YVONNE SCHMIDT · OLIVER SCHMIDT
125
JAHRE
KREUZFAHRT
Koehler
Ob der Mann, der heute als Visionär gefeiert wird, ahnte, dass er eine Jahrhunderterfindung macht? Für Albert Ballin war die »winterliche Verwendung ansonsten unrentabel hindämmernden Schiffsraums« (so der deutsche Kaiser) eher der Weg, die Not zur Tugend zu erklären. Ungewöhnlich an seiner Erfindung ist, dass sie fast hundert Jahre ohne große Veränderungen Bestand hatte. Während Automobil und Flugzeug, Grammophon und Radio ihre Verbreitung, Geschwindigkeit und Variationen rasch potenzierten, konnte selbst die Sendung »Das Traumschiff« der Kreuzfahrt nur zur Bekanntheit, aber nicht zum Boom verhelfen. Die facettenreiche seetouristische Landschaft, die heute vom Expeditionsschiff über Klassiker à la Ballin bis zum Megaliner reicht, entstand erst ab Mitte der 1990er-Jahre. Nicht jedes Schiff in der Geschichte wurde zum Meilenstein, der eine neue Richtung wies. Dieses Buch zeigt die Innovationen und Ideen von Ballin bis in die Zukunft, kreative Köpfe und die dazugehörigen Schiffe. Begleiten Sie die Kreuzfahrt während ihrer spannenden Zeitreise durch 125 Jahre, in denen Ballin wie so viele andere Erfinder nicht verhindern konnte, dass seine Idee auch für politische Zwecke missbraucht wurde. Geschadet hat es ihr nicht. Die Kreuzfahrt lebt – und ist mit rund zwei Millionen deutschen Passagieren pro Jahr populärer denn je.
125 JAHRE KREUZFAHRT · INHALTSVERZEICHNIS
KAPITEL 1
AUF IN DIE NEUE WELT – DIE VORLÄUFER DER KREUZFAHRTEN
KAPITEL 2
EIN STEIN KOMMT INS ROLLEN – DIE ANFÄNGE DER VERGNÜGUNGSREISEN
KAPITEL 3
GLANZ, GLORIE & PRESTIGE – DIE ÄRA DER LUXUSKREUZFAHRTEN
KAPITEL 4
GIGANTISMUS AUF SEE – DER WEG IN DEN ERSTEN WELTKRIEG
KAPITEL 5
RÜCKKEHR DER KREUZFAHRTEN – DIE GOLDENEN ZWANZIGER
KAPITEL 6
NACH DER KRISE IST VOR DER KRISE – DIE 1930ER-JAHRE
KAPITEL 7
URLAUB ALS PROPAGANDA – KREUZFAHRTEN UNTERM HAKENKREUZ
KAPITEL 8
KAMPF UMS ÜBERLEBEN – DER ZWEITE WELTKRIEG
KAPITEL 9
PHÖNIX OHNE ASCHE – NEUORDNUNG NACH DEM ZWEITEN WELTKRIEG
KAPITEL 10
DIE SPÄTEN 50ER – DEUTSCHLAND NIMMT FAHRT AUF
KAPITEL 11
UNTER HAMMER UND ZIRKEL – KREUZFAHRTEN IN DER DDR
KAPITEL 12
DIE 60ER- UND 70ER-JAHRE – MODERNE STRUKTUREN BILDEN SICH
KAPITEL 13
DIE 80ER-JAHRE – KREUZFAHRT ALS FERNSEH-HIGHLIGHT
KAPITEL 14
KEHRTWENDE ZUR KREUZFAHRT – DIE NORWAY
KAPITEL 15
MUT ZUR DESTINATION – DIE ASTOR UND IHR KAPITÄN
KAPITEL 16
DIE 90ER-JAHRE – STARTREIF FÜR DAS MASSENGESCHÄFT
KAPITEL 17
MILLENNIUM NUMMER DREI – DAS SCHIFF ALS DESTINATION
KAPITEL 18
SCHLACHTFEST ODER SEEMANNSGRAB – DAS ENDE EINES KREUZFAHRTSCHIFFES
KAPITEL 19
FÄHRE, FRACHTER, FLUSSSCHIFF – BESONDERE FORMEN DER KREUZFAHRT
KAPITEL 20
NOCH MAL 125 JAHRE – EIN AUSBLICK
125 JAHRE KREUZFAHRT
KAPITEL 1
AUF IN DIE NEUE WELT
–
DER VORLÄUFER DER KREUZFAHRTEN
125 JAHRE KREUZFAHRT
KAPITEL 2
EIN STEIN KOMMT INS ROLLEN
