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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74093-495-8
Die gemütliche Wohnküche war der Lieblingsort aller Auerbachs. Und welche Schlachten waren hier nicht schon geschlagen worden. Es hatte Lachen und Weinen gegeben, Diskussionen. Was hatte der große Familientisch nicht alles schon gesehen.
Es war auch überhaupt kein Wunder, dass Jörg Auerbach sich wie selbstverständlich zu seiner Mutter an genau diesen Tisch setzte. Sie hatte sich viele Sorgen um ihren Ältesten gemacht. Dazu gab es auch mehr als nur einen Grund. Ein Familienmensch, und das war Jörg nun mal, hatte schwer daran zu tragen, von seiner Frau verlassen zu werden, und dass die dann auch noch die Kinder mitgenommen hatte in ihr neues Leben in Belo Horizonte, das war grauenhaft. Wie glücklich war Inge gewesen, dass Jörg eine neue Partnerin gefunden hatte. Und dass er jetzt unglücklich war, das hatte er allein zu verantworten. Er hatte sich von Charlotte getrennt, weil deren Sohn ihm immer wieder bewusst gemacht hatte, wie sehr er seine eigenen Kinder vermisste.
Es war eine schreckliche Situation, Inge hatte mit Jörg reden wollen, weil sie es unerträglich fand, wie sehr er litt und sich aufrieb. Und nun war er ihr zuvorgekommen. Er wollte mit ihr reden.
Jörg sah noch immer sehr mitgenommen aus, doch irgendwie wirkte er entschlossen, und er sah nicht mehr so erloschen aus. Das erleichterte Inge sehr. Mütter litten immer mit ihren Kindern, ganz egal, wie alt sie waren. Und Mütter wollten für ihre Kinder immer nur das Beste.
»Möchtest du einen Kaffee, Jörg?«, erkundigte sie sich, denn der stand bei den Auerbachs immer bereit.
»Ja, Mama, gern, und wenn du dann auch noch etwas Süßes dazu hast, da würde ich nicht nein sagen.«
Auch das war bei den Auerbachs kein Problem, und das lag in erster Linie an Werner. Der Professor war eine richtige Naschkatze, und den konnte man strafen, wenn er zu seinem Kaffee nichts Süßes bekam.
Werner war mit seinem Schwiegervater unterwegs, Pamela war in der Schule. Ihre Mutter konnte auch nicht hereinplatzen, die arbeitete heute ehrenamtlich im Hohenborner Tierheim.
Sie waren also allein und ungestört, und Inge ahnte, dass Jörg ihr etwas Folgenschweres sagen wollte. Sie hatte ein wenig Angst davor. Vermutlich trödelte sie deswegen, ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit, ein wenig herum. Doch immer konnte sie ihm nicht ausweichen. Sie stellte Kaffee und Kuchen auf den Tisch und setzte sich, beinahe mit einer Gottergebenheit. Sie hatte Angst vor dem, was kommen würde. Dabei war es doch genau das, was sie hereinbesehnt, was sie selbst vorgehabt hatte, mit ihm zu reden. Vielleicht hätte sie es wirklich getan, vielleicht hätte sie es auch hinausgezögert, was leider ihre Art war. Jetzt hatte Jörg die Regie in die Hand genommen, und er ließ sich Zeit, trank Kaffee, aß genüsslich etwas von dem Kirsch-Streuselkuchen, lobte ihn. Wenn man so wollte, war es eine Situation, wie sie öfters vorkam.
Und dann ließ Jörg die Bombe platzen.
»Mama, ich werde morgen nach Stockholm zurückfliegen, und ich habe meinen Flug auch bereits gebucht.«
Ihr fiel der Löffel aus der Hand. Sie wusste nicht, womit sie gerechnet hatte, damit nicht. Und das überraschte sie auch so sehr, dass sie erst einmal dazu nichts sagen konnte.
Offensichtlich erwartete Jörg auch keinen Kommentar seiner Mutter.
»Mama, ich fliege in erster Linie zurück, weil ich alles dransetzen will, mich mit Charlotte wieder zu versöhnen, und ich kann nur hoffen, dass sie mir verzeihen wird.«
Nun verstand Inge überhaupt nichts mehr.
»Mama, es war dumm von mir, sie zu verlassen. Ich wusste von Anfang an, dass sie einen Sohn hat, den sie über alles liebt. Und Sven ist ja auch ein großartiger Junge. Ich habe die Probleme größer gemacht, als sie sind, und mich immer tiefer hineingesteigert, dass ich mit dem Jungen nicht umgehen kann, weil er mir den Verlust meiner eigenen Kinder bewusst macht.«
Er hieb mit seiner Kuchengabel in den Kuchen hinein.
