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Mirjam Wyser

 

Acello

und das

alte Museum

 

 

 

Jugendbuch

Ein Buch aus dem FRANZIUS VERLAG

 

Cover: Simone C. Franzius

Bildlizenzen: Panthermedia

Korrektorat/Lektorat: Petra Liermann

Verantwortlich für den Inhalt des Textes ist die Autorin Mirjam Wyser

Satz, Herstellung und Verlag: Franzius Verlag GmbH

 

ISBN 978-3-96050-219-7 (E-Book)

 

Alle Rechte liegen bei der Franzius Verlag GmbH

Hollerallee 8, 28209 Bremen

 

Copyright © 2021 Franzius Verlag GmbH, Bremen

www.franzius-verlag.de

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

 

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Inhalt

Nula

Die fremde Frau

Flug ins wirkliche Leben

Atze, der Teppichdieb

Besuch in einem Tempel

An einem anderen Ort

Professor Cello forscht

Chili, das neue Pferd

Uwe und Chili

Die Kristallhöhle

Computer gehackt

Ein eigenartiger Anruf

Die alte Kirche

Der alte geheimnisvolle Mann

Die Schriftrolle

Das alte Museum

Federleicht

Der fliegende Teppich

In der Wüste

Nula, eine Göttin

Die Verwandlung

Ein Wunsch frei

Flug zum Eremiten

Am anderen Morgen

Dem Geheimnis auf der Spur

Im Tempel der Weisheit

Das schwarze Auto

Eine liegende Acht

Über die Autorin Mirjam Wyser

Weitere Werke der Autorin Mirjam Wyser

Novitäten 2021/2022 im Franzius Verlag

 

Nula

 

Irgendwo auf dieser Welt passieren immer wieder Dinge, für die Menschen keine Erklärung finden, so sehr sie sich darüber auch den Kopf zerbrechen. Daran wird sich wahrscheinlich auch nichts ändern. Auch in diesem Buchwerden Geheimnisse erzählt, die in keinem Buch geschrieben stehen! Diese Geschichte spielt in der Welt der Fantasie. Es geht darin um Abenteuer magischer Wesen und verlorene Träume.

In einem heißen Land an einer schönen Küste liegt ein Ort, an dem die schönsten Teppiche geknüpft wurden. Die Teppiche wurden im Basar, in Zelten, Häusern und Palästen aufgehängt und auf dem Boden ausgebreitet. Geknüpft wurden sie aus feinsten Wollfasern und zum Teil sogar aus Goldfäden. Bis heute sind sie noch in Kirchen und im Möbelhaus gleich um die Ecke zu bewundern und zu kaufen. Von den Alten wird auch heute noch erzählt, dass einst ein Geschichtenerzähler einen besonderen Teppich besaß, mit dem er durch die Lüfte fliegen konnte. Für viele Menschen hörte sich das nach Hokus Pokus an. Niemand hatte den Geschichtenerzähler wirklich jemals mit einem fliegenden Teppich gesehen. Er konnte auch nicht verraten, wer dem Teppich die Kraft verliehen hatte, fliegen zu können. Trotzdem erzählte er die Geschichte immer und immer wieder bis ins kleinste Detail. Manchmal rollten ihm dabei Tränen über das Gesicht: Die einstige Besitzerin musste eine wunderschöne Frau gewesen sein. Auch ihre Liebenswürdigkeit war einmalig gewesen. Wer sie einmal gesehen hatte, konnte sie ein Leben lang nicht mehr vergessen. Auf hinterhältige Art war ihr der Teppich gestohlen worden. Eigentlich hatte der Dieb den Teppich wieder zurückbringen wollen, doch er fand die Teppichknüpferin nicht mehr. Der Teppichdieb war im Leben nie mehr glücklich geworden. So zogen die Jahre ins Land.

