Englische Bomben, wie Himmelsgeschenke

Operation Gomorrha – der Feuersturm in Hamburg. Evakuierung nach Deggendorf.

Und weil ich unter dem Gelben Stern

In Deutschland geboren bin

Drum nahmen wir die englischen Bomben

Wie Himmelsgeschenke hin …

Im Stadtteil Hammerbrook lag ich im Sommer 1943 im Zentrum des Fegefeuers unter dem Bombenteppich, den die Alliierten mit der »Operation Gomorrha« über die Hansestadt ausgebreitet hatten. Meine Mutter freute sich über die englischen Bomben. Es war nur so unpraktisch, dass sie uns auf den Kopf fielen. Komplizierte private Interessenlage im welthistorischen Kuddelmuddel. Ich verstand nichts im Luftschutzkeller, außer Luftholen und Mamas Hand. Die Menschen verbrannten zu Tausenden in den von Bombenfeuern erleuchteten Nächten. Kein Gesicht, keine Farbe, keinen Geruch, kein Geräusch, keine Situation habe ich je aus dem Gedächtnis verloren. Die Erinnerung an dieses Inferno ist mir eingebrannt wie nichts sonst.

Wir schliefen jede Nacht voll angezogen in den Betten. Ein Fliegeralarm riss uns mal wieder hoch. Meine Mutter drückte mir einen Henkeltopf voll Mirabellenkompott in die Hand. Wir stürzten runter in den Luftschutzkeller. Und schon fielen die Bomben. Als das Haus über uns niederbrannte, schlug der Luftschutzwart mit einer Spitzhacke den dünn gemauerten Durchgang zum Nebenkeller auf.

Das ist meine Erinnerung: Urvertrauen. Ich drückte mein Gesicht in den weichen Mantel der Mutter, so konnte ich atmen. Geborgenheit mitten im Weltuntergang. Mama. Wir zwei blieben allein sitzen. Kein Mensch mehr da. Die Kellertreppe brannte schon. Die Hitze. Der Qualm. Wir tappten endlich doch den anderen hinterher, raus aus dem Keller durch das Mauerloch in den Keller des Nachbarhauses – von da nach oben. Dann Augen zu und durch die Feuerwand im Toreingang. So sprangen wir auf die Straße. Luft holen! Wassertuch vor die Nase!

Wenn ganze Straßenzüge brennen, entsteht ein gewaltiger Luftsog. Die heiße Luft rast nach oben, frische Luft strömt von allen Seiten ins Zentrum. Straßen, die in der Richtung des Luftsogs liegen, wirken wie riesenhafte Düsen. In solchem Gebläse brennt alles weg wie Zunder. Der Feuersturm riss ein brennendes Dach über den lodernden Häusern hoch und schleuderte es durch die Luft. Brüllende Blechpappe. Ein Stück Asphalt kochte, eine Frau blieb mit den Schuhen in der schwarzen Pampe stecken und sank um. Die Schwabenstraße, in der wir wohnten, lag günstig, quer zum Sturm. Funkenflug, glühende Holzteilchen brannten sich in die Kleider ein. Das nasse Tuch vorm Gesicht trocknete schnell aus, kein neues Wasser. Schwächere Menschen drehten sich lieber mit dem Rücken zum Sturm und ließen sich treiben.

Wir erreichten den Fabrikhof Ecke Nagelsweg. Die Panik, als irgendwelche Fässer explodierten. Berstende Chemie. Schönste Farbenspiele. Meine Mutter zerrte mich in ein riesiges Fabriklager, ein niedriger Raum voll mit Fässern. Schmale Gänge, aber frische Luft. Ein Däne aus der Nachbarschaft mit seiner Frau. Die beiden. Wir beiden. Wir suchen frisches Wasser für die Tücher. Nichts. Säure. Ätzende Flüssigkeiten. Das Tuch ist versaut. Dann eine Explosion. Der Raum schlägt voll schwarzen Rauch. Keine Hand vor Augen zu sehn, kein Weg zu finden durch die Tonnen, kein Ausgang, keine Luft. Das ist der Tod.

Der dänische Mann hat die kleine Eisentür zum Hof gefunden. Er schreit. Er zündet sein Feuerzeug an, die Flamme zuckt weg. Das Lichtlein, dahin! Wir taumeln zum Ausgang. Jetzt wieder durch eine Feuerwand! Luft anhalten! Und die Hand weggerissen. Mama, Mama! Die Leute schieben und stoßen und trampeln nieder, Mama! Ich bin allein. Die Menschen brüllen. Das ist der Tod. Ich stand ruhig am Rand des Getümmels. Es war ja keine Gefahr mehr, es war das Ende. Das Menschentierchen liegt auf dem Rücken und streckt alle viere von sich. Alles aus. Keine Mama. Das ist eben der Tod.