–
DIE ANFÄNGE DER VERGNÜGUNGSREISEN
125 JAHRE KREUZFAHRT
KAPITEL 3
GLANZ, GLORIE & PRESTIGE
–
DIE ÄRA DER LUXUSKREUZFAHRTEN
125 JAHRE KREUZFAHRT
KAPITEL 4
GIGANTISMUS AUF SEE
–
DER WEG IN DEN ERSTEN WELTKRIEG
125 JAHRE KREUZFAHRT
KAPITEL 5
RÜCKKEHR DER KREUZFAHRTEN
–
DIE GOLDENEN ZWANZIGER
125 JAHRE KREUZFAHRT
KAPITEL 6
NACH DER KRISE IST VOR DER KRISE
–
DIE 1930ER-JAHRE
125 JAHRE KREUZFAHRT
KAPITEL 7
URLAUB ALS PROPAGANDA
–
KREUZFAHRTEN UNTERM HAKENKREUZ
125 JAHRE KREUZFAHRT
KAPITEL 8
KÄMPF UMS ÜBERLEBEN
–
DER ZWEITE WELTKRIEG
125 JAHRE KREUZFAHRT
KAPITEL 9
PHÖNIX OHNE ASCHE
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NEUORDNUNG NACH DEM ZWEITEN WELTKRIEG
125 JAHRE KREUZFAHRT
KAPITEL 10
DIE SPÄTEN 50ER
–
DEUTSCHLAND NIMMT FAHRT AUF
125 JAHRE KREUZFAHRT
KAPITEL 11
UNTER HAMMER UND ZIRKEL
–
KREUZFAHRTEN IN DER DDR
125 JAHRE KREUZFAHRT
KAPITEL 12
DIE 60 ER- UND 70 ER-JAHRE
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MODERNE STRUKTUREN BILDEN SICH
125 JAHRE KREUZFAHRT
KAPITEL 13
80 ER-JAHRE
–
KREUZFAHRT ALS FERNSEH-HIGHLIGHT
125 JAHRE KREUZFAHRT
KAPITEL 14
KEHRTWENDE ZUR KREUZFAHRT
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DIE NORWAY
125 JAHRE KREUZFAHRT
KAPITEL 15
MUT ZUR DESTINATION
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DIE ASTOR UND IHR KAPITÄN
125 JAHRE KREUZFAHRT
KAPITEL 16
DIE 90ER-JAHRE
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STARTREIF FÜR DAS MASSENGESCHÄFT
125 JAHRE KREUZFAHRT
KAPITEL 17
MILLENNIUM NUMMER DREI
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DAS SCHIFF ALS DESTINATION
125 JAHRE KREUZFAHRT
KAPITEL 18
SCHLACHTFEST ODER SEEMANNSGRAB
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DAS ENDE EINES KREUZFAHRTSCHIFFES
125 JAHRE KREUZFAHRT
KAPITEL 19
FÄHRE, FRACHTER, FLUSSSCHIFF
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BESONDERE FORMEN DER KREUZFAHRT
125 JAHRE KREUZFAHRT
KAPITEL 20
NOCH MAL 125 JAHRE
–
EIN AUSBLICK
HAMBURGER HAFEN
Der Hamburger Hafen im 19. Jahrhundert. Für viele Emigranten ist er das Tor für die Neue Welt.
AUGUSTA VICTORIA
Premiere einer Kaiserin: Die erste Vergnügungsund Bildungsreise in den Orient mit dem Hapag-Dampfer AUGUSTA VICTORIA 1891 wird ein voller Erfolg.
PRINZESSIN VICTORIA LUISE
Ein weiterer Meilenstein in der Geschichte der Kreuzfahrten ist die PRINZESSIN VICTORIA LUISE, die für Hapag als erstes reines Kreuzfahrtschiff auf Fahrt geht.
IMPERATOR
Neuer Rekord: Hapags IMPERATOR gilt bis 1914 als das größte Schiff der Welt.
REVIVAL
Nach dem Krieg betätigen sich viele Reedereien wieder erfolgreich im Kreuzfahrtgeschäft.
MONTE SARMIENTO
Norwegen-Kreuzfahrten gibt es mit der MONTE SARMIENTO in den 1930er-Jahren auch für kleines Geld.
KRIEG UND ZERSTÖRUNG
Zerstörtes Schiff im Hamburger Hafen.
BRITANNIC
Der Vorkriegs-Oldie unternimmt 1957 eine 66-tägige Kreuzfahrt.
