image1
Logo

Der Autor

Dr. Mathias Schwabe (Dipl.-Päd., systemischer Berater und Supervisor) lehrt und forscht als Professor für Methoden der Sozialen Arbeit an der Evangelischen Hochschule Berlin.

Mathias Schwabe

Die Jugendlichen und ihr Verhältnis zu Ordnungen, Regeln und Grenzen

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

Dieses Werk enthält Hinweise/Links zu externen Websites Dritter, auf deren Inhalt der Verlag keinen Einfluss hat und die der Haftung der jeweiligen Seitenanbieter oder -betreiber unterliegen. Zum Zeitpunkt der Verlinkung wurden die externen Websites auf mögliche Rechtsverstöße überprüft und dabei keine Rechtsverletzung festgestellt. Ohne konkrete Hinweise auf eine solche Rechtsverletzung ist eine permanente inhaltliche Kontrolle der verlinkten Seiten nicht zumutbar. Sollten jedoch Rechtsverletzungen bekannt werden, werden die betroffenen externen Links soweit möglich unverzüglich entfernt.

 

 

 

Gewidmet in Dankbarkeit meinen Eltern, Anneliese und Gottfried Schwabe (1928–2016), mit denen ich als Jugendlicher viel und heftig gestritten habe.

 

 

 

1. Auflage 2021

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-030563-2

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-030564-9

epub:     ISBN 978-3-17-030565-6

mobi:     ISBN 978-3-17-036313-7

Inhaltsverzeichnis

  1. 1       Entwicklungsgrundlagen und -herausforderungen
  2. 1.1    Was Kinder an Regelbewusstsein und Selbststeuerungs-Kompetenzen ins Jugendalter mitbringen sollten
  3. 1.2    Jugendspezifische Moralentwicklung als Entwicklung selbstbestimmter Ziele
  4. 1.3    Kritik und Ergänzung
  5. 1.3.1 Autonomie trotz Heteronomie: Jugendliche als Tänzer*innen zwischen Ordnungs- systemen und Hybrid-Moral(en)
  6. 1.3.2 Drei Muster der Ausbalancierung
  7. 2       Regeln, Strukturen und Ordnungen in Jugendkulturen
  8. 2.1    Regeln, Rituale und Grenzsetzungen in der Hip-Hop-Kultur
  9. 2.1.1 Eine komplexe Textstruktur und die ihr zugrunde liegenden Regeln
  10. 2.1.2 Regeln, Rituale und szenische Ordnungen
  11. 2.1.3 Ein Konflikt und was er über Jugendliche bzw. Jugendkulturen enthüllt
  12. 2.1.4 Battle als eine Form des (Theater-)Spielens von Adoleszenten bzw. jungen Erwachsenen
  13. 2.2    Regeln, Ritualsystem und Objektbeziehungen in der Skater-Kultur
  14. 2.3    Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden jugendkulturellen Praxen
  15. 3       Konflikte von Jugendlichen im Zusammenhang mit Regeln und Grenzen
  16. 3.1    Konstruktivistische Rahmung: Zwei Typologien von Spannungen
  17. 3.1.1 Konflikte, Stress, Kummer: Wie erleben Jugendliche Konflikte und wie gehen sie damit um?
  18. 3.1.2 Eine Konflikttypologie aus Sicht der Erwachsenen
  19. 3.1.3 Passungen und Spannungen zwischen den Konfliktlogiken von Jugendlichen und Erwachsenen.
  20. 3.2    Konflikte mit den Eltern und in der Familie
  21. 3.2.1 … erstaunlich wenig Ärger
  22. 3.2.2 Worüber streiten die Jugendlichen mit ihren Eltern?
  23. 3.2.3 Sich verstärkende Autonomie-Feedbackschleifen
  24. 3.2.4 … doch mehr Belastungen in der und durch die Adoleszenz der Kinder?
  25. 3.3    Regel-Konflikte in der Schule
  26. 3.3.1 Differenzierte Antworten auf Regelbefolgungsansprüche
  27. 3.3.2 Wie kooperativ oder subversiv stellen sich Schüler*innen selbst dar?
  28. 3.3.3 Legitimierung von Disziplinregeln durch Schüler*innen und Enttäuschung von Autonomieerwartungen
  29. 3.4    Grenzverletzungen gegenüber Peers und Partner*innen
  30. 3.4.1 Aggressionen und Konflikte in Liebes beziehungen Jugendlicher
  31. 3.4.2 Mobbing an Schulen
  32. 3.5    Konflikte mit dem Gesetz
  33. 3.5.1 Ubiquitäre, bagatellhafte und episodische Verstöße
  34. 3.5.2 Vom Verstoß zum offenen Konflikt mit und ohne Konfliktbewusstsein
  35. 3.5.3 Umgang mit Schuld und Scham bei straffälligen Jugendlichen
  36. 4       Krisenhafte Entwicklungen und ihre Bewältigung bzw. Eskalation
  37. 4.1    Celine: Die Entwicklung eines Zwangs und seine Auflösung
  38. 4.2    Alice: eine mörderische Phantasie
  39. 4.3    Matthias: von beiden Eltern verlassen
  40. 4.4    Frank: ein drogenabhängiger, krimineller Jungunternehmer lernt das Fürchten und steuert um
  41. 4.5    Ute und Tobias: Zwei Provinzpunks in der biographischen Sackgasse Großstadt
  42. 5       Selbstbildungsprozesse in Bezug auf Ordnungen, Grenzen und Regeln
  43. 5.1    Gemeinsames Basteln an einer komplexen Ordnung für erotische Berührungen
  44. 5.2    Schritte zur Autonomie anlässlich von Festivalbesuchen
  45. 5.2.1 Sechs Szenen aus den Besuchen zweier Festivals
  46. 5.2.2 Initiationsreisen
  47. 6       Zusammenfassung in 12 Thesen
  48. Literaturverzeichnis

