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Wie geht es der Pflege, wie den Care-Berufen? Wie ging es den Menschen vor der Pandemie, wie währenddessen? Wie kamen sie in ihren Beruf und was haben sie dort erlebt? In Protokollen fängt Frédéric Valin die unterschiedlichen Lebensläufe, Motive und Erfahrungen jener Menschen ein, die sich kümmern: Altenpfleger*innen, Erzieher*innen, Sozialarbeiter*innen, Hospizmitarbeiter*innen, Geflüchtetenhelfer*innen. Dabei entsteht ein aufschlussreiches, sehr persönliches und berührendes Bild jener Berufe; von den Aufgaben, Herausforderungen und Belastungen. Geschichten aus jenen Bereichen, vor denen die Gesellschaft allzu oft die Augen verschließt.

Frédéric Valin, geboren 1982 in Wangen im Allgäu, lebt seit einigen Jahren in Berlin. Dort studierte er Deutsche Literatur und Romanistik, bevor er begann, als Plegekraft, Autor und Kulturveranstalter seinen Unterhalt zu verdienen.

Im Verbrecher Verlag erschienen die Erzählungsbände »In kleinen Städten« und »Randgruppenmitglied« sowie der Essay »Zidane schweigt. Die Équipe Tricolore, der Aufstieg des Front National und die Spaltung der französischen Gesellschaft« als E-Book.

Frédéric Valin

PFLEGE
PROTOKOLLE

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Erste Auflage

© Verbrecher Verlag 2021

ISBN 978-3-95732-497-9

Der Verlag dankt Antonia Lesch, Lisa M. Müller und Luisa Stühlmeyer.

Inhalt

Plötzlich war Zeit da. Ein Vorwort.

Maxi

Ludwig

Nina

Nadine

Vanessa

Andrea

Collin

Cordula

Irma

Diana Henniges

Maximilian

Frida

Hannah

Mira

Yolá

Paul

Thomas de Vachroi

Till und Sofie

Klaus

Marion

Georg

Glossar

Plötzlich war Zeit da. Ein Vorwort.

Ich arbeitete bereits seit sieben Jahren als Betreuer in einer Einrichtung für Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung, als die Corona-Pandemie begann. Parallel dazu hatte ich ein Studium der Sozialen Arbeit angefangen. Ich wusste, welche Belastungen und Herausforderungen in der sozialen Arbeit und der Pflege eine Rolle spielten. Es war früh klar, dass die Pandemie die Situation für alle Hilfesysteme dieser Gesellschaft verschärfen würde; jedenfalls allen, die in diesen Hilfesystemen arbeiteten oder von ihnen abhängig waren. Unklar war allerdings, wie sehr die Gesellschaft den Belasteten zuhören würde.

Die Pandemie hat viele neue Expert*innen in den Medien hervorgebracht, Virolog*innen, Statistiker*innen, Ärzt*innen. Darunter waren jedoch kaum Pflegekräfte und Sozialarbeiter*innen. Warum eigentlich nicht? Vielleicht, weil niemanden interessiert, was sie zu sagen haben. Vielleicht aber auch, weil sie keine*r fragt. An ersterem konnte ich nichts ändern.

Was aber zweiteres anbelangt: Plötzlich hatte ich Zeit. Ich habe mich recht früh isoliert im März 2020, und ich fand diese Geschichten immer schon wichtig, die mir aus der Care-Arbeit erzählt wurden. Bis dahin hatte ich es immer vor mir hergeschoben, die Menschen aus dem Sozialen, die ich kannte, systematisch erzählen zu lassen: das war eher was für gemeinsame Kneipenabende, Dirty Talk sozusagen. Mit der Pandemie aber rückte insbesondere die Pflege in den Blickpunkt der Öffentlichkeit, und die Kneipen hatten zu: Und so saßen die Pflegenden und Sozialarbeiter*innen zu Hause mit ihren Problemen und Eindrücken und Herausforderungen.

Also fing ich an, Leute anzurufen, und diese Leute kannten immer noch jemanden, der auch etwas zu erzählen hatte; immer noch weitere Leute, denen Dinge auf der Seele brannten. Ich fing an, die Gespräche aufzuzeichnen und zu transkribieren; zunächst, um das Material zur Hand zu haben. Später, um es vielleicht in Zeitungsartikeln zu verarbeiten. Und irgendwann im Herbst 2020 entstand die Idee, aus dem Material ein Buch zu machen.

Jetzt ist es tatsächlich ein Buch geworden, das, so hoffe ich, etwas davon erzählt, wie es Care-Arbeiter*innen ergangen ist und ergeht; und das nicht nur während der Krise, die diese Pandemie ist, sondern allgemein. Die Krise der Pflege hält schon lange an, wovon einige der Texte erfahrenerer Kolleg*innen eindrucksvoll erzählen.

Ich habe versucht, Beschäftigte aus ganz unterschiedlichen Bereichen erzählen zu lassen; ambulante Hilfen, Krankenhäuser, Pflegeheime, psychiatrische Einrichtungen; Menschen, die mit sogenannten Behinderten arbeiten, mit Alten, Kindern, Geflüchteten. Menschen aus verschiedenen Regionen Deutschlands, Menschen unterschiedlichen Alters. Trotz dieses Bemühens hat dieses Buch nicht den Anspruch, ein umfassendes Bild über alle Bereiche der Pflege und der Sozialen Arbeit zu geben; tatsächlich gibt es Bereiche, die nicht vorkommen, der Strafvollzug zum Beispiel oder die häusliche 24-Stunden-Pflege. Die meisten der Befragten sind zwischen 30 und 45, und es kommen überproportional viele Leute aus Berlin darin vor. Personenbezogene Daten wie die Namen der meisten Protagonist*innen wurden anonymisiert, um ihren Schutz zu gewährleisten. Dieses Buch hat nicht den Anspruch, eine soziologische Studie zu sein – es bildet dennoch einen Teil einer Realität ab, die zu selten wahrgenommen wird.

