Warum ich losging,
um Milch zu kaufen,
und mit einem Fahrrad
nach Hause kam
Was wirklich hinter unseren
Entscheidungen steckt
Kapitel 1
HILFE, ICH KANN MICH NICHT ENTSCHEIDEN!
Halt! Stopp. Lesen Sie dieses Buch nicht weiter … Und schon haben Sie sich entschieden: Sie lesen trotzdem weiter (was ich natürlich unterstütze). Die Fragen, die sich stellen: Warum haben Sie sich ausgerechnet so entschieden und wie lange haben Sie dafür gebraucht?
Die erste Frage ist noch relativ leicht zu beantworten: Der Einstieg hat Sie vermutlich neugierig gemacht. Vielleicht hat er aber auch Ihre Renitenz-Saiten in Schwingungen versetzt, Motto: jetzt erst recht! Oder Sie stehen gerade in einem Buchladen, blättern ein wenig in diesem Buch und überlegen, ob Sie es kaufen sollen … Noch eine Entscheidung! Echt fies, oder?
Ich sage: Sie haben sich schon längst entschieden. Ihr Verstand versucht nur noch, Ihre Wahl zu rationalisieren und zu rechtfertigen, damit sie nicht ganz so spontan, willkürlich und emotional wirkt und damit irgendwie intellektueller, abgewogener und begründbarer.
Kein Grund zur Scham: Wir machen das ständig so. Entscheidungen treffen sowieso. Aber auch, uns erst unterbewusst zu entscheiden und dann das Ergebnis durch einen rationalen Wahlomaten rattern zu lassen, damit die Wahl anschließend logisch-klug erscheint – nicht nur für uns selbst, sondern auch für die beste Freundin, den Freund, den Partner, Kollegen oder Chef.
Manchmal entscheiden wir uns auch um, wenn wir merken, dass die Argumente, die die Synapsen in der Oberstube da so mühsam zusammenknüpfen, einer genaueren Überprüfung nicht standhalten würden. Dann sagen wir B, hätten aber lieber A – unsere Herzenswahl. Dazu komme ich später noch mal. Oder wir gehen in ein Geschäft und verlassen es mit etwas ganz anderem, als wir eigentlich wollten. Gut, in dem Fall kann es auch so laufen: Ihr Unterbewusstsein und Verstand ringen immer noch um die bessere Begründung, während Sie schon an der Kasse stehen und bezahlen.
Das Leben steckt voller Entscheidungen. Bis zu 20 000 davon treffen wir Tag für Tag, haben Wissenschaftler einmal hochgerechnet. Die Zahl kann man glauben oder nicht, aber viele Entscheidungen, sehr viele, sind es auf jeden Fall. Und Sie ahnen schon jetzt, wie aberwitzig die Vorstellung wäre, jede einzelne davon bewusst und rational treffen zu wollen. Allein unsere verfügbare Zeit macht dieses Vorhaben absolut unmöglich. Der Großteil unserer Entscheidungen wird zwangsläufig blitzschnell getroffen.
Das fängt schon beim Aufstehen an. Genau genommen sogar davor: Kaum piept der Wecker, landet der Zeigefinger auf der Snooze-Taste. Eine klare Entscheidung für weitere fünf Minuten Dämmerschlaf. Gut so! Denn das hilft uns nachweislich, besser in den Tag zu starten. Doch es bedeutet auch, weniger Zeit fürs Frühstück zu haben. Also verzichten Sie auf die zweite Tasse Kaffee. Die nächste Entscheidung. Und so weiter.
Den ganzen Tag lang verfahren wir nach diesem Muster. Angesichts des schieren Ausmaßes unserer täglichen Wahloptionen können wir von Glück sagen, dass viele davon unbewusst ablaufen und die meisten so trivial sind. Sonst würden wir schlicht irre davon – auch wenn sich das manchmal trotzdem so anfühlt.
Im Job geraten wir gleich zigfach in Situationen, in denen wir uns entscheiden müssen – jedoch stehen wir dabei auch noch mit einer Wahrscheinlichkeit von rund 60 Prozent unter Zeitdruck – auch das ein wissenschaftliches Ergebnis. Kollegen, Vorgesetzte oder auch Kunden sind von Natur aus keine geduldigen Zeitgenossen. Sie erwarten eine baldige Antwort, am besten bis gestern. Die Wahrscheinlichkeit für mehr Fehlentscheidungen – so sollte man zumindest meinen – ist hier ungleich größer, genauso wie die potenziellen (negativen) Folgen. Warum das nicht so ist, erfahren Sie ebenfalls in diesem Buch.
Entscheidungen betreffen jeden von uns, jeden Tag, jede Minute, und sind trotz der scheinbaren Einfachheit psychologisch unglaublich komplex.
Sagen wir es, wie es ist: Der Mensch ist nicht nur die selbst ernannte Krone der Schöpfung, sondern leider auch ein Meister darin, sich selbst zu behumsen und seine eigene Wirklichkeit zu schaffen. Insbesondere, wenn wir mit uns unzufrieden sind und unsere Entscheidungen bereuen. Wie trällerte schon Pippi Langstrumpf: »Ich mach mir die Welt, widdewidde wie sie mir gefällt …«? Was bei der beliebten Romangöre zum fröhlichen Selbstverständnis gehörte, endet im realen Leben oft in einem Universum aus (Selbst-)Enttäuschung, Schönfärberei und Selbstgerechtigkeit.
Dazu gibt es ein wirklich zauberhaftes Experiment der Psychologen Lars Hall und Petter Johansson von der Universität Lund in Schweden, das das ganze Ausmaß der Selbstmanipulation eindrucksvoll vor Augen führt.
Nehmen wir einmal an, Sie könnten zwischen zwei potenziellen Partnern wählen. Als Resultat wären Sie jedoch mit dem Menschen verbandelt, den Sie nicht ausgesucht haben. Würden Sie das merken?
»Also, bitte: Was soll das für eine doofe Frage sein?«, denken Sie vermutlich. Natürlich würden Sie das merken! Okay, wenn der neue Hausbewohner so gar nicht Mr oder Mrs Perfect ähnelt, ist das wohl noch leicht. Bei den Experimenten von Lars Hall und Petter Johansson aber war es das nicht. Verblüffender noch: Selbst wenn den Probanden auffiel, dass der von ihnen per Foto ausgewählte Partner sich seltsam verändert hatte, hielten sie ihre Wahl für goldrichtig, ja, sie begannen sogar, die Partner vor anderen zu rechtfertigen.
