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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Widmung

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Epilog

Die Autorin

Die Romane von Jennifer Snow bei LYX

Leseprobe

Impressum

JENNIFER SNOW

Alaska Love

WINTER IN WILD RIVER

Roman

Ins Deutsche übertragen
von Michaela Link

Zu diesem Buch

Das Letzte, was Erica Sheraton gebrauchen kann, sind freie Tage. Als Ärztin im Alaska General Hospital in Anchorage bleibt ihr kaum Zeit zu schlafen – geschweige denn, sich über ihr verkorkstes Liebesleben Gedanken zu machen. Doch ausgerechnet vor Weihnachten wird sie in den Zwangsurlaub geschickt. Bei ihrer besten Freundin, die in dem kleinen Städtchen Wild River ein Outdoor-Unternehmen führt, will sie die Tage mit Skifahren und Schneetouren verbringen. Statt auf der Piste findet sie sich jedoch bald als Teil des Search and Rescue Teams wieder, das dringend auf eine Medizinerin angewiesen ist. Bei den Einsätzen gerät sie immer wieder mit Reed Reynolds aneinander, der das Team führt – und der ihr Herz bei jeder Begegnung schneller schlagen lässt. Doch wie soll es eine Zukunft für den rauen Bergretter aus Wild River und die erfolgreiche Ärztin aus der großen Stadt geben?

Für alle Mitglieder von Rettungsorganisationen auf der ganzen Welt, die selbstlos ihr eigenes Leben aufs Spiel setzen, um andere in Zeiten der Not zu retten – ich danke euch!

1

Dr. Erika Sheraton hatte die Arme voller Patientenakten und legte den Kopf in den Nacken, damit Darren, ihr Pre-Med-Praktikant, ihr einen doppelten Espresso einflößen konnte. Die heiße Flüssigkeit lieferte den sofortigen Adrenalinstoß, den sie brauchte, um den Rest ihrer Vierzehn-Stunden-Schicht durchzustehen.

Abendessen? Ein schneller Blick auf die Wanduhr über dem Schwesternzimmer offenbarte, dass es fast neun war. Ein spätes Abendessen.

»Wieso zittern Sie eigentlich nicht? Das war jetzt Ihr dritter in zwei Stunden.« Darren zerknüllte den Papierbecher und warf ihn im Vorbeigehen in eine Recycling-Tonne.

»Koffein hat schon lange keine Wirkung mehr auf mich. Jetzt geht es mir lediglich um den Geschmack«, antwortete sie, was nur halb ein Scherz war. Die doppelte Kursanzahl sowie durchgemachte Nächte auf dem College und dann im Medizinstudium hatten sie auf die langen Stunden vorbereitet, die sie jetzt als Chirurgin arbeitete, und Koffein war ihr bester Freund gewesen.

Der gut Zwanzigjährige sah aus, als könne er selbst eine Tasse gebrauchen, denn er konnte ein Gähnen nur mit Mühe unterdrücken. Sein dunkelblondes Haar stand ihm im Nacken zu Berge, als sei er in der allerletzten Minute aus dem Bett gesprungen, und seine haselnussbraunen Augen waren blutunterlaufen. Wenn er schon acht Stunden nach Beginn der Schicht müde war, würde er um Mitternacht noch einmal genauer über diesen speziellen Beruf nachdenken. Das Personal im Alaska General Hospital ruhte sich niemals aus. Durch die Drehtüren der Notaufnahme ergoss sich ein stetiger Strom von Patienten mit gebrochenen Knochen, Herzinfarkten und blutenden Wunden. Kein Tag ähnelte dem anderen. Die Unberechenbarkeit ließ Erika wachsam bleiben und hielt sie auf Trab.

»Nach dieser Visite müssen Sie für mich nach Mr Franklin sehen – er liegt im Aufwachraum. Seine Familie möchte wissen, wann sie ihn sehen kann.« Die gesamte Großfamilie des Mannes kampierte im Wartezimmer der chirurgischen Station – mindestens fünfzehn oder sechzehn Leute. Sie durften den Patienten nicht besuchen, weigerten sich jedoch alle, das Krankenhaus zu verlassen. Einer von ihnen übernahm stets die Aufgabe, die diensthabenden Krankenschwestern in den Wahnsinn zu treiben. »Machen Sie denen klar, dass nur die engste Familie hineindarf. Er braucht Ruhe.«

Darren nickte, aber ein zögerlicher Ausdruck erschien in seinen Augen, die von einem dunklen Brillengestell umrahmt waren.

»Was ist?«

»Es ist nur … na ja, sollten Sie nicht mit ihnen reden? Ich weiß, dass seine Frau sich bei Ihnen bedanken wollte …«

Erika schüttelte den Kopf. »Es wird Dank genug sein, wenn sie für seine cholesterin- und natriumarme Diät sorgt, die ich ihm verschrieben habe – und dass er nicht bald wieder auf meinem OP-Tisch landet«, sagte sie, während sie die oberste Akte ihres Stapels überflog.

»Okay, aber …«

Sie warf Darren einen Blick zu.

»Kein Problem. Ich sehe nach ihm.«

»Danke.« Erika ging weiter den Flur entlang zum nächsten Patienten, der eine hohe Priorität hatte.

»Vergessen Sie nicht, dass Ihr Vater Sie immer noch sprechen möchte«, sagte Darren, der Mühe hatte, mit ihrem Tempo mitzuhalten.

»Ich weiß.« Sie hätte gern auf die stündlichen Erinnerungen verzichtet. Ihr Vater bat sie selten während ihrer Visite um ihre Anwesenheit, also würde das, worum es sich auch immer handeln mochte, nichts Gutes sein. Wenn sie ihn lange genug hinhielt, würde er es vielleicht vergessen.