Mein Eindruck ist, dass Pflege und Soziale Arbeit der Öffentlichkeit im Grunde fremd sind. Alle Gespräche, die ich geführt habe, sind mit Dankbarkeit und zum Teil auch Enthusiasmus angenommen worden: Alle Protagonist*innen waren froh, dass ihnen mal jemand zugehört hat. Interessanterweise waren fast alle Protagonist*innen hinterher unzufrieden mit den Texten; sie dachten, sie hätten sich besser, präziser, konziser ausgedrückt. Diese Unzufriedenheit mit dem eigenen Sprechen, dieses Unperfekte des Ausdrucks durchdringt das ganze Buch: Es ist etwas, das auch ein jahre- bis jahrzehntelanges Schweigen illustriert.

Ich bin allen Protagonist*innen dankbar, die dieses Schweigen durchbrochen haben, dieses Schweigen, das Pflege und Soziale Arbeit im Grunde immer ummantelt hat. Dieses Buch ist entstanden, weil ich Zeit hatte und sie sich Zeit genommen haben. Sie haben alle ein Risiko auf sich genommen, denn die Care-Arbeitgeber*innen sieben Whistleblower*innen zuverlässig aus. Man gilt schnell als Nestbeschmutzer*in, wenn man Kritik übt oder Missstände anspricht.

Meine Hoffnung ist, dass dieses Buch viele andere Geschichten anstößt, dass viele Menschen aus der Care Arbeit beginnen zu erzählen. Aus den Geschichten dieser Alltagsexpert*innen lassen sich Lösungsvorschläge ableiten. Dieses Buch kann ein Anfang sein, um dem Care-Diskurs mehr Gehör zu verschaffen und notwendigen Veränderungsprozessen den Weg zu bereiten.

Berlin, im August 2021

Frédéric Valin

MAXI

Maxi, Anfang 30, arbeitet in einer Geriatriestation in einer westdeutschen Großstadt.

Mein Traumberuf war eigentlich Heilerziehungspflegerin, also Behindertenhilfe. Die Ausbildung habe ich damals auch gemacht. Allerdings stirbt der Beruf immer mehr aus, weil immer mehr Krankenpflegerinnen gesucht werden, denn die dürfen mehr als Heilerziehungspflegerinnen. Ich war zwei Jahre Hauptnachtwache in einem Behindertenheim, in dem ich auch meine Ausbildung gemacht habe. Mein Vertrag ist dann ausgelaufen. Damals war das noch nicht so, dass man gleich unbefristet übernommen wurde, zumal ich Krankheits- und Schwangerschaftsvertretung war. Und ich habe gesagt: Dann mache ich weiter. In der Berufsschule wars auch so, dass ich in Medizin besser war als in Pädagogik, Pädagogik hat mir nicht so gelegen. Deswegen habe ich im medizinischen Bereich als Krankenschwester noch mal eine Ausbildung gemacht. Ich bin dann in die Innere gewechselt. Die Verhältnisse waren katastrophal rückständig.

Da hat man alles selbst machen müssen, es gab keine Sekretärin, die einem Sachen abnimmt, auch keine Blutentnahme-Damen oder Leute, die Medikamente richten. Da musste man wirklich alles machen. Ich bin dann zur Konkurrenz in ein anderes großes Krankenhaus gewechselt. Da haben wir ein Programm, in dem ich jetzt bin. Da wird alles digitalisiert, was Medikamente angeht. Es wird dann ausgedruckt und in die Kurven reingeklebt. Das ist für jeden verständlich. Das Programm denkt auch mit, und sagt: »Ja, das haben wir in der Hausliste.« Dadurch kann man viel schneller lesen, und es hilft die Medikamente zu richten. Damals, im alten Krankenhaus, habe ich drei Stunden gebraucht, weil alles handschriftlich hingeschludert war, und man konnte die Schrift vom Arzt nicht lesen und so weiter.

Im Spätdienst war ich für 16 Leute zuständig, und dann drei Stunden Medikamente richten, das geht einfach nicht. Die Versorgung war dementsprechend nicht gut, und die Kollegen waren auch ständig überfordert. Ich war damals frisch ausgelernt und konnte nicht alles wissen. Du lernst nur die Grundlagen in der Ausbildung, und musst das in deinem Fachbereich vertiefen. Wenn man nicht fragen darf, weil die älteren Kollegen überfordert sind, und man für die mitarbeiten muss, das geht an die eigene Substanz. Das konnte ich nicht mehr leisten. Ich war permanent frustriert, dann hab ich gesagt: »Ich muss gehen.«

Die Anfangszeit im neuen Krankenhaus war recht gut, aber im Endeffekt ist es genauso frustrierend. Man hat trotzdem so viele Aufgaben, dass man den Leuten nicht gerecht wird – gerade in der Geriatrie, wenn die Patienten Weglauftendenzen haben und teilweise Doppeldiagnosen mit Demenz und irgendwelchen psychischen Auffälligkeiten. Und man wird denen erst recht nicht gerecht, wenn man drei solche zusätzlich noch sehr pflegeaufwändige Leute in einer Gruppe hat … Ja, man hat zwar Helfer, aber manchmal ist das auch eher weniger als mehr.

Damals hab ich Dreischicht gemacht: Früh-, Spät-, Nacht-, jeweils eine Woche mit freien Tagen dazwischen, dann eine Woche frei. Eigentlich in Ordnung. Im Gegensatz zum alten Krankenhaus, da habe ich meistens zwölf Tage am Stück gearbeitet, danach hatte ich jedes Mal einen Tag frei plus Wochenende. Das geht an die Substanz, weil ab und zu braucht man einfach, wenn so viel Stress herrscht, einen Tag zum Ausruhen, zum Runterkommen. Mittlerweile habe ich mit meinen Vorgesetzten geregelt, dass ich nur noch Spät- und Nachtschichten arbeite, weil ich kein Frühaufsteher bin. Ich kann das nicht, ich bin dann einfach so fertig, ich wurde sogar krank, Migräne und so, weil ich das einfach nicht konnte.