Plötzlich meine Tante Lotte. Im Gewühl prallte sie auf mich. Sie kreischte. Sie krallte mich. Sie schrie nach ihrer Schwester. Mama! Wir haben uns wieder. Und weiter. Weg hier! Weg! Das kleine Pförtnerhaus auf dem Fabrikhof. Da rein! Leute. Die Hitze. Der Qualm. Das ist der Tod. Wie grün die weiße Wäsche brannte, im Nebenraum auf der Leine. Wieder sind wir die Letzten. Es war so still. Das Feuer im Pförtnerhaus kroch schon das Holzgeländer runter. Die blauen Flämmchen. Das geht uns nichts an. Die Glut. Das tiefe Rot. Unsere Atemtücher ausgetrocknet. Der Qualm beißt in die Lunge. Emma klettert auf ein Klo. Oben im Wasserkasten noch Wasser. Sie tunkt unsere Tücher ein. Raus jetzt! Nah an der Mauer entlang im Windschatten. Zur Brücke! Zur Böschung! Runter ins Wasser! Geh du vor! Kein Grund unter den Füßen. Das ist der Tod. Ich sank unter. Das war der Tod.

Meine Mutter riss mich an den Haaren wieder hoch übers Wasser. Also doch durch den schlimmsten Sturm über die breite Straße auf die andere Seite. Das könnte der Tod sein, isses aber nicht. Der Soldat sah uns von unten. Er kommt uns entgegen. Er will uns übers Geländer helfen. Ein Steinbrocken von der Hochbahnbrücke erschlägt den Mann vor unseren Augen. Einen halben Meter vor uns. Das ist der Tod. Grimms Märchen: De Machandelboom. Der zermatschte Mann. Unter der U-Bahnbrücke standen wir im flachen Wasser des Kanals. Wir drängten uns an den Pfeiler. Das tiefere Wasser. Die alte Frau, ihr Pappköfferchen unter Wasser, die offene Tasche und einen Koffer an der Hand, die schwammen noch halb. Dann lösten sich ihre Finger von den Griffen. Vor meinem Gesicht. Ein Koffer driftete ab. Die Frau sackte unter. Kein Wort. Das ist der Tod. Mama! Die Nächsten kamen die Böschung runtergehetzt ins Wasser. Sie stellten sich auf die versunkene Alte. Wir müssen weg da! Sofort! Die Fabrik. Der Brand. Die Feuergarbe. Die explodierenden Fässer. Die Feuersäulen in der Nacht. Herrlich! Bunte Fontänen schießen aus der Fabrik in den Himmel. Alle paar Sekunden. Das sind die Fässer im Keller.

Und die Wasser teilten sich nicht. Kein Vor, kein Zurück. Meine Mutter nahm mich auf den Rücken. Ich klammerte mich fest an ihr. Das Wasser trug mich. So erreichten wir unter der gerippigen Eisenbahnbrücke das andere Ufer. Bloß raus aus dem Feuer! An der Uferböschung lagen schon paar angesengte Leute im Gras. Das ist der Tod. Das Prasseln der glühenden Güterzüge auf den Gleisen. Ein Waggon nah bei uns brennt aus. Wie schön das große Gelb im Rot! Das knistert so toll! Wir sind ab davon. Das ist das Leben.

Die ganze helle Nacht hindurch im riesigen Feuerofen bis zum düsteren Morgen hielt ich das gedeckelte Aluminiumeimerchen in meiner kleinen Faust. Ich hielt mein Eimerchen durch alle Stürme, Feuer, Explosionen und alle Wasser fest. Nun ruckelte die Mutter den strammen Deckel hoch und gab mir einen Schluck. Die saure Süße der Mirabellen! Wollen Sie auch mal? Zehn Münder, zwölf Schluck, und das Eimerchen war leer.

Übern Südkanal liefen wir auf einer halb weggebrochenen Eisenbahnbrücke. Der Himmel war auch im Morgengrauen noch schwarz. Die Sonne schimmerte fahl im Rauchhimmel. Das Wasser bläkte unter den Schwellen. Die schwarzgekohlten Leichen. Zusammengeschnurrt, so klein. Am Bahndamm der Erstickte. Aufgebläht. Rosa mit Tiefblau sein Gesicht. Das ist nicht der Tod. Das sind die Toten.