»Oberstes Krankenblatt – Mr Grayson. Ihm soll in einigen Stunden der Blinddarm herausgenommen werden«, sagte sie, als sie sich dem Zimmer des Mannes näherten.

Darren nickte und lächelte. »Dieser alte Knabe ist zum Brüllen komisch. Wussten Sie, dass er in den Achtzigern Zirkusartist war? Er hat Motorräder gefahren.«

»Nein.« Sie wusste, dass er mit seinem entzündeten Blinddarm viel zu lange gewartet hatte, bevor er hergekommen war. Ihr waren seine Vitalzeichen bekannt und dass er in einer Stunde für die Operation vorbereitet werden würde. Die Kenntnis persönlicher Details aus dem Leben eines Patienten machte ihren Job nicht leichter und garantierte auch keinen besseren Ausgang einer OP. Sie balancierte die Akten auf einem Arm und griff sich in die Tasche, um ein neues Paar steriler Handschuhe herauszuholen.

»He, kann ich mit Ihnen reden, bevor wir hineingehen?«, fragte Darren und hielt sie vor der Tür auf. Er starrte auf das Karomuster der Bodenfliesen.

Verdammt. »Sie wollen mich darum bitten, zu einem anderen Arzt wechseln zu dürfen.« Er war nicht der erste Praktikant, der wechselte. Sie hatte ihn einen Monat lang halten können – ein neuer Rekord.

Ein weiterer Praktikant wirft die Flinte ins Korn.

Er nickte, offensichtlich erleichtert darüber, dass er das Thema nicht selbst zur Sprache zu bringen brauchte. »Sie sind unglaublich, Dr. Sheraton, und ich empfinde es als ein solches Glück, dass ich die Gelegenheit hatte, mit Ihnen zusammenzuarbeiten, aber Sie sind außerdem sehr beschäftigt und unabkömmlich …«

Die Worte versetzten ihr einen Stich, der allerdings nichts Neues war. Sie hatte die gleiche Ansprache von Praktikanten ebenso wie von Geliebten gehört. In der einen Gruppe löste sich das Problem unmittelbar nach den klinischen Semestern von selbst … Praktikanten und Assistenzärzte wurden vom Krankenhaus eingeteilt und entzogen sich damit ihrer Kontrolle.

»Ich meine, ich brauche einfach alles an Ausbildung, was ich bekommen kann, und mit Ihren vielen Patienten und Ihrer Forschungsarbeit …«

Sie brauchte keine Erklärung. Sie war beschäftigt. Zu beschäftigt, als dass ihr jemand auf Schritt und Tritt hätte folgen können. Diese Entwicklung war ihr absolut recht. »Ich verstehe.«

»Sie sind nicht sauer?«

»Nur darüber, dass ich mir von jetzt an meinen Kaffee selbst besorgen muss«, antwortete sie.

Der Scherz verfehlte sein Ziel, und die Augen des Praktikanten weiteten sich. »Das kann ich doch nach wie vor tun …«

Wow, war sie wirklich so Furcht einflößend? Sie war anspruchsvoll und erwartete von den Studenten, dass sie die gleichen Stunden ableisteten wie sie selbst. Sie mochte nicht die freundlichste Ärztin im Haus sein, nahm nach der Arbeit nicht an geselligen Aktivitäten teil und erinnerte sich kaum je an Geburtstage und dergleichen, aber sie vermittelte diesen Kandidaten der Medizin ein reales Bild von ihrer Zukunft. War das nicht der Grund, weshalb sie hier waren? »Das war ein Scherz, Darren.«

»Oh … natürlich.«

»Dr. Sheraton, melden Sie sich bitte in der Notaufnahme. Sofort.«

Als sie den Ruf über die Gegensprechanlage des Krankenhauses hörte, reichte sie Darren den Stapel mit Ordnern. »Messen Sie bitte seinen Herzschlag und Blutdruck«, sagte sie, bevor sie zu den Aufzügen rannte. »Und vergessen Sie Mr Franklin nicht.«

»Wird erledigt«, rief er ihr nach.

Die geruhsame Fahrt mit dem Aufzug sechsundzwanzig Stockwerke hinunter ins Erdgeschoss kam einem Tag im Spa für sie näher als irgendetwas sonst. Es war die einzige Zeit, zu der sie gezwungen war, sich einem anderen als ihrem eigenen, gewöhnlich halsbrecherischen Tempo anzupassen. Aber selbst diese halbe Minute dauerte zu lange. Sie gab ihr immerhin Zeit nachzudenken. Nachzudenken über ihre vorangegangenen Operationen, die Details im Geiste noch einmal durchzugehen – was gut gelaufen war, was schiefgelaufen war, was sie beim nächsten Mal besser machen konnte. Es machte sie zu einer besseren Chirurgin, sich ständig selbst infrage zu stellen, aber häufig vermittelte es ihr das Gefühl, als würde sie ihrem Potenzial gerade eben nicht gerecht werden. Als Alphatyp gab sie Versagen oder Selbstgefälligkeit wenig Raum.

Sie nahm ihr Handy aus der Kitteltasche, überflog ihren Zeitplan für den Rest des Abends und überlegte, was sie verschieben konnte, falls dieser Notfall ihre unmittelbare Aufmerksamkeit verlangte. Die Anzahl von Dingen mit dem Vermerk dringend trieb sie dazu, dem Aufzug den stummen Befehl zu übermitteln, sich schneller zu bewegen. Sie würde sich glücklich schätzen können, wenn sie um zwei Uhr morgens hier rauskam.

Eine Textnachricht von Darren blitzte auf.

Falls Sie Ihre Meinung in Bezug auf Mrs Franklin ändern sollten …

Sie würde ihre Meinung nicht ändern. Sie ignorierte die Nachricht ihres Praktikanten – ihres ehemaligen Praktikanten – und steckte das Telefon wieder weg.