So ein Dienst läuft ungefähr so ab: Ungefähr halb zwei ist Übergabe. Was ich sehr gut finde: Wir haben so Überleitungsbögen, da schreibt man alles drauf: Name, Diagnosen, Diabetes, Marcumar, irgendwelche Abgänge. Eigentlich alles. Die ersten zwei Dienste sind immer ein bisschen anstrengend, man muss die Leute kennenlernen und einschätzen und sehen, was sie machen. Ich persönlich bin so, ich kuck mir erstmal gemütlich alle Kurven an und schreib mir dann auf einen Zettel, was ich zu tun habe, wie die Leute heißen, welche Zimmernummer sie haben und was sie bekommen. Dazu kommen die Uhrzeiten. Ich neige dazu, vergesslich zu sein. Deswegen schreibe ich mir auf, was zu machen ist. Dann kuck ich mir die Akten an. Wenn ich mir alles angeschaut habe, geh ich durch jedes Zimmer und arbeite meine Liste ab: nochmal Vitalzeichen, über die Verbände drüberkucken. Auch damit ich sehe, was die gerade machen: auf dem Bett sitzen, schlafen oder welche Beschwerden da sind. Um 15 Uhr ist erste Raucherpause, mal kurz Luft schnappen, dann geht es weiter.

Von 15 bis 16 Uhr ist eigentlich auch Zeit, da kann man mal Kollegen helfen und Schülern Sachen erklären oder mit Ärzten besprechen, wenn irgendwas aufgefallen ist. Die Spätvisite fängt dann auch an, meistens haben die Ärzte noch Fragen. Um 16 Uhr fang ich an mit Zucker, Diabetes. Ab 17 Uhr gibt es dann Abendbrot, wir haben ja auch schwerkranke Leute, Apoplex-Patienten mit Schluckbeschwerden oder auch Demenzpatienten, die das kognitiv nicht mehr auf die Reihe bekommen, selbst zu essen. Dadurch dauert es eigentlich bis 18 Uhr. Dann machen wir Pause bis 18.30 Uhr, wenn es passt. Natürlich klingelt es immer wieder zwischendurch, man hat zwar Helfer, je nachdem was sie können, helfen sie halt mehr oder auch weniger.

So um 19 Uhr mach ich meinen Abendrundgang, Clexane spritzen, Antikoagulantien im Allgemeinen, manche kriegen auch Antibiosen. Noch die Betten frisch machen, Kaffeekannen leeren. Spätestens um 20 Uhr sind wir fertig, manche Helfer dürfen um 20 Uhr gehen. Dann fangen wir meistens an mit Übergabe und der zweiten Runde Dokumentation. Außer es gab einen Vorfall, das muss man gleich dokumentieren. Um 20.40 Uhr kommt der Nachtdienst, wir machen Übergabe. Wenn Zeit ist, bereiten wir nochmal Tropfen oder Medikamente für den Frühdienst vor. Nachtdienst sieht etwas anders aus, da ist es ruhig oder völlig durcheinander, je nachdem.

Ich habe das Fachgebiet Geriatrie, also 65 plus, mit typisch altersgemäßen Krankheitsbildern wie Schlaganfall mit Lähmungserscheinungen, sehr schwere Krankheitsfälle: jahrelang bettlägerig, von oben bis unten durchlöchert, mit Tracheostoma, PEG-Sonde, SPK, alles Mögliche. Wir sind keine Palliativstation, sondern akut für alte Menschen da. Aber viele kommen auch zum Sterben zu uns. Das ist oft besprochen mit den Angehörigen, wenn die Menschen schon ein gewisses Alter und Krankheitsstadium erreicht haben. Da muss der Arzt Gespräche führen, dass es nicht mehr gut wäre, viel zu machen. Dementsprechend kann man sich einigen. Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht. Kommt darauf an, wie die Angehörigen darüber denken oder wie viel die wissen, viele wissen ja nicht Bescheid. Der Arzt muss dann aufklären und auch ehrlich sein. Palliativ ist, wo Leute wirklich krank sind, oft auch onkologisch, also irgendwelche Krebserkrankungen. Manche kommen auch einfach auf Palliativstation, weil die dort meistens spezialisiert sind auf Schmerzen. Das heißt nicht, dass die nur dahin kommen, um zu sterben, sondern einfach für Schmerzeinstellungen und um onkologisch nochmal drauf zu kucken, wie man den letzten Weg angenehm machen kann. Wir bekommen nur Akut-Fälle. Der Mensch ist jetzt 99 und hat keine Lebensqualität mehr oder es macht nicht mehr viel Sinn und er darf gehen. Aber die meisten werden akut eingeliefert, mit AZ-Verschlechterung, also Allgemeinzustandsverschlechterung. Und dann kuckt man, soll noch reanimiert, intubiert, intensiv gemacht werden oder nicht. Das ist ganz grob der Unterschied.

Männer verkraften das nicht so gut wie Frauen, wenn der Partner vor einem geht. Es kommt aber auch drauf an, in welchem Alter, und wie abhängig sie sind. Die Männer kommen dann mit Versorgungsproblemen zu uns, weil die es nicht mehr hinkriegen. Das hört man oft von Angehörigen: »Vor vier Wochen ist unsere Mutter gestorben, und vor drei Wochen ist der Vater noch Auto gefahren. Und jetzt ist der aber so dement, wie konnte das passieren?« Das ist die Trauer dann.

Wir haben insgesamt 49 Betten auf Station. Das ist recht klein. Da wir Geriatrie sind, müssen wir bestimmte Anforderungen einhalten. Wir sind keine zertifizierte Geriatrie, weil uns die Küche fehlt: Kochen ist ein Angebot zum Reaktivieren von alten Personen, vor allem bei Demenz. Das haben wir nicht, weil wir ein Akut-Krankenhaus sind, die Räume fehlen uns leider. Aber wir haben ein großes Wohnzimmer. Wir sind sehr altmodisch eingerichtet, dass die Leute sich besser erinnern können, mit altmodischen Bildern oder richtig altem, schönem Radio, das man anschalten kann. Wir haben auch lange Hundebegleitung gehabt. Leider haben wir das momentan nicht im Angebot, durch Corona sind alle Gruppenaktivitäten verboten worden. Wir haben auch Demenz-Coachs auf Stationen, die uns unterstützen, und Betreuungskräfte, die nicht jeden Tag, aber an einzelnen Tagen kommen. Die kommen auf uns zu und fragen: »Wen habt ihr, wo wir mehr kucken müssen?« Um uns mehr Arbeit abzunehmen, damit wir eher das Medizinische machen können.

Den Patienten geht es bei uns, würde ich sagen, recht gut. Wir haben einmal im Jahr Schüler auf Station, da werden die beinahe verwöhnt. Da ist dann Schlüssel 1:3, also ein Schüler, drei Patienten. Da ist dann auch dementsprechend Zeit, und das genießen dann auch die Patienten.

