Zur Gitarre, zum Klavier!

Junger Pionier in Hamburg

Nicht nur unser Hammerbrook, die ganze Stadt war platt gemacht. Kein Bett für uns, kein Dach überm Kopf. Meine Mutter aber fand für uns eine Bleibe im Paradies. Die britische Armee hatte eine großbürgerliche Nazi-Villa in Wandsbek requiriert und ans Rote Kreuz übergeben. Antifaschisten hatten nun die Hand drauf. Dort wurden wir aufgenommen und kriegten eine abgeteilte Ecke mit zwei Betten und sogar einem Schrank im Wintergarten. Es suchten in dieser Trümmerstadt viele ehemalige Häftlinge aus den Konzentrationslagern und Gefängnissen eine Bleibe. Die großen und kleinen Räume der Villa wurden mit solchen Menschen vollgestopft. Ich weiß nicht, wer sich damals den Namen ausgedacht hat – aber diese Riesenvilla in Tonndorf nannten wir alle und ohne Arg »KZ-Heim«.

Für uns ein Schlaraffenland. Die Bewohner hatten genug Brot, Margarine, Schmalz, Marmelade. Und der Luxus: Pro Nase kriegten wir jeden Tag ein Hühnerei! Ich aß das meine in allen Variationen – gekocht, als Rührei, gebraten als Spiegelei oder das Eiweiß steif geschlagen mit Zucker und dann das Eigelb lecker eingerührt. Es war eine wunderbare Zeit. Meine Mutter konnte endlich mit Schicksalsgefährten frei reden. Es wurde gefeiert, getrunken. Jeder sammelte Nachrichten über verlorene Freunde, Genossen, die Lebenden und die Toten. Emma traf den Hamburger Genossen Max Kristeller, einen Druckereiarbeiter. Als Kommunist war er verhaftet worden und von der Gestapo schwer gefoltert. Und als Jude war auch er dann nach Auschwitz entlassen worden. Ihn rettete, dass er Funktionshäftling in der Lagerregistratur wurde. Von Kristeller erfuhr meine Mutter, dass Dagobert Biermann bei der Selektion auf der Rampe nicht gleich ins Gas geschickt worden war. Seinen Namen hatte der Hamburger Genosse noch auf der Liste eines Arbeitskommandos entdeckt. Solch eine traurige Gewissheit ist in Weltuntergängen schon fast ein Trost.

Das Foyer unseres wunderbaren KZ-Heims war eine Art Saal. An der Seite stand ein verstimmtes Klavier. Es funktionierte wie ein klingender Hundestein, an dem mancher en passant seine Duftnote markierte. Vier Takte Flohwalzer mit Glibbertönen, drei Takte Beethovens Schnulze »Für Elise« oder die Mondscheinsonate, der Flohwalzer für gehobene Hausmusik. Auf diesen abgenuddelten Tasten spielte ein Genosse, der im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft hatte, eines Tages die »Moorsoldaten«, das berühmte Lied der Häftlinge aus dem KZ Börgermoor. Mir gefiel es, denn ich kannte die Melodie schon von Emma, wusste sogar den Text auswendig. Der Mann am Klavier hieß Genosse Todt. Mir sagte dieser Schreckensname damals nichts, und das war auch gut so, denn Paule Todt hatte nichts zu tun mit Hitlers paramilitärischer Bautruppe »Organisation Todt«.

Ich wollte die Tasten auch mal probieren. Todt setzte mich auf den Klavierhocker und bugsierte geduldig meinen Daumen auf das D, dann auf das A, dann wieder aufs D und dann auf F-E-D-A-D-D. Und weil ich die Melodie ja im Kopf hatte, fand mein Zeigefinger kinderleicht auch die folgende Taste. Am nächsten Tag hatte ich die Töne schon viel besser im Griff. Und am dritten Tag führten wir das Kunststück stolz meiner Mutter vor. Ich begriff derart schnell die Melodien und schön einfach dazu die drei Harmonien, dass Genosse Todt hell begeistert war. Eine Woche später entschied mein Entdecker, dass der kleine Wolf begabt ist und richtigen Klavierunterricht braucht. Todt suchte, und er fand eine ältere Dame in Wandsbek. Die wunderte sich, dass sich in diesen Hungerzeiten überhaupt noch ein Menschenkind findet, das Klavier lernen will.

Von der Klavierlehrerin lernte ich von nun an die ersten Kinderstückchen, aber vom Todt schön schnell auch »Brüder, zur Sonne zur Freiheit« und sogar das Arbeiterlied »Dem Karl Liebknecht / dem haben wir’s geschworen, / Der Rosa Luxemburg reichen wir die Hand!«. Ich kannte etliche Kommunistenlieder, meine Mutter hatte sie mir schon in den finsteren Zeiten eingefüttert – und mir beigebracht, dass ich sie nur mit ihr singen durfte. Ich hatte die Verse gekaut und kein Wort verdaut. Aber ich verstand die Töne.

