partylöwin bricht zum Heliskiing nach Lappland auf oder tobt sich im österreichischen Funpark aus. Sie liebt das morgendliche Anhosen in der Gruppe, Tiefschneefahren im Rudel, dass es nur so stiebt, und bei der abendlichen Gaudi auf der Hütte laufen alle mit den unwahrscheinlichsten Heldengeschichten zur Höchstform auf, bis zum gliederschweren schönen Hinabsinken aufs Bettenlager, das man mit elf Menschen teilt.

So unterschiedlich die sportlichen Interessen von Asket und Partylöwin sein mögen, beim Après-Ski trifft man sich wieder, er vorsichtig an der heißen Zitrone nippend, auch »Schiwasser« genannt, sie die Nachbeben des Kicks mit Lumumba oder Jagertee löschend. Als Schiwasser wird übrigens mitunter auch ein Kaltgetränk aus Himbeer- und Zitronensirup bezeichnet, die mit Wasser aufgegossen werden, früher auch mit getautem Schnee. Das zeigt, dass die Vielfalt des Skifahrens schon bei den Getränken beginnt, die man dabei zu sich nimmt.

Für jedes Alter gibt es den passenden Spaß. So kann die ganze Familie vom Opa bis zur Urenkelin am selben Ort Urlaub machen, ohne dass sich einer langweilt. Die Kleinste sitzt im kippsicheren Kinderpulka mit Windhaube und Klarsichtscheibe, vor den sich der Großvater auf der Skiwanderung ins Geschirr spannt. Der Erstklässer lernt auf der Skispielwiese »Schneepflug« – im Kinderjargon auch »Pizzaschnitte« genannt –, während sich der wild pubertierende Teenie beim Snowboarden auspowert und die trendbewusste Twen im Retro-Telemarkstil mit kleinen Knicksen den Berg hinunterschwingt. Mama kann mit ihren neuesten Carvingski währenddessen das Auf- und Umkanten perfektionieren, und Papa ist bis auf Weiteres zum »Hotdogging« (»fahren wie ein heißer Hund«) in der Halfpipe verschwunden.

Wie Sie sehen, haben Sie es mit einer echten Anhängerin zu tun. Seit ich als Kleinkind das erste Mal auf den Brettern stand, durchzieht mich der tiefe Glaube an das Göttliche, das im Geräusch gleitender Laufsohlen, im Knarzen von Stöcken in frisch gespurter Loipe oder im Zischen des Schnees beim geglückten Bremsmanöver am Ende einer Sturzflugpiste aufklingt.

Kein Wutanfall, kein Heulkrampf konnte diesen Glauben schwächen, die mich als Kind überkamen, wenn die Ski eine andere Richtung einschlugen als ich. Kein Unfall auf der Piste trübte je die Aura, die diesen Sport in meinen Augen umstrahlt, auch nicht, als das eine Auge zugeschwollen war und ich mit zitternden Beinen wie eine Anfängerin am Beginn der blauen Abfahrt stand und sturzgeschädigt alles neu erlernen musste. Rückschläge machen der wahrhaften Anhängerin nur bewusst, dass man noch stärker an seinen Glauben glauben muss.

Meinem früheren Berufswunsch trauere ich immer noch nach.

Als Kind wollte ich Skilehrerin werden. Ich sah diese Laufbahn lebhaft vor mir. Und da ich einen kleinen Bruder habe, dem jemand das Skifahren ja ebenfalls beibringen musste, wuchs ich in meinem Kinderkopf schon nahtlos in diese Karriere hinein. Trotzdem blieb mir dieser Lebensweg versagt. Ich komme aus dem Flachland. Als Autorin dieses Buches dürfte ich das eigentlich nicht erwähnen. »Flachlandtiroler« gelten als durch und durch skiuntauglich, jedenfalls den Alpinisten. Schlimmer ist da nur, dass ich den alpinen Skilauf nicht einmal an seinem Ursprungsort, den Alpen, erlernte, sondern im bulgarischen Witoschagebirge. Und nicht im Neugeborenenalter, wie viele Bergbewohner, sondern erst mit elf.