Da gab es etwa einen Probanden, der schwor Stein und Bein, Frauen mit Ohrringen zu bevorzugen – dabei trug nur die von ihm abgelehnte Dame Ohrschmuck. Ein anderer Kandidat sagte, ein Lächeln auf dem Foto sei für ihn ausschlaggebend gewesen. Leider war auf dem Bild, das er anschließend in der Hand hielt, kein lächelndes Gesicht zu sehen.
Hall und Johansson gaben dem Phänomen später die Bezeichnung »Choice Blindness«; im Deutschen spricht man auch von Wahlblindheit. Kurz formuliert besagt diese: Wir merken häufig gar nicht, wenn wir uns geirrt haben. Und falls wir es doch merken, geben wir den Irrtum nur ungern zu und reden uns (und anderen) diesen richtig.
Das im Hinterkopf fragen Sie sich jetzt bitte mal, warum Sie schon so lange den Job machen, mit dem Sie aktuell Ihr Geld verdienen, aber dabei irgendwie nicht glücklich sind …
Besonders wir Deutschen sind dafür bekannt, gerne alles zu analysieren. Kritisch vor allem: Im Kern wünschen wir uns eine widerspruchsfreie Welt. Widersprüche sind uns zutiefst unangenehm und nur schwer zu ertragen. Im Fachjargon spricht man dabei von kognitiver Dissonanz. Dieser negative Gefühlszustand entsteht immer dann, wenn wir mit unvereinbaren Wahrnehmungen, Gedanken, Meinungen, Einstellungen, Wünschen oder Absichten konfrontiert werden. So kommt es in aller Regelmäßigkeit zu genau diesen Dissonanzen, wenn wir nach einer Entscheidung glauben oder erfahren, dass die andere Wahl besser gewesen wäre.
Um solche kognitiven Dissonanzen zu reduzieren und die Welt wieder in Einklang zu bringen, stehen uns verschiedene Werkzeuge zur Verfügung. Sehr beliebt ist zum Beispiel die Variante, die eigene Einstellung kurzerhand zu ändern, um so die getroffene Entscheidung doch noch rechtfertigen zu können.
Von Konrad Adenauer stammt das berühmte Bonmot: »Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern.« Wer heute A sagt, kann morgen auch B behaupten. So einfach geht das. Von den meisten Menschen werden solche Kehrtwendungen zwar bemerkt (und zuweilen auch kritisch hinterfragt), danach aber fühlt sich die Welt deutlich besser an. Es fehlt vielleicht die plausible Erklärung für den plötzlichen Sinneswandel. Aber welche Lösung ist schon perfekt?
In der Politik und im Beruf sind solche Manöver allerdings nicht ungefährlich. Wer zu viele 180-Grad-Haken schlägt, verliert massiv an Glaubwürdigkeit.
Neben dieser ziemlich durchschaubaren Methode gibt es aber noch eine zweite Option: herunterspielen und herabwürdigen.
Sie lässt sich beispielsweise regelmäßig an Rauchern beobachten. Auf die gesundheitlichen Folgen des Qualmens angesprochen, kontern diese gerne: Das Leben sei generell gefährlich; man könne genauso gut morgen von einem Auto überfahren werden. Ohnehin sei die Wahrscheinlichkeit, an Krebs zu erkranken, längst nicht so hoch, wie alle behaupteten, es gebe ja genügend richtig alte Raucher. Und überhaupt: Was sei mit Helmut Schmidt? Der rauchte seit zwoundtrölfzig Jahren Kette und starb auch nicht an Lungenkrebs! Wie Sie sehen, sind wir um eine Ausrede nie verlegen, wenn es darum geht, kognitive Dissonanzen zu minimieren und unsere Entscheidungen vor uns selbst zu rechtfertigen.
Wenn Sie mögen, können Sie diesen Zustand der kognitiven Dissonanz gleich an sich selbst erproben und erleben. Der Philosoph, Mathematiker und Logiker Bertrand Russell formulierte dazu ein schönes Beispiel – das sogenannte Barbier-Paradoxon:
Man kann einen Barbier als jemanden definieren, der all jene und nur jene rasiert, die sich nicht selbst rasieren.
Nehmen Sie sich ruhig die Zeit, um ein wenig darüber nachzudenken, und stellen Sie sich dann die Frage: Rasiert sich der Barbier selbst?
Bei dem Versuch, die Frage zu beantworten, ergibt sich ein veritabler Widerspruch. Rasiert sich der Mann selbst, ist er kein Barbier mehr, weil ein solcher ja ausschließlich andere rasiert. Rasiert er sich aber nicht selbst, müsste er sein eigener Kunde sein.
Erkennen Sie das Problem? Widerstrebt es Ihnen gerade, dieses zu akzeptieren und suchen Sie krampfhaft nach einer Option, die übersehen wurde?
Ich könnte noch einen draufsetzen – mit der Allmacht Gottes:
Wenn Gott allmächtig ist, dann kann er einen Stein schaffen, der so schwer ist, dass er ihn selbst nicht mehr heben kann.
Auch hier dürften Sie jetzt ein leichtes Knuspern in der Oberstube spüren: Der Begriff der Allmacht bringt unseren Verstand an seine Grenzen. Wir wissen zwar alle irgendwie, was damit gemeint ist. Vorstellbar ist es aber nicht. Regelmäßig erleben wir dabei eine kognitive Dissonanz.
Es wäre allerdings töricht zu glauben, nur weil wir uns etwas nicht vorstellen oder in logische Konstrukte pressen können, existiere es nicht. Ganz oft müssen wir mit solchen Widersprüchen leben. Aber keine Bange, das geht nicht nur Ihnen so, sondern den meisten Menschen, und es ist ganz normal.
Die Gefahr ist eine andere: Weil uns solche Widersprüche unbefriedigt zurücklassen, wollen wir eine einfache Lösung. Schnell. Sofort. Die aber führt mitunter zu echten Fehlentscheidungen.
Der Ausweg: Machen Sie sich das Störgefühl bewusst, halten Sie es aus, und akzeptieren Sie es als das, was es ist: ein Störgefühl, das auch wieder vorbeigeht.
Ganz oft nötigt uns die kognitive Dissonanz in eine Entweder-oder-Haltung: Freiheit oder Sicherheit? Ordnung oder Chaos? Nähe oder Distanz? Vertrauen oder Kontrolle? Dahinter steckt letztlich digitales Denken (null oder eins), das uns übersehen lässt, dass beide Optionen zuweilen auch nebeneinander existieren können. Manche scheinbaren Gegensätze schließen sich überhaupt nicht aus, sondern können sich wunderbar symbiotisch ergänzen: das eine tun, das andere nicht lassen. Aus dem engen Korsett des Entweder-oder wird so ein luftiges Sowohl-als-auch.