Vorwort

Ich bin sehr froh, mit diesem Buch die Gelegenheit bekommen zu haben, mich auf eine doppelte Reise zu begeben: Auf eine Rundreise in Sachen Literatur zum Jugendalter, bei der ich mir neues, spannendes Wissen aneignen konnte, und auf mehrere Beobachtungsreisen in Sachen Jugendkulturen bzw. Verhalten konkreter Jugendlicher, die sich von mir befragen oder beobachten ließen. Das Besondere dabei war für mich nicht in erster Linie, als Pädagoge unterwegs zu sein, von dem man erwartet, dass er auf Erziehungsprobleme fokussiert und anzugeben weiß, wie diese, wenn schon nicht zu lösen, so doch wenigstens so zu behandeln sind, dass sie nicht weiter eskalieren. Das war und ist meine Rolle seit vielen Jahren als Sozialpädagoge in Wohngruppen, als Heimleiter, Fortbildner, Supervisor und als Experte in Sachen »schwierige« Jugendliche. In diesem Buch war ich und habe ich mich von dieser Aufgabe befreit. Ich habe den Blick eher auf normal belastete und mit vielen Ressourcen ausgestattete Jugendliche gerichtet, habe mir von ihnen ihre Welt erklären lassen und war überrascht, wie viel mir eingeleuchtet und mich fasziniert hat. Dafür danke ich allen Jugendlichen, die in diesem Buch eine Rolle spielen.

Danken möchte ich aber auch Rolf Göppel als Herausgeber dieser Reihe für das Vertrauen, das er in mich gesetzt hat, als er mir diesen Titel anvertraut hat, dem Kohlhammer-Verlag für den Langmut und das Verständnis für meine wiederholten Terminverschiebungen beim Anfangen und Fertigwerden des Buches, und meinem Freund Karlheinz Thimm, der mich erneut als Erstleser mit klugen Kommentaren unterstützt hat. Herrn Magister Paulus Fischer habe ich zunächst über seine herausragende Diplomarbeit über Skater bzw. das Skaten kennen gelernt. Er hat mich aber auch intensiv bei meinen weiteren Recherchearbeiten beraten und mir viele Quellen erschlossen, die ich alleine nicht gefunden hätte.

Danken möchte ich aber auch meinen Kolleg*innen von der Evangelischen Hochschule Berlin: Aristi Born für wichtige Hinweise auf entwicklungspsychologische Theoriezusammenhänge, Rebecca Streck für die Erinnerung an die Gender- und Konstruktivismus-Dimensionen beim Ausdeuten von Lebenswelt-Szenen und Sebastian Schröer als Experten für die Hip-Hop-Kultur für sachkundige Hinweise und die Ermutigung, mich als auch Fremder in die Szene zu mengen. Dr. Elisabeth Tornow hat nicht nur gewissenhaft lektoriert, sondern mir auch zahlreiche Fragen gestellt, die an mehreren Stellen zu einer Verbesserung des Buches geführt haben.

Nicht zuletzt danke ich meiner Frau Sylvia, die mich auch dieses Mal hat ziehen lassen, damit ich weit weg von Berlin und für Wochen ganz alleine meine Gedanken sammeln und niederschreiben konnte.