Doch eines Tages war auch der Geschichtenerzähler verschwunden. Und so weiß heute niemand mehr: Gab es den Geschichtenerzähler mit seinem fliegenden Teppich wirklich oder ist alles nur ein Märchen? Doch die Geschichte ist geblieben, denn die Kinder wollen sie immer wieder hören. Und da sich das Rad des Lebens weitergedreht hat, bekam die Geschichte ein neues Kapitel. Aber hört selbst, was erzählt wird:

Eines Tages leuchtete zwischen den Sternen ein silberner Schimmer auf. Wer in den Sternen lesen konnte, der wusste, dass eine Göttin auf Erden geboren worden war. Der Mond stand hoch am Himmel und war zu Silber geworden. Ein lieblicher Gesang ertönte in der Himmelswelt, weit über den ganzen Himmel hinaus. Von den Mondstrahlen fortgetragen, berührte der Gesang alle Dinge auf Erden und gelangte zu den Orten, wo die Menschen schliefen. Er drang durch die Fenster, erleuchtete die im Schlaf versunkenen Gesichter, die nicht merkten, dass in dieser Nacht das Lied des Lichtes zu ihren Seelen sprach. Einige Menschen lächelten im Schlaf, denn sie wussten, dass in dieser Nacht ein besonderer Mensch geboren worden war. In dieser Nacht hörte man in einem vornehmen Haus das Weinen eines kleinen Mädchens, das gerade auf die Welt gekommen war. Das Haus mit Garten lag am Rande einer Stadt. Nachdem man eine lange Treppe hinaufgestiegen war, erreicht man ein Tor, umgeben von vier mächtigen Säulen, dahinter schimmerte es grün von einem Garten. Es war ein Bilderbuchhaus, wie man es in Reisebroschüren findet, und verblüffend war, dass es so ein wunderschönes Haus mit prächtigem Garten wirklich gab. Neun Stufen führten hinauf zu dem massiven Tor. Rechts davon war ein außergewöhnlich schöner alter Klingelzug. Der Anblick war wirklich groß und herrlich.

Die alte Hebamme rief: »Es ist da!«

Ein Kinderschreien erfüllte den Raum. Die Tränen der Engel waren mit diesem Kind auf der Erde angelangt. Die neu angekommene kleine Erdenbürgerin wurde in die Arme genommen!

»Willkommen, kleine Prinzessin!« Die Freude bei den Eltern war groß. Das Mädchen bekam den Namen Nula.

Nula hatte bei der Geburt auf Erden vergessen, dass sie eine Göttin war. Sie wuchs zu einem schönen jungen Mädchen heran. Doch je älter sie wurde, desto mehr kam ihr die Erdenwelt vor wie eine Truhe, in die sie hineingesteckt worden war, mit einem Deckel darauf, der sie alles vergessen ließ. Doch hob sich einmal der Deckel, flog sie wie ein Vogel durch die Traumwelt. Deshalb hatte sie immer viele schöne Träume und konnte viele besondere Geschichten erzählen. Es fehlte ihr im Leben an nichts. Doch nur selten durften sie und ihre Mutter das Haus verlassen. Immer dann, wenn der Vater auf Reisen war, gingen sie auf den Markt unter die Menschen.

Ihre Mutter liebte ihr Mädchen über alles. Sie hatte seidiges Haar, einen geschmeidigen Körper, der sich wie ein Halbmond beim Gutenachtkuss über Nula beugte. Sie fühlte sich unter ihrem Schutz so sicher, als könne kein Unheil sie jemals treffen.

 

Eines Tages vernahm Nula hinter der Schlafzimmertür ihrer Mutter ein Wimmern, Stöhnen und Husten. Das Hausmädchen hatte den Auftrag, Nula von ihrer Mutter fernzuhalten. Es tat Nula in der Seele weh, ihre Mutter leiden zu hören. Noch elender fühlte sie sich, weil sie von ihr ferngehalten wurde. Doch es gelang ihr trotzdem, durch den Spalt der angelehnten Türe ins Zimmer zu schauen. Sie sah ihre Mutter mit geschlossenen Augen, voller Schmerz und mit Schweißperlen auf der Stirn. Plötzlich öffnete sie die Augen, winkte Nula zu sich und nahm ihre Hand.