Kompromisse sind typisch für solche Entscheidungen, die deswegen nicht zwangsläufig einen Mittelweg im Sinne einer Fifty-fifty-Lösung darstellen müssen. Auch ein 80-20-Resultat kann helfen, das Beste aus beiden Optionen zu vereinen und unsere Ansprüche maximal zu befriedigen. Das ist – zugegeben – leichter gesagt als getan. Aber deswegen nicht unmöglich.
Schon aus den bisherigen Erkenntnissen lassen sich drei Empfehlungen für bessere Entscheidungen ableiten:
Der Begriff »richtig« suggeriert bereits, dass es immer eine allgemeingültige Lösung beziehungsweise Entscheidung gäbe. Für die meisten unserer Alltagsentscheidungen trifft das allerdings überhaupt nicht zu. »Richtig« muss eher im Kontext von »für mich richtig« oder »in diesem Moment richtig« gesehen werden. Wer das im Hinterkopf behält, dem fällt es leichter, sich von überhöhten Erwartungen zu lösen.
All die Kategorien – Entweder-oder, Ja-nein, Richtig-falsch – zwingen uns in zweidimensionale Denk- und Entscheidungsstrukturen. Statt verschiedene Optionen als unvereinbare Gegensätze zu begreifen, können Sie diese auch als Teile eines Ganzen betrachten. Dann müssen Sie nicht das eine für das andere aufgeben, sondern sind frei, nach einem Weg zu suchen, um beide Seiten miteinander zu verbinden.
Was gerade wichtig und richtig ist, muss es morgen schon nicht mehr sein. Umstände und Konstellationen können sich ändern. Die bessere Entscheidung ist daher häufig jene, die wir langfristig treffen – also mit Blick auf die Zukunft. Dazu kann auch gehören, hier und jetzt noch keine Entscheidung zu fällen. Denn auch das verheimlicht das Entweder-oder-Denken: Es gibt immer eine dritte Option – die, keine Wahl zu treffen. Zumindest nicht im Moment. Das ist auch eine Entscheidung. Und je bewusster wir diese treffen, desto besser.
Aber schauen wir uns zuerst einmal an, was so alles im Kopf passiert, wenn wir eine Wahl haben und treffen.
Angenommen, Sie sitzen in der S-Bahn auf dem Weg in die Stadt. Gedankenverloren schauen Sie aus dem Fenster. Plötzlich wird es unruhig um Sie herum. Die anderen Gäste kramen in ihren Taschen. »Die Fahrkarten bitte!«, ruft ein Mann in Uniform. Sie spüren das Unbehagen, das just in diesem Moment in Ihnen aufsteigt?
Innerlich schrillen die Alarmglocken: Angst und vage Befürchtungen, bloßgestellt, bestraft oder aus der Bahn geschmissen zu werden, schrauben sich durch die Hirnwindungen. Gefühlt vergeht gerade eine Ewigkeit, tatsächlich haben Sie für diese Reaktion nicht einmal mehr als 0,2 Sekunden gebraucht, wie Studien zeigen.
Betrachten wir diese Situation aus der Distanz: Ihre Reaktion ist keineswegs rational. Ihr Ticket haben Sie wahrscheinlich sorgfältig im Portemonnaie oder in der Jackentasche verstaut. Sie sind schließlich kein Schwarzfahrer. Trotzdem bekommen die meisten Menschen bei dem Wort »Fahrscheinkontrolle« im ersten Moment einen kleinen Schock. Ihr Gehirn hat die Situation als potenzielle Gefahr erkannt und warnt Sie nun. Das kann an zurückliegenden Erfahrungen liegen. Vielleicht sind Sie doch schon einmal schwarzgefahren, wurden erwischt und mussten ein Bußgeld zahlen. Oder Sie haben mit angesehen, wie das einem anderen Fahrgast widerfahren ist, und wollen nicht die gleiche Erfahrung machen.
So oder so: Das Reaktionsmuster geht auf eine ganz andere Zeit zurück. Mehr noch: Es ist wesentlich älter als Sie selbst. Viel älter. Um es zu verstehen, müssen wir zurück in die Urzeit.
Der Fahrscheinkontrolleur hatte damals Ähnlichkeit mit einem Säbelzahntiger. Wenn wir in dessen Territorium unterwegs waren, klang »Fahrscheinkontrolle« eher nach »RrrOoooaAR«. Und das Bußgeld betrug nicht einfach 60 Euro, sondern es kostete gleich das ganze Leben. Wer einer solchen Tötungsmaschine begegnete, musste sich also schnell entscheiden: erstarren, kämpfen oder flüchten?
Als Überlebensprogramm erdacht, setzt unser Gehirn in solchen Situationen Unmengen Adrenalin frei. Binnen Millisekunden gelangt es ins Blut und durchflutet den gesamten Körper. Das Herz rast, der Blutdruck steigt, die Muskeln werden optimal mit Sauerstoff versorgt. Gleichzeitig werden alle Zucker- und Fettreserven mobilisiert. Körper und Geist sind hellwach, unsere Reaktionszeit steigert sich enorm, sodass wir – ohne einen klaren Gedanken gefasst zu haben – losrennen oder kämpfen können. Diesen unbewussten Entscheidungsmechanismus tragen wir bis heute in uns, und er rettet manchem nach wie vor Kopf und Hals.
Gesteuert wird das von unserem limbischen System, dem emotionalen Zentrum unseres Gehirns. Hirnforscher schätzen, dass es sich vor 150 Millionen Jahren entwickelt hat. Evolutionär betrachtet entstand es in derselben Phase wie die Säugetiere (deshalb wird es auch Säugetiergehirn genannt). Untersuchungen haben gezeigt, dass das limbische System eine funktionale Einheit bildet, basierend auf Emotionen, Antrieb und Lernen.
Emotionen sind die große Stärke des limbischen Systems, es ist praktisch der Türsteher für jede Sinneswahrnehmung: Jeder Reiz durchläuft die sogenannte limbische Schleife und wird vom Emotionszentrum im Nullkommanichts bewertet – bei der Begegnung mit einer Raubkatze genauso wie beim Sirren einer Mücke oder eben dem Zuruf »Fahrscheinkontrolle!«.