»Das war dumm, das war egoistisch von mir. Ich dachte nur an mich, an meine eigene Befindlichkeit. Für Charlotte war es auch nicht einfach, mit einem Kaputten wie mir klarzukommen, der von seinen Altlasten erdrückt wird, unter ihnen leidet. Sie hat sich nicht ein einziges Mal beklagt, sie hat mich aufgehoben, wenn ich am Boden lag, sie hat meine Launen hingenommen, die ungerechtfertigt waren. Sie hat alles für mich getan aus Liebe. Und ich? Ich habe diese Liebe mit Füßen getreten. Mein Gott, Mama, ich bin doch ein erwachsener Mensch. Ich treffe in der Firma weitreichende Entscheidungen, und im Privatleben versage ich. Ginge es hier um einen Job, dann hätte man mich längst entlassen, man wäre über meinen freiwilligen Weggang erleichtert gewesen. Und Charlotte? Die hat um mich gekämpft, sie hat geweint. Und ich? Ich habe nur mich gesehen. Meine Güte, was für ein Narr ich doch war.«
»Du hattest deine Gründe, dich so zu verhalten, mein Junge«, sagte Inge leise. »Es gibt für nichts im Leben eine Gebrauchsanweisung.«
Er blickte seine Mutter an.
»Mama, ich war ein selbstherrlicher Egoist. Schön, ich habe meine Frau und meine Kinder verloren. Dabei geht es mir nicht einmal um Stella. Da ist nichts mehr, Charlotte passt viel besser zu mir als meine Ex. Aber die Kinder, die vermisse ich ja schon sehr. Doch ich bin kein Einzelfall. Es gibt unzählige Trennungen, Leid und Schmerz. Doch das Leben geht weiter, und das Universum dreht sich nicht nur um einen selbst. Man kann es nicht nach sich ausrichten, muss mit den Befindlichkeiten leben. Ich weiß nicht, warum ich mich so sehr in alles hineingesteigert habe. Vermutlich ging es mir zu gut, ich habe mich ausgeruht, alles als eine Selbstverständlichkeit betrachtet, ich wurde bequem, wollte Charlotte allein für mich haben, nicht im Doppelpack. Wie heißt es so schön, wenn es dem Esel zu wohl ist, geht er aufs Eis tanzen. Ich war nicht nur ein Esel, ich war ein richtiger Hornochse.«
Ehe Jörg nun versuchte, sich weiter zu zerfleischen, sagte Inge: »Jörg, Selbstvorwürfe helfen dir jetzt auch nicht weiter. Ich freue mich, dass du versuchen möchtest, dich mit Charlotte zu versöhnen. Sie ist eine wundervolle Frau, und wir alle mögen sie sehr. Wenn sie dich wirklich liebt, dann wird sie dir auch verzeihen. Es ist mit dir und Charlotte ja alles sehr schnell gegangen, wenn ihr euch …«
Jörg unterbrach seine Mutter.
»Mama, fang jetzt bitte nicht damit an, dass Charlotte und ich uns auf einer Partnerbörse im Internet kennengelernt haben. Das ist ein legaler und für viel beschäftigte Leute der richtige Weg, jemanden zu treffen. Führ bitte nicht an, dass man sich früher auf Tanztees kennengelernt hat. Das ist out, so etwas gibt es nicht mehr. Und weil man einiges von sich preisgeben muss, wussten Charlotte und ich bereits eine ganze Menge voneinander, ehe wir uns zum ersten Male trafen. Dazu hätte es früher mindestens zehn Tanztees gebraucht. Früher war alles anders, doch früher hatten wir auch einen Kaiser, Mama, die Zeiten haben sich geändert, und wer nicht mitgeht, der bleibt auf der Strecke. So einfach ist das.«
Inge bereute, davon angefangen zu haben. Es befremdete sie halt noch immer. Und kein Mensch konnte über seinen Schatten springen. Sie gehörte zu der Generation, in der man halt seinen Partner auf ganz altmodische Weise kennengelernt hatte.
»Jörg, es tut mir leid.«
»Mama, es muss dir nicht leidtun«, versicherte er ganz versöhnlich. »Charlottes und meine Konflikte haben überhaupt nichts mit der Art unseres Kennenlernens zu tun. Ich hätte auch so reagiert, wenn wir uns zufällig, durch die Vermittlung von Freunden, durch eine Anzeige oder wie auch immer kennengelernt hätten. Es liegt an mir allein. In meinem Kopf hat sich da etwas festgesetzt, und da habe ich mich immer weiter hineingesteigert. So einfach ist das. Ich muss lernen, loszulassen. Ich darf nicht weiter am Alten festhalten wollen.«
Inge konnte sich bei seinen letzten Worten ein kleines Lächeln nicht verkneifen.