Wir liefen den langen Weg. Das ist die Lombardsbrücke. Rüber zur Moorweide am Dammtorbahnhof. Endlich auf der grünen Wiese! Die guten Bäume. Verteilung von Lebensmitteln vom Lastwagen runter. Die viel zu großen Butterstücke in die grapschenden Hände. Das Gezerre. Die Gier. Konserven in die Kinderwagen. Kommissbrot. Panisch die Essensausgabe. Besänftigung der Überlebenden. Mund stopfen. Herz stopfen. Bereicherungsräusche der Ruinierten. Krankenschwestern. Uniformierte Männer. Ein Picasso ohne alle Kunst: die große Schwangere mit der weggebrannten Gesichtshälfte. Das macht der Phosphor. Das lebendige Auge im Totenschädel, als wär’s nix. Und ein Kind schleppt sie, das reitet auf ihrem Bauch. Kein einziges Kind im Feuersturm hat geweint oder gejammert. Der Schrecken war zu übermächtig in dieser Nacht vom 27. auf den 28. Juli 1943.

Es gibt ein Foto vom ausgeglühten Gehäuse einer Taschenuhr in Hiroshima. Die Zeiger der Uhr sind im Zeitpunkt der Explosion auf dem Ziffernblatt festgeschmolzen. Seit ich dieses Bild sah, weiß ich, dass die kleine Lebensuhr in meinem Rippenkäfig auch festgebrannt ist. Sie ist stehengeblieben im Feuergebläse dieser einen Nacht. Ich bin ein grau gewordenes Kind, das immer noch staunt. Sechseinhalb Jahre war ich damals. Und so alt blieb ich mein Leben lang.

Nun lagerten wir mit den Überlebenden auf genau derselben Moorweide, auf der sich nur knapp zwei Jahre vorher die Juden hatten sammeln müssen für den Abtransport nach Minsk. Die gelben Sterne im Nebel. Der kleine Peter. Seine Papierschlange. Der Vogelkäfig mit dem Wellensittich. Butsche Biermann, Butsche Biermann, Schlachterstraße, Schlachterstraße.

***

Die »Operation Gomorrha« der fliegenden Festungen der Royal Air Force war für Bomber-Harris, den britischen Luftmarschall, ein Volltreffer. Halb Hamburg zerbombt. Unser Stadtteil Hammerbrook total ausgelöscht. Zehntausende Tote. Am späten Nachmittag wurden wir auf offene Lastwagen der Wehrmacht verfrachtet. Die Nerven lagen blank. Aber alles friedlich. Für eine Panik reichten die Kräfte nicht mehr. Jeder wollte nichts als weg. Jeder wollte etwas Gerettetes mitschleppen. Meine Tante Lotte, als sie auf die Ladefläche sich hochkämpfte, schlug sich das Schienbein auf. Blutig bis auf den blanken Knochen. Ich hab’s gesehen, den weißen Knochen.

Das Chaos nach dem Hamburger Feuersturm hatte für mich einen Vorteil. Auch die Pläne für die »Endlösung der Judenfrage« waren beschädigt. Fast alle »Volljuden« der Stadt Hamburg waren nach und nach, bis 1942, nach Łódź, Minsk und Riga deportiert worden, die allermeisten liquidiert. Noch lebten Halbjuden, die »Mischlinge ersten Grades« wie ich, und die mischten sich nun unter die Opfer von Bomber-Harris.

Emma und ich schwammen mit im gelenkten Strom der Flüchtlinge. Zehntausende Hamburger wurden in den »Aufnahmegau« Bayern evakuiert. Wir gerieten nach Deggendorf in Niederbayern, wurden bei einer Familie in ein winziges Zimmer einquartiert. Oma Meume landete in einem Nachbardorf, zusammen mit meinem Cousin Kallemann. Kalles Mutter war eine dunkle jüdische Venus aus Ungarn, genannt »die Schwarze«. Sie überlebte, ich weiß nicht wie, als Nachtschatten versteckt in einem Hamburger Schrebergarten.

Die deutsche Bevölkerung hat im Zweiten Weltkrieg kaum gehungert, aber trotzdem war den Leuten jeder zusätzliche Fresser zu viel. Natürlich waren die Massen von zwangseinquartierten »Volksgenossen« nirgendwo willkommen. Wir galten in der Nazipropaganda als Opfer des »angloamerikanischen Bombenterrors«. Aber für die Bayern waren wir Abgebrannten nix als »Ssaupreißn«.