Wir haben einen recht guten Ruf. Als Arbeitsplatz nicht, weil wir viel machen müssen, harte Arbeit. Man kann sein Geld leichter verdienen. Das ist der Grund, warum die Leute nicht zu uns kommen, und viel Personal geht. Weil es harte Arbeit ist. Man muss viel pflegen, viel lagern. Man hat viel Visite, viele Notfälle. Sterbebegleitung kann auch nicht jeder. Deswegen kommen nicht so viele, und viele gehen mittlerweile, weil es einem irgendwann so dermaßen an die Substanz geht. Ich persönlich bin momentan dabei, mich umzukucken, ich kann auch nicht länger. Viele haben Burn-out, weil es einfach viel und auch schlimm ist.

Wir bräuchten kleinere Gruppen und immer ein bis zwei Helfer. Aber das passiert nicht. Als Corona anfing, kamen die auf die Idee, dass wir Überstunden abbauen sollten. Warum? Wir hatten nicht weniger Patienten. Wir hatten Notstationen, die geschlossen wurden nur für Corona-Fälle. Dadurch musste Palliativ mit zu uns. Und Palliativ heißt: eine Fachkraft für drei bis vier Leute. Bei uns ist eine Fachkraft für zehn Leute zuständig, also offiziell, tatsächlich sind es dann zwölf. Dann sitzt sie da hinten bei ihren Leuten, wartet, bis wir mit der Arbeit fertig sind, und kommt dann angeschissen: »Ja, kann ich euch noch was helfen?«

Ich habe dafür keine Geduld mehr. Ich werd dann patzig. Und jetzt sind immer mehr Leute gegangen, dadurch wirds auch immer mehr Arbeit. Das Schlimme ist auch, dass der Stationsleiter nicht zu uns hält und auch nicht die Abteilungsleitung, aber darüber will ich jetzt nicht sprechen. Nicht, dass es irgendwie rauskommt.

Ich finde, gerade in sozialen Berufen, wenn man immer mit Menschen Kontakt hat, stumpft man irgendwann ab. Ich bin jetzt in einer Phase, durchaus recht lange, in der ich nicht so nett war, und deswegen viel Ärger von meiner Stationsleitung bekommen habe. Weil ich den Mund aufmache und sage, wie es ist. Nein, ich hol den Angehörigen keinen Kaffee. Die sind gesund und können sich selbst einen holen. Und wenn es denen nicht passt und sie zum Vorgesetzten rennen, entschuldige ich mich auch nicht. Ich krieche niemandem in den Arsch. Ich habe auch keine drei Jahre gelernt, um Arschabwischer zu sein und Bedienstete. Nein, ich bin medizinische Fachangestellte. Medizinisch spezialisiert auf Pflege. Wir schimpfen uns Pflegefachkräfte, und da lass ich mich auch nicht beim Vornamen rufen. Dafür habe ich keine Geduld mehr.

Gut, bei den dementen Personen ist das was anderes. Die nennen wir auch manchmal beim Vornamen, gerade Frauen, die alt sind und geheiratet haben, die einen anderen Namen angenommen haben. Das wissen die manchmal nicht mehr. Dann musst du die entweder mit Mädchennamen ansprechen oder mit Vornamen, sonst reagieren sie nicht.

Wenn ich mich dann mit Vornamen vorstelle, ist das für mich in Ordnung. Ansonsten bin ich Pflegefachkraft. Alle anderen werden ja auch gesiezt. Warum muss ich mich unterordnen, nur mit Vornamen vorstellen? Da fängt es schon an. Ich finde, dann hat man auch ein bisschen Distanz und die Leute haben auch mehr Respekt.

Ich muss sagen, wir haben einen echt guten Chefarzt, der ist sehr menschlich. Deswegen kommen auch viele Private zu uns, weil er viel macht für unsere Patienten und auch für uns. Der hört uns zu. Unsere Oberärzte haben alle bei uns Grundausbildung gemacht, beziehungsweise als Assistenzarzt angefangen und sich hochgearbeitet. Die waren immer gern bei uns. Mit denen kann man reden, die hören auch zu. Bei Assistenzärzten kommt es drauf an, ob sie neu sind. Klar, das ist viel für die, die haben lange studiert, vielleicht auch nicht so den Stress gehabt, und nun kommste hierhin, bist frisch ausgelernt. Da hast du erst mal Patienten, die schwer krank sind, mindestens zehn Stück davon allein auf unserer Station und dann noch auf anderen Stationen vielleicht. Dann sind die überfordert. Das dauert. Doch da sagt niemand was, wenn die gut Rücksprache halten und trotzdem nett sind. Man merkt schnell, ob sie jetzt Lust auf unsere Patienten haben oder nicht. Bei manchen merkt man, wenn sie Bereitschaftsdienst haben, dass sie nicht so gerne hochkommen und helfen, was nicht in Ordnung ist. Wenn ein Patient Schmerzen hat, man ruft die an und die sagen: »Ja, so ist das.« Nein, niemand muss Schmerzen haben, dann komm halt hoch und setz was an. Aber im Großen und Ganzen sind eigentlich alle in Ordnung. Man kann mit ihnen reden. Die hören auf uns.

Das ist nicht selbstverständlich, das ist nicht überall so, gerade Chirurgen sind arroganter.

Ich möchte momentan wieder in meinen alten Beruf. Ich möchte jetzt wieder Nachtdienst machen im Behindertenheim. Mir fehlt es, dass man für die Leute da ist, mit denen Spaß haben kann, mit denen reden und nicht nur medizinisch alles abhaken und die Menschen dabei liegen lässt, morgen ist ja wieder jemand anderes da, weil einer dann gestorben ist. Es gibt welche, die sind seit 20 Jahren dabei mit hundert Prozent. Da frage ich mich: »Wie zur Hölle machst du das?« Ich bin zwei, zweieinhalb Jahre da, und ich bin schon am Ende. Es geht darum, wie viel man selbst ertragen kann, und wie man es verarbeitet.

Von den Patienten krieg ich nicht viel mit. Ich kuck einmal rein und dann muss ich zum nächsten weiter. Viel Zeit hat man nicht, zumal man eh so viel Druck hat, dass man sich nicht jedes Mal das Gequatsche von Dementen mit Psychose geben kann.