HANSEATENSTOLZ
Ab 1958 trägt die »Schöne Hamburgerin« Stadtflagge und Hanseatenkreuz in die Welt.
SPANNENDE VERGANGENHEITEN
Die VÖLKERFREUNDSCHAFT hat eine bewegte Vergangenheit: Bevor die DDR das Schiff kauft, sorgt es unter dem Namen STOCKHOLM für Furore.
WHITE STAR
»Beschwingtes« Tagesprogramm für die alte QUEEN MARY.
TRAUMSCHIFF
Das TV-Team um Wolfgang Rademann (2.v.r.) zum 30. Jubiläum der Sendung 2011.
DOCK-SHOOTING
»Schlüpfrige« Fotos in der Werft: nackte Schiffslady von unten, mit Mannschaft … (Bremerhaven, 1990).
ASTOR
Eine Weltentdeckerin sucht ihren Platz in der kleinen Kreuzfahrtlandschaft der 80er.
EUROPA
Ein Toast und »Fünf Sterne plus«: Die EUROPA punktet mit stylischen Bord-Events.
SWAROVSKI
Im Foyer der MSC SPLENDIDA führt eine Swarovski-Treppe empor.
ABSCHIED
Ein Schiff tritt seine letzte Fahrt an.
SEA CLOUD
Die Großmutter aller Segler ist 85 Jahre alt.
HURTIG, HURTIG
Die neuen Schiffe für die norwegische Reederei sind schon bestellt.
AUF IN DIE NEUE WELT – DER VORLÄUFER DER KREUZFAHRTEN
Eine Schiffsreise des Vergnügens willen ist in der langen Geschichte der Seefahrt ein noch recht junges Phänomen. Jahrhundertelang sind die Beweggründe, sich auf das oft unbekannte und unberechenbare Meer hinauszuwagen, sehr vielschichtig: von unermüdlichem Forschergeist über lukrative Handelsgeschäfte bis hin zu Krieg in den Kolonien sowie verzweifelter Armut reichen die Motive. Reisen als bloße Freizeitbeschäftigung und Unterhaltung gehört nur selten dazu. Kaum jemand ist geneigt, Seekrankheit, schlechte Verpflegung und Enge freiwillig für mehrere Wochen auf sich zu nehmen, wenn er nicht unbedingt muss. Abgesehen von mangelndem Komfort und unhaltbaren hygienischen Zuständen an Bord, stellt eine Seereise eine enorme Strapaze dar, deren Ausgang ungewiss ist. Jederzeit den Unbilden des Wetters und dem launischen Meer ausgesetzt, riskieren Reisende schließlich nicht nur ihre Gesundheit, sondern auch ihr Leben.
Daran ändert sich auch mit Aufkommen der Dampfschiffe im Laufe des 19. Jahrhunderts erst einmal nichts, die ab den 1820er-Jahren statt unter Segeln mit Schraubenantrieb über die Ozeane fahren. Was sich mit diesen größeren und schnelleren Schiffen ändert, ist der Zeiteinsatz für Seereisen. Vorher brauchte ein kleines hölzernes Segelschiff im Durchschnitt zwischen 70 und 100 Tagen für die Fahrt von Europas Küsten über den viel befahrenen Atlantik nach Amerika. Die mit eisernen Schiffsrümpfen ausgestatteten Dampfschiffe benötigen hingegen nur noch fünf Wochen oder weniger für dieselbe Strecke.
Den regelmäßigen Linienverkehr zwischen Europa und Amerika begründet die britische Cunard Line, als sie im Jahre 1840 ihren Dampfer BRITANNIA auf den Nordatlantik schickt. Dabei geht es anfangs hauptsächlich um den Transport von Post nach Übersee, bald jedoch auch um die Beförderung von Passagieren. Die nächsten Jahre folgen weitere Neubauten und Geschwindigkeitsrekorde, was die Cunard Line unter allen international agierenden Reedereien an die unangefochtene Spitze im Geschäft auf dem Nordatlantik katapultiert. Mit der BRITANNIA und ihrem Schwesterschiff CALEDONIA gewinnt Cunard das begehrte Blaue Band für die schnellste Überquerung des Atlantiks. Sicher und schnell zu sein, wird zum Markenzeichen der Reederei.
