Der ein Rauch ward aus den Schornsteinen in Auschwitz

Besuch im Gefängnis. Deportation der jüdischen Familie. Tod des Vaters.

Meinen allerersten Auftritt als Liedersänger erlebte die Welt im Winter 1940/41. Ich war vier Jahre alt. Hitlers Blitzkrieg an allen Fronten war längst im Gange. Die »Luftschlacht um England« tobte. Die »Goebbelsschnauze«, so hieß im Volksmund der Standard-Radioapparat der Deutschen, spuckte Siegesmeldungen, kotzte Führerreden und kreischte Marschmusik. Mein Vater hatte nach drei Jahren Einzelhaft einen Antrag auf Gemeinschaftshaft gestellt. Der Antrag wurde abgelehnt. Stattdessen kam Dagobert jetzt öfter zu Arbeitseinsätzen in das Arbeitslager Teufelsmoor, wo politische und kriminelle Häftlinge zusammengelegt waren. Die Arbeit war hart. Die Häftlinge mussten elf Stunden am Tag Torf stechen. Mein Vater brach zweimal wegen völliger Entkräftung zusammen.

Im Oktober 1940 erhielt meine Mutter einen Brief vom Amt für Statistik, adressiert an meinen Vater. Dagobert sollte Angaben zu seiner Abstammung machen, ob seine Großeltern Arier seien oder nicht. Kurz darauf wurde er innerhalb des Zuchthauses verlegt, in die Judenabteilung. Meine Mutter war besorgt, doch er fand es gar nicht so schlecht. Er schrieb, es herrsche dort eine wunderbare Kameradschaft.

Dreimal im Jahr gab es einen Besuchstermin für jeweils eine halbe Stunde. Aufregend die Eisenbahnfahrt von Hamburg nach Bremen. Dieses einzige Mal nahm meine Mutter mich einfach mit. Es war ein kalter Wintertag. Mein Vater war beim Arbeitseinsatz im Moor. Kilometerweit tippelte ich an der Hand meiner Mutter im Schnee durch die märchenhafte Moorlandschaft. Vorbei an überzuckerten Birken, an Pyramiden aus Torfstücken, die zum Trocknen aufgestapelt waren. Endlich standen wir vor dem Tor. Stacheldraht, Wachturm, Baracken, Appellplatz. Der Posten wollte mich nicht mit reinlassen. Kinder ins Lager mitzubringen war verboten. Ich weiß nicht, wie meine Mutter es schaffte, den Posten zu bezirzen, zu rühren, zu besabbeln, zu bestechen. Ich kann nicht wissen, ob er bei seinem Vorgesetzten um eine Sondergenehmigung nachfragte. Schließlich aber durfte ich doch mit rein.

So lief ich mit meiner Mutter in das Lager. Wir kamen zu einer Baracke. Rechts von der Tür sah ich ein sonderbares Fenster. Es war von innen mit ausgemergelten Männergesichtern ausgefüllt. Die Häftlinge drängelten, jeder wollte ein echtes Kind und eine echte Frau sehen. Mitten im Lager eine Frau und ein Kind! Dieses Fenster, ein originales Kunstwerk des Postkartenmalers aus Wien, ging mir nie wieder aus dem Kopf.

Wir kamen in den Aufenthaltsraum des Wachpersonals. Fußlappenschweiß. Kalter Zigarettenrauch. Zwei Stühle, getrennt durch einen langen Tisch. Ein Uniformierter links am Schreibtisch. Ich saß auf dem sicheren Schoß meiner Mutter. Mein Vater wurde hereingeführt. Ich kannte ihn nicht. Ich fremdelte nicht, denn er war mir so nah wie die Mama. Sie hatte mir jeden Abend von ihm eine Gutenachtgeschichte erzählt und jeden Morgen eine Gutenmorgengeschichte, bevor sie zur Arbeit ging. Jeden Morgen, wenn ich die Haustür öffnete, stand da mein Leiterwägelchen im dunklen Treppenhaus, beladen mit einem Stück Zucker oder mit einer Murmel, mit einer Feder, einem Brummkreisel, einem lieben Nichts. Das glaubte ich meiner Mutter: Der Papa hatte mir das Geschenk über den Mondstrahl geschickt.