Mich schüttelten asthmatische Hustenanfälle. Der ätzende Rauch, die Phosphorbomben, vielleicht auch die Todesangst – all das hatte meine kleine Kinderlunge angefressen. Die Nebel in den Niederungen der Donau verschlimmerten mir die Atemnot. Meine Mutter ging mit dem Attest eines Kinderarztes zur NSV, der nationalsozialistischen Wohlfahrtsbehörde für »Umquartierte«. Der Umzug in ein Höhenluftklima nach Oberbayern wurde genehmigt. Trotzdem lehnte der NSDAP-Gauleiter den Antrag ab. Seine Begründung: Als Sohn eines toten Kommunisten war ich »nicht würdig«.

Nach einiger Zeit fand Emma ein besseres Untermieterzimmer bei der Familie Xaver Hausinger in der Bahnhofstraße. Im Spätsommer wurde ich eingeschult. Die jungen Lehrer lernten längst alle an der Front. Meine Mutter meldete sich als Hilfslehrerin für die Kleinsten. So kam es, dass ich bei meiner Mama nicht nur die Muttersprache lernte, sondern auch das Lesen und Schreiben.

Es gab in Deggendorf russische Kriegsgefangene, die bastelten buntes Holzspielzeug und verkauften es oder tauschten es gegen Brot. Eines Tages steckte mir solch ein Russe das allerwunderschönste Flugzeug zu, einfach so. Er hatte es mit bunten Lackfarben angemalt. Erst Jahre später erzählte mir meine Mutter, dass sie sich manchmal mit diesem Kriegsgefangenen heimlich getroffen hat. Wäre sie mit diesem Sergej erwischt worden, wäre ich als Vollwaise wohl auch entsorgt worden.

Einmal spielte ich in den Donauwiesen, am Rande der Stadt. An jenem schönen Tag wurde womöglich mein Leben ein weiteres Mal gerettet. Dieses Mal aber von mir selbst. Ein Offizier mit Glitzer auf den Schultern, Wehrmacht, mag sein ein SS-Mann, vielleicht auch ein Bahnbeamter oder Feuerwehrmann – jedenfalls in einer feineren Uniform, ein großer, eleganter Mann. Er sprach mich an und verwickelte mich in ein interessantes Gespräch. Wir schlenderten durch die menschenleere, wilde Landschaft zum Fluss. Ich mutterseelenallein. Als wir ein gutes Stück weit draußen waren, lagerten wir uns in der Sonne an einen sanften Hügel mit wintergewelkten langen, toten Binsengrasbüscheln vom vorigen Jahr, gelbgrün, braun, faulig. Es muss im Frühjahr 1944 gewesen sein.

Der Mann griff mir ohne Hast in meine Hose und fummelte an mir rum. Er machte das wie nebenbei beim Frage- und Antwort-Spiel. Ich spürte eine Todesgefahr. Und weil ich diese Gefahr für groß hielt, hielt ich still und ließ mir das gefallen. Kein Hilfeschrei, genau wie im Feuer unter dem Bombenhimmel in Hammerbrook. Endlich entwand ich mich ohne Hektik, stand auf und ging paar Schritte. Kam aber brav zurück und setzte mich zu diesem Menschen. Wir unterhielten uns weiter. Ich plapperte wie ohne Arg, und er fummelte wieder, als wäre es nix. Ich reagierte auf seine Hand in meiner Hose, als sei es mir egal. Wieder stand ich auf und lief ein Stückchen weiter in die Wiesen. Ich spielte ihm ein spielendes Kind vor. Echt war nur meine Atemnot. Aber ich versuchte, ruhig zu husten. Dann sprang ich, wie selbstverständlich, zu meinem Offizier zurück und lagerte mich wieder neben ihn an den Hang. Er fummelte etwas heftiger und redete leise. Ich hüpfte wieder in die Landschaft und entfernte mich nun schon ein gutes Stück. Fand aber, dass mein Vorsprung noch nicht groß genug sei, schlenderte also zu ihm zurück. Nun war es schon ein vertrautes Spiel. Ich ließ ihn wieder an mir rummachen und entwand mich abermals, noch weiter weg ins Gelände. Ich spekulierte auf sein Vertrauen, dass ich jedes Mal zurückkomme.