Und dann klingelt seit den Corona-Maßnahmen das Telefon ununterbrochen, weil Angehörige neue Infos haben möchten. Das ist auch verständlich, aber bei zwölf Patienten mit jeweils drei Angehörigen die sich untereinander nicht absprechen oder verfeindet sind, was glaubst du, kommt da raus? 36 zusätzliche Leute, die Fragen haben und anrufen, dann kommen noch Ärzte, Kollegen, Sekretärin, Stationsleitung, Fachbereiche wie Röntgen, MRT; Dialyse, Echo, EKG usw. dazu, die auch Fragen haben oder Anordnungen und so weiter! Und dann kommt ein Angehöriger unfreundlich am Telefon, der nicht einmal »Hallo« sagt, und sagt einfach nur: »ISCH WILL MEI MUDDA SPRESCHE.« Da kann ich nicht so freundlich bleiben. Das sag ich halt dann: »Hey, sorry, wer zur Hölle ist Ihre Mutter? Name?« Das hört sich jetzt hart an, aber ich denke, vielen Menschen ist das nicht bewusst, was die Pflegefachkräfte alles gleichzeitig machen müssen. Man muss multitaskingfähig sein, sonst geht man unter in dem Beruf. Und das dann zwölf Tage am Stück ohne frei … Und nein, ich will kein Mitleid, sondern Verständnis! Mitleid hilft niemandem.

Wenn ich frei habe, bin ich froh, wenn ich daheim bin, weil ich einfach keine Menschen mehr sehen will.

Deswegen denke ich, in den sozialen Berufen, da müssen die Leute ja so viel Frust abbauen, weil sie ständig mit Menschen zu tun haben, daher kommt diese Kälte, diese nicht soziale Einstellung. Bei mir ist das so. Im Internet, auf der Straße oder im Fernsehen gibt es eigentlich nichts mehr, was mich groß schockt.

Mit Corona hat sich recht viel verändert, vor allem kommen keine nervigen Angehörigen mehr vorbei, die dumme Fragen stellen oder einem Nachlaufen und kucken was man macht, weil ja jetzt keiner mehr reindarf. Der Nachteil ist, gerade bei dementen Personen, wenn da die Angehörigen oft da sind, können die eigentlich recht viel abfangen. Wir haben die Patienten halt jetzt mehr an der Backe, weil die niemanden haben. Wir sind jetzt an der vordersten Front, wir sind die ersten Bezugspersonen.

Ansonsten ist es schon ruhiger. Schlaganfälle, Herzinfarkte kommen trotzdem. Als das anfing mit dem Covid, hatten wir auch eine recht große Influenzawelle bei uns auf Station. Klar, die Patienten sind ja auch Risikogruppe. Dann wurden die auf beides getestet. Und meistens kam raus, dass es nicht Covid ist, sondern Influenza. Letztes Jahr hatten wir nicht so viel. Aber vor zwei Jahren, wo die Riesenwelle war, ich war noch im alten Krankenhaus und noch in Ausbildung, da gab es teilweise ganze Influenza-Stationen.

Es gab schon ältere Kollegen, die waren vorsichtiger, aber bei uns Jungen hieß es: »Das ist auch nix anderes als Influenza.« Wir jungen Menschen mit Abwehrkräften, wir hatten nicht solche Angst. Wir hatten eher Angst, dass wir angesteckt werden und dann unsere alten Patienten anstecken. Viele haben gehofft: »Hoffentlich werde ich krank, und muss dann nicht arbeiten. Steck mich an, ich will nicht!«

Wir sollten auch Urlaub abbauen, die Heime waren ja geschlossen und die haben sich alle zweimal überlegt, ob man Menschen ins Krankenhaus schickt. Wenn die Leute zurückgekommen sind, haben die Heime gesagt: »Dann möchten wir aber auch einen Negativtest.«

Bei uns wurde nur getestet, wer Symptome gezeigt hat, glaube ich. Aber ältere Menschen haben ja oft Aspirationspneumonie, das ist so ein offensichtliches Symptom von Covid. Dadurch wurden die meisten getestet oder eben Leute, die aus dem Heim kamen, weil es da Ausbrüche gab. Bei uns war man vorsichtiger. Wir wurden aber nie getestet.

Was sich verändern muss: Das fängt eigentlich schon in den Köpfen an. In unserer Gesellschaft. Die haben uns als Arschabwischer im Kopf und als Dienstmädchen, aber das sind wir nicht. Das muss schon anfangen bei den Pflegekräften, dass man sich selbst nicht runtermacht.

Um ehrlich zu sein: Ich bin froh, nur Schwester zu sein, der Arztjob ist genauso undankbar. In meinem alten Krankenhaus haben die 24 Stunden-Dienste – zum Teil genauso schlecht bezahlt. Da ist mir mein Privatleben zu wichtig. Und dann die ganze Verantwortung, die die haben. Bei manchen frisch ausgelernten Ärzten denke ich: what the fuck. Überhaupt keine Menschenkenntnis und nix. Geld ist auch nicht alles.

Momentan arbeite ich 100 Prozent. Ich habe fünf Tage im Monat frei, wenn es blöd läuft, und da sind die Wochenenden schon drin. Manchmal komm ich mir vor wie ein Arbeitssklave. Durch die Nachtdienste hab ich aber normalerweise mehr frei. Ich muss sagen, würde ich bei einer Dreiviertel-Stelle das jetzige Gehalt kriegen, das wäre lukrativ. Das wäre was anderes.

Ich denke schon über Alternativen nach. Ich interessier mich sehr für Piercings und Tattoos, ich würde gerne Shop-Manager machen. Organisieren kann ich. Und Termine vereinbaren und Leute beraten, das mache ich ja jetzt auch. Und ein bisschen Medizin kann man da ja auch brauchen.

Wir haben viele internationale Kollegen. Unsere Stationsleitung ist aus Ex-Jugoslawien. Da macht er immer Anwerbungen, wahrscheinlich im Urlaub, und schickt dann dauernd Leute her, die schlecht Deutsch können und keine Ahnung haben von dem, was sie machen. Klar, die laufen dann mit uns mit. Uns sagt man: Man muss den Leuten jetzt zwei bis drei Jahre Zeit geben. Aber dann lass die doch die Ausbildung machen, so haben die was Richtiges in der Hand. In meinen Augen ist das eine Gefahr für die Patienten. Die haben eine rein schulische Ausbildung, und da sind die in den Standards einfach hinterher.