Das limbische System ordnet diese Eindrücke, leitet die Ergebnisse umgehend an den Körper weiter und löst unter Umständen die oben beschriebene Kettenreaktion aus.
Angst, Wut, Trauer, Freude, Ekel oder Überraschung – diese sechs Basisemotionen hat einmal der US-Psychologe Paul Ekman als primäre Impulse definiert, die durch die Bewertung eines Sinneseindrucks ausgelöst werden. In seinen Studien konnte er unter anderem zeigen, dass diese universell gültig sind – egal, welche ethnische Herkunft ein Mensch hat.
Die Beispiele offenbaren aber auch den großen Nachteil des limbischen Systems: Mit seiner Hilfe können wir keine differenzierten Entscheidungen treffen. Dafür ist eine andere Hirnregion zuständig – die Großhirnrinde, auf Lateinisch Cortex.
Er ist der äußerste Teil unseres Gehirns. Auseinandergefaltet ist er rund 2200 Quadratzentimeter groß, das entspricht in etwa der Fläche von zwei DIN-A4-Blättern. Der Cortex ist das Zuhause für rund 15 Milliarden Nervenzellen und hoch komplex. Dadurch ermöglicht er uns enorme analytische Fähigkeiten. In diesem Teil unseres Gehirns findet das Abwägen, Vergleichen und Überprüfen statt. Anders als das limbische System arbeitet die Großhirnrinde also rational. Bei Entscheidungen, die die Großhirnrinde trifft, geht es um Kosten-Nutzen-Abwägungen – also zum Beispiel, wie Sie den größten Nutzen mit dem geringsten Aufwand erzielen.
Stellen Sie sich beispielsweise vor, Sie möchten ein neues Auto kaufen. Günstig soll es sein, aber selbstverständlich auch in einem Topzustand. Wie gehen Sie also vor?
Die meisten werden im Internet recherchieren, Testberichte lesen, verschiedene Modelle miteinander vergleichen, mit Familie und Freunden sprechen … Das ist eine völlig andere Art und Weise, mit einer Entscheidung umzugehen als in einer Stresssituation. Viel überlegter.
Man könnte jetzt zu Recht fragen: Warum treffen wir dann nicht alle unsere Entscheidungen so? Wozu haben wir schließlich die clevere Rinde im Kopf? Tja, genau das ist das Problem, das ich schon eingangs beschrieb: Beide Systeme – limbisches System und Cortex – könnten sich wunderbar unterstützen und ergänzen. Sie arbeiten aber auch oft gegeneinander.
In Zeiten von Mammut, Steinaxt und RrrOoooaAR war das gar nicht mal so schlecht. Hätten wir erst eine Pro-Contra-Liste für Flucht oder Kampf aufstellen müssen, hätte sich die Menschheit nicht ans Ende der Nahrungskette entwickelt, sondern als Hauptmahlzeit für allerlei Urzeitviecher. Die Zeit, die unsere Großhirnrinde braucht, um eine Entscheidung zu treffen, ist einfach nicht zum Überleben gemacht.
Heute sind die Menschen deutlich weiter, haben sich zivilisiert (okay, nicht alle), unterschiedliche Kulturen entwickelt, kurz gesagt: Wir haben uns mehr Zeit für fundierte Entscheidungen geschaffen. Eigentlich. Wir können aber auch nicht aus unserer evolutionären Haut. Und so wollen beide Bereiche – das limbische System wie die Großhirnrinde – weiterhin bei jeder Wahl ein Wörtchen mitreden: Mal herrscht pure Harmonie, aber häufiger geht es dabei in der Oberstube zu wie bei einem Messie.
Wie hat es mal ein Kabarettist so schön formuliert: Über Jahrtausende hinweg hat sich der Mensch vom Höhlenbewohner zum Weltraumeroberer entwickelt. Aber zwei Schnäpse reichen aus, und wir sind wieder auf Höhlenmenschniveau. Manchmal genügen auch nur ein Paar Schuhe oder das neueste Smartphone dafür.
Immerhin: Ihnen ist jetzt zumindest klarer, wie uneins wir mit uns selbst sind und wie gegensätzlich unser Denkapparat dabei arbeitet. Ein schwacher Trost, ich weiß. Aber es ist ein guter Anfang.
Augen zu und durch – für einige ist das ein Lebensmotto, für andere der Weg, um mit unliebsamen, aber unumgänglichen Situationen klarzukommen. Auf Entscheidungen angewendet, ist das Prinzip der geschlossenen Augen allerdings nicht ganz ungefährlich.
Dazu muss man zunächst verstehen, was sogenannte blinde Entscheidungen überhaupt sind. Zwar hören wir immer wieder davon, dass jemand eine »blinde Wahl« getroffen habe. Aber was bedeutet das wirklich?
Allgemein werden damit Entscheidungen beschrieben, bei denen die Folgen unbekannt sind: Stellen Sie sich vor, Sie stehen an einer Kreuzung und müssen sich festlegen, ob Sie links, rechts oder geradeaus gehen – ohne zu wissen, wohin Sie die jeweilige Straße führen wird. Vielleicht haben Sie sich vorher nicht ausreichend informiert – im konkreten Beispiel also den Stadtplan nicht studiert. Oder Sie hatten keinen Zugang zum nötigen Wissen. Für die eigentliche Wahl ist es natürlich müßig, über die Ursachen zu sinnieren. So oder so: Sie haben ein Problem – und einen Marsch ins Ungewisse vor sich.
Genau diese unabsehbaren Folgen machen blinde Entscheidungen so charakteristisch: Sie sind erstens schwer zu treffen und zweitens oft besonders riskant. Wie soll man sich auch für eine Sache entscheiden, wenn man nicht weiß, welche Konsequenzen man sich dabei aufhalst?
Wer also nicht gerade von Beruf Gefahrensucher ist und mit Nachnamen Rambo heißt, wird blinde Entscheidungen eher vermeiden wollen. Das Problem: Sie lassen sich nicht zu 100 Prozent umgehen.
Unverhofft kommt oft – und welches Abenteuer verdiente noch diesen Namen, wenn man schon vorher wüsste, wie es ausgeht? Also müssen wir das Beste aus der Misere machen – und die gute Nachricht ist: Das geht sogar!
Manchmal reicht es schon, sich etwas mehr Zeit zu verschaffen, um eine blinde Entscheidung in eine klassische Auswahl zu verwandeln. Sie erarbeiten sich so den Freiraum, mehr Wissen und Informationen über mögliche Konsequenzen zu ermitteln – und um Risiken zu minimieren.