»Ich werde kämpfen!«, versprach die Mutter. Ihre Stimme klang zittrig unsicher und gebrochen. Nula legte den Arm um sie und legte ihren Kopf auf ihren Körper.

»Es tut mir leid, dass ich dir so viel Kummer mache!«, flüsterte die Mutter.

Dann ging alles sehr schnell. Die Mutter verließ die Erde und kehrte in die Himmelswelt zurück. Das war der schlimmste Tag in Nulas jungem Leben. Es fühlte sich an, als würde ihr Herz aus dem Körper herausgerissen.

Immer wieder wünschte sie sich die Zeit mit ihrer Mutter zurück. Doch das Rad des Lebens lässt sich nicht rückwärts drehen. Ihrer Mutter hatte sie immer all ihre wunderbaren Träume erzählen können. Doch nach ihrem Tod wurde alles anders. Sie wurde nur ausgelacht, als sie von ihren Träumen erzählte. Sogar der Vater verbat ihr, von ihren Fantasien zu sprechen. Je älter sie wurde, umso weniger beachtete sie ihre Träume. Für die Bediensteten war sie einfach die Tochter eines reichen Kaufmanns. Etwas weltfremd, weil sie das wirkliche Leben nicht kannte. Die Einzige, die Nula verstand, war die Köchin. Doch vor allem liebte es Nula, wenn sie vom Leben außerhalb ihres Palastes erzählte.

Nula wurde zum schönsten Kind unter der Sonne. Da der Kaufmann so große Angst hatte, dass seiner Tochter etwas zustoßen könnte, ließ er sie Tag und Nacht von seinen Dienern bewachen. Von Monat zu Monat wurde ihr der Palast, in dem Nula wohnte, mehr zum Gefängnis. Nula wurde immer trauriger. Sie liebte die Menschen und wünschte sich so sehr, einfach ein ganz gewöhnliches junges Mädchen zu sein und sich unter den Menschen bewegen zu können. Ihr Vater predigte immer, wie sehr er sie liebe und deshalb vor der bösen Welt schützen wolle. Doch für Nula war das keine Liebe, sie fühlte sich nur noch als Gefangene in einem wunderbaren Haus mit einem noch schöneren Garten.

Besuch bekam sie nur von den Vögeln. Alle Vögel der Welt, bekannte und unbekannte, hatten Nula während all der Jahre immer wieder besucht! Dabei erzählten sie Nula von der großen weiten Welt. Lange war ihr nicht bewusst, dass nur sie die Sprache der Vögel verstehen konnte.

 

An einem strahlenden Tag hatten sich in ihrem Garten wieder alle Vögel versammelt, da spürte sie, dass bald etwas Unerwartetes passieren würde. Kurz darauf flogen alle wieder in die weite Welt hinaus. Nula fühlte sich einsam und verlassen. Sie hoffte so sehr, dass es bald eine Veränderung in ihrem Leben geben würde. Doch vorerst geschah gar nichts. Wenn Abend für Abend die Sonne untergegangen war und der Mond hoch und hell leuchtend am Himmel stand, fühlte sie sich immer trauriger, weil wieder ein Tag vergangen war, den sie nur mit Herumsitzen verbracht hatte. Zum Zeitvertreib begann sie, einen wunderbaren Teppich zu knüpfen. Damit man ihn unter allen Teppichen erkennen konnte, knüpfte sie ein besonderes Muster aus Goldfäden und ihre Initialen, die Abkürzung ihres Namens, hinein. Sie sprach beim Entstehen immer mit dem Teppich. Heimlich wünschte sie sich beim Knüpfen, dass ihr Teppich ein fliegender Teppich werden würde, dann hätte sie davonfliegen können, um die Welt kennenzulernen.

