Cover

Table of Contents

Titel

Impressum

Vorwort zum Buch

Hundeweihnacht in Antalya

Hinkebein

Rodrigo – das spanische Temperament

Diego – OP in letzter Minute

Mitfahrgelegenheit gefunden

„Nimm uns mit!“

Mausi – die Schnelle auf drei Beinen

Hütte Marke Eigenbau als Schutz für die Babys

Fellkugel mit braunen Kulleraugen sucht Zuhause

„Futter für mich und meine Babys“

Schwarzer Teufel

Vernarbte Geschichte

Nachwort

„Unser Tierheim ist kein Knast.“

Tierhilfe Antalya e.V.

Über die Autorin

Vorankündigung

 

 

 

 

Emma Steen

 

 

 

 

 

 

Vergessene Fellnasen

Schicksale der Straßenhunde

von Antalya

Nach wahren Erlebnissen

 

 

 

 

 

 

 

DeBehr

 


Copyright © 2021, Emma Steen

2. vollständig überarbeitete Auflage

Umschlaggestaltung, Illustration: Antje Reiter

Printed in Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

All rights reserved.

ISBN: 9783957538536

 

Vorwort zum Buch

„Seitdem ich die Menschen kenne,

liebe ich die Tiere.“

(Arthur Schopenhauer)

„Wenn mir mein Hund das Liebste ist,

so denket nicht, es wäre Sünde.

Der Hund blieb mir im Sturme treu,

der Mensch nicht mal im Winde.“

(Franz von Assisi)

 

Diese Worte habe ich oft von meiner Großmutter gehört, als Kind, als Jugendliche. Meist habe ich die Augen genervt verdreht, weil ich solche Sprüche als unsinnig empfand. Heute, mit all meinen Erfahrungen, muss ich ihr recht geben.

Danke, Oma, dass du mir so frühzeitig beigebracht hast, dass wir Tiere als unsere Begleiter ansehen sollen.

Doch das ist es nicht allein, was mich bewogen hat, dieses Buch zu schreiben. Noch bevor ich mich entschloss, in die Türkei zu ziehen, hat mich das Problem der Straßenhunde interessiert. Als Touristin fühlte ich mich oft belästigt, wenn mir und meinen Kindern diese Tiere auf Schritt und Tritt folgten. Auch eine gewisse Angst war immer mit dabei, sie könnten krank sein, könnten beißen.

Erst nach meiner Übersiedelung habe ich mehr über die Straßentiere und ihr Schicksal erfahren.

Irgendwann bekam ich Kontakt zur „Tierhilfe Antalya“. Ich erhielt die Chance, die Frauen bei ihrer Arbeit zu begleiten, ihnen über die Schulter zu sehen. Mehr und mehr entwickelte ich mich zur Fürsprecherin dieser oft armen Kreaturen. In der Nähe meines Geschäftes schlug mir anfänglich Hass entgegen, wenn ich die Tiere vor Tritten, Schlägen und fliegenden Steinen beschützt habe. Die Vierbeiner dankten es mir schon sehr bald, denn wenn ich zum Strand ging, war ich nie allein. Fast immer begleiteten mich drei oder vier Hunde. Das hat auch den Einheimischen nicht gefallen. Man muss wissen, dass sehr viele Türken Angst vor Hunden haben. So ist es auch nicht möglich, einen Hund im Bus mitzunehmen. Selbst Taxifahrer haben ihre Probleme, wenn ein Hund transportiert werden soll.

Meine nächste Station war das Tierheim in Kepez/Antalya. Was ich hier sah, schockierte mich zutiefst. Schon allein der Gestank, der mir bei der Hitze entgegenschlug, hielt sich hartnäckig in meiner Nase. Und nicht nur das. Denn als ich das Tierheim verließ, hatte sich der Geruch auch in meiner Kleidung, in meinen Haaren, auf meinem Körper festgesetzt.