Als eine echte Münchner »Pistensau« in einem österreichischen Sessellift herausfand, dass ich aus dem Großraum Berlin komme, sah er mich nicht etwa abschätzig an; nein, ich wurde in seinen Augen Luft.

Trotz solcher Schmähungen, die übrigens einen alten Zwist zwischen alpinem und nordischem Skilauf wachrufen, bin ich eine glühende Verfechterin jeder Ausprägung dieses göttlichen Sports. Denn Rausch und Trance sind nirgends so schön wie auf Ski.

Die Trance, wenn sich im Voranschnellen der Beine die Energie in der Körpermitte sammelt, um in die pulsierenden Muskeln zu schießen, in die Hände, die lässig auspendeln nach jedem Stockschub in der glatt gefrästen Loipe, der den Körper aus der gewohnten Fassung löst, Knochen und Muskeln so schwerelos macht, als versage die Logik der Physiologie, als gleite man frei vom Bauplan des Körpers über den Schnee; ein einziges Schweben.

Der Rausch der Geschwindigkeit, wenn der Körper der Falllinie nachgibt, Schneewind in die Nase pfeift, dem Tempo verfallen, die Kehle geweitet, die Brust gespannt, die Oberschenkel werden heiß, die Hüfte pendelt, die Knie schwingen, die Waden, die Füße nehmen das Vibrieren der Ski, das Surren der Laufsohlen auf; ein einziger Tanz den Berg hinunter.

Dass Skilaufen göttlich ist, beweist im Übrigen auch die Milchstraße am Nachthimmel. Für das verzauberte Auge des passionierten Ski-Enthusiasten ergeben die beiden Bahnen der Milchstraße eine Skispur. Und tatsächlich. Laut des prähistorischen Stammes der Ostjaken in Sibirien hat ein Gott diese Spur hinterlassen, als er mit Ski auf Elchjagd war. Er jagte den Elch über den Himmel, bis der auf seiner Flucht auf die Erde hinabsprang. Der Gott mit dem punkigen Namen Tunk-pox sprang hinterher, wobei ihm ein Ski zerbrach. Auch das zeichnet sich noch heute am Nachthimmel ab: Die beiden parallelen Spuren der Milchstraße laufen an einer Stelle zu einer einzigen zusammen.

Alle wollen die Ersten gewesen sein

Die Österreicher behaupten gern, sie hätten das Skifahren erfunden. Dann führen sie ihren ersten Skilift in Vorarlberg an (1937); ein Schlitten, der über ein Seil mithilfe eines Motors den Berg hinaufgezogen wurde. Sie schwärmen von ihrer ersten Gondelbahn, der Hahnenkammbahn (1929). Sie erwähnen, dass sie den ersten Skizirkus der Welt einführten (1948). – Im Skizirkus sind keine skifahrenden Elefanten, keine rodelnden Clowns zu sehen. Es handelt sich um eine Art zusammenhängenden »Kreisverkehr« auf Ski, bei dem man an einem Tag einmal um eine gesamte Bergkette herumgondeln kann, ohne eine Abfahrtspiste oder einen Lift zweimal benutzen zu müssen.

Sportskanonen und sexy Skilehrer

Dafür, dass sie die Ersten waren, haben die Österreicher ein unschlagbares Argument: Mathias Zdarsky. Er bewältigte um 1900 die steilsten Hänge. Sein »Schlangenschwung« beruhte auf einer so ausgetüftelten Verbindung von menschlicher Motorik, stabilem Halt auf Ski und alpinem Gelände, dass sich wesentliche Elemente auch im heutigen Schwingen noch darauf zurückführen lassen. Herr Zdarsky war von seiner Erfindung so berauscht, dass er gern die ganze Welt von diesem ersten alpinen Skischwung überzeugen wollte. In seiner Wahlheimat Lilienfeld stellte er sich an einen geeigneten Hang und brachte allen, die es lernen wollten, diesen Fahrstil bei. Deshalb gilt er auch als Pionier aller Skischulen. Dass er keinen anderen Stil neben seinem gelten ließ, weshalb bis weit in die Dreißigerjahre hinein nur zdarsky-isch gefahren werden durfte, hat er mit vielen anderen großen Entdeckern gemein.