Berlin im September 2020

Mathias Schwabe

1

Entwicklungsgrundlagen und -herausforderungen

Beobachtet man Jugendliche beim Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenalter, stellt sich die Frage, in welchen Bereichen sie Umbrüche erleben und mit Neuorientierungen beschäftigt sind und in welchen anderen sie bisher Entwickeltes weiter nutzen können oder lediglich ausbauen müssen. So ist z. B. der Bereich der Sexualität einer, bei dem mit dem Einsetzen der Pubertät eher Um- und Aufbrüche zu erwarten sind (vgl. Wendt 2019). In sexueller Hinsicht wird vieles erstmalig erlebt und ausprobiert und drängt darauf, alleine oder im Austausch mit anderen verarbeitet zu werden (image Kap. 4.1). Dagegen stellt die Orientierung des eigenen Verhaltens an Normen und Regeln und die Beachtung von Grenzen Anderer einen Bereich dar, in dem im Verlauf der Kindheit bereits vieles grundgelegt wurde. Daran können junge Menschen und Pädagog*innen unmittelbar anknüpfen. Es kann sich im Übergang zur Adoleszenz allerdings auch zeigen, dass in der Kindheit diesbezüglich einiges versäumt wurde und nun, angesichts gestiegener Erwartungen an Selbstregulierung, fehlt, sodass es über kurz oder lang zu Konflikten mit Vertretern der Gesellschaft kommen muss, auch weil mit 14 Jahren die Strafmündigkeit einsetzt.

Aber das ist nur die eine Seite der Medaille. Denn bei aller Gewöhnung an den Anspruch, dass Regeln und Grenzen zu beachten sind, kann es geradezu als Beweis für den Eintritt ins Jugendalter gelten, wenn Jugendliche auf Verhaltensvorschriften zunehmend widerständig reagieren und den Anspruch erheben, selbst bestimmen zu wollen, wie sie ihr Leben und ihre Beziehungen gestalten. Konkret bedeutet das z. B. für das Ordnungssystem Familie: Jugendliche wollen selbst entscheiden, ob bzw. wie oft sie ihr Zimmer aufräumen oder weiter am gemeinsamen Abendessen teilnehmen, wann sie ihre Hausaufgaben erledigen oder Samstagnacht von der Disko nach Hause kommen etc. Auch wenn damit über Jahre eingespielte Regeln angezweifelt werden und ihre Beachtung brüchig wird, bedeutet das in den meisten Fällen nicht, dass die Jugendlichen das Beziehungsgefüge Familie oder die Werte ihrer Eltern grundsätzlich in Frage stellen (image Kap. 3.2). Die »alte« Ordnung der Familie wird umgebaut, flexibilisiert und an neue Bedürfnisse angepasst, aber nicht aufgelöst. Dabei zeigt sich aber, dass Jugendliche sehr genaue Vorstellungen davon haben, was ihre eigenen Domänen sind oder sein sollten, und wo sie glauben, sich gegen Einmischungs- und Kontrollversuche zur Wehr setzen zu müssen, auch wenn das zu Konflikten führt.

Aber damit ist nur die eine Seite einer umfassenderen Autonomieentwicklung skizziert, der Strang, in dem es um Ablösung, Orientierung an den eigenen Bedürfnissen und mehr Freiräume geht. Denn parallel dazu lassen sich viele Jugendliche in durchaus verbindlicher und disziplinierter Weise auf neue Aktivitäten ein, die wir (mit Deci & Ryan 1993) Autonomieprojekte nennen wollen. Damit ist die Arbeit an und in einem Rahmen gemeint, in dem sich Jugendliche organisieren und in dem sie alleine oder gemeinsam etwas Eigenes, Neues gestalten: Musik Machen in einer Band; stundenlanges Üben auf dem Skateboard, um einen anspruchsvollen Sprung zu meistern; eine Umweltschutzinitiative auf die Beine stellen oder sich als Influencerin im Internet etablieren … oder … oder. Dies alles machen Jugendliche in erster Linie für sich selbst bzw. weil es ihnen unmittelbar Freude macht, entwickeln dabei aber beinahe zwangsläufig auch Kompetenzen und Wertehaltungen für ein zunehmend Eltern-unabhängiges, selbstständiges und zugleich auf Gemeinschaften bezogenes Leben. Die meisten Jugendlichen – so die These dieses Buches – begeben sich auf die Suche nach solchen für sie passenden Autonomieprojekten (vgl. hierzu den Begriff der Generativität bzw. des Neuen bei King 2004 oder des Offenen bei Kristeva 1987). Viele realisieren sie auch und sind dafür bereit, Verbindlichkeiten einzugehen und harte Arbeit auf sich zu nehmen.