Mit meinen Geschichten möchte ich all den Freiwilligen der Tierhilfe Antalya, die sich vor Ort selbstlos für die Tiere einsetzen, danken. Nur wer sich die Zeit nimmt, den Alltag dieser fleißigen und unermüdlichen Damen zu begleiten, weiß und kann einschätzen, was sie leisten. Trotz knapper Mittel versorgen sie die Tiere mit viel Hingabe und Liebe, bauen ihnen aus einfachen Mitteln einen Unterschlupf, wohin sie sich verstecken können, wenn es regnet. Jeden Tag fahren sie festgelegte Futterstellen ab. Nicht nur dass diese Arbeit viel Liebe erfordert, nein, es gehört auch eine Menge körperlicher Kraft dazu. Und im Luxus wohnen diese Mitarbeiter auch nicht gerade.

Auch dem Tierarzt in Antalya, der eng mit der Tierhilfe zusammenarbeitet, Tag und Nacht erreichbar ist, soll ein Dank ausgesprochen werden. Er führt lebensrettende Operationen durch, auch wenn er weiß, dass er auf sein Honorar warten muss.

Manche dieser Geschichten sind traurig, andere laden zum Schmunzeln ein. Manche machen wütend. Doch eines sind sie alle, lesenswert und mit Herzblut geschrieben.

Die erste Geschichte ist meinem eigenen Hund gewidmet. Er wurde während meiner Abwesenheit getötet. Er war toll, mein treuer Begleiter. Sein Tod ist schon zwei Jahre her. Noch immer hänge ich an diesem Tier, kann ihn nicht vergessen. Cakal war der beste Freund, den ich jemals hatte. Viel Leid wäre mir erspart geblieben, wenn er noch an meiner Seite gewesen wäre.

Viel Spaß beim Lesen.

Eure Emma

 

 

Hundeweihnacht in Antalya

 

Du warst mein Freund, mein treuer Begleiter. Für mich warst du mehr als nur ein Tier. Ging es mir schlecht, hast du es schon viel früher gemerkt als ich, hast mich nicht mehr aus den Augen gelassen, bliebst an meiner Seite. Nicht einmal die Menschen um mich herum ahnten, wie schlecht es mir ging. Dir habe ich meine Genesung zu verdanken. Leider musste ich dich für zwei Wochen allein lassen. Das reichte diesem eifersüchtigen Mann, dich vom Balkon zu stoßen. Ich konnte dir nicht helfen, obwohl du mir immer geholfen hast. Deine Geschichte soll der Anfang der Sammlung sein.

Ich hoffe, du hast deine Ruhe hinter dem Regenbogen gefunden. Vergessen werde ich dich nie. Einen Ersatz für dich kann es nicht geben. Du wirst immer in meinem Herzen sein, auch wenn noch so viel Zeit vergeht.

Es war das erste Mal, dass Kiki Weihnachten nicht zu Hause verbrachte. Doch was sollte sie tun. Sie saß in Antalya fest. Alle Flughäfen in Deutschland waren wegen der riesigen Schneemassen, die in den letzten Tagen gefallen waren, geschlossen. Sie war bereits am Flughafen gewesen, doch dort sagte man ihr, dass alle Flüge von und nach Deutschland bis auf Weiteres gestrichen wurden. Ihr blieb also nichts anderes übrig, als in die Wohnung zurückzufahren. Dort angekommen, brach sie erst einmal in Tränen aus. Ihr Freund Ertan nahm sie in den Arm und versprach ihr, dass sie ein wunderschönes Weihnachten zusammen verbringen würden. Das war jedoch ihr kleinstes Problem, vielmehr ließ Kiki die Sehnsucht nach ihren Kindern und ihrer Familie nicht mehr los. Das blieb Ertan nicht verborgen. Es gab wohl nichts, was Kiki von ihren Gedanken an die Familie abbringen würde. Keine gemeinsamen Freunde, keine tolle Feier. Sie würde zwar körperlich anwesend sein, aber mit ihren Gedanken, das wusste er, war sie in Deutschland. Nachvollziehen konnte er ihre Gefühle. Es musste ihm etwas einfallen, was sie wieder etwas fröhlicher stimmte.