Österreich rühmt sich auch damit, das erste Land zu sein, das einen eigenen Skiverband gründete, den Verband Steirischer Skiläufer, der 1893 das erste alpine Abfahrtsrennen in Mürzzuschlag organisierte. Der erste österreichische Skihersteller war ebenfalls in Mürzzuschlag beheimatet. Vorher war der kleine, voralpine Ort nur dafür bekannt, dass der Komponist Johannes Brahms dort in zwei Sommern seine Vierte Sinfonie geschrieben hatte – und meist zu Fuß unterwegs gewesen war.

Dass Mürzzuschlag Ende des 19. Jahrhunderts zur Wiege des Wintersports wurde, war einem Bergsteiger aus Graz zu verdanken. Max Kleinoscheg war aufgefallen, dass die Abstiege vom Berg weniger lebensgefährlich wären, hätte man ein Hilfsmittel, auf dem man hinabgleiten könnte. Als er in einer norwegischen Zeitung eine Werbung für Ski entdeckte, organisierte er sich über Geschäftsbeziehungen zu einem Norweger zwei dieser kuriosen Bretter.

Beim Ausprobieren fiel ihm noch etwas auf: Die zunächst schwerfälligen Dinger beanspruchten bei richtigem Gebrauch dieselben Oberschenkelmuskeln wie das Fahrradfahren. Radfahren war zu jener Zeit ein weit verbreitetes sportliches Vergnügen. Also traute Kleinoscheg den Radfahrern am ehesten den seltsamen nordischen Brettsport zu. Und da die Radfahrer gern miteinander um die Wette fuhren, taten sie Selbiges bald auch auf Ski. So kommt es, dass ausgerechnet österreichische Radfahrer aus dem Skilaufen eine alpine Wettkampfsportart machten.

Das Land, in dem auf Titel im Allgemeinen großen Wert gelegt wird, führte auch als Erstes eine Skilehrerausbildung ein. Vor den 1920er-Jahren vertrauten die meisten noch ausschließlich aufs Schicksal, wenn sie sich einen Hang hinunterstürzten; jetzt nahm man Unterricht bei staatlich anerkannten Lehrern. Ob die frühen Skilehrer als Herr Magister oder Herr Professor auf der Piste angeredet wurden, ist nicht überliefert.

In dem Stummfilm »Wunder des Schneeschuhs« von Arnold Fanck (1920) wurde erstmalig ein Skiläufer zum Filmstar; Hannes Schneider, ein Österreicher. Er prägte das unverwüstliche Bild vom sexy Skilehrer. Kühn und schön tänzelt er den Berg hinunter. In den Drehpausen gründete er die Arlberger Skischule und entwickelte eine besondere Technik, das Bremsen mit Stemmbogen. Außerdem hatte er die Idee, das, was er in St. Anton am Arlberg vermittelte, zu normieren. So schaffte er Standards, nach denen auch an anderen Orten dieselbe Sache unterrichtet werden konnte. Marta Feuchtwanger, die Ehefrau des Schriftstellers Lion Feuchtwanger, gehörte zu seinen begeisterten Schülerinnen.

Um Schneiders Arlberg-Methode entwickelte sich schnell eine ganze Industrie. Sogar spezielle Skischuhe wurden dafür angefertigt, und aus dem verschlafenen St. Anton wurde ein weltberühmter Skiort. Schneider selbst wurde nach dem »Anschluss« Österreichs an Nazideutschland verhaftet, konnte aber 1939 in die USA emigrieren, weshalb die Grundlagen der Arlberger Schule bis nach New Hampshire gelangten.