»Das hast du leider von mir, mein armer Junge.«
Er lächelte ebenfalls.
»Ach, Mama, wenn ich auch noch deine anderen, all so liebenswerten Eigenschaften geerbt habe, dann kann ich dem Himmel nur danken. Ich kann dir überhaupt nicht oft genug sagen, was für eine großartige Mutter du bist. Du warst immer für uns da, du hast für uns gekämpft wie eine Löwin für ihre Jungen, du hast uns verteidigt, du hattest immer ein Ohr für uns, und es ist dir so hoch anzurechnen, dass du allein es geschafft hast, aus uns die zu machen, die wir sind. Aus allen von uns ist etwas geworden, und damit meine ich nicht einen akademischen Grad, der für Papa so wichtig ist. Nein, ich meine damit Menschen, die ihr Herz auf dem richtigen Fleck haben. Das alles ist nur dein Verdienst allein, denn von Papa hatten wir früher wirklich nicht viel. Er war wie ein liebevoller Besucher, der mit Geschenken vorbeikam. Wir sahen voneinander nur unser Sonntagsgesicht, den Alltag, den haben wir mit dir allein geteilt, nicht mit Papa.«
Inge wollte etwas erwidern, ihren Werner in Schutz nehmen, obwohl alles wirklich stimmte, wie Jörg es gerade erzählt hatte. Sie kam nicht dazu, denn unbemerkt war der Professor in den Raum getreten, er war frühzeitig zurück, weil ein Vortrag, den er gemeinsam mit seinem geschätzten Schwiegervater besuchen wollte, ausgefallen war.
»Ihr habt gerade über mich gesprochen?«, erkundigte er sich, nachdem er sich zu seiner Frau und seinem Sohn an den Tisch gesetzt hatte und Inge automatisch aufgestanden war, um auch für Werner Kaffee und einen Kuchenteller hinzustellen. Wenn man sich so lange kannte wie sie und Werner, dann funktionierte man beinahe automatisch, weil man einander so gut kannte und auch ohne Worte wusste, was der andere wollte.
»Ich habe Mama ein Kompliment gemacht und ihr gesagt, dass sie die beste Mutter der Welt ist, dass wir ihr zu verdanken haben, was aus uns geworden ist, weil wir von dir ja nicht viel hatten.«
Professor Werner Auerbach besaß eine gewisse Eitelkeit, die in erster Linie davon kam, dass er bewundert und geschätzt wurde. Er war jedoch auch ehrlich, und so antwortete er auch direkt: »Das stimmt, mein Junge. Ich muss leider zugeben, dass ich ein grottenschlechter Vater war und die Erziehung von euch eurer Mutter überlassen habe. Ohne sie wäre ich niemals der geworden, der ich bin. Sie hat mir den Rücken freigehalten, sie ist eine unglaublich starke Frau. Dennoch bereue ich manchmal, dass ich alle Verantwortung auf sie abgewälzt habe. Es ist jedoch nichts rückgängig zu machen, und ich habe mich bei eurer Mutter mehr als nur einmal entschuldigt. Aber, und das kann ich voller Stolz sagen, wir waren und wir sind ein wundervolles Team.«
Er blickte Inge an, die sich mittlerweile wieder gesetzt hatte, nachdem Werner versorgt war. Er ergriff ihre Hand, tätschelte sie.
»Es ist ein Geschenk, jemanden an seiner Seite zu haben, mit dem man durch dick und dünn gehen kann.«
Aus seinem Blicken, seinen Worten klang Liebe. Und es stimmte wirklich, die Auerbachs waren ein Team, auch wenn nicht immer alles eitel Sonnenschein gewesen war. Auch bei ihnen hatte es Krisen gegeben, Inge hatte an Trennung gedacht, sie hatte für eine Weile auf getrennten Schlafzimmern bestanden. Sie hatten sich immer wieder zusammengerauft, weil sie ohne einander nicht sein konnten. Und das nach so vielen Ehejahren sagen zu dürfen, das zeugte von Liebe.
Das spürte auch Jörg, und eigentlich konnte er insgeheim seine Eltern nur beneiden, dass sie immer wieder die Kurve gekriegt hatten, dass sie ohne Blessuren davonzutragen durch viele Tiefen gegangen waren und dass die Höhen sie nicht übermütig gemacht hatten.