Mit Blick auf die eingangs gestellte Frage können wir also formulieren: Bezogen auf das Verhältnis von Jugendlichen zu Regeln, Grenzen und Ordnungssystemen haben wir es mit beidem zu tun: mit Kontinuitäten und mit Auf- und Umbrüchen, die zu Neuorientierungen führen. Deswegen schildere ich in diesem Einführungskapitel zunächst, was Kinder in Bezug auf die Beachtung von Normen ins Jugendalter mitbringen (sollten) (image Kap. 1.1). Danach stelle ich den Ansatz von Deci & Ryan vor, der die Entwicklung von Autonomie und damit den Übergang von extrinsischen Formen der Beachtung von Regeln zu einer Identifikation mit diesen als zentrale Aufgabe des Jugendalters erachtet (image Kap. 1.2). Ich unterziehe ihn aber auch einer Kritik und schlage vor, Kontextorientierung und hybride Formen der Moral (Bhabha 2000) als ebenso wichtige Entwicklungsziele für das Jugendalter anzusetzen (image Kap. 1.3).

1.1       Was Kinder an Regelbewusstsein und Selbststeuerungs-Kompetenzen ins Jugendalter mitbringen sollten

Aufgrund ihres hohen Spezialisierungsgrades trennt die Entwicklungspsychologie häufig emotionale, kognitive bzw. sprachliche und soziale Entwicklung voneinander ab. Damit sich ein Kind in einem bestimmten Ordnungssystem an Regeln halten und Grenzen beachten kann, müssen aber alle diese Dimensionen in Austausch miteinander treten und auf komplexe Weise zusammenspielen. Nur wenig hängt dabei vom guten Willen des Kindes ab oder seiner Bereitschaft zu regelkonformem Verhalten.

Worin bestehen die Erwartungen an Regelbeachtung/Selbstkontrolle, die an Kinder zwischen 4 und 12 Jahren gerichtet werden? Kinder sollten

image  körperliche Gewalt (schlagen, schubsen, treten, spucken etc.) gegen andere beenden können, wenn sie dazu aufgefordert werden, oder (bei Älteren ab 8 bis 10 Jahren) gar nicht erst damit anfangen;

image  schwächere Kinder nicht ärgern und drangsalieren bzw. dies auf Aufforderung unterlassen, auch wenn Erwachsene nicht kontrollierend danebenstehen;

image  die Intimzonen und intime Verrichtungen anderer Kinder (und Erwachsener) respektieren; z. B. nicht die Toilettentüre öffnen oder die Genitalien berühren, wenn das andere Kind nicht damit rechnet;

image  Unmut und Ärger zunehmend äußern, ohne zu schreien oder zu schlagen;

image  fremdes Eigentum respektieren; fragen, wenn man sich etwas von einem anderen nehmen will bzw. es auf Aufforderung wieder zurückgeben;

image  sich an festgelegten Orten aufhalten; sich nicht unerlaubt aus Elternhaus oder Schule entfernen; nicht ohne zu fragen, Räume betreten, die von anderen genutzt werden;

image  Aktivitäten beenden, von dem Erwachsene meinen, dass sie gefährlich oder schädlich wären (z. B. zu viel essen, zu wild rennen);

image  jemandem eine Hilfestellung anbieten bzw. geben, wenn sie darum gebeten werden, oder wenn sie selbst sehen, dass jemand in Not ist oder sehr traurig;

image  etwas auf Aufforderung einer Autoritätsperson holen, beenden oder aufräumen, auch wenn man dafür eine andere Aktivität unterbrechen muss (spielen);

image  eine Situation verlassen, in der sich ein Konflikt zugespitzt hat, alleine oder an der Hand eines zugewandten Erwachsenen;

image  für eine gewisse Zeit zuhören, stillsitzen und selbst nicht sprechen (von 5 Minuten bis 4 Stunden Schule unterbrochen von Pausen) bzw. sich melden und warten bis man aufgefordert wird, sich zu äußern;

image  aufmerken, wenn eine offiziell ernannte Autoritätsperson das Wort an es wendet, und dieser Auskunft geben;

image  auf Aufforderung darüber nachdenken, was ein Anderer anderes von einem erwartet hätte, bzw. darüber nachdenken, inwieweit man mit dem eigenen Handeln die Handlungspläne anderer behindert oder verunmöglich hat;

image  kollektiven Ordnungsanweisungen Folge leisten wie z. B. sich in einer Reihe aufstellen und an der Hand fassen. Gemeinsam losgehen oder stehenbleiben, wenn man dazu aufgefordert wird etc. Auf ein Klingelsignal achten und ihm Folge leisten wie z. B. ins Klassenzimmer zurückkehren.