Er ging erst einmal zum nächsten Telefonladen und holte eine neue Internetkarte. Auf dem Weg dorthin grübelte er, was er unternehmen könnte, um ihre Laune aufzuhellen. Es wollte ihm nichts einfallen. Vor dem Geschäft lag einer der vielen Straßenhunde und blickte ihn mit seinen großen braunen Augen an. Das war es, schoss es ihm blitzartig durch den Kopf. Er holte schnell die Internetkarte und lief wie besessen nach Hause. Hier hatte sich das Häufchen Unglück, das sich seine Freundin nannte, auf dem Sofa mit angezogenen Knien in eine Ecke unter eine warme Decke gekuschelt. Die Wimperntusche lief ihr übers ganze Gesicht. Es war nicht zu übersehen, dass sie die ganze Zeit geweint hatte.

Als er kam, wischte sie sich schnell die letzten Tränen vom Gesicht. Doch dabei verschmierte sie nur alles.

„Los, komm zieh dich an, wir spazieren an den Strand. Aber erst mach dein Gesicht sauber. Das sieht schwarz-weiß aus“, sagte er etwas rüde. Er war dabei mehr ärgerlich auf sich selbst als auf sie. Widerwillig zog sich Kiki eine warme Jacke an, schlüpfte in ihre Stiefel und band sich einen dünnen Schal um. Dann gingen sie beide aus dem Haus und über die Straße. Sie wanderten durch den Wald in Richtung Strand. Wie nicht anders zu erwarten, telefonierte Ertan während der gesamten Zeit. Plötzlich fing er an zu lachen, doch da Kiki kein Türkisch verstand, wusste sie auch nicht, worüber er lachte. Er hakte sie unter und rannte mit ihr zurück. Verwirrt folgte sie ihm. Sie hatte auch keine andere Wahl. Zu Hause angekommen, telefonierte er wieder.

Kiki wollte sich wieder ausziehen, doch in seinem Macho-Ton befahl er: „Lass die Sachen an. Wir gehen gleich wieder los.“

Da Kiki schon mit der ganzen Situation total überfordert war und dann noch nicht einmal ahnte, was er vorhatte, rannte sie ins Schlafzimmer und warf sich aufs Bett und heulte hemmungslos. All das schien Ertan überhaupt nicht zu interessieren. Er hatte seinen Spaß.

Es mochte wohl eine Viertelstunde vergangen sein, da riss er die Tür auf, zog sie vom Bett, schob sie aus der Wohnung in den Fahrstuhl und abwärts ging es. Vor dem Haus stand ein Auto. Daneben lümmelte sein Freund auf dem Autodach.

Mit einem Grinsen auf dem feisten Gesicht sagte er: „Mann, wisch dir deine Tränen ab. In dem Auto wird nicht geflennt.“

„Ihr seid wie immer sehr nett“, zischte sie und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Es entging niemandem, dass sie nicht nur traurig, sondern auch sehr verärgert war. Keiner schien sie hier zu verstehen.

Immer noch grübelnd, wie sie doch noch nach Hause kommen konnte, stieg sie in das Auto. Zuerst brachten sie den Freund nach Hause, der ihnen noch einen schönen Tag wünschte. Kiki nickte dankend. Was soll daran noch schön werden, sagte sie sich im Stillen. Ich hocke hier fest. Eigentlich wollte ich Weihnachten bei meiner Familie sein. Aber Verständnis kann man von euch sowieso nicht erwarten. Das wäre zu viel verlangt. Dann fuhr Ertan los.

„Wohin fahren wir jetzt?“, fragte Kiki mit gereizter Stimme.

„Lass dich überraschen“, gab er kurz zurück.