Es gibt auch viele gute, die sind schon etwas älter meistens, möchten jetzt hier anfangen, machen ihre Anerkennung. Aber da merkt man, die haben schon in diesem Beruf gearbeitet, die haben auch Ahnung.

Wir machen zusätzliche Arbeiten, bilden aus, kriegen dafür allerdings kein Geld, was ich nicht in Ordnung finde. Klar, wenn Schüler Interesse haben und offen sind und mit mir klarkommen – ich bin halt eine ironisch-sarkastische Person. Aber wenn man sich versteht, das mache ich gern und erklär was. Wenn jemand keine Lust hat, habe ich auch keine Lust. Oder man merkt, dass einfach nichts ankommt. Ich arbeite halt schnell, ich bin eingespielt. Die brauchen ein bisschen mehr Zeit, da lass ich die dann wursteln. An sich mach ich das gern. Vielleicht studier ich auch nochmal. Da kann ich auch rumrennen, wie ich will. Das ist ja im Krankenhaus nicht so. Ich bin tätowiert, und die Stationsleitung mag das nicht so, da hat man immer ein bisschen schlechtere Karten. Weil sie dann die Professionalität anzweifelt. Ja, klar hab ich auch Tattoos, die andere nicht sehen sollten, aber die habe ich an den Stellen, wo man sie auch nicht sieht. Ich weiß nicht, warum das ein Problem ist.

Bei religiösen Trägern werden wir gezwungen, immer noch in der Kirche zu sein. Mein Glauben hat nichts mit dem Beruf zu tun. Nur weil ich nicht in der Kirche bin, heißt es nicht, dass ich ein schlechterer Mensch bin. Das ist Heuchelei, aber so sind halt die Christen. Und mir darf gekündigt werden, wenn ich austrete, finde ich nicht in Ordnung.

Zum Ausgleich, naja. Ich zocke viel, meistens Shooter, hauptsächlich um Aggressionen virtuell rauszulassen. Das funktioniert mal mehr, mal weniger. Für mich war die Quarantäne total in Ordnung, ich bin Gamer, ich sitz ja eh nur drin und zocke. Aber es war schön, nicht so viele dumme Menschen auf der Straße zu sehen. Jetzt, wo alle wieder rausdürfen – ich wohn direkt in der Innenstadt, ich muss hier einmal um die Ecke und bin direkt in der Fußgängerzone – und jetzt wieder überall Menschen. Naja. Und niemand kuckt nach dem anderen. Rücksichtslose Ellenbogengesellschaft Deutschland. Ich gehe jetzt am Wochenende in den Zoo, immer nur Spazieren und Fahrradfahren in der Gegend hier, whäää, nee. Die Tiere machen halt glücklich, hat man was zum Ankucken.

Inzwischen hat Maxi ihre Stelle gekündigt, »es ging einfach nicht mehr«, sagt sie. Sie arbeitet jetzt als Leasingkraft.

LUDWIG

Ludwig ist pädagogische Fachkraft, er hat einen Bachelor in Erziehungswissenschaften. Er arbeitet in einer stationären Wohneinrichtung mit psychiatrischem Schwerpunkt.

Ich bin jetzt Mitte 30, hab Erziehungswissenschaften studiert. Da gab es einen starken Fokus auf Betriebsarbeit, Coaching von Mitarbeitern, Diversity-Management in Unternehmen und all so ein Quatsch. Ich habe mich aber dazu entschlossen, das trotzdem fertig zu machen.

Nebenbei hab ich schon in Werkstätten für Behinderte gearbeitet. Wenn die Mitarbeiter dort Feierabend hatten, war ich für eine Art Freizeitprogramm zuständig. Dann hab ich wen kennengelernt, der in einem Heim in Bayern arbeitet, wo ich jetzt auch bin, 30 Stunden die Woche. Ich bin da inzwischen seit ungefähr fünfeinhalb Jahren.

Ich wohne so 30 Kilometer entfernt in der Stadt, das ist ganz praktisch, weil ich eine gute Trennung habe von Freizeit und Beruf, durch diese räumliche Distanz. Bei anderen Kollegen, die hier in der Beratungsstelle arbeiten zum Beispiel, die gehen einkaufen und treffen dabei sozusagen ihre Arbeit. Das wäre mir zu anstrengend.

Unsere Einrichtung ist im Zweiten Weltkrieg gebaut worden, wahrscheinlich als Landverschickungswohnheim. Es ist nicht so ganz klar, was die da gemacht haben, da ist viel Schweigen. Nach dem Krieg hat ein Träger das Haus bekommen und ein Kinderheim draus gemacht, später wurden dort vorwiegend ältere Menschen mit psychischen Erkrankungen untergebracht. Am Anfang war das recht klassisch: Feldarbeit, den Bauern aus dem Dorf helfen bei der Selbstversorgung. Das ging ungefähr bis vor zehn Jahren. Es war ein kleines Haus mit 20 Leuten, die hier betreut wurden, und wie man so hört, wurde ein striktes Regiment geführt. Irgendwann wurde das kleine Haus abgerissen und eine größere Einrichtung mit 32 Betten in einem Wohnheim und 20 Betten in der Pflegegruppe hingestellt. Das ist kein großer Klotz, sondern einigermaßen clever gebaut.

Die Bewohner und Bewohnerinnen dort leben in Wohngruppen, mit bis zu acht Menschen. Eine der Gruppen ist geschlossen, das heißt die Leute sind faktisch eingesperrt. Ich habe einen Schlüssel und kann sie rauslassen.

Diejenigen, die dort wohnen, sind größtenteils Menschen, die wenig Geld haben. Der Wohnkomfort ist gering, es gibt Gemeinschaftstoiletten, jede Gruppe hat ein Doppelzimmer. Finde ich uncool, Leute in einem Doppelzimmer wohnen zu lassen. Bei manchen ist es glücklich, wir haben Geschwister, die wohnen gern zusammen, aber das ist die Ausnahme.