Nun saß dieser innig vertraute fremde Mann uns gegenüber. Er lächelte. Er war stark. Er roch. Er hatte an der Seite einen Goldzahn. Sein Kopf war geschoren. Mein Vater schenkte mir eine Tüte Bonbons. Erst später, als ich älter wurde, habe ich gefragt, wieso der Häftling im Lager Bonbons haben konnte. Meine Mutter hatte sie dem Posten gegeben, damit er die Tüte dem Gefangenen zusteckte, damit der dann seinem Kind eine Freude machen konnte. Auch diese Schweine waren ja Menschen. Mein Vater reichte mir also die Tüte über den Tisch. Ich nahm ein Bonbon raus und gab es ihm. Das fand er gewiss gut. Ein zweites Bonbon stopfte ich in den Mund meiner Mutter. Dann fingerte ich ein drittes Bonbon raus. Meine Hand wanderte in Richtung des Uniformierten, der uns bewachte. Ich guckte ihn misstrauisch an und zog die Hand wieder zurück. Ich war mir unsicher. Mein Vater lachte und sagte: »Du kannst ihm ruhig eins geben.« Also schwenkte ich mit dem Bonbon in Richtung des Wächters, zuckte aber zurück und steckte es mir schnell selbst in den Mund. Und wieder lachte mein Vater.

Emma erzählte ihm, dass die Leute im Hinterhaus mich alle den kleinen Sänger nennen. Immer nämlich, wenn sie kurz nach fünf in der Früh mit der Straßenbahn zur Arbeit in die Reinigungsfirma Dependorf fuhr, lag ich zwei Stunden allein in der Wohnung in meinem Bett. Dann sang ich, bis Tante Lotte, die in der Wohnung gegenüber wohnte, mich zu sich rüberholte. »Sing doch deinem lieben Papa mal was Schönes vor!«, sagte Emma. Ich schmetterte sofort los: »Hörst du die Motoren brüllen: Ran an den Feind / Hörst du die Motoren brüllen: Ran an den Feind / Booomben! Booomben! / Bomben auf Engellant, Bumm! Bumm!«

Mein erster Auftritt war also nicht gelungen, er war eine Katastrophe. Der Gefangene musste sich ausgerechnet dieses Lied von mir anhören. Da kommt sein eigen Fleisch und Blut und singt ihm hinterm Stacheldraht das Kriegslied seiner Todfeinde vor! Wir haben später im Kreis der Familie immer mal wieder über diese eine und einzige Begegnung, an die ich mich erinnern kann, gestritten. Ich sagte meiner Mutter: »Es muss ihm furchtbar weh getan haben, dass sein eigen Kind ihm ein Nazilied vorquäkt.« – »Quatsch«, erwiderte sie, »der war doch kein Idiot, er hat es verstanden.« – »Jaja«, sagte ich, »wie es bei Brecht heißt: Und er, der es begriff, begriff es auch nicht …« Aber meine Mutter sagte: »Ach, du immer mit deinem Brecht! Du hast die eine Hälfte vergessen und die andre falsch behalten. Dein Vater hat gegrinst. Er wusste, dass du das aus der Goebbelsschnauze kennst. Der war froh, dass er so ein waches Kind hat. Er wusste, dass ich dir schon die richtigen Lieder beibringe. Unsre!«

***

Emma besuchte regelmäßig ihre Schwiegereltern am Hamburger Großneumarkt. Der alte Biermann ergatterte als Jude keine Aufträge mehr. Oma Louise klapperte die Geflügelläden ab und bettelte um die abgehackten Füße und Hälse der Hühner und Enten. Meine Mutter sagte immer, wenn wir Hühnersuppe aßen: »Deine Oma konnte aus den Abfällen eine bessere Suppe kochen als ich aus dem ganzen Huhn.«