Sie konnte sich nicht an der Fahrt erfreuen. Sie durchfuhren einen Tunnel und was danach kam, ließ ihren Mund offen stehen. Es war ein Tag vor Heiligabend und sie fuhren eine Küstenstraße entlang. Die Sonne schien. Es war so gar kein bisschen wie Weihnachten. Ertan fuhr in eine Nebenstraße und hielt an.

„Was wollen wir hier?“, fragte Kiki beim Aussteigen. Stück für Stück spürte ihr Freund, dass sie sich nicht mehr lange gedulden würde. Eine Explosion stand kurz bevor. Schon der Weg in die Seitenstraße war eine holprige Angelegenheit. Ertan musste Schritttempo fahren, um nicht das Auto zu beschädigen, denn überall lauerten übergroße Schlaglöcher.

„Lass uns ein wenig das Meer genießen“, antwortete er, während er sie in den Arm nahm. Sein Ton war nicht so ruppig wie zuvor.

„Sag mal, hast du überhaupt eine Vorstellung, wie es mir im Moment geht?“, fragte sie kratzbürstig.

„Du, meine kleine Kedi, es tut mir so leid“, antwortete er und streichelte ihr liebevoll über die Wange. „Ich weiß doch, dass du dich so sehr auf deine Kinder gefreut hast und auch auf deine Eltern. Aber wir müssen jetzt das Beste daraus machen. Hm?“ Mit traurigem Blick nickte sie. Er nannte sie immer nur Kedi, wenn er ihr zeigen wollte, wie sehr er sie liebte. Denn Kedi heißt im Türkischen Katze.

„Ja“, nickte Kiki, „ich weiß doch. Aber es tut so weh. Du weißt, meine Tochter ist jetzt ganz allein, weil wir zusammen nach Hause fahren wollten. Nun sitzt sie fest.“

Während sie so sprach, gingen sie eng umschlungen am Strand entlang. Durch den weichen Sand schlenderten sie zum Auto zurück. Ertan hielt ihr die Tür auf. Verdutzt sah sie ihn an. Das waren ganz neue Züge an ihm. Er umrundete das Fahrzeug, stieg ein und, noch bevor er den Motor anließ, telefonierte er noch einmal kurz. Während der Fahrt versuchte Kiki, die bezaubernde Landschaft zu genießen. Der Weg führte sie in die Berge, weit weg von jeglicher Zivilisation. So empfand es Kiki zumindest in diesem Moment. Die Straßen wurden zu Feldwegen, es wurde immer steiler und kurvenreicher. Enge Wege, durch die sich das Auto quälte. Kiki fühlte sich nicht wohl, wäre am liebsten ausgestiegen und zurückgelaufen.

Ängstlich fragte sie: „Wo fährst du denn jetzt hin?“

„Warte es ab“, war die einzige Antwort, die sie erhielt. Warum frage ich denn überhaupt? Eine vernünftige Antwort bekomme ich von diesem Kerl ja doch nicht. Ihr Gesicht zeigte deutlich ihren Unmut.

Zwischendurch hielt er immer mal wieder an, wenn es einen besonders schönen Ausblick gab. Kiki versuchte, so gut es ging, diese Ausblicke zu genießen. Hin und wieder gelang es ihr auch mal, ihre Gedanken von Deutschland loszubekommen. Es ging immer höher in die Berge. Irgendwann gelangten sie an ein einsam stehendes Haus. Ein mulmiges Gefühl machte sich in ihr breit. Was soll ich hier? Was wollen wir hier? Ängstlich sah sie zu Ertan.

„Komm steig aus“, rief Ertan lachend.

„Nein, ich steige hier nicht aus“, war ihre Antwort. Zur Bekräftigung schüttelte sie vehement ihren Kopf.