Andere Göttinnen, die im Himmel wohnten, sahen aus dem Himmelsfenster hinunter und hatten Mitleid mit Nula. Doch sie hatten nicht nur Erbarmen, denn sie wussten auch, dass Nula mit einer Botschaft auf die Welt geschickt worden war. Sie berieten lange, wie sie die Gefangene befreien könnten. Dann hatten sie die erleuchtende Idee. Eines Tages war Nulas Vater wieder auf Reisen. Die Diener mussten hoch und heilig versprechen, seine geliebte Tochter keinen Augenblick aus den Augen zu lassen, damit ihr ja nichts passieren konnte. Immer wieder bat Nula den Vater, ihn auf seinen Reisen begleiten zu dürfen. Doch davon wollte er gar nichts wissen. Er wurde sogar richtig wütend, als sie nicht aufhörte zu bitten, ihr die Welt außerhalb des Palastes mit Garten zu zeigen. Es kam zu einem großen Streit. Nula wollte weglaufen, doch der Vater hielt sie am Arm zurück.

»Sieh mich an, sieh mich genau an, meine Tochter. Ich verbiete dir, dieses Haus zu verlassen!«

Nula riss sich von ihm los und stürmte aus dem Salon. Unter ringenden Tränen zog sie sich in ihr Zimmer zurück. Sie war so enttäuscht über die Sturheit ihres Vaters! Sie legte sich in ihr wunderschönes Bett mit seidenen Kissen, zog die Decke über den Kopf und weinte bitterlich. Neben dem Bett hing eine goldene Schnur, an der sie ziehen konnte, damit die Diener kamen. Aber sie wollte gar nicht bedient werden. Im Schrank hingen viele schöne Kleider und zu essen bekam sie auch nur das Beste, serviert auf silbernen Tellern. Trotzdem wollte sie nur ein ganz normales Mädchen sein, das mit den anderen Kindern in die Schule ging. Das schöne Leben wurde ihr zu langweilig. Was nützten ihr die schönsten Kleider, wenn niemand sie sehen konnte? Was nützte das beste Essen, wenn sie keinen Hunger mehr hatte?

Nula lag lange im Bett und konnte nicht einschlafen. Sie wünschte sich so sehr, dass bei ihrem Aufwachen am Morgen ein Wunder geschehen wäre und alles anders sein würde. Noch bevor Nula trotz allem einschlief, murmelte sie vor sich hin: »Ich bin ich, ich muss selber meinen Weg gehen! Stein um Stein muss aus diesen Mauern gebrochen werden, jeden Tag einer, bis ich mich frei bewegen kann! Ich will dieses Prinzessinnenleben nicht mehr!« Dann war sie eingeschlafen und träumte.

 

Früh am Morgen verließ der Vater ohne Abschied das Haus und begab sich wieder auf Geschäftsreisen. Ganz spurlos war der Streit mit Nula auch nicht an ihm vorbeigegangen. Doch für ihn war klar, dass er keinen Millimeter von seiner Meinung abweichen und Nula aus dem Haus lassen würde. Vielleicht wenn sie einmal verheiratet wäre, doch zurzeit war sie einfach noch viel zu jung. Er würde ihr ein schönes Geschenk mitbringen, danach wäre alles wieder in bester Ordnung, dachte er sich.

Als Nula am Morgen aus dem Schlaf erwachte, hoffte sie auf eine blitzschnelle Wendung. Sie konnte sich an ihren Traum erinnern. Ein wunderbarer Vogel hatte ihr darin das Tor zur Freiheit geöffnet.