Für meine Menschwerdung war das Klavier im KZ-Heim ein entscheidender Zufall. Ich leckte auch den ersten Zucker der Eitelkeit. Ich genoss es, wie froh ich die Genossen machen konnte, wenn ich ihnen einfach ihre alten kommunistischen Hoffnungslieder vorklimperte. Einer weinte sogar vor Freude. Da lernte ich, dass Menschen nicht nur aus Kummer und Schmerz weinen können. Mit meinen Kinderfingern servierte ich diesen Verhungerten ein Stück Seelenbrot. Ich war für sie ein Beweis für das Versprechen im Zupfgeigenhansl-Liederbuch – die Bauernkriegsromantik der Wandervogelbewegung: »Geschlagen ziehen wir nach Haus / Unsre Enkel fechten’s besser aus!« Meine tuttige Klavierlehrerin Frau Müller brachte mir bis zum Ende des Jahres sogar ein Menuett von Mozart bei, ein Rondo von Beethoven. Aber dann war Schluss mit der Klimperei. Wir fanden endlich eine kleine Wohnung in Langenhorn. Die Unterkunft in der Wandsbeker Villa wurde nach und nach aufgelöst. Später errichtete der Filmproduzent Gyula Trebitsch dort, in dem ehemaligen KZ-Heim, das Studio Hamburg.

In der Schumacher-Siedlung für Arbeiter im Norden Hamburgs standen leider keine Klaviere rum. Wir lebten dort zusammen mit Oma Meume und meinem Cousin Kallemann. Die beiden oben in zwei kleinen Dachkammern, Emma und ich, etwas besser, unten: eine große Küche und zwei Zimmerchen. Zu jedem Reihenhaus in dieser riesigen Siedlung gehörte auch ein schmaler Schrebergarten zwischen Haus und Bürgersteig. Kartoffeln, Gemüse, Hühner, Karnickelstall, Misthaufen, Apfelbaum, Johannisbeersträucher, Petersilie, Blumenbeet. Eine sozialdemokratische Proletarier-Idylle.

Kallemanns Papa, Onkel Kalli, war heil aus der russischen Gefangenschaft zurückgekommen. Er fand schnell Arbeit als Ewerführer im Hamburger Hafen. Die Hansestadt Hamburg genoss seit der Bismarck-Zeit ein fortschrittliches Privileg im Welthandel: Im stacheldrahtumgürteten »Freihafen« konnten Schiffe aus aller Welt ohne irgendwelche Zollformalitäten ihre Ladung löschen, neu beladen werden und gleich weiterfahren. Dieser zoll- und steuerfreie Umschlagplatz wurde allerdings strengstens bewacht. An den wenigen Eingangstoren kontrollierten zehnäugige Zöllner jeden einzelnen Hafenarbeiter nach Schmuggelware, natürlich nur beim Rausgehn am Ende der Schicht.

Im Krieg hatte Hitler sein Volk mit dem Raub aus den eroberten Ländern gefüttert. Nun erst, im Frieden, kamen die Hungerjahre. Der Schwarzmarkt blühte in der halbtoten Hansestadt. Nicht der Diebstahl im Hafen, hart bestraft wurde der Schmuggel. Die kleinen Klauereien bei den Schiffen und in den Kaischuppen war’n ein Klacks. Beim Rohkaffee zerplatzte leicht mal ein Jutesack am Kran auf dem Kai. Die aufgefegten Kaffeebohnen wurden schnell verstaut im Zampel, dem runden, robusten Leinensack für die Standardausrüstung der Hafenarbeiter: Frühstück, Handhaken, Thermosflasche und Kleinkram. Wer aber nach der Schicht mit »Fegsel« im Zampel erwischt wurde, mit aufgefegtem Rohkaffee, der verlor sofort und automatisch seine Arbeit. Er durfte im gesamten Terrain des Freihafens fortan nicht mehr arbeiten.

Ich weiß nicht wie, aber meinem Onkel Kalli gelang es trotzdem, seinen Raub rauszuschmuggeln. Und seine Beute war noch viel, viel kostbarer als Kaffee: Lucky Strike! Einen ganzen kleinen Sack voll mit fünfzig Schachteln Zigaretten! Das war Gold wert. Für diese Währung konnte er auf dem Schwarzmarkt so gut wie alles eintauschen. Aber der Arbeiter Karl Dietrich beschloss, den Sack Zigaretten lieber nicht zu tauschen in begehrte Kartoffeln, in Speck oder Eier oder Kohlen, alles Dinge, die knapp waren. Auch verwandelte er diese stabilste Währung nicht in Weiberfleisch, Schnaps und Trallala. Mein lieber, geliebter Onkel Kalli, Bruder meiner Mutter, investierte sein Kapital in die Zukunft – und zwar in meine. Er legte die Zigaretten langfristig an. Für den Sohn seines toten Genossen Dagobert. Er tauschte den ganzen vollen Sack ein gegen ein gut erhaltenes Klavier.