Die aufgezählten Beispiele umfassen sicher nicht alle Erwartungen, die an Kinder im Alter von vier, fünf bis zwölf Jahren bezüglich Regelbeachtung herangetragen werden, summieren sich aber bereits zu einer eindrucksvollen Liste. In der Regel wird von Kindern nicht verlangt, dass sie alle Regeln jederzeit in ihrem Verhalten umsetzen können. Gleichwohl wird von ihnen erwartet, dass sie Hinweise auf Regelverstöße ernst nehmen und sich damit auseinandersetzen, d. h. ein generalisiertes Regelbewusstsein entwickeln (Textor 2005) und auf dessen Grundlage zu Befriedigungsaufschub und Frustrationstoleranz in der Lage sind (Mischel 2015; Peters 2007, 200; Rosenzweig 1938). Kinder, die in einem oder mehreren Ordnungssystemen häufig gegen Regeln verstoßen und kein Regelbewusstsein zeigen, fallen damit auf und werden sich mittelfristig weder im Kindergarten noch der Schule wohlfühlen, keine guten Lernerfahrungen machen und wohl auch keine Freunde gewinnen (vgl. dazu Opp/Otto 2016, 186 f.).

Gebote und Verbote werden von Kindern in der Regel nicht einzeln und isoliert wahrgenommen und angeeignet, sondern im Rahmen von Beziehungen mit Personen aus dem Nahraum und als miteinander verbundene Elemente von Ordnungssystemen. Weil man als Mitglied eines Systems betrachtet wird und auch selbst zu diesem gehören möchte, schenkt man den dort vertretenen Regeln Beachtung. Im jeweiligen System beziehen sich die Regeln jeweils aufeinander, ergänzen sich und stabilisieren sich wechselseitig. Dasselbe gilt zwischen den Ordnungssystemen wie Elterhaus, Schule und Öffentlichkeit: Auch wenn es in jedem System spezifische Regeln gibt und nur ein Teil von ihnen überall mit der gleichen Dringlichkeit eingefordert wird, nehmen Kinder doch wahr, ob die Erwachsenen in den verschiedenen Systemen in zentralen Werten übereinstimmen und ihnen Ähnliches oder das Gleiche abverlangen.

Viele Erwartungen werden zunächst im Ordnungssystem Familie thematisiert und eingeübt (Unmut, Ärger und Gier kontrollieren; Gewaltverbot beachten; Verhandlungen führen; Hilfe annehmen und anbieten) und aus dieser Keimzelle in andere Ordnungssysteme übertragen (Krappmann 1983). Einige der Anforderungen stehen überwiegend im institutionellen Ordnungssystem KiTa und/oder Schule im Fokus (Regeln, die mit Autoritäts- und Aufsichtspersonen zu tun haben, mit Raumregeln, Stillsitzen und Disziplin). Hier stellt sich die Frage, ob das, was zum Funktionieren der Institution beträgt, auch der Entwicklung der Kinder dient oder diese belastet und/oder behindert? Häufig wird sowohl das eine als auch das andere der Fall sein (image Kap. 3.3). Das in Institutionen gebildete Regelbewusstsein kann wiederum in informelle soziale Begegnungen wie einen Spielplatz oder einen Kindergeburtstag eingebracht werden (Eigentum respektieren, Hilfeleistungen erbringen, Empathie gegenüber Schwächeren). Davon profitieren vor allem die sozialen Beziehungen mit den Peers. Gemeinsam bilden diese Regeln ein gesellschaftliches Ordnungssystem, das einen bestimmten Zivilisationsstandard repräsentiert, der für alle Teilnehmer*innen ein gewisses Maß an Sicherheit und Berechenbarkeit garantiert (Elias 1939/1976, Reemtsma 2008).

Was sind die entwicklungspsychologischen Voraussetzungen dafür, dass ein Kind diesen Ansprüchen nachkommen kann, ohne damit zu sehr unter Druck zu geraten? Für die sechs wichtigsten halte ich diese (image Abb. 1):

1.  eine basale Fähigkeit zur Besorgnis (D.W. Winnicott) und die Entstehung eines moralischen Selbst (M. Hoffmann)

2.  Grundlagen von Empathie (H. Kohut) und Mentalisierung (P. Fonagy/M. Target)

3.  Grundlagen der Selbstregulierung von Erregung (arousal) und Stimmungen sowie Impulskontrolle (P. Fonagy und M. Target; M.Dornes)

4.  Erste und zweite Schritte bei der Fähigkeit zur Überwindung einer ausschließlich egozentrischen Weltsicht (J. Piaget)

5.  Erste und zweite Schritte bei der Fähigkeit zur Perspektivenübernahme (H. Kohlberg und J. Selman)

6.  die Fähigkeit zum Spielen als Raum der Transformation von triebhaften Impulsen und als Ort der Verständigung über Regeln (G. Bateson, D.W. Winnicott, J. Piaget, P. Fonagy).