An diesem Erfolg wollen auch andere Schifffahrtsgesellschaften teilhaben, was zum Bau und Einsatz weiterer Transatlantikliner führt. So begründet die seit 1847 existierende Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft, kurz Hapag, ebenfalls einen schnellen Liniendienst zwischen Hamburg und Nordamerika, zunächst noch mit Segelschiffen. Neben der Beförderung von Fracht gewinnt das Geschäft mit Passagieren zunehmend an Bedeutung. Gegenwind aus den eigenen Reihen kommt von dem in Bremen ansässigen Norddeutschen Lloyd (NDL), der von Anfang an Dampfschiffe im Überseeverkehr einsetzt. Doch Konkurrenz belebt das Geschäft. Nebeneinander errichten Hapag und Lloyd am Hudson River in New York Piers und Passagierterminals. Für rund ein Jahrhundert bestimmen scharfer Wettkampf und Zusammenarbeit das Verhältnis zwischen den Hamburgern und Bremern.
GREAT ERSTERN
Wie kaum ein anderes Schiff symbolisiert die GREAT EASTERN den Aufbruch in das Zeitalter der Dampfschifffahrt.
EIN PROFITABLES BUSINESS
Hinter dem Linienverkehr steht eine perfekte Logistik, denn neben der Schiffstechnik müssen Fahrpläne geschrieben, Fahrgäste abgefertigt und versorgt werden. Damit bildet die Passagier-Dampfschifffahrt über den Atlantik den Vorläufer der Kreuzfahrt. So wie Letztere noch zu einem Kassenschlager werden sollte, entwickelt sich die atlantische Passagierschifffahrt ab Mitte des 19. Jahrhunderts zum profitablen Geschäft. Neben Fahrgästen, die mit den Transatlantik-Linern Familienbesuche abstatten und Geschäftliches wahrnehmen, sorgen in erster Linie Abertausende europäische Emigranten, die in der Neuen Welt ihr Glück suchten, bei den Reedereien für volle Auftragsbücher.
Deutsche Häfen bilden eine wichtige Etappe für Auswanderungswillige. Während Hapag Auswanderer von Hamburg aus in die Neue Welt schickt, fertigt der NDL Emigranten ausschließlich in Bremerhaven ab. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt sich Bremerhaven zum größten Auswandererhafen Europas mit den modernsten Hafenanlagen sowie größten Schleusen und Docks weltweit. Über 200.000 Menschen wandern jedes Jahr über Bremerhaven nach Amerika aus. Zeitweise ist die Hälfte der Bremerhavener Bevölkerung beim Lloyd beschäftigt.
Obwohl die eingesetzten Schiffe oft gut ausgestattet sind, entbehren die meisten Auswanderer anfangs jeglichen Komforts. Eingeteilt nach Klassen, genießen jene, die es sich leisten können, an Bord den Luxus großer Hotels, während Auswanderer die Überfahrt tief im Inneren des Schiffsbauchs unter teilweise menschenunwürdigen Zuständen verbringen müssen. »Masse statt Klasse« lautet das Credo; je mehr, desto besser. Bis zu 15 Personen drängen sich teilweise in einer winzigen Kabine, die sie oft nur zum Essen verlassen dürfen. Bei Wind und Wetter stehen die Emigranten in langen Schlangen an Deck um einen Teller Suppe an. Toiletten sind Mangelware; häufig gibt es nur Eimer, die bei stärkerem Seegang umkippen. Krankheiten breiten sich in Windeseile aus. Die Freude, das lang ersehnte Ziel zu erreichen, ist nicht jedem gegeben. Besonders in den Anfängen der Auswanderung endet für viele Passagiere die vermeintliche Fahrt in die Freiheit mit dem Tod.
Erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts setzen sich allmählich Neuerungen und Verbesserungen für Auswanderer durch. Viele Reedereien begreifen, dass sie Kunden nicht mehr nur mit einer schnellen, sonst aber strapaziösen und anstrengenden Überfahrt gewinnen. Komfort spielt eine zunehmend wichtige Rolle, wenn man im Geschäft mit den Auswanderern nicht hinten anstehen will. So wird die Höhe der vollgestopften Zwischendecks zunächst auf 1,72 Meter, später auf 1,83 Meter festgelegt. Außerdem soll jeder Auswanderer an Platz zumindest über die Größe eines Bettes verfügen. Die Unternehmensphilosophie im Hause Hapag sieht sogar vor, jedem Passagier ein eigenes Bett zur Verfügung zu stellen. Die Hamburger sehen die Auswanderer weniger als Menschenfracht, sondern mehr als Kunden. Überhaupt tun sich die Hamburger mit einem beispiellosen Service auf ihren Schiffen hervor. Sogar Zwischendeckspassagiere können sich täglich auf frisch gebackenes weißes Weichbrot von vorzüglichster Qualität freuen, was Konkurrenten klagen lässt, die Hapag werbe Auswanderer mit zu gutem Essen an Bord ab.