Als der Aufzug bremste, holte sie tief Luft und erwartete, einen Wirbel des organisierten Chaos zu sehen, als die Türen sich öffneten. Tragen, blinkende Krankenwagenlichter und heulende Sirenen, Sanitäter und Krankenschwestern … stattdessen rannte sie praktisch ihren Vater über den Haufen.

Kein Notfall, einfach dieser Mann mit seinen einsachtundachtzig Körpergröße und seinem wie gewohnt neutralen Gesichtsausdruck. Es war unmöglich, ihren Vater zu durchschauen, da seine Miene nichts verriet. Seine Gefühle waren niemals zu stark oder zu schwach, sondern aufreizend gut ausbalanciert, ganz gleich unter welchen Umständen. Seine Gelassenheit und sein rationales Denken machten ihn zu einem fantastischen Vertreter seines Berufsstandes, aber manchmal war er als Vater einfach beschissen.

»Hey. Ich wollte dich gerade suchen gehen.« Irgendwann.

»Begleite mich ein Stück«, bat er, nickte und drehte sich auf dem Absatz um. Sie biss die Zähne so fest aufeinander, dass ihr Kiefer schmerzte. Das sah ihm so ähnlich – vorauszusetzen, dass sie auf seinen Befehl hin alles stehen und liegen lassen würde. Er mochte die chirurgische Abteilung des Krankenhauses leiten, aber er hatte oft keine Ahnung, wie hektisch ihr Terminplan war. »Können wir reden, während ich meine Visite absolviere? Darren ist …«

»Mehr als fähig«, unterbrach er sie und ging voran in Richtung seines Eckbüros im Erdgeschoss. »Und wie ich sehe, bittet er darum, einem anderen Arzt zugewiesen zu werden.«

Bei seinem Ton bekam sie schweißnasse Hände. Er sollte glücklich darüber sein, dass sie diese Praktikanten an ihre Grenzen trieb. Was sie nach ihrem Abschluss erwartete, war nichts für Hasenfüße. Besser, sie gewöhnten sich gleich jetzt an harte Tage und Nächte, in denen sie mit wenig oder ohne Schlaf auskommen mussten, von Koffein lebten und von Schokoriegeln, die an Halloween übrig geblieben waren, statt erst zu begreifen, dass sie dem nicht gewachsen waren, wenn bereits Menschenleben in ihren Händen lagen.

Bedauerlicherweise stimmte er ihren Ansichten nicht immer zu. Er wollte, dass die Praktikanten sich im Alaska General wohlfühlten, damit sie sich hier bewarben, sobald sie ihren Abschluss in der Tasche hatten. Das Krankenhaus war unterbesetzt, und von zusätzlichen Ärzten würden alle profitieren, aber Erika zog es vor, nur an der Seite der Besten zu arbeiten.

Ihr Vater betrieb eine Politik der offenen Tür – buchstäblich –, als er daher die Bürotür hinter sich schloss, wusste sie, dass der Chefarzt der Allgemeinen Chirurgie sie nicht hergerufen hatte, um über Dinnerpläne für Thanksgiving zu sprechen.

Sie betrachtete seinen Wandkalender, als sie Platz nahm. Zumal Thanksgiving vor einer Woche gewesen war.

»Dad, diese Sache mit den Assistenten ist einfach lächerlich …«

Er hob eine Hand. »Hier geht es nicht um deine Unfähigkeit, andere effektiv zu managen.«

Tritt in die Eingeweide ausgeführt und empfangen. Sie presste die Lippen zusammen.

Er öffnete seine Schreibtischschublade, reichte ihr einen Brief und setzte sich auf den weich gepolsterten Lederstuhl hinter seinem übergroßen Mahagoni-Schreibtisch.

Ihre Augen weiteten sich, als sie am oberen Rand der Seite das Logo der Krankenhausstiftung sah. »Ist das hier die endgültige Genehmigung der klinischen Studie durch den Vorstand?« Sie hatten vor sechs Monaten den Antrag gestellt, mit der Erprobung eines neuen Medikaments zu beginnen, das die Abstoßung körperfremden Gewebes unterdrücken sollte, und das nach jahrelanger Forschung, und jetzt warteten sie auf offizielles grünes Licht, um mit einer Testgruppe zu beginnen.

Würde Darren es sich noch einmal überlegen und bei ihr bleiben, wenn er erfuhr, dass er Teil eines medizinischen Durchbruchs sein konnte? Er war ihr in dem vergangenen Monat eine große Hilfe gewesen.

»Lies es einfach«, verlangte ihr Vater.

Sie überflog den Brief des Vorstands, und mit jedem Wort schwand ihre freudige Erregung, während ihre schlimmsten Befürchtungen geweckt wurden. »Empfohlener Urlaub? Was soll das?«

»Mir gefällt es auch nicht, aber der Vorstand überprüft seine Richtlinien und sorgt dafür, dass wir sie befolgen«, antwortete er. Die Schärfe in seiner Stimme legte die Vermutung nahe, dass er bei dieser Entscheidung überstimmt worden war. Er hielt definitiv nichts von Freizeit und hatte sie nie dazu ermutigt, sich eine solche zu gönnen. Ihr Leben war ihre Karriere, genau wie in seinem Fall.

»Aber die Freigabe der Studie müsste dieser Tage erfolgen, wir werden jetzt mit den klinischen Erprobungen des neuen Medikaments anfangen.« Ihr Vater und sein Team hatten fast drei Jahre geforscht, bis das Immunsuppressivum für eine Erprobung an organtransplantierten Patienten einsetzbar war, und sie hatten also endlich die Erlaubnis bekommen. Sie hatten ein Jahr lang rund um die Uhr gearbeitet, um das zu ermöglichen. Testpersonen, die eine Bewertung erlaubten, waren inzwischen bereit für die Erprobung.

Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für eine Pause.

Ihr Vater sah aus, als hätte er dem Krankenhausvorstand gegenüber das gleiche Argument vorgebracht. »Das Team wird damit fertig werden müssen.«

Also bedeutete empfohlen tatsächlich erzwungen. »Warum jetzt? Es geht mir gut. Ich brauche keine Auszeit.« Mit ihren neunundzwanzig Jahren brannte sie darauf, sich als eine der besten Chirurginnen im Staat zu erweisen. Angesichts ihres chirurgischen Erfolgsrekordes und der Forschungszeit, die sie in dieses neue Medikament investiert hatte, war sie ihrem Ziel sehr nah. Die Hilfe, die sie ihrem Vater leistete, dem Gewinn der Lister-Medaille einen Schritt näher zu kommen, stand ganz oben auf ihrer Prioritätenliste. »Ich bitte dich, Dad, du weißt, dass ich zurechtkomme. Meine beiden letzten Operationen waren Eingriffe mit null Erfolgsaussichten …«

»Eingriffe mit minimalen Erfolgsaussichten.«

Erika presste die Lippen abermals zusammen und schluckte ihren Widerspruch hinunter. Es würde nichts nutzen. Drei Jahre Arbeit an der Seite ihres Vaters, und sie musste sich immer noch beweisen. Trotz zweier Operationen mit minimalen Erfolgsaussichten, die ihr geglückt waren, zweifelte er noch immer an ihren Fähigkeiten. Dass er ihr Forschungsteam mit Argusaugen beobachtete, hatte Erika in den Wahnsinn getrieben, aber schließlich hatte er widerstrebend zugestimmt, ihr zu erlauben, ihre eigenen klinischen Versuche mit dem Immunsuppressivum durchzuführen, und sie hatte törichterweise geglaubt, dass sie Fortschritte bei ihm machte.

Jetzt wurde sie dazu gezwungen, eine Pause einzulegen.

Was zum Teufel war eine Pause? Sie hatte keine mehr gemacht, seit sie mit der Uni begonnen hatte. Ihren Bachelor hatte sie ein Jahr früher als üblich erlangt, indem sie die doppelte Kurszahl belegt hatte. Danach hatte sie sich direkt an der medizinischen Fakultät beworben. Sie hatte ein Praktikum im Alaska General absolviert und sich kurz nach ihrem Abschluss eine Position dort gesichert. Sie konnte sich nicht an den letzten Tag erinnern, an dem sie freigehabt hatte, geschweige denn … sie warf einen Blick auf den Brief. Zwei Wochen?

Was zur Hölle sollte sie mit so viel Freizeit anfangen? Ihre Brust schnürte sich zusammen, und sie bekam kaum Luft. »Okay, vielleicht könnte ich ein paar Tage freinehmen, aber zwei Wochen sind verrückt.«

»Darren hat mir von der Einbahnstraße erzählt«, sagte ihr Vater.

Das letzte Mal, dass sie ihn nach Hause gefahren hatte … »Es war ein Versehen. Nichts weiter.« In eine befahrene Einbahnstraße einzubiegen – in die falsche Richtung … während der Hauptverkehrszeit … nach einer Achtzehn-Stunden-Schicht – hatte ihr und Darren einen Mordsschrecken eingejagt, aber sie hatte nicht die Absicht, das ihrem Vater gegenüber zuzugeben.

Hatte der Todesschreck etwas mit Darrens Bitte um einen neuen Arzt zu tun? Fand er tatsächlich, dass sie einen Burn-out entwickelte?

Dem war nicht so. In Wahrheit war sie an jenem Tag auf der Heimfahrt mit ihren Gedanken anderswo gewesen. Der 20. November. Der Jahrestag des Todes ihrer Mutter. Dieser Tag lastete jedes Jahr schwer auf ihr. Aber es würde mehr schaden als nutzen, wenn sie das ihrem Vater gegenüber erwähnte.

»Es ist ein Zeichen dafür, dass du zu hart arbeitest«, stellte er fest.

Wieder ein Unterton des Ärgers in seiner Stimme. Ihr Vater nahm Schwächen nicht wahr. Er glaubte daran, sich durchzukämpfen und hart zu arbeiten, um Erschöpfung und Stress zu überwinden. Sie hatte in seinen Augen versagt, und sie konnte nicht ehrlich zu ihm sein. Sie redeten niemals über ihre Mutter.

»Also kann ich nicht dagegen vorgehen?«, fragte sie mit zusammengebissenen Zähnen, während sie sich darum bemühte, ihre Stimme ruhig zu halten. Das hier war nicht fair. Es war unnötig, doch ein Wutanfall würde nicht helfen.

»Die Entscheidung ist endgültig.« Er fuhr sich mit der Hand durch sein graumeliertes Haar, setzte sich seine Brille auf und griff nach einer Akte auf seinem Schreibtisch.

Sie war entlassen. »Wann tritt diese Verfügung in Kraft?«

»Unverzüglich. Dr. Hipstein ist damit beauftragt, deine Visite zu vollenden.«

Dr. Hipstein. Ein Veteran im Halbruhestand. Angestellte und Patienten liebten seine witzige, aufmunternde Art. Erika erhob sich und antwortete: »Okay, hm, dann seh ich dich in zwei Wochen.«

Er nickte, ohne aufzuschauen, als sie das Büro verließ und den Flur entlangging. Sie fuhr mit dem Aufzug in den dritten Stock und lehnte sich an die kühle Metallwand, während sie beobachtete, wie die Ziffern aufleuchteten. In ihrem eigenen Büro schloss sie die Tür hinter sich, schleuderte ihre Schuhe von den Füßen und legte sich auf die unbequeme Pritsche, die sie hereingerollt hatte, um während des Bereitschaftsdienstes ein wenig Schlaf finden zu können. Sie starrte auf den dunklen Fleck auf einer Kachel der abgehängten Decke über ihr und zwang sich, mehrmals tief durchzuatmen.

