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Prolog

Das Mädchen rannte durchs Unterholz. Äste und Wurzeln verbarrikadierten den schmalen Pfad. Dürre Zweige griffen wie Hände nach ihr. Manche brachen, andere waren hartnäckig. Sie zogen an ihren Haaren, als ob sie sie verhöhnten, oder hinterließen Kratzer und Striemen auf ihrer Haut. Heiseres Bellen dröhnte in Gydes Ohren. Sie hörte Stimmen. Die Männer aus dem Dorf kamen näher. Sie waren nicht mehr weit. Da waren Fackeln. Wie Irrlichter geisterten sie durch den aufsteigenden Nebel. Wenn sie die Hunde losließen, war ihr Schicksal besiegelt. Sie musste weiter, schnell, sie irgendwie abhängen.

Gyde taumelte eine Böschung hinab. Sie verlor das Gleichgewicht und fiel. Ihr Leinenhemd blieb an Dornensträuchern hängen und riss. Sie überschlug sich und prallte schmerzhaft mit der Schulter an einen Stein. Aber da unten war Wasser. Ein Geschenk der Götter. Vielleicht war sie ja doch nicht verflucht, wie sie alle fürchteten.

Barfuß stolperte Gyde durch den Bach. Sie überquerte ihn nicht direkt. Wenn sie die Fährte unterbrechen wollte, musste sie ein Stück flussabwärts laufen, bevor sie das andere Ufer erklomm. Kalt, so kalt. Sie spürte ihre Beine und Füße nicht mehr. Sie strauchelte in einer Senke und tauchte bis zur Hüfte ein. Sie riss die Augen auf und unterdrückte einen Schrei. Aber noch nicht. Sie musste noch ein Stück weiter in diesem eiskalten Wasser. Es war zu früh. Und doch zu spät.

»Da ist sie!« Der Schrei gellte durch die Nacht und stach mitten in ihr Herz. Es war ihr Onkel. Gyde kannte alle diese Menschen, die jetzt hinter ihr her waren, um sie zu töten. Sie war in diesem Dorf aufgewachsen. Sie war doch eine von ihnen? Und doch hatte sie nie dazugehört. Das Findelkind. Sie hatten sie aufgezogen und ihre Talente zuerst belächelt, dann bewundert. Und jetzt fürchteten sie sie. Und was man fürchtete, trieb man weit ins Moor hinein … Oder man brachte es gleich um.

»Lasst die Hunde frei!«

Gyde zitterte. Die Tiere würden ihr nichts tun. Kein Wesen mit Fell oder Federn war ihr Feind auf dieser Welt. Das waren nur die Menschen.

Es war viel schlimmer. Die Hunde würden zu ihr laufen, damit sie mit ihnen spielte, sie streichelte und ihnen Aufmerksamkeit schenkte. Dann würden die Männer leichtes Spiel haben. Sie hatten Speere und Lanzen.

Gyde hatte keine Angst vor dem Tod. Aber sie wusste, dass die Männer auch die Hunde töten würden. So wie sie es mit dem Pferd getan hatten, weil es sich ihnen in den Weg gestellt hatte, um sie zu schützen. Gyde brach in Tränen aus. Der Hengst hatte sich für sie geopfert. Sie sah immer noch seine großen braunen Augen vor sich. Warum nur? Sie war ein Nichts! Einfach nur in Frieden leben. Mehr hatte sie nie gewollt.

Gyde fiel in sich zusammen. Ihre Lunge brannte, sie spürte ihre Beine nicht mehr. Mit letzter Kraft zog sie sich die Böschung hinauf.

Am anderen Ufer platschten die Hunde ins Wasser. Sie hatten sie aufgestöbert. Gleich würden sie bei ihr sein und die Männer zu ihr führen. Sie war gerade vierzehn Jahre alt geworden. Sie wollte noch nicht sterben. Aber dann würde es eben so sein. Gyde gab auf.

»Nein!«, vernahm sie plötzlich eine ruhige Frauenstimme irgendwo in der Nähe.

Sie hörte ein Pferd schnauben, direkt über sich. Gyde riss den Kopf hoch. Das war niemand aus dem Dorf. Die Nebel lichteten sich. Sie schienen einer Schimmelstute und ihrer Reiterin auszuweichen, sie respektvoll einzurahmen.

In die Mähne des Pferdes waren Blumen geflochten. Die gleichen blutroten Rosenblüten zierten die langen blonden Haare der schlanken Frau, die in einem fließenden hellblauen Kleid barfuß auf dem blanken schneeweißen Pferderücken saß. Die Reiterin streckte Gyde einen weißen Arm hin.

»Steig auf!«, befahl sie, und ihr sanfter Ton duldete keinen Widerspruch. Erstaunlich kraftvoll zog sie Gyde vor sich aufs Pferd. Das Tier wieherte und stampfte kurz mit dem Huf auf, als die ersten Hunde die Böschung erreichten. Winselnd blieben sie auf Abstand, setzten sich und warteten mit hängenden Zungen.

Dann kamen die Männer.

Mit wurfbereiten Waffen traten sie aus dem Nebel. Ihre Mienen waren hasserfüllt und kämpferisch, ihre Augen funkelten mordlüstern. Doch als sie die Schimmelstute und ihre Reiterin sahen, änderte sich alles. Die Männer wichen zurück. Der Erste beugte die Knie. Die anderen taten es ihm nach. Einer von ihnen war Gydes Onkel. Sie sah, wie seine Kiefermuskeln arbeiteten, als wolle er den Knochen durchbeißen. Als Einziger blieb er aufrecht stehen, aber er senkte den Kopf so wie alle anderen. Unsicher standen sie da, wagten nicht, die Dame auf dem Pferd anzusehen, verharrten in der Bewegung.