Die neue Klavierlehrerin hieß Inge Lindemann und wohnte umme Ecke im Borner Stieg. Sie war erst neunzehn, ich war schon neun. Für die Musik ein ideales Liebespaar. Ich lernte Sonatinen von Clementi und Kuhlau, einfache Stücke von Bach, das normale Programm nach Noten. Aber dann zeigte mir die Lehrerin auch Boogie-Woogie, das war toll! Ich drückte mir Schlager ein, aber leider alle ohne Noten, und ich sang dazu: »Nimm mich mit Kapitän auf die Reise …«

Ich erweiterte auch mein kommunistisches Repertoire mit »Wacht auf, Verdammte dieser Erde!«. Sogar die schwierige Hymne der Sowjetunion eroberte ich mir, ein saftiges Stück! Manchen Sonntag kam Onkel Kalli zu uns raus nach Langenhorn und holte sich bei mir die Zinsen ab für seine Investition. Ich spielte ihm brav die Titel meines weit gespannten Repertoires vor – aber die Arbeiterlieder hörte er am liebsten. Oft setzte sich meine Mutter zu uns. Ihr Lieblingslied: »Unsterbliche Opfer, ihr sanket dahin …« Den alten russischen Trauermarsch für die Märtyrer der Arbeiterklasse sang Emma mit. Sie sang mit wahrem Gefühl und einer hell klingenden Mädchenstimme. Bei diesem Lied aber musste sie paar tiefere Töne singen. Sie senkte dazu den Kopf, schob die Lippen vor und zog die Augenbrauen zusammen: »Dann werden wir künden, wie einst ihr gelebt … zum Höchsten der Me-hensch-heit em-po-ho-ho-hor-ge-he-strebt.« Und ich wusste: Jetzt denkt Mutti an Papa.

***

Onkel Kalli lebte nicht mit seinem Sohn Kallemann, sondern im Osten der Stadt in einer Laubenkolonie an der Bille. Er hatte für uns eine hölzerne Anschlagtafel zusammengezimmert, fünf Zeitungsseiten breit, und schleppte sie an. Er rammte sie mit zwei Eisenstangen in den Garten, ganz vorne am Bürgersteig. Mit Ölfarbe schwarz auf blau darauf geschrieben: HAMBURGER VOLKSZEITUNG. Es war unsere traditionelle Zeitung, also die gleiche, die mein Vater 1933 illegal in Rothenburgsort auf Schreibmaschinenpapier gedruckt hatte. Und das war nun meine saure Ehrenpflicht: Ich klebte jeden Morgen nach dem Frühstück, schnell noch vor der Schule, fünf ganze Seiten unseres Kommunistenblattes auf das Brett. Oft bisschen in Hetze, den letzten Bissen des Rundstücks kauend. In der Hand das Eimerchen mit selbstgekochter schleimiger Klebe, Oma Meumes weißgraue Pampe aus Wasser und Weizenmehl. Ach! und der glibbrige Quastenpinsel, den ich nicht anfassen mochte. Mit diesem Leim pappte ich die frische Zeitung auf die Seiten vom Vortage drauf. Im Winter mit steifen Pfoten war das eine schmierige Sauarbeit. Im Sommer eine schlabbrige Knetscherei. Jeden Monat musste ich die wellig angeschwollenen Schichten aus Zeitungspapier und hart gewordener Mehlklebe vom Holzbrett lösen. Ich hasste diese elende Abreißerei noch mehr als das Draufkleben. Und natürlich las ich keinen einzigen Artikel.

Der Gedanke an das vergeudete Mehl tat Oma Meume weh. Die Alte hatte zu viel gehungert im Ersten Weltkrieg. Es ärgerte sie wie weggeworfen Brot. Dabei wusste sie wohl, dass die Leute nach zwölf Jahren Nazipropaganda ein paar Wahrheiten noch nötiger hatten als eine Mehlsuppe.