Mit meinem Cousin Peter, dem Sohn von Dagoberts Schwester Rosi, spielte ich manchmal auf der Straße. Er war ein halbes Jahr älter als ich und trug einen schönen gelben Stern an der Jacke. Ich, das Halbjüdlein, der Mischling ersten Grades, trug keinen Stern. Wir tollten zum Spielen aus der Wohnung im Erdgeschoss die drei, vier Stufen runter auf den Hinterhof, der mit Katzenköppen gepflastert war. Wir sprangen durch ein hohes Tor raus auf den breiten Bürgersteig einer großen Straße. Peter hatte eine bunte Papierschlange, die er wunderbar schwenkte. Und er gab sie mir endlich doch ab, damit ich sie auch mal schlenkern konnte. Da war ich so glücklich.

Im November 1941 erhielten meine Großeltern John und Louise Biermann, der Bruder meines Vaters Karl mit seiner Frau Hanna und deren Tochter Ruth sowie Rosi mit ihrem Mann Herbert Weiss und Peterchen plötzlich den Bescheid, sich innerhalb von vierundzwanzig Stunden für einen Transport nach Polen bereitzuhalten. Der »Evakuierungsbefehl der Hamburgischen Geheimen Staatspolizei«, der den Juden zugeschickt wurde, war Büroprosa nationalsozialistischer Poesie: »Ihr und das Vermögen Ihrer oben genannten Angehörigen gilt als beschlagnahmt. Sie haben sich … in dem Hause Moorweidenstraße 36 (Logenhaus) einzufinden … 1. Koffer mit Ausrüstungsgegenständen bis zu 50 kg. 2. Vollständige Bekleidung. 3. Bettzeug mit Decke. 4. Verpflegung für 3 Tage … Zahlungsmittel bis RM 100.-. Sonstiges Bargeld ist bei der Kontrolle abzugeben … Verboten ist die Mitnahme von: 1. Wertpapieren, Devisen, Sparkassenbüchern usw. 2. Wertsachen jeder Art aus Gold, Silber, Platin mit Ausnahme des Eherings. 3. Lebendes Inventar …« Die Koffer mussten mit Evakuierungsnummer und Evakuierungsadresse versehen sein.

Meine Mutter war alarmiert, die Familie in heller Aufregung. Wie alle Juden waren die Biermanns aufgefordert, bei Aufbruch ihren Wohnungsschlüssel samt einer genauen Liste des gesamten verbleibenden Inventars der Wohnung auf der nächstgelegenen Polizeiwache abzugeben. Manche besonderen Dinge, die am Herzen lagen oder kostbar waren, wurden hastig verschenkt. Louise legte hellsichtig für Emma ein paar Fotos und Dokumente beiseite.

In schwindenden Bildern erinnere ich mich daran, wie wir an einem düsteren Morgen losfuhren. Meine Mutter wollte den Biermanns Socken, Pullover und wollene Unterwäsche bringen, die sie in verzweifelter Hast die Nächte durch auf ihrer kleinen Strickmaschine gestrickt hatte. Ratsch-ratsch, ratsch-ratsch. Sie schleuderte den Handhebel mit hartem Schwung hin und her und hin und her, selbst eine kleine Maschine. Sie strickte so wild, weil uns das Gerücht erreicht hatte, dass alle Juden zu harter Arbeit in den kalten Osten geschickt werden.

Wir fuhren zur Moorweide, einer parkähnlichen Wiese mit mächtigen Bäumen, direkt neben dem Hauptgebäude der Universität am Bahnhof Dammtor. Hier versammelten sich die Juden. Meine Großeltern waren Anfang sechzig. Beide hatten einen Vogel – jeder einen anderen. Meine Großmutter Louise hatte eigensinnig, ja irrsinnig statt des Koffers ihren kleinen Vogelkäfig mitgenommen. Darin saß ein Wellensittich, dem sie im Laufe der Jahre den Schnack beigebracht hatte: »Butsche Biermann! Butsche Biermann! Schlachterstraße! Schlachterstraße!« Die beiden alten Biermanns wurden von den anderen für verrückt erklärt. Dabei war meine Großmutter wahrscheinlich realistischer als die Spötter. Ahnte sie, dass sie am Ziel dieser Reise keinen Koffer mehr brauchte?