Sie wirkten fassungslos, eingeschüchtert, wussten nicht, was sie tun sollten. Einer nach dem anderen ließen sie die Waffen fallen oder schleuderten sie von sich. Noch nie hatte das Mädchen die Dorfbewohner so erlebt.

Die Hunde dagegen wedelten mit den Ruten und winselten aufgeregt. Gyde wagte kaum zu atmen. Unwillkürlich rückte sie etwas von der Dame hinter sich weg. Denn eine Dame musste sie sein. Doch die Fremde legte ihr beruhigend die Hand auf den Unterarm. Wo ihr langes blondes Haar das Mädchen streifte und die verletzte Haut berührte, schlossen sich die Wunden, und die Kratzer verblassten. Nur ein angenehmes Kribbeln blieb zurück. Und pulsierende Wärme. Gyde zitterte. Am liebsten wäre sie abgestiegen und fortgerannt. Aber sie kam nicht vom Fleck. Sie vergrub ihre Finger in das samtige Fell der Stute.

Die lebendige Wärme des Tieres beruhigte sie etwas. Doch Gydes Atem ging weiter stoßweise, und das Herz hämmerte unregelmäßig in ihrer Brust.

»Gib sie uns heraus!«, wagte ihr Onkel endlich zu sprechen. Trotzig reckte er sein Kinn.

»Nicht, das ist Epona«, raunte einer in der Menge. »Lass gut sein. Gehen wir.«

»Epona«, nahmen andere den Namen auf und reichten ihn ehrfürchtig weiter.

Gydes Onkel schlug die Arme fort, die an dem grob gewebten Ärmel seines Leinenhemdes zupften und ihn fortziehen wollten. Breitbeinig blieb er stehen.

Epona sprach leise, mit verhaltenem Zorn. »So geht ihr mit meinen Geschenken um? Sie ist mein. Ich bin sie, und sie ist ich seit dem Anbeginn der Zeit und über alle Zeiten hinaus.«

Epona wies mit ihrer Hand in die Richtung, aus der Gydes Verfolger gekommen waren. »Geht«, befahl sie.

Die Männer wichen langsam zurück, tasteten sich rückwärts über den unebenen Grund, ehrfürchtig die Köpfe gesenkt.

Aus dem Augenwinkel nahm Gyde eine plötzliche Bewegung wahr. Sie erstarrte. »Vorsicht!«, krächzte sie heiser.

»Ich sagte: Gib sie mir zurück.« Ihr Onkel war als Einziger stehen geblieben. Er hatte seinen Speer aufgehoben und machte sich bereit zum Wurf.

Eponas Hand schnellte in die Höhe. Die Waffe verbrannte in einer einzigen Stichflamme zu Ruß und Asche. In derselben Sekunde heulte Gydes Onkel auf. Er ging in die Knie. Wimmernd hielt er seine verletzte Hand. Rauch stieg auf, und der Geruch von verbranntem Fleisch hing in der Luft.

Gyde wand sich. Sie verstand nicht, um was es hier ging. Ihr Onkel war verletzt. Die Göttin hatte ihm Einhalt geboten. Aber jetzt würde er noch wütender sein als je zuvor. Das alles war noch viel unheimlicher als ihre Flucht durch den nächtlichen Sumpf.

Die Schimmelstute machte bedächtig kehrt und trug Epona und Gyde in den Nebel, der sich wie ein Vorhang hinter ihnen schloss.

»Das ist nicht das Ende!«, schrie er ihnen hinterher. »Wir sehen uns wieder!«

Unbehelligt und ruhig traten das Pferd und seine Reiterinnen in die Morgendämmerung und verschmolzen damit und miteinander.

Gydes Onkel blieb schwer atmend auf dem Boden kauernd zurück. Ein Schatten löste sich aus den Bäumen und trat auf ihn zu. »Du hast versagt«, sagte der Dunkle mit schneidender Stimme.

Mit jedem Schritt, den er auf den Verletzten zuging, wurde diesem kälter. Schaudernd zog Gydes Onkel seinen zerlumpten Umhang dichter um sich. »Wer seid Ihr?«

»Niemand von Bedeutung«, behauptete der Dunkle. Sein Atem blies die Worte wie eisige Wolken in die Nacht. »Aber wir haben das gleiche Ziel.«

Er zog einen Lederbeutel hervor und warf ihn vor dem zitternden Mann auf den Boden.

»Vergiss nie, wem du dienst! Du und die Deinen. So viele Leben, wie nötig sind.«

Gydes Onkel wagte nicht, den Blick zu heben. Er nickte furchtsam. »So sei es, Herr.« Ergeben wartete er darauf, was als Nächstes geschehen würde. Der Dunkle machte ihm Angst, der Schmerz in seiner Hand war unerträglich, dieser Tag war verflucht. Er kniff die Augen zusammen. Als er endlich aufblickte, war er allein. Zögernd griff er nach dem Beutel. Ein paar Münzen kullerten in den Staub. Er hob die nächstliegende auf und betrachtete sie im Licht des aufgehenden Mondes. Das Metall blinkte, die Prägung war frisch und gestochen klar. Sie zeigte eine Reiterin auf einem geschmückten Pferd, begleitet von einer jungen Frau. Seine Hand zitterte, als er sie um die Münze schloss. Dann heulte er auf wie ein tödlich verwundetes Tier.