Mich trieb anderes um. In Hamburg kursierte ein Gerücht über einen Nazi. Emma nannte den Namen. Dieser Folterknecht sei wieder eingestellt worden als Beamter im Strafvollzug. Meine Mutter beklagte, dass genau dieser Mann meinen Vater als Untersuchungshäftling im Knast Fuhlsbüttel etliche Monate in Eisen an eine Wand gehängt hatte. Den Namen hab ich vergessen. Die Geschichte hat mich damals tief berührt und beunruhigt. Aber war es überhaupt eine Tatsache? Für mich ohne Zweifel. Auch das machte die Runde: Ein früher Auschwitzleugner in Hamburg wollte jedem fünfzigtausend Mark auszahlen, der ihm beweisen könne, dass auch nur ein einziger Jude in Auschwitz umgebracht worden war. Solche zynischen Witze zur Weltgeschichte bewegten mein Knabenherz mehr als das unbegreifbare Schreckenswort »sechs Millionen Juden«.

Bewiesen ist, dass in Westdeutschland nach 1945 kein einziger Nazirichter bestraft wurde. Hitlers Juristen haben ohne Karriereknick weitermachen können. Das galt auch für alle Wehrwirtschaftsführer und höheren Beamten des Dritten Reiches, die nach dem Krieg das Wirtschaftswunder im Westen organisiert haben. Es ist, so scheint’s, fast ein Naturgesetz der Geschichte: Immer am Ende einer Tyrannei stellt die gestürzte Elite das meiste Personal für die neue, bessere Zeit. Und das quält die Opfer: Es funktioniert! Die umerzogenen Täter machen ihren Job gut.

Deutschland war von den Alliierten in vier Besatzungszonen aufgeteilt, die demokratischen Siegermächte USA, Großbritannien und Frankreich standen der Siegermacht UdSSR feindlich gegenüber. Vier Jahre nach Kriegsende gründeten sich die beiden deutschen Staaten: im Westen die Bundesrepublik Deutschland unter den Fittichen der Westalliierten, gleich danach, unter der Fuchtel des allmächtigen Diktators Josef Stalin, die Deutsche Demokratische Republik. Der Berufsrevolutionär Walter Ulbricht, 1945 als Leiter der »Gruppe Ulbricht« aus Moskau nach Berlin zurückgekehrt, war Stalins Mann. Seine erste Heldentat: die Zwangsvereinigung 1946, als die kleine KPD die große SPD fraß und sich umtaufte in Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED). Sowohl die herrschende SED in der DDR als auch die kleine Bruderpartei KPD in der Bundesrepublik gründeten ihre eigene Jugendorganisation, die Freie Deutsche Jugend. Die West-FDJ und die KPD waren Teilorganisationen der SED, wurden also von der DDR bevormundet und finanziert.

Die FDJ hatte die Aufgabe, die Jugend kommunistisch zu erziehen und zu »klassenbewussten Sozialisten« zu formen. Im Westen blieb sie eine exotische Randerscheinung. In der DDR war die FDJ, in die Jugendliche ab vierzehn Jahren aufgenommen wurden, die einzige staatlich anerkannte und geförderte Jugendorganisation. Sie war konstruiert nach dem Modell des sowjetischen Komsomol. Und genau wie beim Großen Bruder, der Sowjetunion, gehörte zur FDJ auch eine Organisation für jüngere Kommunistenkinder, die Jungen Pioniere. Dass die FDJ und die Jungen Pioniere mit ihren Trommeln und Fanfarenzügen und Kampfliedern, mit all dem Schnickschnack und militärischen Firlefanz, so aussahen wie die Pimpfe der Hitlerjugend, scherte uns nicht. Es konnte mir nicht auffallen, weil es mir gar nicht einfiel. Ich band mir begeistert das gebügelte blaue Pionierhalstuch über dem steifgebügelten weißen Pionierhemd. An der Brust trug ich ein kostbares Abzeichen, original geliefert aus der DDR, mit zwei Buchstaben, einem J und einem P, über denen eine Flamme loderte. Dieses Symbol leuchtete mir ein, denn genau diese Flamme brannte auch in meinem Herzen.

Meine Mutter hatte seit den finsteren Zeiten nur ein Ziel: Ich sollte durchkommen, damit ich, wie sie es pathetisch nannte, später mal meinen Vater rächen kann. Und ich sollte den Kommunismus aufbauen. Wenigstens diesen kleinen Gefallen wollte ich meiner Mutter tun, und meiner Oma Meume erst recht. Wir wussten genau, dass bald in ganz Deutschland der Sozialismus aufblühen wird, so wie in der DDR. Wir verstanden uns als Vorhut im Kampf für ein geeintes Vaterland.

1949 wechselte ich von der Fritz-Schumacher-Grundschule an die Heinrich-Hertz-Oberschule für Jungen. Nur wir drei aus unserer Klasse, Helmut Salzmann, Hermann Graff und ich, hatten die Aufnahmeprüfung zum Gymnasium bestanden. Meine Mutter hatte keine Vorstellung, auf welche Schule sie mich am besten schicken sollte. Sie schloss sich einfach der Entscheidung der beiden anderen Langenhorner Eltern an. Es waren die wohlhabenderen oder auch die gebildeteren Leute, die ihre Kinder dort zur Schule schickten. Ich war das einzige Arbeiter- und Kommunistenkind in meiner Klasse.