Zu (1): Mit der Fähigkeit zur Besorgnis meint D.W. Winnicott einen Entwicklungsprozess, der in der frühen Kindheit noch vor dem ersten Lebensjahr stattfindet (Winnicott 1988, 134 f.). Wie Melanie

Images

Abb. 1: Entwicklungspsychologische Voraussetzungen für das Befolgen-Können von Regeln und das Einhalten von Grenzen

Klein unterstellt auch er dem Säugling aggressive und sadistische Impulse, die sich gegen die Brust bzw. die Mutter richten (Klein 1972). Sie entwickeln sich, weil das Kind nach und nach erkennt, dass das, was es am meisten braucht und am heftigsten begehrt, zugleich etwas ist, was es nicht kontrollieren kann. Vorher hatte es die Mutter als verlängerten Teil des eigenen Selbst empfunden und behandelt. Nun dämmert ihm, dass sie ein eigenes Wesen darstellt, das ein Eigenleben führt. Nach Winnicott bewegt sich das Kind zunächst in einem Stadium der Unbarmherzigkeit (Winnicott 1988, 136). Es würde die Brust mit der geballten Ladung seiner Destruktivität angreifen, teils aus Hass aufgrund ihrer Nicht-Verfügbarkeit, teils weil eine gewollte Zerstörung immerhin noch eine Form von Kontrolle darstelle. Irgendwann in diesem Prozess würde der Säugling aber Ängste entwickeln, weil die Brust bzw. die Mutter, die es angreift, zugleich die ist, die er liebt, und er mit deren Vernichtung auch die Gemeinschaft mit ihr zerstören würde. Das ist mit dem Begriff Besorgnis (concern) gemeint. Es handelt sich um eine Form einer Rücksichtnahme, die sich auf ein Objekt bezieht, von dem sich das Kind abhängig sieht, mit dem es einerseits immer wieder verschmilzt und das es andererseits schon als Gegenüber erleben kann. Diesem gegenüber mäßigt es seine Aggressionen und zeigt Gesten des Bedauerns und/oder der Wiedergutmachung, wenn es die Mutter doch wieder einmal heftig angegriffen haben sollte. Aus der Fähigkeit zur Besorgnis entwickeln sich nach Winnicott nach und nach reifere Formen des Schuldgefühls und der Verantwortungsübernahme bzw. der Wiedergutmachungsbereitschaft, die durch kognitive Schemata und über Sprache verfestigt werden. Diese bauen jedoch auf einer präverbalen, leibnahen und unbewussten emotionalen Grundlage auf. Wenn diese fehlt, können die kognitiven Schemata moralischen Denkens und Handelns schnell brüchig werden und/oder bleiben die Selbst- oder Fremdeinredungen, mit denen Aggressionen kontrolliert werden sollen, wirkungslos, weil sie nicht tief genug ansetzen. Wer aber über eine Erlebnisschicht verfügt, in der er sich mit anderen bzw. mit dem Angewiesen-Sein und der Bedürftigkeit aller Lebewesen identifizieren kann und mit diesen eine Art Körpergemeinschaft bildet, der kann nicht quälen, foltern oder töten, weil ihn sonst sein eigener Leib schmerzen würde. Der würde, selbst wenn er wütend wird und hasst, nicht mehr unbarmherzig zerstören wollen, sondern seine aggressiven Handlungen mäßigen können oder anschließend bedauern und reparieren wollen. Mit der Fähigkeit zur Besorgnis wäre somit ein leibseelisches Bollwerk gegen ungebremste Gewalt und Sadismus errichtet. Dabei müssen wir davon ausgehen, dass dies nicht in jeder Frühentwicklung gelingt und dass wir auf Kinder, Jugendliche und Erwachsene stoßen können, denen die Fähigkeit zur Besorgnis abgeht.

Sicher spielen für die Bezähmung der Aggression auch andere emotionale Grundlagen eine Rolle, die sich weit unspektakulärer ausnehmen. Nach Hoffman (1984, 1991, 2000) vollzieht sich die Entwicklung der moralischen Gefühle in zwei Etappen: In der ersten vollziehen Kinder nach, dass Handlungen negative Auswirkungen auf andere haben und diese traurig sind oder enttäuscht oder Schmerzen haben, weil man sie geschlagen oder ihnen ein Spielzeug abgenommen hat. Die Kinder entwickeln also zunächst eine nachträglich einsetzende empathische Kompetenz, zumindest, wenn sie danach gefragt werden. In der zweiten Phase entdecken Kinder, dass ihr Verhalten moralische Beurteilungen anderer nach sich zieht, und erleben, dass diese Fremdurteile Folgen für ihre Selbstbewertung haben. Sie können sich nicht länger gut fühlen, wenn andere davon überzeugt sind, dass sie etwas Unrechtes getan haben. Auch wenn diese Gefühle im Eifer des Gefechts von anderen, stärkeren Gefühlen dominiert werden können, so formieren sie doch immer stärker eine eigene emotionale Wirklichkeit, die zur Ausprägung eines moralischen Selbst führt. In diesem verbinden sich das Vermögen zur sozialen Empathie (Segal 2011) mit dem zur Wahrnehmung von Fremdbeurteilung und ihre Anwendung auf die Bewertung des eigenen Verhaltens. Dieser Trias gelingt es, das eigene Handeln immer stärker zu kontrollieren; sei es prospektiv bezogen auf die Handlungsplanung oder die Antizipation von Handlungsfolgen, sei es retrospektiv hinsichtlich der Reflexion bereits vollzogener Handlungen (Nunne-Winkler & Sodan 1988). Bei dem Konzept des Moralischen Selbst handelt es sich demnach um eine wichtige alternative Theorie zur Entstehung des Gewissens.