Zwei Wochen.

Es hätten genauso gut zwei Jahre sein können. Was zum Teufel sollte sie mit sich anfangen? Sie hatte keine Hobbys. Sie hatte keinen festen Freund. Sie hatte überhaupt keine Freunde, abgesehen von Kollegen, die eher Bekannte waren. Sie hatte kein Haustier. Verdammt, selbst ihre Zimmerpflanzen waren aus Plastik.

Als sie spürte, wie ihre Brust sich zusammenzog und eine Angstattacke drohte, zwang sie sich, tiefer zu atmen, was ihr aber kaum gelang. Urlaub. Sie hatte noch nie Urlaub gemacht. Niemals. Nicht einmal als Kind. Großgezogen von ihrem Vater, dem Workaholic, war sie niemals zu mehr gekommen als zu einem Campingausflug mit Cassie und ihrer Familie jeden Sommer …

Cassie.

Sie hatte ihre beste Freundin aus Kindertagen seit Jahren nicht mehr gesehen. In ihrer Jugend waren sie unzertrennlich gewesen, aber ihr Leben und ihre Karrieren waren der Freundschaft im Laufe der Zeit in die Quere gekommen. Ihre freigeistige Freundin war Reiseleiterin für Abenteuertouren und lebte immer noch in Wild River, ihrer beider Heimatstadt, während Erika im Krankenhaus in der City schuftete. Spaß und Freizeitaktivitäten hatten niemals einen Weg auf ihre Prioritätenliste gefunden. Der Erfolgsdurst verdrängte jeden Wunsch nach Entspannung. Irgendwann, wenn sie ihr Karriereziel erreicht hatte, würde sie ein wenig kürzertreten … das Leben genießen, aber fürs Erste war sie ausschließlich auf ihre Laufbahn konzentriert.

In dieser Sekunde hätte sie nicht einmal gewusst, wie sie hätte Spaß haben sollen, selbst wenn sie einen klaren Wegweiser zu diesem Ziel vor der Nase gehabt hätte.

Sie setzte sich aufrecht hin und schaute auf den Kalender an der Wand. Es war der 30. November, und das Wetter in diesem Herbst sorgte für hervorragende Skibedingungen auf den Hängen. Allerdings war es nicht so geeignet, um in den Bergen mit einem Auto herumzufahren. Sie würde es niemals zugeben, aber die gefährliche Situation in der Einbahnstraße hatte sie ein wenig nervös gemacht, was Autofahren betraf.

Sie biss sich auf die Unterlippe. Sie konnte auch den Zug nehmen.

Schließlich ging sie zu ihrem Computer und rief die Abfahrtzeiten der Züge nach Wild River für den nächsten Tag auf. Es war eine Fahrt von weniger als zwei Stunden. Die Berge waren nicht allzu weit von der Stadt entfernt.

Doch die Suche nach einem Quartier für eine so lange Zeit erwies sich als eine Herausforderung. Die Skisaison war bereits weit im Voraus ausgebucht, und da in dieser Woche die Feiertagsaktivitäten in der Kleinstadt begannen, konnte kein Hotel und keine Frühstückspension ihr eine Unterkunft für zwei Wochen anbieten.

Das hätte ich als Erstes überprüfen sollen.

Sie öffnete Facebook und ging direkt auf Cassies Seite.

Wann hatten sie das letzte Mal miteinander gesprochen? Tatsächlich miteinander gesprochen, keine schnellen Facebook- oder WhatsApp-Nachrichten mit dem Wortlaut Frohe Weihnachten oder Alles Gute zum Geburtstag? Wann hatten sie das letzte Mal ein richtiges Gespräch geführt?

Während sie die jüngsten Fotos ihrer Freundin von winterlichen Camping- und Wanderausflügen in den Bergen durchblätterte, Gruppenaufnahmen von glücklich aussehenden Adrenalin-Junkies beim Heliskiing … versiegte ihre ohnehin schon zerbrechliche Zuversicht, was diese Idee betraf. Hatten sie überhaupt noch irgendetwas gemeinsam? Als Teenager waren es ihre Unterschiede gewesen, die sie miteinander verbunden hatten. Sie war fleißig und fokussiert gewesen – genau das, was Cassie gebraucht hatte, um das Unterrichtspensum in der Highschool zu bewältigen. Jemanden, der dafür sorgte, dass sie in die Schule ging und ihre Hausaufgaben erledigte. Erika hatte ihrer Freundin Nachhilfe in Mathe und Physik gegeben und dafür gesorgt, dass ihre Zensuren gut genug waren, um ohne Verzug ihren Abschluss zu machen. Und als Gegenleistung hatte ihre lebenslustige Freundin Erika beigebracht, wie man sich ab und zu entspannte und Spaß hatte. Cassie hatte sie gezwungen, Pausen einzulegen, selbst wenn das bedeutete, dass sie ihr für einige Stunden ihre Lehrbücher hatte stehlen müssen, und ohne sie hätte Erika überhaupt kein Privatleben gehabt.

Ihr Blick fiel auf ihr entblößtes Handgelenk an der Manschette ihres weißen Kittels. Die schwachen Linien eines Tattoos schimmerten durch ihren Tattoo-Concealer hindurch. Das Wort Freundin war nur leserlich, weil sie wusste, was dastand.