„Los, komm schon, stell dich nicht so an!“

„Nein! Das ist ja gruselig hier.“

Mit Nachdruck forderte Ertan sie auf, auszusteigen. Nur zögerlich stieg sie aus dem Auto, ließ aber die Autotür offen, um schnell wieder hineinzuspringen, falls es notwendig sein würde.

Durch zwei Bretter, die Fenster darstellen sollten, schaute eine alte Frau mit einem weißen Kopftuch hervor. Sie sagte etwas, das Kiki aber nicht verstand. Ihr wurde ganz flau in der Magengegend. Ertan antwortete ihr und ging dann Richtung Hof. Kiki folgte ihm, denn sie wollte nicht allein stehen bleiben. Plötzlich verschwand er hinter einer halb eingefallenen Hütte. Kiki suchte nach einem Weg, da überall Matsch war. Und noch während sie so suchte, sprang sie etwas an. Sie geriet ins Wanken.

Ertan rief noch: „Pass auf.“ Doch es war schon zu spät. Sekunden später stand ein riesiger Hund vor Kiki. Erschrocken lehnte sie sich zurück.

Es war ein Schäferhund. Ein ziemlich großer noch dazu.

„Darf ich vorstellen? Das ist Cakal. Mein Hund.“

„Du hast einen Hund?“, fragte Kiki ungläubig.

„Ja“, antwortete er mit einem Grinsen, „und er wird mit uns Weihnachten feiern und dann bei uns bleiben.“

„Wie? Wie meinst du das?“

„Los, lass uns schnell hier weg“, sagte er, schob den Hund ins Auto und Kiki hinterher.

Während der Rückfahrt erzählte er Kiki, weshalb Cakal auf diesem Bauernhof war. Als Reiseleiter hatte er wenig Zeit gehabt, sich um das Tier zu kümmern. Hin und wieder war er tagelang unterwegs gewesen. Dann war er gezwungen, Cakal vor dem Reisebüro anzubinden. Dass es so nicht weitergehen konnte, wurde ihm schnell bewusst. Doch was sollte geschehen? So hatte er beschlossen, den Hund bei dieser Familie abzugeben, oder besser gesagt in Pflege zu geben. Kiki sah ihn skeptisch an.

„In Pflege? Das ist nicht dein Ernst?“, hakte sie nach.

„Doch. Ich dachte, er sei hier gut aufgehoben. Dass er wieder nur an der Leine hängt, wusste ich nicht.“

„Jetzt, da du bei mir bist …“, fuhr er nach einer Pause fort. Sie neigte den Kopf zur Seite.

„Was willst du mir sagen?“, hakte sie nach, ahnte jedoch schon die Antwort, die sie erhalten würde.

„Ja, er kann doch jetzt bei uns bleiben. Wir sind zu zweit und können uns gemeinsam um ihn kümmern. Was hältst du davon?“

„Du weißt aber schon, dass wir dann auch irgendwie angebunden sind?“, fragte sie noch.

Er nickte nur.

Immer wieder leckte der Hund Kikis Ohren, legte seine Pfoten auf ihre Schulter und auch seinen Kopf.

Schmunzelnd fragte Ertan: „Wirst du mir untreu, Kedi?“

Und jetzt konnte auch Kiki sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Sie schüttelte den Kopf, war sprachlos. Das war wieder mal eine Idee von ihm. Dass er immer für Überraschungen gut war, diesen Umstand kannte sie bereits.

Auf dem Rückweg hielt Ertan noch einmal kurz an.

„Bleib sitzen, ich komme gleich wieder.“

Er sprang aus dem Auto und in ein kleines Geschäft und war blitzschnell wieder zurück.

„Was hast du gekauft?“, fragte Kiki.

„Ach, nichts Besonderes.“

Es war schon dunkel, als sie wieder zu Hause ankamen. Trotzdem nahm Ertan Kiki ihren Schal ab und verband ihr die Augen.

„Was soll das?“, fragte sie, etwas durcheinander. Ihre Nerven wurden an diesem Tag zur Genüge strapaziert.