Am Ende des Schultags ging ich manchmal in Winterhude auf verschiedenen Umwegen zum U-Bahnhof Hudtwalckerstraße. Ich ging allein in Spielzeugläden und nervte die Verkäuferinnen mit einer gestrengen Frage, die meine Mutter mir eingetrichtert hatte: »Warum verkaufen Sie, so kurz nach dem Krieg, schon wieder Panzer als Spielzeug?« Dabei wusste ich natürlich nicht, dass die DDR längst mit dem Aufbau einer regulären Armee begonnen hatte, kaschiert als kasernierte Volkspolizei. Als ich bei meiner Aktion eine freche Lippe riskierte, haute mir eine ältere Verkäuferin was aufs Maul. Das war mein Klassenkampf.

Unsere Straße, der Laukamp, schmiegte sich an den Bahndamm der Hamburger Hochbahn nach Ochsenzoll. Auf der anderen Seite des Damms menschenleere Wildnis – bis ans Ende unserer Welt ein Moor. Dort spielten wir Krieg im Frieden. Kokeln, Feuer machen, Spieße schnitzen. Der Torf brennt so schön. Das Feuer wird ausgetreten, frisst sich aber tiefer in den Boden und entzündet sich zwei Wochen später hundert Meter weiter. So schwelte unter den Grasinseln ein unlöschbarer Moorbrand.

Das UnkrautEx-Pulver kauften wir in der Drogerie. Daraus bastelten Kallemann und ich mit Löschpapier und Hanfband in der Küche die allerschönsten Bomben. Wir fanden eine alte Kiste Munition im Gebüsch am Bahndamm. Wir legten die Patronen ordentlich nebeneinander auf die Schienen der U-Bahn. Der Zug wurde unser Maschinengewehr. Es funktionierte! Ein Todesschreck! Die Bahn brüllte, bremste, blieb stehen. Und wir rannten und verkrochen uns im Bohnenkraut.

Ich baute die besten Katapulte, auch für die Nachbarkinder. Gute Astgabeln zurechtgeschnitzt, dann zwei dicke Gummis vom Autoschlauch. Dazu die Lederschlaufe, die dünnen Ringgummis vom Fahrradschlauch. Ich schoss Vögel, schnitt ihnen die Beinchen ab und sammelte die Krallen als Trophäe im Hohlraum meiner Fahrradlampe. Ich machte auch Nützliches, sammelte am Ufer der Tarpenbek saftiges Futter für unsre Kaninchen. Ich kratzte die stinkenden Karnickelställe sauber, aber lernte auch von Onkel Kalli das Kaninchenschlachten. Und ich baute mir aus drei kaputten Fahrrädern ein ganzes neu.

Zu Pfingsten 1950 organisierten Walter Ulbricht und seine Genossen ein Deutschlandtreffen der Jugend in Ost-Berlin. Im Propagandakrieg zwischen Ost und West wollte die DDR, genau wie die Bundesrepublik, das gesamte Deutschland repräsentieren, will sagen: Jeder Teil verstand sich als Modell für das Ganze. Die DDR sah sich als Hort des Friedens gegen die Kriegstreiber in Bonn, als Staat konsequenter Antifaschisten gegen die Hitlererben, als echte Demokratie gegen die falsche und als einzig richtiges Vorbild für die Wiedervereinigung unseres zerrissenen Vaterlandes. Der propagandistische Slogan des Deutschlandtreffens hieß dementsprechend: »Für Einheit, Frieden, nationale Unabhängigkeit und ein besseres Leben!« Für die SED war es wichtig, dass möglichst viele junge Friedensfreunde auch aus Westdeutschland in den Osten strömten. Das DDR-Motto: Ihr im Westen habt die alten Nazis, aber wir haben die deutsche Jugend gewonnen – und die unbesiegbare Sowjetunion an unserer Seite!

Ich fuhr mit einer Gruppe Gleichgesinnter von Hamburg mit der Bahn nach West-Berlin. Damit der Klassenfeind nichts merkt, fuhren wir in kleinen, unauffälligen Gruppen gen Osten und trafen uns erst am Rande von Ost-Berlin, in der »Pionierrepublik Ernst Thälmann« in der Wuhlheide. Das Pionierlager war grade zu diesem Zweck von DDR-Präsident Wilhelm Pieck gegründet worden. Pieck zitierte dabei Lenin: »Wer die Jugend hat, hat die Zukunft.« Das Lager beherbergte zwanzigtausend Pioniere.