Das Beste- und das Freundin-Tattoo waren ihrer beider Geschenk füreinander gewesen, als Erika fortgegangen war, um in Anchorage die Universität zu besuchen. Sie hatten einander versprochen, nicht zuzulassen, dass das Leben ihrer Freundschaft in die Quere kam. Erika trug ihr Tattoo mittlerweile fast immer verdeckt. Sie sollte es wirklich entfernen lassen – wirkte so etwas nicht unprofessionell bei einer Ärztin? –, aber wann immer sie einen Termin machte, sagte sie ihn später wieder ab.

Sie öffnete den Messenger und zögerte. Sollte sie wirklich zwei Wochen in Wild River verbringen? Würde ihre Freundin sich freuen, von ihr zu hören?

Sie stieß den Atem aus und begann zu tippen. Es gab nur eine Methode, um das herauszufinden.

2

Nach einer siebenunddreißigstündigen Suche verkrampfte Reeds Magen sich von Minute zu Minute mehr. Der Anruf der Staatspolizei, dass eine Zehnjährige am Rand des Wild Canyon Peak vermisst wurde – sie war auf einem Campingausflug mit ihren Eltern mit Schneeschuhen unterwegs gewesen –, hatte über fünfzig freiwillige Rettungskräfte sofort auf die Beine gebracht. Der November in diesen Bergen war kalt und unberechenbar, und sie hatten Mitte des Monats bereits eine kleine Lawine gehabt.

Reed zog seinen Schal hoch und justierte seine Stirnlampe neu. Um halb sieben war es bereits stockdunkel draußen, was die Suche erschwerte und seine Zuversicht dahinschwinden ließ. Der bitterkalte Wind, der seit Einbruch der Nacht aufgefrischt hatte, drang durch seine Thermojacke, und die anderen Mitglieder der Crew in seiner Nähe – die die Wege abschritten, auf denen das junge Mädchen zuletzt gesehen worden war – sahen so müde und ängstlich aus, wie er sich fühlte. Sie erreichten einen kritischen Punkt, und sein einziger Trost war das Wissen, dass das Mädchen die richtige Kleidung für das Wetter trug. Ihre Eltern gaben an, sie hätte einen Schneeanzug an, außerdem Handschuhe, Mütze und Schal.

Schnee knirschte unter seinen Stiefeln, als er sich dem Rand einer Schlucht näherte und in die Weite spähte, in der Hoffnung, das Mädchen zu sehen. Schneeverwehungen verschlechterten die Sicht in dieser Gegend. Sein Mund fühlte sich an wie Schmirgelpapier, aber er legte keine Pause ein, um etwas zu trinken. Noch nicht. Nur in festgelegten fünfminütigen Ruhephasen. Er schaute auf seine Armbanduhr. Noch neun Minuten, bis sie eine Pflichtpause machten. Dann sah er sich in der Umgebung um, trat langsam einige Schritte vor … seine zehn Jahre Erfahrung beim Search and Rescue Team von Wild River schärften seine Sinne und fokussierten sie, trotz des Schlafmangels und dem unbarmherzigen und unberechenbaren Wetter in dieser Höhe.

Als er sich dem Abgrund näherte, sah er einen orangefarbenen Schal, der sich rechter Hand an einem Zweig verheddert hatte. Beinahe hätte er vor Erleichterung geseufzt, dass sie sich in dem Bereich befanden, in dem das Kind vielleicht war. Aber die Nähe des Schals zum Rand der Schlucht ließ seinen Puls rasen. Die hohe Kante und die steil abfallende Wand waren trügerisch … die glatten Felsen ein gewaltiges Risiko.

»Orangefarbener Schal gesichtet«, sagte er in sein Funkgerät. »Nähere mich vorsichtig dem Rand des Wild Canyon Peak und hoffe, mehr sehen zu können.« Nachdem er einen Karabiner in seinen Gürtel gehakt und das Seil an dem Baum befestigt hatte, ging er auf den Abgrund zu.

Es war dunkel, und das Licht, das der Schnee reflektierte, hinderte ihn daran, in der Tiefe etwas zu erkennen, daher schaltete er die Taschenlampe aus und ließ den Blick über den felsigen Vorsprung gleiten. »Rebecca!«, rief er, und seine Stimme hallte vom Berg wider.

Von rechts näherten sich mehrere andere Retter. Er bedeutete ihnen zurückzubleiben, als ein Schneeblock unter seinem rechten Fuß nachgab und ihn stolpern ließ. Wegen des unsicheren, trügerischen Bodens hatte das Kind vielleicht nicht bemerkt, wie nah es dem Abgrund gewesen war.

»Rebecca!«, rief er abermals und trat näher an den Rand heran. Mit schimmerndem Reif bedeckte Felsen waren wie Glas unter seinen Stiefeln. Er spähte über den Rand, und ihn schauderte, als er den mehr als dreihundert Meter tiefen Abgrund betrachtete. Niemand konnte einen Sturz dort hinunter überleben.

»Hallo.«

Das Geräusch war kaum hörbar in dem heulenden Wind, aber es durchströmte ihn heiß, als er sich einer Stelle etwa sechs oder sieben Meter unter ihm auf der rechten Seite zuwandte. Er schaltete die Taschenlampe wieder ein und leuchtete die Umgebung aus. Da war sie. Sie kauerte auf einem kaum zwanzig Zentimeter breiten Vorsprung, den Kopf an den Berg gelehnt, die Augen fest geschlossen. Der Wind umpeitschte sie mit solcher Wucht, dass Reed befürchtete, er könnte sie jede Sekunde von dem Vorsprung herunterwehen.

Die Uhr tickte. Sie mussten sich beeilen.