Weißer Rausch

Gedreht wurden »Wunder des Schneeschuhs« und weitere Folgen dieses Stummfilms auch in den Schweizer Alpen. Also tönt es aus der Schweiz ähnlich, nur nicht ganz so laut. Die Schweizer wissen, dass sie bei der Erfindung des Skifahrens vorn liegen und außerdem die Vornehmeren sind. Da muss nicht erwähnt werden, dass Doppelmayr, einer der ersten und größten Luftseilbahnhersteller, zwar von einem Österreicher gegründet wurde, die erste Gondelbahn weltweit aber schon 1908 Passagiere aufs Wetterhorn in Grindelwald brachte, allerdings noch nicht ausschließlich Skifahrer.

Fürs Vornehme stehen Davos und St. Moritz. Davos war ein abgelegener Ort in den Bündner Alpen, als der deutsche Arzt Dr. Alexander Spengler unfreiwillig dort landete. Aus der Not machte er eine Tugend und eröffnete in dem öden Bergdorf Heilstätten für Tuberkulosekranke. Und es dauerte nicht lange, bis nicht nur die Kranken, sondern auch ihre Begleiter von der Schönheit der Berge und dem Glitzern des Schnees verzaubert wurden. Schon um 1895 entwickelte sich Davos mit noblen Sanatorien und Hotels zum ersten Winterkurort, dem Inbegriff des Winterkurens überhaupt, dem Thomas Mann mit dem »Zauberberg« einen Platz in der Literaturgeschichte verschaffte.

Weniger bekannt ist, dass ein anderer Autor an der rasanten Entwicklung des Ortes nicht unbeteiligt war: Arthur Conan Doyle, der Erfinder von Sherlock Holmes. Blasse, wohlhabende Engländer hatten eine Affinität zur Schweizer Bergwelt entwickelt, auch wenn sie kerngesund waren. Und so überquerte der fitte Mr. Doyle skifahrend die Maienfelder Furgga, einen Pass zwischen Davos und Arosa, unter Führung der einheimischen Branger-Brüder, denen das erste Skigeschäft der Welt gehörte. 

Doyle unternahm damit die erste geführte Skitour durch die Alpen, wohlgemerkt in der Schweiz. Im Strand Magazine, in dem auch die Erzählungen um Sherlock Holmes erschienen waren, entzündete er bei seinen Landsleuten die Leidenschaft fürs Skifahren so:

»Die Brüder Branger waren sich einig, dass die Stelle zu gefährlich war, um sie mit Ski an den Füßen zu überwinden … sie schnallten die Ski ab, banden die Riemen zusammen und verwandelten sie in einen dürftigen Schlitten. Darauf sitzend, unsere Fersen in den Schnee gestemmt, unsere Stöcke hinter uns fest andrückend, begannen wir, den steil abfallenden Hang des Passes hinunterzurutschen … ich stemmte meine Fersen kräftig in den Boden, was mich rückwärts aushebelte, und augenblicklich flogen meine beiden Ski wie ein Pfeil vom Bogen von mir, zischten an den beiden Brangers vorbei, verschwanden hinter der nächsten Biegung und ließen ihren Besitzer, im Tiefschnee hockend, zurück … ich setzte meinen Weg ins Tal dann auf meine Weise fort …«

Wie das aussah, lässt sich leider nicht mehr rekonstruieren. Aber die Engländer waren so angestachelt, dass sie in Scharen nach Davos kamen und dazu beitrugen, dass sich das Skifahren von einer ausgefallenen Leidenschaft Einzelner zu einer touristischen Freizeitaktivität entwickelte. 1934 ging hier der Menschheit erster Schlepplift in Betrieb.