Auch mein Großvater John wurde auf der Moorweide für verrückt erklärt und von den verzweifelten Schicksalsgenossen wütend als ein unerträglicher Panikmacher beschimpft. Er hatte geklagt: »Die werden uns alle noch erschießen!« Starres Entsetzen. Wie konnte man so ein Wort in die Welt setzen? Ein Mann blaffte ihn an: »Du hascha ’n Vogel, das geht doch gaanich!« Beide Männer behielten Recht. Die Handarbeit, jeden Einzelnen zu erschießen, kostete bald schon zu viel Zeit, zu viel Nerven, zu viel Schnaps für die deutschen Soldaten, die immer dringender an der Front gebraucht wurden.

Emma übergab die Wollsachen, die hastig in die Koffer gestopft wurden. Wir verabschiedeten uns, beteuerten, dass wir bald voneinander hören würden. Peterchen hielt seine Papierschlange fest. Wir umarmten uns, wir schwiegen, wir lächelten, wir winkten hilflos. Dann schleppten sie ihre Koffer zum prächtigen Logenhaus, stellten sich an zur Registrierung und zur Gepäckkontrolle. Jeder unterschrieb, dass er die deutsche Staatsbürgerschaft aufgibt und sein Restvermögen dem deutschen Staat überlässt.

Emma und ich fuhren nach Hause zu Oma Meume und Tante Lotte, die mit ihren Kindern Hilde, Susi und Ille auf uns warteten. Dagoberts Cousin, Alfons Ganser, und seine Frau Else hatten wir auch vor dem Logenhaus getroffen. Tante Lotte bekam zwei Tage später eine Postkarte von Else, geschrieben direkt im Logenhaus:

Meine lieben alle!

Wir sind registriert, und schon haben wir jeder ein Bett wie im Luftschutzkeller. Bisher hat alles geklappt. Nun haben wir Lotte noch folgendes zu sagen. Es hat großen Krach gegeben wegen der Nähmaschine zwischen Alfons Schwester Erna und dem Alten. Erna wollte die Nähmaschine haben. Nun möchte ich Dich, liebe Lotte, bitten, meiner Schwägerin Erna Deine Nähmaschine zu überlassen. Würdest Du das tun? Bitte. Sie will jetzt auch nähen lernen. Sonst hätte ich keinen Wunsch mehr. … Frl. Gans hat Selbstmord begangen, indem sie sich vom Balkon gestürzt hat. Sie sollte auch weg mit ihrem Bruder. Es hat uns den Rest gegeben, als wir das sahen.

Ja, liebe Leute, nun müssen wir weg. Hier sind noch und noch Bekannte. Biermanns haben wir auch gesehn. Meine Lieben, Emmi, Meume, Hilde, Susi und Lotte, Ille und Wölflein, bleibt gesund und munter, wie wir es auch vorhaben. Morgen früh geht es los und Dienstag sollen wir da sein. Drückt uns die Daumen. Herzlichst grüßen Euch Else und Alfons.

Wir wussten damals nicht, dass unsere Familie nach Minsk ins Ghetto deportiert wurde. Sie wurden alle ermordet, in die Grube geschossen, im Lastwagen vergast. Alfons lebte noch eine kurze Weile, er war Tischler, aber auch er überlebte das Ghetto nicht. Wir ahnten zwar Schlimmes. Aber keiner wusste was Genaues. Das sollte auch so sein. Emma erhielt zwei Wochen später eine Postkarte. Poststempel vom 22.11.41, Berlin-Charlottenburg, 19-20 Uhr. Darauf handschriftlich in viel zu großen altdeutschen Lettern mein Großvater John: »Dienstag 11.11.41, 9½ Uhr. Reise gut überstanden. Biermann.«