„Überraschung!“

Na, ob ich die brauche, dachte sie, verkniff sich aber, ihre Überlegung laut auszusprechen.

An der einen Hand den Hund, an der anderen Kiki, lotste Ertan beide ins Haus. Vor der Wohnungstür angekommen musste Kiki warten. Ertan nahm sie an die Hand und zog sie in die Wohnung. Dann schob er sie weiter ins Wohnzimmer. Hier nahm er ihr die Schalaugenbinde ab.

Sie glaubte nicht, was sie da sah. Der Mund stand ihr offen, die Augen waren weit aufgerissen. Alles war weihnachtlich geschmückt. Und wo kam der Tannenbaum her? Wer hatte das gemacht? Ihre Augen strahlten. Tränen der Überwältigung bahnten sich ihren Weg.

„Danke“, hauchte sie. Mehr brachte sie nicht hervor, musste kräftig schlucken. Sie umarmte ihren Ertan stürmisch, vergrub ihr Gesicht an seinem Hals und schluchzte hemmungslos.

„Du bist so lieb, ich hab dich megalieb.“

„Du sollst ein schönes Weihnachten haben, auch wenn du nicht bei deiner Familie sein kannst“, erklärte er ihr.

„Jetzt müssen wir aber morgen noch einkaufen. Ich will uns doch noch ein schönes Weihnachtsessen machen“, setzte sie hinzu, obwohl ihr die Worte nur schwer über die Lippen kamen.

„Aber jetzt gehen wir erst einmal schlafen. Das war heute ein aufregender Tag. Du musst dich erholen, Kedi.“ Sanft strich er ihr übers Gesicht.

Am Heiligabend wurde sie von zwei liebevollen Männern geweckt. Einer davon war eine Fellnase, die sie mit einem dicken Hundekuss aufforderte, endlich Frühstück zu machen. Nach dem Frühstück gingen sie in den Supermarkt und Kiki versuchte, so einzukaufen, wie sie es gewohnt war.

Den ganzen Vormittag verbrachte sie in der Küche. So konnte sie sich etwas ablenken. Ertan war im Wohnzimmer. Aber Kiki war der Zutritt verwehrt. Er tat sehr geheimnisvoll. Kikis Neugier wurde geweckt. Doch sie war chancenlos.

„Hm, das duftet hier in der Küche. Das macht mich wahnsinnig“, sagte Ertan am späten Nachmittag.

„Was machst du die ganze Zeit da drin? Warum darf ich nicht hinein?“

„Du darfst jetzt gleich reinkommen.“

Ertan stellte sich hinter Kiki und hielt ihr die Augen zu.

Dann schob er sie ins Wohnzimmer. Als er seine Hände von ihren Augen nahm, traute sie nicht dem, was sich ihr da offenbarte.

Ein festlich geschmückter Tannenbaum. Es waren nicht die gewohnten Kugeln, sondern Ketten und Muscheln, Papierschleifen und Sterne aus Angeldraht. Und irgendwie war es ihm gelungen, Teelichter auf dem Tannenbaum zu platzieren. Neben dem Tannenbaum saß mit einer Weihnachtsmannmütze geschmückt … Cakal. Aus dem Fernseher erklangen die bekannten Weihnachtsweisen und am Laptop war eine Konferenzschaltung gelegt, wo Kiki mit ihrer Familie sprechen konnte. Wenn sie es denn nur gekonnt hätte. Ein dicker Kloß verhinderte anfänglich jedes Wort. Auch auf der anderen Seite war ein Schluchzen und Heulen zu vernehmen.

Lachend, weil ihm die Überraschung gelungen war, holte Ertan zwei Büchsen Bier aus dem Kühlschrank und so stießen sie mit allen auf ein friedliches und gesundes Weihnachtsfest an. Am Abend kamen dann noch Freunde, die sehen wollten, wie das deutsche Weihnachtsfest in der Türkei gefeiert wurde.