»Hey, Rebecca. Ich werde zu dir kommen und dir helfen. Bleib einfach genau dort, wo du bist. Du machst das ganz großartig.« Er konnte unmöglich wissen, ob das stimmte oder nicht, er konnte ihr Wohlergehen aus dieser Entfernung nicht abschätzen, aber er musste sie beruhigen. Es war ein essenzieller Teil der Rettungseinsätze, Erleichterung und ein Gefühl von Sicherheit zu übermitteln. Wenn eine gefährdete Person glaubte, jetzt in Sicherheit zu sein, wirkte sie besser an ihrer eigenen Rettung mit.

»Ich habe Rebecca gefunden. An der Wand des Wild Canyon Peak. Sie ist ansprechbar«, sagte er ins Funkgerät, während sich zwei Mitglieder der Crew näherten, nachdem sie sich selbst mit ihren Seilen gesichert hatten.

»Wie gehen wir vor?«, fragte Wade Baxter, einer der Anführer des Rettungsteams.

In diesem Monat war Reed der oberste Anführer des Teams, daher gab er den Ton an. »Ich werde mich zu ihr abseilen, sie auf Verletzungen untersuchen und mir ansehen, wie wir sie hochholen können. Haltet eine Trage bereit für den Fall, dass wir eine brauchen.«

Der Mann nickte und winkte zwei andere Mitglieder der Rettungsmannschaft heran, die die Trage hinter sich durch den Schnee zogen.

»Frank, kannst du mich sichern?«

»Ja.« Der ältere Mann, der seit über fünfundzwanzig Jahren Mitglied des Teams war, war die beste Person, die Reed in diesem Moment an seiner Seite haben konnte. Seit er im Ruhestand war, nahm er nur noch selten an Rettungseinsätzen teil, aber wenn es um ein Kind ging, allein und verirrt, mussten alle Helfer mit von der Partie sein.

Reed begann mit dem Abstieg. »Rebecca, ich komme zu dir. Bleib, wo du bist. Entspann dich einfach und beweg dich nicht.«

Ihr Nicken war kaum wahrnehmbar.

Er sah, dass sie mehrere Zweige umklammerte, die aus dem Berg ragten. Sie hatte ihren rechten Handschuh und ihren Schal verloren, aber davon abgesehen war ihre Haut bedeckt und geschützt vor den Elementen. Gott sei Dank. In dieser Kälte bekam man binnen Minuten Frostbeulen.

Seine eigenen Wangen – das einzige Stück Haut, das nicht verhüllt war – brannten im Wind. Sie mussten damit rechnen, dass ihre rechte Hand ärztlich versorgt werden musste. Seine Stiefel rutschten auf den Steinen, und mehrere davon gaben unter ihnen nach und polterten bis zur Sohle der Schlucht hinunter.

Er seilte sich immer weiter ab, bis er den Vorsprung erreichte. Da er nicht darauf vertraute, dass dieser ihrer beider Gewicht tragen würde, blieb er daneben hängen. »Hey. Ich heiße Reed. Kannst du bitte die Augen öffnen?« Sie sollte wissen, dass sie in Sicherheit war, dass sie ihm vertrauen konnte … aber er würde ihre Mithilfe benötigen, um sie beide so schnell wie möglich von hier wegzubringen.

»Nein.«

Er sah mehr die Bewegung ihrer Lippen, als dass er das Wort hörte.

»Höhenangst?«

Sie nickte.

»Okay. Nun, ich bin direkt vor dir. Also, mach einfach die Augen auf und schau genau geradeaus. Du wirst mein blödes Grinsen sehen«, sagte er.

Langsam öffneten sich ihre Augen, und das Entsetzen darin schnürte ihm die Brust zusammen. Er ignorierte die Was-wäre-wenn-Szenarien, die ihm durch den Kopf gingen, und rief sich zur Vernunft.

Das Kind retten, alle sicher nach Hause bringen. Einfach. Und doch keine leichte Aufgabe. Erwarte das Unerwartete.

»Das machst du großartig«, sagte er ihr. »Bist du verletzt?«

»Meine Hand hat wehgetan, aber jetzt nicht mehr …«

Erfrierungen. Hoffentlich kamen sie nicht zu spät.

»Und mein Bein.«

Er schaute auf ihre Beine, wo ihre Schneeschuhe noch immer von ihren Füßen baumelten. Das rechte Bein war in einem geradezu grotesken Winkel verbogen. Benommen und im Moment unter Schock stehend konnte sie die Schwere der Verletzung nicht spüren, was gut war. Er verabscheute die Vorstellung, dass sie so lange allein hier draußen gewesen war, voller Angst und unter Schmerzen. Mit ruhiger Stimme sprach er in sein Funkgerät. »Wir werden die Trage benötigen. Lasst sie links herunter.«

»Ist mein Bein gebrochen?«, fragte sie und riskierte einen Blick darauf.

»Ja.« Er würde nicht lügen. Sie musste vorbereitet sein auf das, was als Nächstes kam. »Aber wir werden es im Handumdrehen wieder in Ordnung bringen. Am Ausgangspunkt des Wanderwegs steht ein Krankenwagen bereit. Nur noch ein paar Minuten … und deine Eltern sind dort …«

»Nein!« Sie zuckte zurück und klammerte sich an die Zweige. Neue Furcht zeichnete sich in ihren Zügen ab.

»He, immer mit der Ruhe. Halt still.« Er hatte das schon früher erlebt. Kinder, die sich verirrt hatten, machten sich überraschend große Sorgen, dass ihre Eltern zornig sein würden. Er wusste, dass nichts weiter von der Wahrheit entfernt war, er musste nur mit ihr darüber sprechen. Das junge Paar drehte vollkommen durch – vor Sorge um ihre Tochter. Erleichterung würde ihr einziges Gefühl sein, wenn sie sicher zu ihnen zurückgebracht wurde. »Deine Mom und dein Dad sind nicht sauer. Sie machen sich Sorgen und haben dich lieb. Sie können es gar nicht erwarten, dich in die Arme zu nehmen.« Die Wiedersehen nach Rettungseinsätzen waren das einzige beständige Element dieses Jobs.