***

Das Jahr 1942 neigte sich, es näherte sich das Ende der sechsjährigen Haftzeit, die mein Vater in Bremen-Oslebshausen absaß. Nur ein knappes halbes Jahr stand noch aus. Ich war inzwischen schon sechs geworden. Wir freuten uns auf den Tag seiner Entlassung. Und ich auf eigene Weise: Ich sammelte kostbare Eisenteile für ihn. Ich suchte zwischen den Gleisen auf dem nahen Hannoverschen Güterbahnhof am Kanal allerhand Liegengebliebenes. Weggeworfene Schwellenschrauben, öligen Eisendraht, schwere Federringe, rußschwarze Bretter mit Bolzen und Muttern. Sogar einen Vorschlaghammer ohne Stiel schleppte ich an und eine festgerostete Kneifzange. Ich hob meine Beute sorgfältig auf, alles für den lieben, lieben Papa. Dieser Schrott lag neben dem Spielzeug im Kinderzimmer. Mit der glänzenden Lok auf der Kommode durfte ich nicht spielen. In der Lehre auf der Werft Blohm & Voss hatte mein Vater sie als Gesellenstück für Maschinenbauer gebaut: das Modell einer Dampflokomotive. »Einmeterzwölf lang!«, sagte meine Mutter stolz. »Wenn Papa kommt, wird er dir zeigen, wie die Lok richtig dampft und fährt.«

Im Dezember ’42 erschütterte uns eine Neuigkeit aus Bremen. Mein Vater ließ seiner Emma über die Mutter eines Mithäftlings, eine Frau Laser, einen Kassiber zukommen. Darin schrieb er in knappen Worten, die meine Mutter ihr Leben lang immer wieder mal zitierte, es stehe ihm »eine nichts Gutes versprechende Reise bevor. Forsche immer nach unserm Verbleib!«. Und auch in seinem folgenden, dem letzten normalen Knast-Brief, der durch die Zensur im Zuchthaus ging, erwähnte er die Hauptsache wie nebenbei, eine bevorstehende Reise:

Zuchthaus und Strafgefängnis Bremen Oslebshausen, 10. Januar 1943

Meine Zwei, nein, nun erst der Sohn. Hat mir einen so feinen, lieben Brief geschrieben. Hab mich so dazu gefreut.

Mein Junge, Dein Papi hat viel Sehnsucht nach Dir. Möchte auch so gerne mal mit Dir spielen und schön spazieren gehen. Aber unsere süße Mutti muß immer dabei sein … Warte nur, Wölflein, wenn ich wieder komme, dann bauen wir uns ein großes Schiff und ein Auto und dann fahren wir alle immer damit aus. Aber mußt mir auch helfen beim Arbeiten … Bist Du auch immer artig und lieb zur Mutti? Sei nur recht lieb zu Mutti und auch zu Oma Meume und Tante Lotte. Sonst ist unsere Mutti traurig und weint und das willst Du doch nicht. Wölflein, gib Mutti doch mal einen recht schönen Kuß, hab sie tüchtig lieb und sag Mutti, den sollst Du ihr von Papi geben und dann laß Dir dasselbe gleich von Mutti zurückgeben. Und wenn ich bald wieder komme, werde ich Angelegenheiten dieser Art persönlich erledigen. Ja, meine Emsch, hoffe, Du wirst Dich dann damit abfinden. Die kleine Inge werden wir ja streichen müssen. Aber wir haben ja uns und unseren Jungen. Genug, um unser Leben schön und glücklich zu machen. Viel Schweres bringt uns diese Zeit und doch ist es notwendig. Wenn sie nur das Gute in ihrem Gefolge hat, und es kann und wird nicht anders sein, so wollen wir schon zufrieden sein. Mir jedenfalls hat sie schon Dich gebracht. Kleine, bin noch hier. Wie lange noch und wann, wohin – weiß ich nicht. Kann morgen schon losgehen, aber auch später. Nun, werden ja sehn. Für mich nicht so schlimm. Wär ja sowieso bald weg gekommen. Mache mir auch keine besonderen Kopfschmerzen darum. Man muß erstmal die Dinge an sich heran kommen lassen, und bin ich bis jetzt – und gut – klargekommen, werde ich es auch weiterhin … Bin zäh und gesund und habe die feste Absicht, für meine Zwei wieder zu kommen … Meine, könnte ich Euch doch nur helfen – bei Euch sein. Seid mir doch so viel und Du bist so lieb zu mir. Bin so glücklich darüber. So recht meine kleine süße Frau. Das tut so gut. Meine Zwei, seid vielmals gegrüßt,