KONKURRENZ BELEBT DAS GESCHÄFT
Dominiert zunächst die Cunard Line zusammen mit der britischen Peninsular and Oriental Steam Navigation Company die weltweite Frachtbeförderung und das Transatlantik-Geschäft, holen die deutschen Reedereien in den 1880er-Jahren kräftig auf. Sowohl Hapag als auch Norddeutscher Lloyd gelangen von ihren vorher eher zweitrangigen Positionen an die Spitze der auf dem Atlantik operienden Reedereien. Ihre Flotte aus Spitzenschnelldampfern hat die nächsten Jahrzehnte Vorbildcharakter für die weltweite Schifffahrt.
Vor äußeren Einflüssen wie politischen und wirtschaftlichen Wirren sind die Reedereien aber nicht gefeit. Einen spürbaren Einschnitt in den Auswandererzahlen verursachen unter anderem der von 1861–1865 dauernde Sezessionskrieg in den USA, der kurz darauf stattfindende Deutsch-Dänische Krieg sowie der Deutsch-Französische Krieg 1870/71. Auch die deutsche Reichsgründung und der einsetzende Wirtschaftsaufschwung reduzieren speziell die Zahl deutscher Auswanderer. Deren Platz nehmen allerdings zunehmend Emigranten aus Osteuropa ein, die massenweise vor wirtschaftlicher Not, Armut und vor allem vor Judenpogromen im russischen Zarenreich fliehen.
Für die Überfahrt nach Amerika haben die Auswanderer die Qual der Wahl, denn auf der stark frequentierten Transatlantikroute verkehren zahlreiche Reedereien, die sich gegenseitig immer größere Konkurrenz machen. Neben den Deutschen sind die Briten immer noch stark vertreten. Allerdings muss Cunard Line zusehen, wie die ebenfalls britische Inman Line und die neue White Star Line kräftig aufholen und mehrfach das Blaue Band ergattern. Auch die Red Star Line aus Antwerpen sowie die Holland-Amerika Lijn aus Rotterdam schicken ihre Linienschiffe ins Rennen.
Je größer die Nachfrage, desto schärfer wird der Konkurrenzkampf geführt – und desto mehr fallen die Preise. Davon profitieren in erster Linie die Auswanderer, die eine Überfahrt nach Amerika zeitweise für nur noch 30 Taler buchen können. Für die Reedereien bedeutet dieser Preissturz allerdings Verluste in Millionenhöhe, den einige nicht überleben. Andere stehen am Rande ihrer Existenz. Auch an der Hapag geht der Konkurrenzkampf nicht spurlos vorüber.
Hier nun kommt jener Mann ins Spiel, der die Geschichte der Kreuzfahrt entscheidend ankurbeln soll. 1886 stellt die strauchelnde Hapag für die Neuordnung ihres Passagiergeschäfts den nicht mal dreißig Jahre alten Hamburger Albert Ballin ein. Der Sohn eines jüdischen Tuchhändlers beteiligt sich als Passageagent einer vom Vater geerbten Auswandereragentur vorher selbst im endlos aufreibenden Ratenkrieg. Zusammen mit dem Reeder Edward Carr transportiert er über die Carr-Ballin-Linie Massen von Emigranten zu Dumpingpreisen nach Amerika. Genau wie bei Hapag ist der Hamburger Hafen Ausgangspunkt für die Transatlantikfahrten. Nur kostet die Überfahrt bei Ballin gerade mal die Hälfte. Die Konkurrenz bringt Hapag ernstlich ins Wanken, sodass das Direktorium nur noch einen Weg sieht, sich des unliebsamen Rivalen zu entledigen: Ballin wird ins Boot geholt. Als er seinen Posten übernimmt, hätte allerdings wohl niemand gedacht, dass es der junge Unternehmer innerhalb weniger Jahre schaffen würde, Hapag in eine Reederei von Weltrang mit einer der größten Schifffahrtslinien der Welt zu verwandeln. Die Wahl Albert Ballins erweist sich nicht nur für Hapag als kluge Entscheidung, sondern für die gesamte Wirtschaftsgeschichte.
ALBERT BALLIN
Der Hamburger Reeder Albert Ballin legt den Grundstein für die Geschichte der modernen Kreuzfahrt.
(Zeichnung von C.W. Allers)