Von da an ließen sie die Gedanken an Freiheit gar nicht mehr los. Doch der Morgen verlief zu ihrer Enttäuschung wieder wie gewohnt langweilig. Nula bekam Schulunterricht von ihrer Hauslehrerin. Sie hatte Bücher und Hefte aus der Mappe hervorgeholt und Nula sollte lesen und schreiben. Doch diese zeigte kein Interesse. Saß steif wie eine Statue auf dem goldig verschnörkelten Stuhl und stellte sich bockig. Sie verspürte keine Lust, etwas zu lernen. Wieso sollte sie lernen, wenn sie in diesem Käfig leben musste? Viel lieber würde sie mit anderen Kindern in die Schule gehen und auf dem Schulhof herumspringen, plaudern und das mitgebrachte Pausenbrot essen. Auch die Lehrerin war froh, als der Morgen vorbei war. So ein störrisches Benehmen kannte sie von Nula nicht. Am Mittag gab es wieder das beste Essen, doch Nula weigerte sich, überhaupt etwas zu essen.

Die Diener steckten die Köpfe zusammen und beschwerten sich über Nula: »Das Kind ist so verwöhnt, hat alles und ist trotzdem nicht zufrieden!«

Nur die Köchin verstand Nula und polterte los: »Sie ist ein Mädchen mit traurigen Augen. Ich wünschte ihr, sie könnte mit einem fliegenden Teppich davonfliegen. Die Arme lebt doch wie in einem Gefängnis!«

Am Nachmittag ging Nula wieder in den prächtigen Garten. Die Sonne schien warm, die Blumen blühten und Vögel zwitscherten lustig. Doch Nula blieb den ganzen Nachmittag traurig. Plötzlich kreiste der wunderbare Vogel aus ihrem Traum über dem Garten. Sie schaute ihm eine Weile zu: »Schöner Vogel, ist das ein Zeichen, ein Omen, dass du mich besuchst? Sprich mit mir, schöner Vogel!«

Doch der Vogel blieb stumm, er krächzte nicht einmal.

 

 

Die fremde Frau

 

Beim Sonnenuntergang zog jemand kräftig an der Klingel! An diesem Tag umspannte ein Leuchten den Himmel. Erst nach mehrmaligem Klingeln öffnete ein Diener das schwere Tor. Er fühlte sich ein bisschen wie der Hausherr, und so schaute er die unbekannte Frau grimmig an. Es war eine vornehme Dame und sie trug Kleider, die der Diener zuvor noch nie bei einer Frau gesehen hatte.

»Was willst du zu später Stunde? Ich kenne dich nicht und niemand hat dich erwartet, geschweige denn eingeladen!«, schnauzte er die Fremde an.

»Ich habe eine wichtige Nachricht für Nula!«, bekam der erstaunte Diener zur Antwort.

»Für Nula?«, fragte er erstaunt. »Noch nie ist jemand gekommen, der eine Nachricht für Nula hat!«, antwortete er barsch.

»Einmal ist immer das erste Mal! Es ist wirklich wichtig! Bitte lass mich ihr die Botschaft überbringen!«, wiederholte die Fremde. Der Diener wägte ab, wie er sich verhalten sollte. Die Furcht, etwas Falsches zu tun, war groß. Die fremde Frau hakte nochmals nach. »Bitte lass mich nur ganz kurz zu ihr. Die Nachricht ist wirklich kurz, ich bin schnell wieder weg! Versprochen!«, bat sie eindringlich.

Eigentlich wollte er sie nicht hereinlassen. Er befürchtete, mächtigen Ärger zu bekommen. Doch es war, als wäre er seiner Sinne nicht mehr Herr. Es fühlte sich an, als ob er verhext worden wäre und nun funktionierte wie ein Roboter. Nach langem Hin und Her ließ er die Frau dann doch noch eintreten.

»Also gut, komm herein! Ich gebe dir fünf Minuten!«

Der Diener führte die fremde Frau in den Salon, auf dem Boden lagen kostbare Teppiche. Von hier aus konnte man über den Garten auf der Rückseite des Hauses blicken. Breite farbenprächtige Blumenrabatte säumten den perfekt gepflegten Rasen bis hin zu einer Reihe von erhabenen Bäumen. An einem kleinen Teich mit Wasserlilien sah sie Nula sitzen.