Euer Dagob.

Alarmiert durch diese bedrohlichen Andeutungen, wandte sich Emma an die Gefängnisleitung und erbat einen vorverlegten Besuchstermin »zur Regelung einer dringenden familiären Angelegenheit«. Statt einer Antwort schickte das Zuchthaus ihr den normalen Besuchsschein für den 7. Februar 1943. Als sie an diesem Tag dort erschien, wurde ihr von einem Beamten mitgeteilt, dass Dagobert Biermann nicht im Gefängnis sei. Und wo er nun sei, darüber könne er leider keine Auskunft geben. Emma rannte zum Vorgesetzten. Der sagte kühl: »Einen Dagobert Biermann gibt’s hier nicht.« Alles Nachfragen, alles Wohin, alles Warum, alles Seit-wann nützte nichts. Keine Antwort. Meine Mutter stürzte in panische Angst. Verwirrt und nun schon wutverweint, wie sie war, drängte man sie aus dem Gefängnis. Der letzte Beamte, ein schon etwas älterer, der ihr ein kleines Nebentor zur Straße öffnete, flüsterte: »Es ist ein Transport nach Auschwitz gegangen.« Dann schlug er schnell die Tür zu. Damals hörte meine Mutter zum ersten Mal dieses Wort: Auschwitz.

Emma lief sofort zum Bremer Gefängnispastor. Der hatte Zeit für sie. Er hatte ja seit Jahren den Briefwechsel meiner Eltern gelesen, weil es seine Aufgabe war, die Post zu zensieren. Sie bat ihn um Rat und fragte nach den Effekten des Häftlings Biermann. Der gute Mann versprach, sich danach zu erkundigen. Er riet, einen Brief direkt an das Konzentrationslager, das KL Auschwitz, zu schreiben.

Zurück in Hamburg, fragte meine Mutter Freunde und Arbeitskollegen in der Reinigungsfirma Dependorf. Keiner kannte einen Ort Auschwitz. Emma verfasste ein Schreiben an den Lagerkommandanten persönlich: »Ich bitte höfl. mir mitzuteilen, wo mein Mann sich aufhält und ob er Post oder Päckchen erhalten darf und unter welcher Anschrift.« Sie legte einen Brief an ihren Mann Dagobert bei und brachte den Einschreibebrief zum Hauptpostamt »Hühnerposten« am Hauptbahnhof. Der Postbeamte sagte: »Den Brief kann ich gaanich annehmen, ich weiß ja gaanich, wo das is. Kommen Sie morgen ma wieder, ich erkundige mich.« Als Emma am nächsten Tag vor ihm stand, sagte er freudig: »Gefunden! Auschwitz! Das liegt in Oberschlesien, da, Richtung Pooln!«

Mein lieber Mann, liebster Papi,

am Sonntag den 7.2., als ich Dich in Bremen besuchen wollte, hörte ich, dass Du fort bist. War nicht schön. Meiner, wir denken immer an Dich u. wissen, dass auch Deine Gedanken u. Wünsche bei uns sind. Wir bitten Dich von ganzem Herzen, Dir um uns keine Sorgen zu machen. Alle nehmen Anteil an unserem Leid. Aber wir haben keinen Grund zum verzweifeln. Bleibe uns nur gesund. Ich werde stets bemüht sein, das Kind u. mich für unseren geliebten Papi zu erhalten. Denke Du auch an Dich. Gern würden wir Dir etwas schicken. Diesen Brief lege ich einem Schreiben bei, worin ich anfrage, wo Du bist. Hoffentlich erhalte ich bald Antwort. Meine Mutter, Geschwister und alle Freunde lassen Dich grüßen. Dir lieber Papi viele liebe Grüße von Deiner Emmi und Wölflein.