Ich war grade noch Mitglied der Pioniere, aber schon dreizehneinhalb Jahre alt. In unserem Zwanzig-Mann-Zelt wurde ich zum Oberpionier gewählt. Damit meinen Rang auch jeder sehn konnte, durfte ich mein blaues und ein rotes Pioniertuch der sowjetischen Pioniere übereinanderlegen. So knotete ich mir das Doppeltuch schön um den Hals.

Schon am dritten Tag kam Besuch für mich in unser Zelt. Ein kolossaler Drei-Zentner-Funktionär, Jonny Löhr. Ich kannte ihn von seinen Besuchen bei Emma in Langenhorn. Ein alter Genosse meiner Mutter aus den zwanziger Jahren. Ein Hamburger Kommunist, ein Ingenieur, Mitkämpfer von Ernst Thälmann sogar, wie meine ganze Kommunisten-Familie. Jonny hatte Ende der zwanziger Jahre im Auftrag der Komintern in Rumänien Wirtschaftsspionage für die Sowjetunion betrieben und war erwischt worden. Er wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt, die er bis 1940 in rumänischen Zuchthäusern absaß. Dann floh er in sein wahres Vaterland. 1945 kehrte er aus Moskau nach Deutschland zurück.

Inzwischen war Jonny Löhr das zweithöchste Tier in der National-Demokratischen Partei Deutschlands (NDPD), einer sogenannten Blockpartei, die er im Auftrag der SED 1948 gegründet hatte. Diese Pseudoparteien sollten aussehen wie echte Parteien in einer echten Demokratie. In Wirklichkeit waren sie Attrappen. Löhr fühlte sich dem Sohn seiner alten Freundin Emma in Hamburg väterlich verbunden. Das hatte sehr menschliche Gründe, denn er war nicht nur ihr Genosse, sondern seit 1921 auch ihr allererster Bettgenosse. Irgendjemand, also Emma, hatte ihm meinen Herzenswunsch auf die Seele gebunden: Wolf spielt Klavier, aber er möchte viel lieber Gitarre lernen. Jonny Löhr verstand sofort. Er brachte mir die schönste Gitarre der Welt. Bloß – ich konnte keinen einzigen Griff. Also spielte ich die sechs Saiten wie einen verschmutzten e-Moll-Akkord. Ich drosch in unserem Pionierzelt meinen Lieblingsschlager, die Ballade von den wilden Geisterreitern in Amerika: »Es war in einer Regennacht / Wind pfiff durch die Prärie / Die Cowboys saßen dichtgedrängt / Nur Whisky wärmte sie.«

Ach, war das schön! Und meine Pionierkameraden waren begeistert. Die kriegten den Hals gar nicht voll und grölten mit: »Yippi-haia-hyyy Yippi-hai-ho-hooo / Die Nachtgeister zieh’n vorbei-hei!« Als mir irgendein musikalischer Mensch dann die Finger so aufs Griffbrett setzte, dass ich wenigstens ein reines e-Moll spielen konnte, und dann sogar ein G-Dur, ein C-Dur und ein a-Moll, da erlebte ich in mir und in den anderen eine Begeisterung, wie ich es vom Klavierspielen nicht kannte. Nun wusste ich: Man müsste Gitarre spielen können!

Zur Eröffnungsveranstaltung der Pionierrepublik fand im Stadion der Wuhlheide der große Aufmarsch aller Pioniere statt. Ein fröhliches Gewimmel. Die Ränge übervoll, der Rasen und die Aschenbahnen sowieso. In einer Kurve auf halber Höhe die Tribüne für die Obrigkeiten: der Präsident der DDR Wilhelm Pieck, der Obergenosse Walter Ulbricht, FDJ-Chef Erich Honecker. Drei Losungen, von einem Vorsprecher in das Mikro gebrüllt, wurden von den Kindermassen skandiert: »Wir grüßen Wilhelm Pieck!« – »Es lebe unser Freund Stalin!« – »Es lebe der Komsomol!«

Auch unsere Gruppe war im Stadion angekommen. In diesem Gewusel schnappte mich eine fremde Frau und sagte, als ob sie mich schon lange kennt: »Schau mal, Wolf! Eine halbe Seite Schreibmaschinenschrift. Ich weiß, du bist ein kluger Junge. Das kannst du bestimmt sehr schön ablesen. Es sind nur ein paar Worte. Der Hans aus Köln sollte das eigentlich machen, aber der ist krank geworden. Du musst jetzt für ihn einspringen.« Und weil ich zögerte, sagte sie: »Darum heißt ja der Gruß unserer Jungen Pioniere: ›Seid bereit – immer bereit!‹« Das leuchtete mir ein.