Die tatsächlichen Folgen einer blinden Entscheidung mögen unbekannt sein, doch vielleicht gibt es Gemeinsamkeiten mit anderen Entscheidungssituationen, in denen Sie sich schon einmal befunden haben. Die Konsequenzen müssen deswegen nicht identisch sein, doch bietet der Vergleich einen deutlich besseren Anhaltspunkt, als frei ins Blaue hineinzuraten.
Kapitel 2
Nudeln oder Reis?
Ob nun spontan, überlegt oder völlig irrational – für manche Menschen sind Entscheidungen Schwerstarbeit, die so viel Annehmlichkeit verheißt, wie mit den Fingernägeln über eine Schiefertafel zu kratzen. Sie bezeichnen sich selbst als wenig oder überhaupt nicht entscheidungsfreudig. Kleine wie große Entscheidungen werden am liebsten verschoben oder ganz vertagt: Nudeln oder Reis? Eis oder Schokolade? Den sexy Typen im Supermarkt ansprechen oder nach Hause gehen und Essen machen – ach ja: Nudeln oder Reis?
Wenn schon solch (teils) unbedeutende Fragen zu ernsthaften Zweifeln führen, ahnen Sie, wie groß die Herausforderungen bei den wirklich wichtigen Dingen des Lebens werden können. Die Wissenschaft bezeichnet diesen Zustand als Entscheidungsmüdigkeit – oder im Englischen als Decision Fatigue.
Die Ursache dahinter ist immer dieselbe: Unsicherheit. Wir wissen einfach nicht genau, welche Alternative die beste ist, was unseren Bedürfnissen am ehesten gerecht wird oder, kurz gesagt, was wir eigentlich wollen.
Nicht wenige hoffen dabei, der Zufall, das Schicksal oder eine andere kosmische Kraft würde ihnen die Entscheidung abnehmen, indem sich die Dinge von alleine regeln. Das klappt zuweilen sogar, meistens aber nicht.
Erschwerend kommt hinzu, dass die empfundene Unsicherheit mit der Schwere der Entscheidung zunimmt. Während wir also noch relativ schnell zu dem Schluss kommen können, dass es am Ende kaum einen Unterschied macht, ob wir uns den Bauch mit Nudeln oder Reis vollschlagen, sieht es beispielsweise beim Thema Partnerwahl oder Karriere ganz anders aus.
Hier ist die Unsicherheit ungleich größer und damit auch die Verführung, solche Entscheidungen lieber zu verschieben, abzuwarten und in der Zwischenzeit zu versuchen, weitere Informationen zu sammeln, um Gewissheit zu erlangen.
All das Recherchieren, Prüfen, Abwägen soll zwar der Entscheidungsfreude auf die Sprünge helfen, kann sich aber schnell ins Gegenteil verkehren. Auch dafür gibt es einen Fachbegriff – die Entscheidungsparalyse.
Dabei handelt es sich um jenen verhängnisvollen Zustand, in dem wir vor lauter Informationen nicht mehr wissen, wo uns der Kopf steht und was die beste Wahl wäre. Das Resultat ist eine Endlosspirale: Es wird immer weiter nach neuen Erkenntnissen gesucht, Details werden verglichen, die für die tatsächliche Entscheidung absolut keine Rolle spielen – Hauptsache, irgendwann kommt doch bitte endlich der Durchblick. Ein Denkfehler.
Jeder Mensch kann sich jederzeit entscheiden. Wer sagt, er oder sie könne das nicht, will in der Regel damit nur (unbewusst) Zeit schinden, mit dem ziemlich durchschaubaren Ziel, sich bloß nicht jetzt schon festlegen zu müssen. Fatal! Schon aus zwei Gründen:
Solange wir uns nicht festlegen, müssen wir auch nicht für etwaige Konsequenzen geradestehen. Dieses Phänomen der vagen Vielleichtness lässt sich sowohl in der Politik als auch in vielen Unternehmen beobachten. Die hier zugrunde liegende Maxime lautet: Wenn ich mich zu einem Thema nicht konkret äußere, sondern abwarte, was andere sagen und machen, kann ich am Ende den besseren Eindruck hinterlassen. Wer untätig (und unentschlossen) bleibt, bis die ersten Fehler anderer ans Licht kommen, kann leicht sagen: »Wie dumm von dir! Da hätte ich mich ganz anders entschieden!«
Je mehr Menschen sich diesem Denken allerdings verschreiben, desto wahrscheinlicher ist ein kollektiver Entscheidungsstillstand. In Unternehmen wie in der Politik (insbesondere kurz vor Wahlen) kann das zur völligen Handlungsunfähigkeit führen, wenn sich alle Verantwortungsträger lieber in tugendhafter Geduld üben und auf den ersten Schritt eines anderen warten.
In der Politik geht die Strategie oft sogar auf, in der Wirtschaft aber ziehen dann meist die Konkurrenten vorbei und die eigene Firma gerät ins Hintertreffen, weil einfach nicht schnell genug reagiert wurde.
Der Held der Stunde ist dann, wer sich ein Herz und einen Entschluss fasst und damit die Dinge ins Rollen bringt – auch wenn es kein umfassendes Informationsangebot gibt, das alle Eventualitäten abdeckt und damit absolute Sicherheit suggeriert.
Das gilt im Übrigen auch im persönlichen Leben. Dazu aber ebenfalls später mehr im Buch.
Mit einem simplen Trick können Sie Ihrer Entscheidungsfreude auf die Sprünge helfen:
Wenn Sie vor einer schwierigen Wahl stehen, werfen Sie eine Münze!
Sicher, das klingt total banal und auf den ersten Blick sogar widersprüchlich: Sie wollen sich ja besser entscheiden können und die Wahl nicht einer dummen Münze überlassen. Schon gar nicht bei einer wichtigen Frage mit weitreichenden Auswirkungen auf das berufliche und private Leben!
Stimmt alles. Es geht aber auch gar nicht darum, was das Metallorakel sagt. In den meisten Fällen haben Sie nämlich längst eine Entscheidung getroffen. Leider ist uns diese Tatsache aber nicht bewusst, und genau deshalb ist der Münztrick so hilfreich.
Kopf oder Zahl? – Es ist egal, welche Seite der Münze beim Auffangen oben landet. Sie müssen sich das Ergebnis des Wurfes nicht einmal ansehen. Viel wichtiger: Solange die Münze noch durch die Luft wirbelt, horchen Sie bitte ganz ehrlich (!) in sich hinein, was Ihre Wunschseite ist. Genau das ist die Entscheidung, die Sie sich nur noch nicht eingestehen wollen.