Wochen wartete Emma auf Antwort. Von Dagoberts Eltern, von seiner Schwester und seinem Bruder und deren Familien hatten wir seit November 1941 nichts mehr gehört. Und nun wusste Emma nicht mal, wo suchen. Die Wut der Verzweiflung trieb sie zur Hamburger Gestapo ins Stadthaus. Sie wurde von Zimmer zu Zimmer geschickt, kein Aas wusste was. Endlich landete sie bei irgendeinem Oberen. Aus dem Gefängnis in Bremen sei im Februar ein Transport mit Häftlingen nach Auschwitz gegangen, sagte sie ihm. Ob er darüber etwas wüsste? Der Gestapochef war ein Gemütsmensch: »Ich will Ihnen mal was sagen, beste Frau: Sie können damit rechnen, dass Ihrem Mann dort leider etwas zustößt.« Emma entgegnete: »Mein Mann ist aber gesund und hat den festen Willen, wiederzukommen.« Darauf er: »Tjaaa, beste Frau, so was haben wir schon oft gehabt, dass Leute kurz vor ihrer Entlassung krank wurden und nicht wiederkamen. Wenden Sie sich am besten an die Gestapo Bremen.«

Warum, weiß ich nicht, aber meine Mutter nahm mich mit, als sie sich nun auf den Weg machte mit der Bahn nach Bremen zur Gestapo. Vielleicht hielt sie sich an mir fest, vielleicht hatte sie mich nicht anders unterbringen können, vielleicht erhoffte sie sich durch das Dabeisein eines Kindes etwas mehr Mitgefühl. Sie fand die Gestapo nicht gleich, das Amtsgebäude war von einem Volltreffer ausgebombt worden. Die Gestapo war nun provisorisch im Bremer Polizeipräsidium »Am Wall« untergebracht, genau dort, wo auch heute noch die Polizei residiert. Ein mächtiges Haus mit einer breiten Treppe rund ums Eck.

Reingelassen ins Hauptgebäude wurden wir nicht. Wir warteten lange. Dann erschien ein Beamter in dem Vorraum beim Pförtner. Kaltkorrekt ballerte der Mensch sein Buchstabenmagazin leer: »Ihr Mann ist am 22. Februar morgens um 7 Uhr an Herzklappenschwäche verstorben.« Emma schrie leise auf und wurde ohnmächtig. Sie fiel neben mir einfach um wie erschossen. Sie lag da, Beine breit. Sie lag den Leuten im Weg. Sie hatte meine Hand gehalten. Nun hielt ich ihre. Der Uniformierte fasste ihr von hinten unter die Arme, zerrte sie halb hoch und schleppte sie zur Seite. Er lehnte sie mit dem Rücken gegen die Wand. So war sie wenigstens aus dem Weg. Ich stand neben ihr und hielt immer noch ihre Hand fest. Das dauerte. Als sie wieder zu sich kam, hievte der Uniformierte sie sachte auf einen Stuhl. Nach einer Weile hakte er sie unter, führte uns behutsam zur großen Ausgangstür und bugsierte uns raus.