»Sie ist wirklich wunderschön! Kein Wunder, dass der Vater sie vor der Welt verstecken will!«, murmelt die fremde Frau vor sich hin.

Nula saß tief in Gedanken versunken auf einem wunderbaren Teppich, den sie während der letzten Jahre selbst geknüpft hatte. Der Diener kam zu ihr und flüsterte ihr die Bitte der Frau ins Ohr. Nula konnte kaum glauben, dass sie jemand besuchen wollte. Neugierig stand sie auf. Wer sie wohl zur späten Stunde sprechen wollte? Nulas Nervosität war nicht zu übersehen.

Die fremde Frau war absolut begeistert von Nula und dem blühenden Garten und sprach: »Dein Garten ist schön wie du, aber du siehst nur, was du in deinem Palast sehen kannst. Deinem Garten fehlen das Glück aus deinem Herzen, das goldene Wasser und der singende Baum. Es ist der Weltenbaum, der blühen sollte. Gehst du in die Welt hinaus, wirst du alles finden. Doch die Welt da draußen ist nicht nur schön, das musst du wissen. Wenn du das Tal der Suche betrittst, werden dir hundert Schwierigkeiten entgegentreten. Das hat dir auch dein Vater gesagt. Auf die Vögel, welche dich immer besucht haben, musst du verzichten, wenn du ein anderes Leben willst. Aber es ist das wirkliche Leben! Vertrau auf dich. Wenn du auf dein Herz hörst, wirst du spüren, was richtig ist. Wenn dich dein Gefühl in eine Richtung führen will, dann folge ihm. Das führt dich in die Weite der Welt. Dein Gefühl wird deine Seele leiten. Du hast die Wahl! Wähle gut und sage mir, was du willst! Alles im Leben hat seinen Preis.«

Nula wurde rot und senkte den Blick. Sie wusste nicht, was sie antworten sollte. Auch der Diener war sprachlos. Für einen seltsamen Moment hatte Nula das Gefühl, als ob sich die Luft verdichten würde zu flüssigem goldenen Licht, das sie einatmete. Doch sie spürte auch, dass die Frau die Wahrheit sprach. Einen Moment lang schaute sie die fremde Frau an, dann schweiften die Blicke zum Diener. Es war Nula, als hätte sich in diesem Moment ein Tor für die Welt geöffnet.

»Ja, ich habe gewählt, mein Wunsch ist es, in die Welt hinauszugehen, auch wenn es ein beschwerlicher Weg werden könnte. Aber das Schwierigste wird sein, aus diesem Gefängnis überhaupt herauszukommen! Ich sehe keine Möglichkeit!«, antwortete Nula traurig.

Die Fremde nickte ihr freundlich zu und antwortete: »Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg! Verständlich sind deine Zweifel. Das Tor, durch das du auf die Erde gekommen bist, kann sich nur zu bestimmten Zeiten, an bestimmten Monaten und Tagen öffnen, um bewusst den Kontakt zwischen unseren Welten zu ermöglichen. Ich bin nicht rein zufällig gekommen. Ich bin mit Absicht gekommen. Der Ton wird immer rauer in der Welt, deshalb braucht die Welt dich! Die Menschen haben die Liebe zur Lichtwelt verloren. Wenn die Menschen das Geheimnis, von dem ich spreche, nicht finden, liegt es nicht daran, dass es nicht existiert, sondern dass sie nicht richtig danach suchen. Ich habe dir viele schöne Träume geschickt, du weißt, wovon ich spreche!«

Nula schüttelte den Kopf: »Ich verstehe nicht, was du meinst! Kannst du mir das nicht einfacher erklären?«