Sie kennen doch sicher die Situation, dass jemand die Münze so lange wirft, bis ihm oder ihr das Ergebnis gefällt. Genauso war es, wenn wir früher Gänseblümchenblüten gezupft haben: Er liebt mich, er liebt mich nicht, er liebt mich, er liebt mich nicht … Mist. Nächstes Gänseblümchen … Endlich, er liebt mich!
So ein Münzwurf kann den geistigen Nebelschleier, der manche Entscheidung umgibt, beiseitewehen und eine bereits getroffene Entscheidung sichtbar machen, ohne dass man sich dabei wirklich einem 50:50 Risiko aussetzen müsste. Und falls die trübe Wolke mal etwas tiefer hängt, müssen Sie eben höher werfen, um sich etwas mehr Zeit zu verschaffen.
Bei einer Diskussion über Entscheidungsfreude kommt man an der Geschlechterdebatte nicht vorbei. Wer tut sich leichter damit: Männer oder Frauen?
Die Antwort hängt natürlich davon ab, wen Sie fragen.
Dem Männermagazin ›GQ‹ zufolge halten 80 Prozent der Männer ihre Entscheidungsfreude für eine der wichtigsten Eigenschaften ihres Geschlechts. Es dürfte wenig überraschen, dass eine vergleichbare Umfrage in einem Frauenmagazin zu entgegengesetzten Ergebnissen kam. Irgendwie ist dabei eben keiner neutral. Und so bedienen sich die meisten Quellen bei dem Diskurs mit Vorliebe bei geschlechterspezifischen Vorurteilen.
Beweisstück A: der Kleiderschrank. »Ich habe absolut nichts anzuziehen«, lautet einer jener Sätze, der bei Vertretern des männlichen Geschlechts fast genauso schnell den Fluchtinstinkt hervorruft wie der Anblick des Säbelzahntigers aus Kapitel 1. Das Szenario gilt für die Männer der Welt als Inbegriff der weiblichen Unfähigkeit, eine Entscheidung zu treffen. Hinzu kommt die Verzweiflung darüber, wie frau bei einem Kleiderschrankfüllvolumen von gefühlten 217,4 Prozent zu der Einschätzung gelangen kann, sie habe »überhaupt nichts« anzuziehen. Sie hat – mehr als genug!
Weil aber jede Medaille zwei Seiten hat, gibt es im Reigen der Stereotype auch die Gegenthese und …
Beweisstück B: das Auto. Das zweitliebste Spielzeug des Mannes dient ihm nicht nur als Statussymbol und kraftstrotzende Verlängerung des erstliebsten Spielzeugs, sondern leider auch als Hort zahlreicher Entscheidungsparalysen. Wo Frauen längst ganz pragmatisch festlegen, dass die möglichst preiswerte Kiste einen vor allem sicher und komfortabel von A nach B bringen soll, rätselt der Mann immer noch: Welche Marke? Welche Farbe? Cabrio oder Coupé? Wie viel PS? Welche Felgen? Wie viel Zoll? All die Details, mit denen sich Männer über Tage oder gar Wochen beschäftigen können, spielen für Frauen nur eine untergeordnete Rolle.
Letztlich stammen beide Beweisstücke aus der ganz tiefen Schublade der Geschlechterklischees. Also muss die Wissenschaft herhalten, um ein für alle Mal die Frage zu klären, welches der beiden Geschlechter nun mehr Entscheidungsfreude mitbringt. Die Antwort dürfte für die einen jedoch genauso überraschend kommen, wie sie für die anderen – natürlich – von Anfang an klar war: Es sind tatsächlich die Männer, die sich mit Entscheidungen leichter tun.
Es sei aber bereits vorweggenommen, dass Männer sich darauf nicht zu viel einbilden sollten, da Frauen an anderer – vielleicht sogar an einer wichtigeren – Stelle die Nase vorn haben.
So hat die männliche Entscheidungsfreude auch nichts mit all den Klischees und Vorurteilen zu tun, die hierfür regelmäßig ins Feld geführt werden. Stattdessen gibt es eine wissenschaftliche Erklärung, die in der Funktionsweise des männlichen Gehirns liegt.
Anders ausgedrückt: Männer sind nicht unbedingt besser darin, sich für eine bestimmte Option zu entscheiden, sondern besser darin, Alternativen auszuschließen. Frauen brauchen für diesen Prozess gerne mehr Zeit, versuchen, so gut es geht, die Vor- und Nachteile gegeneinander abzuwägen, und tun sich deshalb relativ schwer mit Entscheidungen.
Der Ursprung dieser männlichen Fähigkeit zum Schnellentscheid liegt im Belohnungszentrum des Gehirns, dem Nucleus accumbens. Dieser Bereich im vorderen Teil des Gehirns, ein Stück weit hinter und über den Augen, ist für uns von großer Bedeutung: Regelmäßig sorgt er für das gute Gefühl, das wir erleben, wenn wir etwas Schönes erwarten oder uns etwas Positives widerfährt. Man könnte auch sagen, der Nucleus accumbens beschert uns all die angenehmen Glücksmomente, die das Leben für uns bereithält, die wir aber gar nicht mitbekommen würden, wenn es ihn nicht gäbe.
Wann genau das Belohnungssystem anspringt, hängt sowohl vom Geschlecht als auch von der individuellen Persönlichkeit ab. So wird eine erhöhte Aktivität dieses Bereichs beispielsweise festgestellt, wenn Männer kurvige Autos mit starken Motoren betrachten. Aber auch unsere Lieblingsmusik oder das Lächeln eines Mitmenschen kann bewirken, dass das Belohnungszentrum aktiviert wird.
Leider hat die Sache – wie so oft – einen Haken. Derselbe Teil des menschlichen Denkapparates, der uns glücklich macht, kann uns auch zur Sucht verführen, weshalb er in der Literatur auch als Suchtzentrum auftaucht.
Sie erinnern sich doch noch an das Beispiel des Rauchers, dem es so schwer fällt, mit dem Zigarettenkonsum aufzuhören? Auch hier hat Nucleus accumbens seine Finger im Spiel: Allen schrecklichen Konsequenzen zum Trotz, löst der Rauch positive Empfindungen aus. Verantwortlich dafür ist das im Tabak enthaltene Nikotin, das sich direkt auf das Belohnungszentrum auswirkt und für die Ausschüttung von Glückshormonen sorgt. Aus genau diesem Grund geht von Nikotin eine solche Suchtgefahr aus: Das Gehirn gewöhnt sich an das Glücksempfinden, und es entsteht die unbewusste Verbindung – um mich wohlzufühlen, benötige ich eine Zigarette!