Da standen wir auf der breiten Treppe mit dem Eisengeländer in der Mitte, zum Bürgersteig runter. Wieder schrie meine Mutter auf. Sie weinte und krallte sich mit der linken Hand am Treppengeländer fest. Mit der anderen Hand hielt sie mich. Der Beamte zerrte sie vom Geländer los und keuchte: »Sei’n Sie doch nicht so sentimental!« Aber meine Mutter riss sich los, schrie wieder und krallte sich an die Stange. Ja, sie hatte Riesenkräfte, grade in den Händen, vielleicht, weil sie jahrelang im Akkord in der Fabrik als Strickerin gearbeitet hatte. Der Beamte zerrte mit beiden Händen Emmas Linke vom eisernen Handlauf. Doch wie eine Furie in der Verzweiflung krallte sich diese kleine Frau wieder und wieder mit wütendem Eisengriff an dem Treppengeländer fest. Gleichzeitig hielt sie mit ihrer anderen Hand meine kleine Kinderhand mütterlich und sanft. So stieß uns der Beamte, Stufe um Stufe, bis runter auf die Straße. Als wir endlich unten auf dem Bürgersteig standen, gab meine Mutter auf.

Niedergeschlagen fuhren wir nach Hamburg zurück. Meine Mutter schrieb ihrem Bruder die schreckliche Nachricht. Onkel Kalli galt als verurteilter Nazigegner eigentlich als »wehrunwürdig«. Er war aber Ende 1942 in das eigens für solche Kandidaten geschaffene »Strafbataillon 999« der Wehrmacht eingezogen und dann zum normalen Soldaten begnadigt worden. Er kämpfte an der Front nicht für Hitlers Endsieg, sondern ums Überleben.

Hanau, den 12. April 1943

Liebe Emsch!

Dein Brief vom 10.4. erreichte mich heute … Schon im Urlaub, wenn ich es Dir andeutete, merkte ich, Du hast deine Schwester nicht unterschätzt … Ja, Emsch, für uns lebt er … Vom Endsieg war er überzeugt. Das, was unserem Dagobert schwer fiel, waren seine Gedanken an Frau und Kind. Darum Emsch, bleibe weiterhin tapfer, denn das sind wir ihm schuldig. Meine Emsch, dann haben wir heute wenigstens die Beruhigung, er ist erlöst von dieser Folter. Auch seine Eltern u.s.w. werden heute nicht mehr unter den Lebenden sein. Ich weiß, Emsch, es ist hart, doch wir wollen und müssen noch härter sein. Dein Bruder Kalli

PS: Was sagt Wölflein?

Emma war im Schock, halb rastlos, halb gelähmt. Dieses Mal riss sie sich nicht die Haare vom Kopf, sie fielen ihr über Nacht aus. Es dauerte vier Wochen, da hatte sie sich von Genossen im Untergrund einen Bericht über das Lager Auschwitz verschafft. Nun wusste sie genau, was mit meinem Vater passiert war. Sie war am Ende.

Eines Tages kam dann doch Antwort, zwei Briefe sogar. Der Pastor aus Bremen schrieb Emma, er habe keine persönlichen Sachen von Dagobert gefunden. Dem Brief legte er aber das Foto meines Vaters bei, ein kleines schwarzweißes Porträt, das ihn mit kurzgeschorenen Haaren in Häftlingsklamotten zeigt. Emma rechnete es dem Pastor hoch an, dass er das »Verbrecherfoto«, so nannte sie es, aus der Häftlingsakte rausgerissen hatte. Sie war überzeugt davon, dass er es wagte, weil er jahrelang die innigen Liebesbriefe meiner Eltern durchgelesen hatte.

Der zweite Brief kam direkt vom Standesamt Auschwitz. Briefmarke mit Hitlerkopf. Im Briefumschlag – ohne Kommentar – ein Dokument: eine ordentliche Sterbeurkunde mit vorgedrucktem Briefkopf. Das Blatt sah so vertrauenserweckend aus. Unlesbare Unterschrift, Behörden-Stempel: »Der Standesbeamte in Auschwitz«. Das konnte ganz zivil aus jeder normalen deutschen Kleinstadt kommen. Und günstig: Am unteren Rand der Urkunde, unter der Unterschrift, ein absurder Witz aus dem Holocaust: »Gebührenfrei«.

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