Es gibt teilweise Bewohner, die sind hier seit Jahrzehnten, eine wohnt hier schon seit 40 Jahren. Ich würde sagen, ein Drittel lebt schon seit zehn bis 20 Jahren da, zwei Drittel der Leute sind neu dazugekommen. Das Heim ist verschrien als Endstation. Beispielsweise – eine Bekannte von mir arbeitet in einem Bezirkskrankenhaus und meinte mal über einen Patienten: »Vielleicht könnte man den da in dem Heim unterbringen.« Und da meinte der Sozialarbeiter mit langjähriger Erfahrung: »So weit ist es noch nicht.« Bei uns sind also größtenteils Menschen, die langjährige Psychiatrieerfahrung haben, dadurch teilweise stark traumatisiert sind. Eine der Bewohnerinnen hat über 150 Aufenthalte in der Psychiatrie hinter sich. Die erzählt richtig üble Geschichten »von früher«. Wenn man Stress gemacht hat in den 90ern, war das noch so: Heizkörper, Handschellen, fertig. Es gibt auch einen, der kommt aus einem anderen Wohnheim, der ist dort rausgeflogen. Die hatten eine Kammer, in die sie eingesperrt wurden, die nannten das ganz nett »Panikraum«.

Bei vielen merkt man, was mit den Leuten gemacht wurde in früherer Zeit bei Not- und Problemlagen: ans Bett fesseln, in die Kammer sperren, nicht adäquat reagieren und Hilfe bringen, sondern Polizei, Handschellen, Psychiatrie. Das ist oft nicht schön abgelaufen, auch weil die Leute hier oft multimorbid sind, also eine geistige Behinderung oder eine Intelligenzminderung haben mit einer psychischen Erkrankung gemischt.

Das Alter geht von Ende 30 bis fast 80 Jahre. Es wird ein Gesamtplanverfahren gemacht, die Leute gelten irgendwann als behindert, halt vorwiegend aufgrund der chronischen psychischen Erkrankung, die ihnen angedichtet wird. Ich finde das schwierig. Wenn ein Hausarzt die Überweisung für die Psychiatrische ausschreibt, steht bei 30 Prozent einfach Schizophrenie drauf. Und wenn man die dann sieht, merkt man halt: Okay, das hat auf jeden Fall individuell ganz andere Auswirkungen für die Einzelnen. Die Diagnose hilft den Betroffenen nicht immer.

Die Leute sind auch einfach sehr unterschiedlich. Jemand, der ganz viele böse Stimmen gehört hat in seinem Leben, sich deswegen in den Kopf geschossen und überlebt hat und jetzt Folgeerscheinungen hat. Oder ein anderer, der einfach sehr, sehr viele verschiedene Drogen genommen hat und jetzt beim Duschen nicht mehr die Reihenfolge von Wasser, Shampoo, Wasser, Handtuch, Kleidung hinbekommt. Es sind sehr unterschiedliche Krankheitsbilder. Bei den allermeisten ist es so, dass sie sehr lange in der Psychiatrie waren. Dann gelten die irgendwann als austherapiert.

Bei uns gibts schon einen subtilen Arbeitszwang. Was tun zu müssen, schwingt immer mit. Ungefähr ein Viertel der Menschen hier geht in eine Werkstatt, einer hat einen Außenarbeitsplatz bei einer richtigen Firma. Die anderen können in die Holzwerkstatt gehen, da wird gebastelt und so, und es gibt einen zweiten Raum, da gibt es ein Arbeitsangebot einer Elektrofirma. Da heißt es: »Hier sind 300 grüne Lampen, 300 rote und 300 gelbe, und jetzt macht ihr 10 grüne, 10 gelbe und 10 rote in eine Tüte und dann tackert ihr die zu, dann immer 100 Stück in einen Karton, und dann wird der Karton zugemacht, und immer zehn Kartons mit hundert Stück in einen größeren Karton. Und dann schickt ihr uns das zurück.« Da wird schon so eine Art Arbeitsleben simuliert, aber auf sehr reduzierter Ebene. Also: eine Dreiviertelstunde Arbeit, dann eine halbe Stunde Pause, und nochmal eine Dreiviertelstunde Arbeit und danach gibts Mittag.

Teilweise helfen die Leute im hauswirtschaftlichen Bereich und putzen oder gießen im Garten die Rosen oder mähen den Rasen. Aber es gibt Leute, bei denen halt gesagt wird: »Der ist jetzt 68 Jahre alt. Er hat sein Leben lang als Koch gearbeitet, jetzt ist er sehr depressiv, und wenn er gerade nicht arbeiten kann, kann er nicht arbeiten. Wenn er jeden Mittag den Essenswagen vom anderen Ende der Einrichtung holt, dann ist schon viel gemacht und es ist cool, dass er es macht. Und dann schaun wir mal, ob er noch ein bisschen mehr machen will.« Aber er wird glücklicherweise nicht mehr gezwungen Elektroteile zu sortieren, zum Beispiel.

Es wurde auch schon versucht, Leute bei der Gemeinde unterzubringen. Aber das Klientel ist größtenteils zu schwach, als dass man sagen könnte: »Du läufst mit den Mitarbeitern vom Bauhof mit und streichst die Bushaltestelle im Ort.« Das wäre nur mit einem Aufwand möglich, den sich die Gesellschaft nicht leisten kann beziehungsweise will. Es gibt einfach zu wenig Betreuungspersonal und Wille und Geld und Möglichkeiten, geeignete Arbeitsplätze zu schaffen. Wenn die Leute hier sind mit Mitte 50, ist es utopisch, wieder auf den Ersten Arbeitsmarkt nach jahrelanger Abwesenheit zu gelangen. Teilweise sind die Menschen auch stark hospitalisiert, da wieder in ein Leben in der eigenen Wohnung zu ermöglichen, ist sehr schwer.

Das Ziel ist immer, die Bewohner wieder zurück in die Gesellschaft einzugliedern. Das ist bei allen Maßnahmen so, wenn man noch nicht in der Pflege ist. Man muss den gleichen Integrations-Fragebogen ausfüllen, ob die Person jetzt 80 Jahre alt ist oder Ende 30. Im Endeffekt, wenn die Heimaufsicht vom Landratsamt vorbeikommt, machen die uns kaum Stress, obwohl in den letzten zehn Jahren wenig Leute von dem Wohnheim weg in offenere Wohnformen gewechselt sind. Das wäre eigentlich der gedachte Weg. Aber ich hab vor zwei Jahren mal gekuckt, da gab es in diesem Regierungsbezirk keine Strukturen für Antragstellende. Größtenteils ist dieses Angebot in dieser Region nicht angekommen, zumindest nicht für dieses Klientel. Und so wird es auch wenig von staatlichen Stellen oder Wohlfahrtsorganisationen angeboten.