Interessanterweise ist bei Männern diese Region des Gehirns auch dann aktiv, wenn sie sich gegen etwas entscheiden, also eine Option ausschließen. Das männliche Gehirn stellt also eine Belohnung in Form eines guten Gefühls bereit, wenn Männer ihre Auswahl eingrenzen. Das männliche Gehirn sagt damit implizit: Das hast du gut gemacht, du hast eine schlechtere Möglichkeit ausgeschlossen – dafür gibt es jetzt ein Hormonzückerchen!
Das Resultat ist: Männer entscheiden sich nicht nur schneller, sondern sind hernach auch noch besonders überzeugt davon, dass sie sich richtig entschieden haben. Kein Wunder bei dem Glückshormoncocktail, der da gerade durch ihre Venen zirkuliert.
Es tut mir leid, aber die Schöpfung war da leider ungerecht: Für Frauen bleibt eine Entscheidung mit einem deutlich größeren Aufwand verbunden, weil ihr Gehirn sie zwar mit den nötigen Informationen, aber nicht mit den passenden Emotionen versorgt.
Den Input zu analysieren, abzuwägen, auszuwerten und einzugrenzen, nimmt nicht nur viel Zeit in Anspruch – es macht eben auch keinen Spaß. Frauen erleben kein Glücksgefühl, wenn sie sich durch den Ausschluss einer Alternative ihrer endgültigen Wahl nähern. Ganz im Gegenteil: Statt des positiven Erlebnisses hat der weibliche Körper etwas anderes für sie in petto: Zweifel.
Entschuldigen Sie, dass ich noch einmal auf das klischeebehaftete Beispiel zurückkomme, aber stellen Sie sich bitte erneut die Dame vor dem Kleiderschrank vor: Anstatt zielstrebig zu entscheiden, erschweren ihr immer neue Fragen und auftauchende Zweifel die Wahl: Will ich heute wirklich einen Rock anziehen? Bin ich nicht zu dick dafür? Wäre die schwarze Hose nicht besser, die macht doch schlanker? Hab ich überhaupt passende Schuhe für die Kombination? Und was, wenn das Wetter umschlägt, ist Schwarz dann nicht zu heiß? Apropos heiß: Wie wirkt wohl der Rock auf den netten Arbeitskollegen?
Klar sind diese Gedanken und Zweifel zugespitzt und stereotyp formuliert, aber genau so funktioniert der Entscheidungsprozess vieler Frauen: Es fällt ihnen schwer, eine Option zu ignorieren oder auszuschließen und so zu einem raschen und weniger komplexen Ergebnis zu gelangen. Um die Unsicherheit in den Griff zu bekommen, wird gegrübelt, bis jede Eventualität bedacht ist. Das aber kostet seinen Preis: Zeit.
Es stimmt also, wenn Männer den Frauen gelegentlich vorwerfen, dass diese sich nicht entscheiden können. Ebenso hat es einen Grund, wenn Frauen der Meinung sind, der Mann würde unüberlegt, spontan oder gar impulsiv handeln. Aus der jeweiligen Geschlechterbrille sind die Vorwürfe durchaus berechtigt und nachvollziehbar.
Wahr ist aber auch: Keines der beiden Geschlechter kann etwas für seine – mehr oder weniger vorhandene – Entscheidungsfreude. Beide verhalten sich nur so, wozu ihr Gehirn sie ermuntert.
Falls Sie ein Mann sind, könnte es sein, dass Sie bereits ob Ihrer Entscheidungsüberlegenheit triumphieren. Das aber wäre ein Fehler. Denn nun heißt es tief durchatmen und die gleich auftretende kognitive Dissonanz ertragen …
Tatsächlich sagt die zweite, ebenso wissenschaftlich fundierte Erkenntnis: Frauen treffen die besseren Entscheidungen.
Das lässt sich zum Teil schon aus der Entscheidungsgeschwindigkeit ableiten. Frauen brauchen zwar länger, bis sie sich festlegen, sie gehen dabei aber sorgfältiger vor. Sie sammeln mehr Informationen, suchen nach Vor- und Nachteilen und legen sich einfach mehr ins Zeug, um eine gewissenhafte Entscheidung zu treffen. Zwangsläufig erhöht sich dadurch die Wahrscheinlichkeit, dass Frauen mit ihrer Wahl ins Schwarze treffen.
Das zeigt auch der Blick in die Führungsetagen großer Unternehmen. Zwar sitzen hier noch immer überwiegend Männer, viele Studien liefern jedoch Grund zu der Annahme, dass wichtige Entscheidungen lieber in Frauenhände gelegt werden sollten – ganz unabhängig von einer wie auch immer gearteten Frauenquote.
Warum das so ist? Die Entscheidungsfindung selbst hat bei Managern und Managerinnen einen anderen Ablauf. Für eine Studie an der DeGroote School of Business in Kanada wurden 600 Topmanager befragt, darunter – wie bei den Verteilungen im gehobenen Management nicht anders zu erwarten – 75 Prozent Männer. Viele von ihnen waren zum Zeitpunkt der Umfrage bereits lange Jahre in ihrer Position tätig, brachten eine Menge Routine mit, wenn es um die Führung und Lenkung eines Unternehmens ging, und vereinten eine kaum messbare Erfahrung in Sachen Management. Diese machten sie sich natürlich für ihre Entscheidungen zunutze: Galt es eine Wahl zu treffen, entschieden die Männer meist nach festen Regeln und traditionellen Abläufen, die sich über die Jahre ihrer Karriere bewährt hatten.
Die Forscher stellten aber – vor allem unter den männlichen Managern – noch eine weitere Gemeinsamkeit fest: Viele fällten ihre Entscheidungen vollkommen alleine. Zwar könnte man einwerfen, dass am Ende des Tages die gesamte Verantwortung sowieso auf den Schultern des sprichwörtlichen Entscheiders liegt, also wäre es nur verständlich und konsequent, dass er sich dabei ungern beeinflussen oder gar reinquatschen lässt.
Doch genau das wäre die sinnvollere Variante. Im Gegensatz zu den Männern setzten die Managerinnen auf Kooperation und eine kollaborative Arbeitsweise. Sie trafen die Entscheidungen nicht alleine im stillen Kämmerchen, sondern versuchten bei ihrer Wahl auch andere Perspektiven zu berücksichtigen. Statt sich nur darauf zu fokussieren, welche Alternative die besten Aussichten für sie selbst oder das Unternehmen brachte, hatten die Frauen auch die Interessen anderer Gruppen im Blickfeld.