Die fremde Frau lächelte: »Ich will es versuchen. Stell dir vor, die Mutter Welt hat zwei Söhne. Der eine ist der gutgeratene, der andere der schlechte. Der eine tut immer nur Gutes, der andere immer nur Schlechtes. Sie spielten den ganzen Tag mit den Sonnen, Monden und Sternen ihrer Mutter. Der gute Sohn bemühte sich darum, dass von den Millionen von Sternen jeder seine Bahn zog und keiner auf den anderen stieß. Der schlechte Sohn versuchte immer wieder, alles aus der Bahn zu werfen. Da bedeutete dann, dass es auf der Erde Stürme, große Unwetter, Vulkanausbrüche und Erdbeben gab. Und heute ist die Welt wieder aus dem Gleichgewicht geraten. Der gute Sohn braucht deine Hilfe, um alles wieder in Ordnung zu bringen. Wenn ich jetzt gehe, ist die Wende eingeleitet! Lebwohl!«

Nula war völlig irritiert. Bevor sie antworten konnte, hatte die fremde Frau den Diener gebeten, sie wieder zum Ausgang zu begleiten. Dieser war schon ganz nervös geworden und von einem Fuß auf den anderen getreten. Er war sehr erleichtert, dass die Fremde ihr Wort gehalten hatte und nach fünf Minuten wieder ging.

Nula aber stand da wie benebelt. Sie hörte, wie das Tor geöffnet und wieder verschlossen wurde. Kaum war die Fremde fort und außer Sicht, kam der Diener nachdenklich zurück. Die Botschaft, die sie überbracht hatte, bereitete ihm große Sorgen. Würde Nulas Vater je davon erfahren, befürchtete er großen Ärger. Auf gar keinen Fall durfte er von diesem Besuch erfahren. Die fremde Frau hatte Nula richtig aufgewiegelt, aus dem Palast auszubrechen. Das bedeutete, er musste sie nun noch strenger bewachen.

Nula hörte, wie der Diener mit anderen Bediensteten über sie tuschelte. Dann hörte sie seine typisch schweren Schritte kommen. Seine einzige Chance war, Nula davon zu überzeugen, dass diese Frau nichts Gutes für sie wollte.

»So eine unmögliche, freche Frau! Kommt in unser Haus und will nur Unruhe stiften! Glaub ihr kein Wort! Alles nur dummes Geschwätz! Sie will dich nur ins Unglück stürzen. Sie erzählt lauter Unsinn. Glaube an deinen Vater, er meint es gut mit dir!«, versuchte er Nula umzustimmen.

Die Tochter des Kaufmanns kam wirklich ins Grübeln. Von da an war sie völlig verändert. Die Worte der fremden Frau klangen wie Musik in den Ohren und hatten ein noch größeres Verlangen nach Freiheit ausgelöst als nach der Suche eines verlorenen Schatzes. Anderseits hatte sie auch Angst vor ihrem Vater und den Gefahren, die in der wirklichen Welt lauerten. So beschloss sie, Rat bei der Köchin zu holen. Diese formulierte vorsichtig. Nulas Vater war mächtig und sich mit ihm anzulegen, davor hatte sie Respekt, fast schon Angst. Nach dem Tod seiner Frau war er hart und manchmal etwas böse geworden.

Als Nula die Küche verließ, lächelte sie der Köchin zu: »Es hat gutgetan, mit dir zu sprechen!«

In Erwartung weiterer Neuigkeiten, dachte sie fortan nur noch an das Zeichen der fremden Frau. Doch alles blieb ruhig. Still und bedrückt und enttäuscht schlich Nula umher. Sie blieb auf ihrem Zimmer und wollte niemanden mehr sehen. Ihr Gesicht wurde schmal und blass. Je länger sie über den Besuch nachdachte, desto mehr glaubte sie, die Frau doch kennen zu müssen. Aber woher? Außer dem Hauspersonal kannte sie ja niemanden. Oder hatte der Diener doch recht gehabt und sie meinte es nicht gut mit ihr? Sie fühlte sich wie ein Schatten, der durch die Räume ging: ohne Ziel, ohne Freude.