Zu (2) und (3): Alle Kinder werden immer wieder von heftigen Erregungszuständen (arousal) ergriffen und erfahren über die Reaktionen ihrer Bezugspersonen, wie diese abklingen und Entspannung zustande kommen kann. Konkret vollzieht sich das mit Hilfe beruhigender Worte, rhythmischer Bewegungen wie Schaukeln, Streicheln oder Pressen von Körperteilen oder mit dem Aufsuchen anderer, ablenkender Aktivitäten oder Orte (Dornes 2000, 45). Das Kind erlebt auf diese Weise leibhaft, welche Formen der Fremdberuhigung ihm guttun, fordert deren Wiederholung ein, wenn es ihrer bedarf, und kann diese irgendwann auch selbst auf sich anwenden. Das entwickelt sich in kleinen und kleinsten Schritten und einem stetigen Pendeln zwischen Selbstberuhigungsversuchen und der Suche nach Beruhigung durch vertraute Andere. Dafür ist das Kind auf eine halbwegs sichere Bindung zu seinen primären Bezugspersonen angewiesen (Großmann u. a. 1989). Das Gleiche gilt auch für die Regulation anderer Stimmungen wie Traurigkeit, Wut oder ungestüme Lebensfreude. Auch hier sind es zunächst Erwachsene, die solche Gefühle von Kindern wahrnehmen, als berechtigt anerkennen, sie benennen und adäquat darauf antworten, d. h. sich bei Freude mit dem Kind freuen und bei Ärger, Kummer und Schmerz diesen zunächst teilen, noch bevor sie trösten. Es ist klar, dass Kinder anderen nur dann empathisch begegnen können, wenn sie selbst ausreichend Empathie erfahren haben (Körner 1992, Kohut 1979 und 1989; Segal 2011, Stern 1992, 34 f.). Durch die Bildung von Sprachmustern für Emotionen und ihre Benennung entsteht ein erster Abstand zu ihnen, der irgendwann in die Fähigkeit der Mentalisierung mündet (Fonagy, Gergely & Target 2002, Dornes 2000, 58). Damit ist ein Zustand gemeint, in dem ich noch in meinem Gefühl bin, aber zugleich schon darüber sprechen kann und dadurch weiter Abstand dazu gewinne. Das Gefühl überschwemmt mich nicht mehr, aber ist noch präsent. Gerade diese mittlere Distanz scheint die beste, um über das, was passiert ist, so zu sprechen, dass man belastendes Geschehen aufklären und etwas daraus lernen kann (Fonagy, Gergely & Target 2002, 163 ff.; Redl & Wineman 1972, siehe hier insbesondere die Methode des »Life Space Interview«).

Empathie auf Seiten der Eltern bedeutet nicht, dass man vor lauter Mitgefühl die eigenen Ansprüche aufgibt oder Regeln außer Kraft setzt, sondern dem Kind spiegelt, dass und warum es ihm schwer fällt, sich z. B. aus einem Spiel zu lösen und zum Essen zu kommen. Dadurch lernt das Kind einerseits, dass seine Gefühle geachtet werden, dass man sich aber auch daraus lösen kann und muss. Nicht immer, nicht immer sofort, aber immer wieder.