Das Ergebnis war ganz oft ein fairer Konsens, der sowohl für die Managementetage als auch für die Mitarbeiter, Kapitalgeber, Lieferanten und Kunden gleichermaßen zufriedenstellend war.
Natürlich wird es immer unterschiedliche Reaktionen auf Veränderungen geben, je nachdem, ob eine Frau oder ein Mann auf dem Chefsessel sitzt. Langfristige Beobachtungen aber zeigen, dass diese Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Managern nicht nur als einfache Differenz im Führungsstil abgetan werden können. Vielmehr bringt die weibliche Herangehensweise viele Vorteile mit sich. Oder wie Chris Bart, der Leiter des Forschungsteams an der DeGroote School of Business, sagt:
»Wir wissen inzwischen, dass Unternehmen, die mehr Frauen in der Geschäftsführung beschäftigen, langfristig die besseren Ergebnisse erzielen. Unsere Untersuchungen zeigen, dass es nicht nur aus ethischen Gründen richtig ist, mehr Frauen im Management einzusetzen, sondern auch schlau und wirtschaftlich sinnvoll. Unternehmen, die darauf verzichten, betrügen letztlich ihre Investoren.«
Chris Bart und sein Team sind nicht die Einzigen, die diese Meinung so klar vertreten. So konnte beispielsweise schon im Jahr 2007 ausgerechnet werden, dass Unternehmen mit einer höheren Frauenquote im Management einen um 66 Prozent höheren Return on Investment (ROI) und eine 42 Prozent höhere Umsatzrendite aufweisen.
Ohne Kennzahlen ausgedrückt, bedeutet dies einfach, dass die Unternehmen, in denen Frauen etwas zu sagen haben, wirtschaftlicher gearbeitet haben. Eine weitere Studie zeigte, dass das Risiko einer Insolvenz um satte 20 Prozent sinkt, sobald nur eine einzige Frau im gehobenen Management Platz nimmt.
Frauen brauchen zwar ein wenig länger, um ein Urteil zu fällen. Vorausgesetzt, es ist genug Zeit vorhanden, macht das Ergebnis die Warte- und Wahlzeit aber mehr als wett.
Wer viel zu wählen hat, büßt dabei einen Gutteil seiner geistigen Kapazitäten ein. Das hat die Psychologin Kathleen Vohs herausgefunden. Bei einem ihrer Experimente sollten sich Studenten auf einen Test vorbereiten, wurden vorher aber mit einer Kurswahl konfrontiert. Schon schnitten sie im Test schlechter ab als die Kontrollgruppe.
Beim zweiten Versuch wurden die Probanden zum Shoppen in ein Einkaufszentrum geschickt, wo es gleich eine Vielzahl an Konsumentscheidungen zu treffen gab. Anschließend unterzog sie Vohs einem Mathetest: Wieder machten die Einkaufsbummler mehr Fehler als die Kontrollgruppe, konnten sich schlechter konzentrieren und fühlten sich angestrengter als andere Teilnehmer, die sich nicht bereits durch einen Dschungel aus Entscheidungen gekämpft hatten.
Das Fazit daraus: Egal, ob wir sie freiwillig oder unter Druck treffen, ob sie Spaß machen oder nicht – Entscheidungen powern uns aus. Wer vor wichtigen Entscheidungen steht, sollte sie deshalb nicht unbedingt am Ende eines anstrengenden und – viel wichtiger noch – entscheidungsreichen Tages fällen, sondern eher auf den nächsten Morgen legen.
Denn, und hier schließt sich der Kreis: Ausgeschlafene wählen klüger.
Die Beobachtung hat wahrscheinlich jeder schon einmal gemacht: Nach einer zu kurzen Nacht sinkt die Reaktions- und Entscheidungsgeschwindigkeit deutlich. Ausgeschlafene dagegen entscheiden nicht nur schneller, sondern auch sicherer.
Zu diesem Ergebnis kommt Virginie Godet-Cayré vom Centre for Health Economics and Administration Research in Frankreich. Verglichen wurde das Entscheidungsverhalten von vollkommen ausgeschlafenen Probanden und Teilnehmern von leichter Müdigkeit bis hin zu solchen mit ausgeprägten Schlafdefiziten. Ergebnis: Schon bei nur einer Stunde Schlafmangel gingen die Betroffenen höhere Risiken ein.
Die Erkenntnis ist im Straßenverkehr, aber auch bei jeder einzelnen Entscheidung relevant. Die eigenen Fähigkeiten zu über- beziehungsweise mögliche Folgen zu unterschätzen, kann je nach anstehender Wahl lebensgefährlich werden.
Kapitel 3
Wettest du noch oder wählst du schon?
Blöde Frage, denken Sie vielleicht. Überall lässt sich nachlesen, dass eine Entscheidung nichts anderes ist als die Wahl zwischen mehreren Optionen. Doch die simple Definition wird dem komplexen Gebilde einer Entscheidung nicht gerecht.
Es sind eben nicht nur die offensichtlichen Alternativen, die zur Disposition stehen.
Mit jeder Entscheidung ist ein Prozess verbunden, der sowohl rationale als auch emotionale Abwägungen beinhaltet; persönliche Ziele werden geprüft, die Erwartungen der Umwelt mit einbezogen und am Ende werden Alternativen begutachtet und beurteilt. Erst wenn all diese Vorgänge abgeschlossen sind und eine der Optionen für geeignet gehalten wird, um sowohl den eigenen Bedürfnissen als auch den Vorstellungen des Umfelds gerecht zu werden, kommt es zur Wahl.
Einfach zu sagen, eine Entscheidung sei die Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten, kommt noch nicht einmal in die Nähe einer akkuraten Definition. Das ist so, als würde man behaupten, Wein ist ein Getränk aus Traubensaft.
Um das Thema in seinem Kern zu erfassen, benötigt es ein komplexes Bild, das die verschiedenen Facetten einer Entscheidung beinhaltet, widerspiegelt und verständlich macht.
Entscheidungen, das werden Sie gleich feststellen, stecken voller Widersprüche, sodass manche der folgenden Handlungsempfehlungen nur auf bestimmte Situationen anwendbar sind. Das kann verwirrend sein und zu der schon angesprochenen kognitiven Dissonanz führen. Sorry. Um künftig bessere und bewusstere Entscheidungen treffen zu können, führt aber kein Weg daran