Was es tatsächlich noch gibt, ist Wohnen in Gastfamilien, aber das ist den meisten Leuten unangenehm. Es gelingt nur in sehr seltenen Fällen, jemanden rauszuvermitteln.

Wir sind eine stationäre Wohnform, bei uns sind 24 Stunden am Tag betreuende Menschen da und wach. Und wenn Leute mitten in der Nacht kommen und sagen: »Ich habe Angst, dass die Polizei kommt und mich verhaftet, dass ich hier rausgeschmissen werde, dass ich ins Krankenhaus muss«, dann ist wer da, um sie zu beruhigen.

Eigentlich sollen wir vermitteln. Aber potenziell läuft es genau andersherum. Die Leute schaffen es in anderen Bereichen nicht mehr, kommen zu uns und haben dann eine Art Sicherheit, dass sie in diesem Wohnheim bleiben können. Dass sie nicht mehr rausfliegen und sich ihren Lebensmittelpunkt aufbauen können.

Leute mit Geld sind eher nicht im Wohnheim, weil das sehr stark auf diese staatlichen Hilfen zentriert ist, die suchen sich andere Dinge wie private Krankenstationen im Bezirkskrankenhaus. Bei uns ist es halt so: »Okay, austherapiert, kann nicht lesen, fertig. Brauchen wir nicht mehr, kommt da hinten ins Heim, ist auch gut so, kuckt keiner.« Viele hier haben Erfahrungen mit Drogen gehabt und wenn man Umfragen macht, findet eine Mehrheit in der Gesellschaft halt, die seien selbst schuld. Behindertenfeindlichkeit trifft meiner Meinung nach Personen mit psychischen Erkrankungen nochmal mehr, weil wenig Wissen über und viel Angst vor diesen Menschen in der Mehrheitsgesellschaft mitspielt.

Das ist auch immer wieder Thema in der Einrichtung selbst, wenn darüber geredet wird, wie Menschen mit ihnen in der Öffentlichkeit umgehen. Ein Beispiel: Bei einem Ausflug auf einem Schiff kommt es vor, dass die anderen Fahrgäste von unserer Gruppe abrücken, uns meiden. Es ist schwierig, dann Leute von außerhalb kennenzulernen.

Einer hat ein Auto, das benutzen auch ein paar der anderen. Sie fahren durch die Gegend und besuchen Konzerte oder machen bei einem Schlager-Internetradio mit. Andere kennen noch Leute von dort, wo sie aufgewachsen sind, und bleiben mit denen über SMS in Verbindung, bekommen Besuch und haben guten Kontakt zu ihren Angehörigen, teilweise vielleicht sogar zu guten, das heißt, manchmal sind die Angehörigen auch etwas überfürsorglich. Wir haben eine Mutter, die ruft ihre Tochter mehrmals am Tag an, um zu schauen, ob alles in Ordnung ist. Die Tochter hat Angststörungen und denkt immer, sie hätte etwas falsch gemacht. Sie bespricht dann alles mit ihrer Mutter, und die Mutter bringt da ein bisschen die Ruhe raus. Es gibt aber auch Leute, da ist der Kontakt zu allen gekappt. Komplett Isolierte gibts jedoch eigentlich nicht. Es gibt immer noch den Bruder, der zum Geburtstag ein Paket schickt, einmal im Jahr vorbeikommt und an Weihnachten anruft.

Wir sind ein Team von zwölf Personen, da gibt es Altenpfleger, Heilerziehungspfleger, Krankenpfleger und einen Psychologen, das ist gesetzlich vorgeschrieben, und es gibt einen Sozialarbeiter und einen Heilpädagogen. Keine einzige Person hat eine spezielle Ausbildung für die Zusammenarbeit mit psychisch kranken Menschen. Bisschen Fortbildung und learning by doing. Was mach ich aber, wenn eine Person zu mir kommt und denkt, sie hätte alles falsch gemacht? Tja, das muss ich dann selbst rausfinden.

Wir hatten früher eine Sozialdienstleitungsebene, jetzt nicht mehr, jetzt ist es so, dass man abarbeitet, was gerade so ansteht. Und je nachdem, wie die Leute gepolt sind, packt man sie am Sonntag ein und fährt mit ihnen auf den Flohmarkt, oder wenn der Altenpfleger da ist, wird halt Körperpflege gemacht, Fingernägel geschnitten und lackiert, mal der Bart gestutzt und so. Das läuft durch die Multiprofessionalität des Teams einigermaßen gut. Wobei man sagen kann, unser Träger ist nicht der beste Arbeitgeber, man bekommt anderweitig wesentlich mehr Geld, und das Heim liegt auch nicht sehr zentral. Dadurch ist der Personalmangel hier ständig Thema, also springt man auch viel ein. Der Hausmeister macht Therapieangebote und es gibt den hauswirtschaftlichen Bereich, die setzen sich nachmittags auch hin und machen mit den Leuten Gymnastik, gehen spazieren, plaudern oder stricken gemeinsam.

Teilweise haben die Leute externe Psychiater oder Psychologen, zu denen sie regelmäßig hingehen für Gespräche. Allerdings ist völlig klar, dass wir hier in einem Landkreis sind, der psychiatrisch unterversorgt ist. Wenn jemand sagt: »Ich seh die ganze Zeit schwarze Fliegen«, wird erstmal die Psychiaterin angerufen, die kommt irgendwann vorbei. Es ist aber durchaus so, dass Probleme auftreten, aufgrund von pädagogischer Unfähigkeit, Personalmangel oder strukturellen Missständen, die die Leute unangenehm werden lassen oder aus Sicht des Betreuungspersonals »nervig«. Dann wird beim Psychiater angerufen und gesagt: »Der Mensch ist so und so.« Und daraufhin heißt es: »Okay, Haloperidol. Wenn er nicht ruhig wird, dann einfach nochmal anrufen.« Das wird so gemacht.