Ich überflog die Worte und machte mich bereit. Ich übte meine Sätze: »Wir Jungen Pioniere aus Westdeutschland sind in die Deutsche Demokratische Republik gekommen, denn das Vorbild für das ganze friedliebende Deutschland ist die DDR!« Dann wurde ich im Eiltempo vor eins der Mikrophone bugsiert. Ich stolperte in der Hast gegen den Bauch von Wilhelm Pieck. Und schon hielt ich mir die rechte Hand zum Pioniergruß vor die Stirn, als wäre es ein Brett vorm Kopp. Ich rappelte den Text runter: »Achthundert Junge Pioniere und dreiundneunzig Pionierleiter aus Hamburg, Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Pfalz, Bayern und Bremen zur Eröffnung der Pionierrepublik angetreten! Die Jungen Pioniere geloben, dass für uns die Deutsche Demokratische Republik, an deren Spitze unser großes Vorbild, unser Präsident Wilhelm Pieck steht, die Grundlage für ein schöneres, besseres Leben ist. Wir kennen keine Zonengrenzen. Für uns gibt es nur ein Deutschland mit seiner Hauptstadt Berlin.« Reden Reden Reden. Und immer wieder Hoch! Hoch! Hoch! auf den besten Freund des deutschen Volkes, Genossen Josef Stalin.

Am nächsten Morgen war ein Foto von mir in einer Extraausgabe des FDJ-Zentralorgans Junge Welt zu sehn. Das war ein Gottesbeweis, dass ich es gut gemacht hatte! Und in einer anderen Zeitung las ich über mich: »An diesem blassen Arbeiterjungengesicht aus Hamburg sehen wir, wie das Proletariat in Westdeutschland ausgebeutet wird. Aber er spricht mutig für die ganze deutsche Jugend, wenn er sagt …«

Als Höhepunkt des Deutschlandtreffens war geplant, dass die siebenhunderttausend Jugendlichen, darunter dreißigtausend aus Westdeutschland, in einer Parade an der Ehrentribüne, die beim Lustgarten Unter den Linden aufgestellt war, vorbeimarschieren sollten. Die junge DDR wollte der Welt die vereinigte deutsche Jugend im Gleichschritt vorführen. Eine Manifestation. Wir wurden abkommandiert zum Exerzieren. Alle westdeutschen Pioniere raus! Alles raus auf den zentralen Wuhlheide-Platz! Auch wir Hamburger sollten das exakte Marschieren der Kolonne in Zehnerreihen üben. Besonders schwierig, wenn’s um die Ecke geht! Und dabei sollten wir Losungen brüllen, die wir noch nicht kannten.

Mich überflutete eine Ich-weiß-nicht-wie-und-warum-Wut. Ich ging mit meinem blauroten Halstuch rüber in die Hauptbaracke und sprach einen höheren Funktionär der FDJ-Leitung an. Ich sagte ihm: »Wir machen nicht mit. Wir sind nicht aus dem Westen gekommen, um im Friedensstaat das Marschieren zu lernen. Ich hab in Hamburg gegen den Verkauf von Kriegsspielzeug protestiert. Wir kommen alle mit, aber marschieren – auf gar keinen Fall!«

Der Berufsjugendliche war entsetzt: »Ihr wollt euch doch wohl nicht blamieren, wenn ihr an der Tribüne der Partei- und Staatsführung vorbeilatscht wie eine Hammelherde! Da wird unser Präsident Wilhelm Pieck sein, und der Genosse Walter Ulbricht würde sich wundern, und unser FDJ-Vorsitzender Erich Honecker … und die Gäste aus aller Welt …« Ich blieb stur: »Marx und Engels sind auch nicht marschiert.« Er sagte: »Warte!« und telefonierte. Er schilderte einem wahrscheinlich höheren Genossen das Problem. Dem hörte er zu, er nickte ernst. Dann nickte er eifriger und legte wieder auf. Er lächelte mich nun an und redete mit süßer Zunge: »Wichtig ist, dass ihr aus Hamburg zu uns in das bessere Deutschland gekommen seid. Ob ihr auf allen vieren lauft oder marschiert – ha ha ha ha! –, das ist für uns in der DDR überhaupt nicht wichtig. Wichtig ist nur der Weltfrieden!« Und so kam es. Wir Hamburger trotteten brav mit, aber die anderen Friedenskämpfer marschierten stramm vorbei an der Führung. Wir fühlten uns prima, halb mutig, halb mulmig.

Als ich nach Hause kam, brachte ich zwei Trophäen von meiner Weltreise zurück: die Zeitungsausschnitte. Mein größeres Glück aber war die Gitarre. Doch das konnte ich damals noch nicht ermessen.