Der Schriftsteller Herrmann Hesse, der Ende der Zwanzigerjahre im tiefer gelegenen Klosters abgestiegen war und in Wickelgamaschen die Hänge im Telemarkstil hinabrauschte, mochte den Trubel nicht. »Die Art, wie in Davos der Wintersport betrieben wird, ist flott und imponierend. Man sieht prächtige Menschen jeden Alters mit geübten Gliedern sich bewegen. (…) ringsum ist das Land für Skitouren wie geschaffen, und die Schlittenbahnen sind die besten, die ich gesehen habe. Immerhin ist der Ton solcher internationaler Sportplätze für empfindsame Reisende nicht lange erträglich, und auch ich nahm nach einigen Stunden gern wieder Abschied, um auf meinem Bergschlitten nach Klosters zurückzukehren.«

In St. Moritz gab es keinen Tuberkulose-Dunst. Hotelpaläste und luxuriöse Ballsäle waren einen Tick eleganter als in Davos. Bereits zur vorletzten Jahrhundertwende nahm man hier das Prinzip des rundum sorgenfreien Skiurlaubs von heute vorweg. Nur Thomas Mann, der im Alter von sechzig Jahren im nahen Chantarella residierte und die Skibegeisterung seiner Frau Katia mit Skepsis betrachtete, schien nicht so sorglos gewesen zu sein. »Tiefer Neuschnee. Gedünst und Graupelsturm, der mich, zusammen mit den fast unvorhandenen Wegen, nicht bis zu K’s Ski-Platz gelangen ließ. Elementarisch-schreckenerregend, blind-verschwimmend, Schwindel erregend, ein zur Vernichtung aufgelegtes Nichts«, notierte er am 16.2.1935 zimperlich im Tagebuch.

Inzwischen ist St. Moritz das »Beverly Hills der Berge«. Ein großer Laufsteg. Die teuersten Skimodetrends werden hier von teuren Menschen ausgeführt, und die Anzahl an High Heels soll die der Skischuhe im Ort übertreffen.

Die Schweiz ist auch schuld daran, dass eine Seilzugbindung, eine Weltcupabfahrt an der Zugspitze und eine Seilbahn in Garmisch-Partenkirchen nach einer afghanischen Stadt benannt sind. Wie aber ist die Wüstenstadt in die Kandahar-Bindung, die Kandahar-Abfahrt und die Kandahar-Bahn gelangt? Multikulti? Pustekuchen!

Dahinter steckt auch keine nett gemeinte Einladung an afghanische Einwanderer, es mal mit dem Skifahren zu probieren. Im Gegenteil. Der Name geht auf die kriegerische Eroberung Kandahars durch einen britischen Marschall zurück. Marschall Frederic Roberts war so stolz auf diesen militärischen Coup im anglo-afghanischen Krieg, dass er sich, als er zum Grafen geadelt wurde, einen Namen wählte, der daran erinnerte: »Earl Robert of Kandahar«.

Nun fuhr auch dieser Earl begeistert Ski, und wie alle Engländer tat er das am liebsten in der Schweiz. Als man 1911 in Crans-Montana, einer Ferienregion im französischsprachigen Teil des Kantons Wallis, auf die Idee kam, ein Abfahrtsrennen auszurichten, bat man den Grafen, der Siegestrophäe seinen ausgefallenen Namen und damit dem Rennen Glanz zu verleihen.

Der »Earl Robert of Kandahar Challenge Cup« glänzte so stark, dass er die dunkle Aura einer kriegsgeplagten Wüstenstadt überstrahlte. Schneegereinigt lässt der Name heute nur noch an harmlos-winterliche Vergnügen denken, an Schneesportgeräte und Pisten.

Noch etwas zeichnet die Schweizer Alpen aus: Skifahren und Esprit verbinden sich auf einzigartige Weise. Viele Künstler und Schriftsteller des 20. Jahrhunderts staksten auf rutschigen Holzbrettern durch die Schweizer Berge. In den Zwanziger- und Dreißigerjahren war Zürich ein Treffpunkt der Boheme, Ausflüge in die Berge ein exklusives Abenteuer. Später fand ein Großteil der Intellektuellen hier vorübergehend Zuflucht vor den Nazis. Das Skifahren mag eine Ablenkung von den düsteren Zukunftsaussichten gewesen sein, gleichzeitig verkürzte es die langen Winter der Emigration.