Seine Ehe mit Stella war gescheitert. Sie war davongelaufen mit einem anderen, und er war mit seinen Schuldzuweisungen sofort da gewesen. Doch gehörten zu allem nicht immer zwei? Vielleicht hatte ihr in der Ehe mit ihm etwas gefehlt. Vielleicht versuchte sie mit diesem älteren Mann das nachzuholen, was ihr in ihrer Kindheit gefehlt, was sie schmerzlich vermisst hatte. Er musste sich darüber nicht mehr den Kopf zerbrechen. Es war vorbei. Sie hatten über das Scheitern ihrer Ehe nicht gesprochen, Stella hatte klammheimlich die Koffer gepackt und war mit dem Mann und den Kindern nach Brasilien gegangen. Und dass sie absolut konfliktscheu war, sah man auch daran, dass sie mit ihren Eltern bis heute nicht darüber gesprochen hatte.
Stella war seine Vergangenheit, seine Gegenwart war gerade unerträglich, und seine Zukunft … Ja, er war sich sehr, sehr sicher, die sollte Charlotte gehören, und er würde alles daransetzen, zu Sven, deren Sohn, ein gutes, vorbehaltloses Verhältnis zu bekommen.
Aus diesen Gedanken heraus sagte er: »Papa, ich fliege morgen nach Schweden zurück, und ich will alles daransetzen, mich mit Charlotte zu versöhnen.«
»Das ist großartig, mein Junge«, rief der Professor ganz spontan. »Charlotte ist eine so großartige Frau, und ich finde, ihr passt so gut zueinander.«
Am liebsten hätte Jörg sich jetzt bei seinem Vater erkundigt, ob er von Charlotte als Mensch begeistert war oder ob es ihn faszinierte, dass sie eine so erfolgreiche Handchirurgin war. Er ließ es bleiben. Was sollte es, er wollte an seinem letzten Tag keinen Streit haben, und seinen Vater konnte man eh nicht mehr ändern. Er war wie er war. Und so schlimm war er ja nun auch nicht, denn seine Familie war ihm sehr wichtig. Und darauf kommt es an.
»Ich würde euch, natürlich unsere Pamela und die Großeltern zum Abschied gern in den ›Seeblick‹ einladen. Wie ich Mama kenne, würde sie sonst jetzt alle Hebel in Bewegung setzen, um ein mehrgängiges Menü auf den Tisch zu zaubern.«
Jörg wandte sich seiner Mutter zu. »Mama, du hast großartig für mich gesorgt, du hast mich, ohne viele Worte zu machen, aufgefangen. Das Essen im ›Seeblick‹ soll auch so etwas wie ein kleines Dankeschön sein.«
Inge hatte Tränen in den Augen, als sie ihm bewegt antwortete:
»Jörg, mein Junge, ich freue mich. Wir gehen alle sehr gern in den Seeblick.«
Sie wandten sich anderen Themen zu. Und das war auch etwas, was alle Auerbachs gemeinsam hatten, sie waren an allem interessiert, und sie unterhielten sich gern.
Wofür ein großer, alter Familientisch nicht wundervoll war.
*
Roberta wurde mitten in der Nacht wach. Sie schreckte hoch, weil etwas sie berührte. Doch ehe sie die Nachttischlampe anknipsten konnte, hörte sie ein weinerliches Kinderstimmchen.
»Ich habe schlecht geträumt, darf ich zu dir ins Bett kommen?«
Es war der kleine Philip. Seit er da war, brannte zwar im Haus überall eine Notbeleuchtung, doch es wunderte Roberta schon, dass er nicht geweint hatte, sondern zu ihr gekommen war. Das bedeutete auf jeden Fall, dass er sich mittlerweile nicht nur im Haus auskannte, sondern dass er angstfrei war und sich wohlfühlte.
»Natürlich, mein Schatz«, rief Roberta und rückte bereitwillig beiseite. »Warum hast du denn nicht gerufen? Alma oder ich hätten dich gewiss gehört und wären sofort zu dir gekommen.«
Philip kuschelte sich an sie, und für Roberta war es unglaublich schön, diesen kleinen, warmen Kinderkörper zu spüren.
»Ich möchte aber lieber in deinem Bett mit dir schlafen, weil ich weiß, dass die bösen Träume nicht zu dir kommen. Sie haben Angst vor dir, weil sie wissen, dass du eine Ärztin bist und mit allem fertig wird, auch mit Träumen.«
Na, wenn das kein Kompliment war!