Dem kleinen Mädchen rannen Tränen über die Wangen. »Ich sollte bei der Gruppe bleiben«, flüsterte sie.

»Es kommt vor, dass man sich verirrt. Es ist nicht deine Schuld.« Er schaute nach oben und sah, dass die Trage sich näherte. Links davon seilte Wade sich am Berg ab. Ungefähr zwei Minuten entfernt. Adrenalin schoss durch seine Adern, als er sich im Geiste auf das vorbereitete, was als Nächstes kam – sie von dem Felsvorsprung herunter und auf die Trage zu befördern, um sie dann zu dem bereitstehenden Krankenwagen zu bringen, der auf sie wartete.

»Ich habe wirklich Angst«, murmelte sie und schaute zu der Trage hinauf.

»Darf ich dir eine Geschichte erzählen?«, fragte er sie.

Sie nickte.

»Als ich ungefähr in deinem Alter war …« Er war fast fünfzehn gewesen, aber er wollte, dass sie sich mit ihm identifizierte. »Meine Mom ist mit meiner Schwester, unseren besten Freunden und mir nur eine Meile von hier entfernt campen gewesen. Ich habe beschlossen, kurz vor Einbruch der Dunkelheit eine Wanderung durch den Wald zu machen, und mich dann verirrt.« In Wirklichkeit war er nicht allein gewesen, aber so funktionierte die Geschichte besser.

Rebeccas Augen weiteten sich.

Er schaute hinauf. Die Trage war ungefähr anderthalb Meter entfernt. »Ich dachte, ich würde den Weg zurück zum Lager kennen, aber als ich mich in Bewegung setzte, habe ich mich nur immer mehr verirrt.« Die Wahrheit war, dass er den Weg sehr wohl gekannt hatte. Wenn er nicht mit der nervigen, besserwisserischen besten Freundin seiner Schwester unterwegs gewesen wäre – die darauf beharrte, dass der Weg zurück zum Lager in die entgegengesetzte Richtung führte – und wenn er nicht Gentleman genug gewesen wäre, nicht zuzulassen, dass sie allein loszog und sich verirrte, wäre er nicht mit ihr über Nacht im Wald gestrandet, während sie darauf warteten, dass der Suchtrupp sie fand.

Erika Sheraton. Er hatte im Lauf der Jahre ungezählte Variationen dieser Geschichte erzählt, aber der tiefe Ärger auf sie, den er empfand, war immer derselbe.

»Die Nacht brach herein, und ich wusste immer noch nicht weiter, daher dachte ich wirklich gründlich über das nach, was ich aus einem Überlebenstraining wusste, an dem ich teilgenommen hatte …« Er konnte das hier genauso gut zu einer Weiterbildungsmaßnahme machen. »Ich habe mich daran erinnert, dass es das Beste sein würde, einen Baum auf einer offenen Lichtung zu suchen und neben ihm zu bleiben. Und ihn zu umarmen, wenn ich nervös wurde …« Eine Erinnerung an Erika, die in jener Nacht vor fünfzehn Jahren angstvoll in seinen Armen gezittert hatte, blitzte in seinen Gedanken auf, und er verlor den Faden und wusste nicht mehr, was er gesagt hatte. Sie war nervig gewesen, bis zu dem Augenblick, als sich die Dunkelheit herabgesenkt hatte, als sie müde und hungrig gewesen waren und er herausgefunden hatte, dass sie sich vor der Dunkelheit fürchtete. In diesem Moment hatte er einen Blick auf ein ganz anderes Mädchen erhascht …

Natürlich war ihre verletzliche Seite wieder verschwunden, sobald sie gerettet waren.

»Wie lange waren Sie dort?«, fragte Rebecca zitternd und mit bebender Stimme. Sie stand offenbar unter Schock.

»Nur eine einzige Nacht, aber es war Furcht einflößend, und ich war sehr erleichtert, als die Retter uns fanden … mich fanden«, korrigierte er sich. »Und jetzt helfe ich anderen Kindern, die Hilfe brauchen.«

»Ich bin froh, dass Sie mich gefunden haben«, sagte sie in dem Moment, als die Trage sie erreichte. »Was ist das?« Die Angst kehrte in ihre Stimme zurück.

»Es ist eine Art Liege. Sie wird mir helfen, dich sicher den Berg hinaufzubringen, ohne deinem Bein wehzutun.« Ohne ihm allzu viel wehzutun.

»Wie wollen Sie es angehen?«, fragte Wade, der neben ihm baumelte.

»Ich werde mich näher heranbewegen und sie mit einem Seil sichern für den Fall, dass dieser Vorsprung beschließt, nicht zu halten«, sagte er so leise und gelassen wie möglich. »Dann musst du die Trage näher heranschieben. Das rechte Bein ist gebrochen, und ich kann im Moment nicht herausbekommen, ob sie irgendwelche weiteren Verletzungen hat.«

Wade nickte. »Verstanden.«

Reed drehte sich zu Rebecca um. »Okay. Mein Freund Wade und ich werden dich in Sicherheit bringen, und du musst genauso tapfer sein, wie du es allein hier draußen gewesen bist, okay?«

Sie nickte. »Und Sie sind sich sicher, dass meine Eltern nicht sauer sind?«

Er lächelte. »Schätzchen, glaub mir … wenn du in diesem Jahr irgendetwas Verrücktes auf deiner Weihnachtswunschliste stehen hast, wird ungefähr jetzt in einer Stunde der beste Zeitpunkt sein, um darum zu bitten.« Er zwinkerte ihr zu, und ihre blauen Lippen verzogen sich zu einem winzigen Lächeln.

Es wurde Zeit, sie nach Hause zu bringen.