Als ich das nächste Mal noch weiter meinen Kreis in Richtung Deggendorf gezogen hatte, war mir der Abstand zwischen uns groß genug. Ich rannte los, rannte um mein Leben. Und schaute mich nicht um. Und wusste nicht, ob er mir folgt. Ich rannte und rannte und keuchte. Ich kämpfte an gegen meine wackligen Beine. Als ich die ersten Häuser erreichte, schmiss ich mich wie ein gewiefter Trapper hinter eine Gartenhecke. Ich lag da und wartete. Der große Uniformierte kam nicht hinterher, weder gerannt noch im Spaziergang. Lange lag ich so. Alles erzählte ich zu Hause meiner Mutter. Wie sie reagierte, hab ich vergessen.

Im April 1945 rollten die Amerikaner mit ihren Tanks und schweren Lastwagen durch die Gassen von Deggendorf. Ich hielt den weißen Stern auf dem Geschützturm der Panzer für den Sowjetstern und wunderte mich, dass er gar nicht rot ist. Für uns, das versteht sich, war dieser Tag der Befreiung keine Niederlage.

In der Bahnhofstraße vor unserer Haustür ein rabenschwarzer Soldat. Der GI fläzte lässig im Jeep, rechte Hand am Steuer, sein linkes Bein ließ er seitlich raushängen. Er trug einen weißen Helm der Militärpolizei. Er wurde beäugt von Zivilisten, die immer auf dem Sprung zum Rinnstein waren, um die amerikanischen Zigarettenstummel aus dem Dreck aufzuklauben. Der Ami rauchte seine Zigarette nur halb, schnipste die lange Kippe dann lässig weg und amüsierte sich über die unzivilisierten Hitlerdeutschen als gierige Kippensammler. Auch ich hatte solch eine kostbare Zigarette erwischt, die aus den Lippen des schwarzen Soldaten stammte. Ich war gut acht Jahre alt. Auf dem Klo bei Hausingers zog ich heimlich und mit Herzklopfen den Qualm der blonden Virginia-Zigarette in meine spirrlige Asthma-Lunge. Schon nach zwei, drei Zügen würgte mich ein Hustenanfall. Es kam über mich eine Übelkeit, und dann explodierte ich auch schon. Der Dünnschiss pladderte aus meinem kleinen Ärschlein in das Plumpsklo. Das ist meine drollige Erinnerung an unsere Befreiung in Deggendorf.

Ganz und gar nicht drollig aber eine andere. Emma kam an einem Abend nicht zurück in unser Zimmer. Erst spät in der Nacht öffnete sie die Tür, schwer abgekämpft. Zitternd umarmte sie mich. Erst viele Jahre später erzählte sie mir von dieser Nacht. Amerikanische Soldaten hatten sie festgenommen und in ihr Camp geschleppt. Dort traf sie noch andere junge Frauen, mit denen die GIs dringend fraternisieren wollten. Sie waren gelähmt vor Angst. Nicht aber Emma. Sie kletterte in einem günstigen Moment über einen hohen Zaun, zerriss sich dabei das Kleid, verlor einen Schuh und blutete an den Beinen. Das ist eben der Krieg, auch im Frieden.

Früher als vielleicht vernünftig, schon im August 1945, sind wir nach Hamburg aufgebrochen. Emma und ich. Mehrere Hamburger, die es auch nach Deggendorf verschlagen hatte, mieteten einen Platz auf der Ladefläche eines Lastkraftwagens mit einer löchrigen Plane. Die Passagiere zahlten mit Geld, mit Goldkette oder Brillantring für die Heimfahrt. Jeder durfte zwei Koffer mitnehmen, auf denen er auch sitzen und dösen konnte.

Wir kamen nicht weit. Nach vielleicht zwanzig Kilometern blieb das Lastauto stehn. Kaputt. Der Fahrer ging Hilfe holen und kam nicht wieder. Zum Umkehren war der Weg schon zu weit und beschwerlich. Wir standen mit unserm Laster nahe bei einem Autofriedhof. Emma kroch in eine klapprige Limousine ohne Reifen, die dort ausgeschlachtet wie ein wundes Tier lag, und schnitt sich den grauen, rippigen Stoff der Innenverkleidung aus den Türen raus. Sie nähte daraus mit der Hand eine kräftige Tragetasche. Was wir schleppen konnten, nahmen wir mit. Ich hatte den Ehrgeiz, etwas mehr zu tragen, als ich konnte. Immer in kleinen Etappen, mal mit dem Pferdewagen, mal mit einem US-Army-Laster, ging es gen Norden. Auf einer kurzen Eisenbahnstrecke eroberte ich im Gedränge den besten Platz, oben im Gepäcknetz. So erreichten wir Hamburg. Aber Hamburg gab’s gar nicht mehr.