***

Ende Oktober 1951 kam es zu Unruhen im Hamburger Hafen. Die Gewerkschaft »Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr« organisierte eine Urabstimmung mit dreißigtausend Hafenarbeitern. Die Arbeiter stimmten dem ÖTV-Vorschlag zu: Erhöhung ihres Stundenlohnes um neun Pfennige. Die KPD aber spekulierte darauf, dass neun Pfennige den Leuten zu wenig sind. Der Kampf ging auch gegen die Entlassung von Arbeitskräften, die wegrationalisiert werden sollten. Onkel Kalli tat, was die Partei verlangte. Er organisierte einen Streik. Sechstausend Hafenarbeiter folgten dem Aufruf der Kommunisten. Aber solch ein Streik galt als »wild«, weil die Gewerkschaftsfunktionäre nein dazu gesagt hatten. Er brach schnell zusammen. Obwohl Onkel Kalli in seiner Ewerführerei als Betriebsrat eigentlich unkündbar war, wurde er als wilder Streikführer von seiner Firma fristlos entlassen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als »im Stall« zu arbeiten. »Stall« hieß die offene Heuerstelle im Hafen, in der die Vorarbeiter der Firmen frühmorgens eine Anzahl von Arbeitern für jeweils nur eine Schicht anheuerten – zusätzliche Hände für einen größeren Auftrag, der von ihrer Hafenfirma an diesem Tag erledigt werden musste.

Mein Onkel kam nicht wie sonst an einem Sonntagnachmittag, sondern am Montagabend bei uns vorbei, am 24. März 1952. Natürlich spielte ich ihm wie immer auf meinem Lucky-Strike-Klavier seinen liebsten Schlager vor: »Wacht auf! Verdammte dieser Erde …« Er war zufrieden, und ich war froh. Am nächsten Morgen ging er zum ersten Mal in den Stall. Und hatte Glück, er wurde für eine Schicht angeheuert. Er hatte im Bauch eines holländischen Frachters zu arbeiten, der Zichorienwurzeln löschte, loses Schüttgut. Zichorienwurzeln wurden für die Produktion von Ersatzkaffee gebraucht. Die lose Ladung wurde von einem Kran mit einer »Spinne« aus dem Schiffsbauch hoch auf den Kai gehievt. Wenn solch ein Greifgerät mit seinen zwei mal fünf gespreizten Stahlfingern tief unten im Schiffsbauch ankommt, sieht der Kranführer oben die Spinne da unten nicht mehr. Deshalb steht auf Deck extra ein Decksmann, der beide zugleich im Auge hat, den Mann unten im Laderaum und den Mann oben in der Krankabine. Mit den Händen gibt er den Kollegen Warnzeichen – im Missingsch der Hafenarbeiter: Er warschaut. Genau diesen Decksmann hatte die Ewerführer-Firma eingespart. Als nun die Spinne wieder hoch kam, hing mein Onkel Kalli in den geschlossenen Stahlkrallen. Er starb auf dem Weg ins Hafenkrankenhaus. Da war er fünfundvierzig Jahre alt. Die Beerdigung in Ohlsdorf wurde eine politische Demonstration. Kränze, revolutionäre Trauerreden, Fahnen. Danach waren wir sehr allein. Oma Meume sagte auf Platt im sächsischen Zungenschlag zu einem Kollegen: »Min Jung weer de letzte. Nu is uns’ Kalli ook noch dood bleebn!«

Dumm war ich nicht, aber ich war der Dümmste. Meine Leistungen wurden in der Heinrich-Hertz-Schule von Jahr zu Jahr schlechter. Nie ordentlich die Schularbeiten gemacht! Ich verlor im Lernstoff den Anschluss, langweilte mich und machte den Klassenkampf-Clown. Ein schwacher Trost: Ich war der beste Geräteturner. Musik und Sport, das waren die beiden Einser auf dem Trauerberg meiner Zeugnisse.

Meine Wochentage waren streng dreigeteilt. Den Unterricht saß ich geistesabwesend ab. Die Nachmittage verspielte ich im nahen Schwimmbad am Kiwittsmoor beim Bornbek, am Klavier oder mit der Gitarre. Erst am Abend begann mein wahres Leben: die unermüdliche Vorbereitung der Weltrevolution – Plakate kleben, Volkstanz üben, politische Quasselei, Lieder singen, Knutschen. An manchem Wochenende demonstrierten wir auf der Mönckebergstraße gegen die Wiederaufrüstung des »Spalterstaates«, so schimpften wir die »BRD«. Ich hielt Plakate gegen die Politik Bundeskanzler Adenauers am Besenstiel hoch. Der Kalte Krieg war noch jung. Aber die Fronten waren klar für mich.


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