Verschwiegen wird auf schweizerischer Seite gern der erste Mann auf Ski in den Alpen, der Pfarrer Johann Josef Imseng aus Saas-Fee, mittlerweile ein beliebtes Skigebiet im Wallis. Pfarrer Imseng schämte sich um 1850 noch so sehr des Skifahrens, dass er nachts im Dunkeln übte. Wie oft er dabei mit einem Walliser Nadelbaum kollidierte, ist nicht überliefert.

Wer bei der Eroberung der Alpen die Bretter schneller angeschnallt hatte, müssen Schweizer und Österreicher untereinander klären. Klar ist, dass die Skifahrer beider Länder norwegische Ski unter den Füßen hatten. Jeder, der auf diese Weise vorankommen wollte, musste sich die Ski aus dem hohen Norden schicken lassen. Oder man fuhr selbst hin – woraufhin man mit großer Begeisterung und mehreren Paar Ski im Gepäck zurückkehrte. Es konnte auch passieren, dass sich der eine oder andere Norweger auf Studienreise auf dem europäischen Kontinent befand. Und da ein Norweger nicht ohne seine Ski verreist, wurde er schnell zum Gegenstand erstaunten Gaffens.

Klar ist auch, dass die Bergwelt beider Alpenländer für die Ausbreitung des alpinen Skilaufs in Mitteleuropa unabdingbar war. Man könnte sogar sagen, dass Österreicher und Schweizer die ersten mitteleuropäischen Skiläufer waren, knapp gefolgt von den Engländern, gäbe es nicht Herrn GutsMuths.

Eine Eintragung vom 28. Januar 1795 im Schulbuch aus Schnepfenthal in Thüringen bezeugt, dass der dort unterrichtende Pädagoge und Begründer des Turnens Johann Christoph Friedrich GutsMuths sich auf etwa zwei Meter lange Holzbretter gestellt und ziemlich erfolgreich versucht hatte, damit zu laufen.

Skilaufen, notierte er in seinem Lehrbuch »Gymnasium für die Jugend«, sei zweifellos eine gesunde Übung für die Jugend in müßigen Stunden. Auch Herr GutsMuths benutzte norwegische Bretter. Von ihm stammt die älteste überlieferte technische Zeichnung eines Telemarkski aus dem Jahr 1804. Allerdings konnte dieser merkwürdigen Art der Fortbewegung damals nur die eingeschworene Gemeinschaft um Herrn GutsMuths etwas abgewinnen. Ehe das Skifahrfieber um sich griff, verging noch ein gutes Jahrhundert.

Das Wettrennen um den allerersten Skilift gewann im Übrigen der Mühlen- und Restaurantbesitzer Robert Winterhalter, und der kam aus dem Schwarzwald. Seinen Gästen im Kurhaus Schneckenhof in Schollach wollte er den mühsamen Aufstieg ersparen, und so konstruierte er 1908 am Auslauf des Hangs eine Wassermühle. Mithilfe des Mühlrads wurde ein Stahlseil betrieben, das über mehrere Holzpfosten den Berg hinaufführte. Am Seil waren in regelmäßigen Abständen kleine Taue angebracht, an denen sich die Skifahrer festhielten, wollten sie auf den Berg gelangen. Einziger Nachteil: Auf den 280 Metern erlahmten schnell die Arme.

Patentiert wurde dem einfallsreichen Mühlenbesitzer die Erfindung nicht; auch die Deutschen legten damals großen Wert auf Titel. Da Herr Winterhalter weder ein Ingenieurszertifikat noch einen Doktortitel vorweisen konnte, wurde sein Lift nicht anerkannt.