In einer der folgenden Nächte hatte Nula wieder einen Traum. Die fremde Frau erschien ihr abermals in einem leuchtenden Kleid: »Nula, du bist eine Göttin, die auf die Erde geschickt worden ist, um den Menschen eine Hilfe zu sein. Wie viele andere Göttinnen vor dir auch. Du bist allwissend, doch niemand erkennt deine Fähigkeiten wirklich. Damit du während deiner Erdenzeit immer wieder zurück in das Göttinnenreich fliegen kannst, hast du dir unbewusst den Teppich geknüpft. Er ist kein gewöhnlicher Teppich, er ist ein fliegender Teppich. Durch deine Initialen bekam der Teppich magische Kräfte. Das heißt, deinen wirklichen Namen kennt niemand außer die Götterwelt. Das ist bis heute so geblieben. Das bedeutet, du kannst mit dem Teppich bei Vollmond in unser Götterreich fliegen. Allerdings brauchst du dazu noch den richtigen Zauberspruch. Der Zauberspruch ist so aufgebaut, dass man auch mit dem halben Spruch fliegen kann, aber nur einmal. Also nur einen Weg. Um wieder zurückfliegen zu können, braucht es den ganzen Zauberspruch. Fliegen kannst du nur bei Vollmond. Nula, denke gut nach! Du kennst den Zauberspruch, du hast den Zauberspruch geträumt!«

Nula wachte nach diesem Traum sofort auf. Besaß sie wirklich einen magischen Teppich, der fliegen konnte? Ein mystisches Fortbewegungsmittel, wie man es aus Märchen kannte? Volle Unruhe lief sie im Zimmer auf und ab und dachte nach, wie der Zauberspruch wohl lauten konnte! Sie ging in den Garten und schaute die funkelnden Sterne an, dachte nach und zerbrach sich darüber den Kopf. Aber, o Jammer, der Zauberspruch war ihr entfallen. Jede Erinnerung daran war entschwunden.

So blieb es auch die folgenden Tage und Nächte. Traurig wandelte sie durch das Haus, in den Garten und wieder zurück. Sie wusste gar nicht, was sie mit ihrem Elend anfangen sollte. Dicke Tränen rollten aus ihren großen blauen Augen. Unentwegt grübelte sie über den Zauberspruch nach. Niemand durfte sie mehr stören. Die Schule schwänzte sie täglich. Die Hauslehrerin war verzweifelt.

Der Mond wurde von Tag zu Tag heller. Voller Unruhe lief Nula im Haus umher und dachte immer wieder und wieder nach, wie der Zauberspruch wohl lauten könnte! Sie schaute zu den funkelnden Sternen, als ob von ihnen Hilfe kommen könnte. Doch der Zauberspruch kam ihr nicht in den Sinn. So blieb es auch die folgenden Tage und Nächte. Doch der Mond wurde noch heller. Bald würde Vollmond sein. Sie stand auf und ging wieder wie ein Roboter auf und ab.

»Wie schön wäre es, wenn der Teppich wirklich fliegen könnte! Aber wie war doch der Zauberspruch?«, grübelte sie nach. Und besaß sie wirklich einen magischen Teppich, der fliegen konnte? »Der Zauberspruch! Wie war doch der Zauberspruch? Wie kann die fremde Frau nur so herzlos sein und mir den Zauberspruch nicht nochmals verraten?«

Das machte sie richtig wütend. Doch der Zauberspruch kam ihr immer noch nicht in den Sinn. Sie schloss die Augen und riss sich zusammen. Eins … zwei … drei ... Ruhig zählte sie jeden Atemzug. Als sie die Augen wieder öffnete, war alles beim Alten.