Es war ein ungewöhnliches Weihnachten für Kiki, doch es war wunderschön. So vergingen auch die beiden Feiertage. Allein war Kiki nicht und durch die Videoschaltung war sie auch ihrer Familie so nahe, wie es nur irgendwie ging. Dieses Weihnachten würde sie nie vergessen und, wer weiß, nächstes Jahr würden sie gemeinsam Weihnachten in Deutschland feiern. Dann aber mit einem richtigen Baum. Eines wusste sie aber, Cakal, den sie so lieb gewonnen hatte, würde sie von nun an immer mitnehmen. Auch nach Deutschland.

 

Hinkebein

 

Ich saß vor dem Office der Reiseagentur, die ab sofort mein Büro, mein neues Leben sein sollte. Jeden Tag, wenn ich die Tür aufschloss, kamen mir schon die Straßenhunde entgegen. Sie lagen stets unübersehbar vor der Tür. Ich musste aufpassen, dass ich sie nicht trat. Sie bewachten das Büro. Keiner würde an ihnen vorbeikommen, der nicht in diesem Büro sein durfte.

Eines Tages lag da eine schwarze Hündin. Als ich mich näherte, sprang sie auf. Rannte scheu weg. Jetzt erst sah ich ihr Leid, ihre beiden Vorderpfoten waren nach innen gekippt und sie hinkte. Sie tat mir leid. Ich lief schnell in den Market, der im Inneren des Basars war, und holte Wasser für das verängstigte Tier. Ich stellte die abgeschnittene Wasserflasche mit dem sauberen und erfrischenden Nass etwas abseits. Durch die Scheibe beobachtete ich, wie sie sich zögernd näherte. Sie sah sich immer um, wohl immer darauf gefasst, dass irgendetwas sie von ihrem Weg abhalten würde. Ein Lächeln spielte um mein Gesicht. Zum Glück waren die benachbarten Geschäfte noch geschlossen. So konnte sie in aller Ruhe schlabbern. Beinahe hatte sie ihren provisorischen Wassernapf geleert, als sie sich auf die andere Straßenseite begab und sich in den Schatten legte. Ich nutzte die Gelegenheit und ging wieder in den Market, um Wurst für sie zu holen. Zurück im Reisebüro suchte ich nach einem Messer. Und dann stand da noch vom Vorabend eine Polystyrol-Verpackung. Die nahm ich, schnitt die Wurst hinein. Wie sollte ich jetzt Hinkebein, so nannte ich sie im Geheimen, dazu bringen, die Wurst zu fressen? Ich überlegte, wie ich an sie herankommen könnte, um ihr das Fressen zu servieren. Langsam bewegte ich mich in Richtung der anderen Straßenseite. Noch hatte sie mich nicht bemerkt. Ich wollte keinen Fehler machen. Und so war ich mehr als vorsichtig. Schlich mich Stück für Stück an sie heran. Schon fast hatte ich sie erreicht, als sie den Kopf hob. Sie blickte mich mit unheimlich warmen, braunen Augen an, die aber auch Angst ausstrahlten. Wie angewurzelt blieb ich stehen. Hinkebeins Ohren stellten sich auf. Ich bewegte mich keinen Zentimeter, verharrte. Sie schien sich sicher zu fühlen und legte ihren Kopf wieder ab, schnaufte beseelt aus. Ich pirschte mich weiter behutsam voran. Bei jedem Schritt von mir stellten sich Hinkebeins Ohren auf. Wenn ich das sah, verharrte ich. Endlich stand ich mit meinem Designernapf vor ihr. Nun musste ich mich nur noch herabbeugen, um ihr das Futter hinzustellen. Doch ich wusste nicht, wie ich es so anstellen sollte, dass sie nicht wieder wegrannte. Ich musste es wagen. Vielleicht hatte ich ja Glück. Ich will dir doch nur etwas Futter geben, sprach ich ihr in Gedanken zu.