Auch Impulskontrolle stellt das Hineinnehmen einer Bewegung ins eigene Selbst dar, die zunächst von außen kommt. Eltern halten ihr Kind fest, wenn dieses mit seinem Handeln in Gefahr zu kommen droht. Den Schaden, den sie dadurch verhindern, kann das Kind noch nicht überblicken. Dennoch etablieren sich die Eltern dadurch zu mächtigen Wesen, mit deren Aktionen man rechnen sollte. Schon Kinder mit einem Jahr schauen deswegen häufig zu ihren Eltern, wenn sie etwas tun wollen, was verboten ist, oder von dem sie nicht wissen, ob sie es dürfen. Sie haben gelernt. mit der Aufmerksamkeit ihrer Eltern zu rechnen, und wollen zugleich verhindern, dass diese plötzlich und ohne dass das Kind damit rechnet, in sein Handeln eingreifen. Das scheint das Kind zunächst zu erschrecken und später auch zu kränken. Die zweite Bewegung, die von außen kommt, ist das Verzögern einer Aktion des Kindes: Es darf die Handlung ausführen, nur muss man noch rasch z. B. etwas Verletzungsträchtiges aus dem Weg räumen, damit es ungefährdet krabbeln oder laufen kann. Hier werden Bedürfnisaufschubmuster trainiert, bei denen das Kind umso williger mitmachen wird, je häufiger es erkennt, dass sich Abwarten und Kooperation lohnen, weil es gerade damit zu seinem Recht kommt. Die dritte Form liegt in der Verbindung mit Sprache. Die Eltern rufen »Stopp« und unterbrechen eine unerwünschte Aktion, kommentieren sie mit »Nein«, geben dem Kind aber anschließend die Möglichkeit, damit fortzufahren oder ihr Nein zu beachten. Kann das Kind sich selbst kontrollieren, ist es gut, falls nicht, folgt ein erneutes Nein oder eine Form der Abwendung, die dem Kind signalisiert, dass es sich besser selbst kontrolliert hätte – was es das nächste Mal vielleicht tut oder auch nicht. Viele der hier geschilderten Eingriffe werden von den Kindern zunächst als unerwünschte Störungen erlebt. Älteren Kindern gegenüber sollten sie zunehmend so begründet werden, dass sie diesen einleuchten. Zunächst reicht aber, dass die Eltern davon überzeugt sind, dass die Unterbrechung richtig ist, und sie diese auch ohne Zustimmung des Kindes durchsetzen. Nur damit entwickelt sich das innere Bild eines klaren Nein und einer verhindernden Instanz, die ins Kind einwandern und aus deren Position es zu sich selbst »nein« sagen kann.

Zu (4) und (5): Schritte bei der Überwindung des egozentrischen Weltbildes (Piaget), Entwicklungen von Ordnungen der Moral (Kohlberg) und die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme (Kohlberg und Selman). Ein Schema soll der ersten Orientierung dienen, es wird auf der folgenden Seite erläutert.

Die Stufe 1 des so genannten präkonventionellen moralischen Urteils wird wie bei Piaget als egozentrisch gekennzeichnet, da die Interessen anderer mit den eigenen gleichsetzt werden oder das Kind die Unterschiede von eigenen und fremden Handlungsplänen zwar erkennt, aber den eigenen Priorität gibt. Moralische Urteile gelten als selbstevident und sind in der Setzung von Autoritäten begründet.

Autorität und moralischer Wert werden kategorial und physikalistisch bestimmt (zum Beispiel ist der Vater deshalb der »Boss«, weil er stärker ist). Negative Konsequenzen im Falle einer Regelverletzung werden nicht nur als unvermeidliche Folge einer Verletzung von Regeln und Geboten betrachtet, sondern die Tatsache der Bestrafung durch Autoritäten weist diese Handlung als moralisch falsch aus.

Images

Moralische StufeOrientierungPerspektive

Die Stufe 2 des präkonventionellen moralischen Urteils beruht auf der Fähigkeit zur Koordination konkreter individueller Perspektiven (zwischen 4 und 8 Jahren). Dazu muss der Egozentrismus bereits ein Stück weit aufgebrochen worden sein. Der moralische Realismus der Stufe 1 wird durch einen moralischen Relativismus abgelöst. Was moralisch richtig ist, wird aus der Situation sowie der Perspektive des jeweiligen Handelnden bestimmt. Interessen anderer, die den eigenen entgegenstehen, können wahrgenommen werden. Man versucht Regelungen für solche Konflikte zu entwickeln und bietet z. B. Kompensationen an. Die Person verfolgt pragmatisch-instrumentelle Motive: die möglichst maximale Befriedigung eigener Interessen und/oder die Vermeidung negativer Folgen für einen selbst. Es gilt die einfache Handlungsregel des tit for tat: »Wie du mir, so ich dir.«

Auf Stufe 3 des so genannten konventionellen moralischen Urteils werden die individuellen Perspektiven in eine Beobachterperspektive der dritten Person integriert (ca. 7–12 Jahre). Dies ermöglicht zugleich eine Perspektive der Beziehung, in der die individuellen Interessen den gemeinsamen Interessen der Gruppe untergeordnet werden. Der Egozentrismus ist überwunden, auch wenn er in bestimmten Momenten immer wieder die Oberhand gewinnt. Die sozialen Beziehungen beruhen auf der gegenseitigen Anerkennung von Normen der Reziprozität. Das drückt sich in der Regel aus: »Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.« Als emotionale Grundlagen für diese Verabredung auf Gegenseitigkeit fungieren Vertrauen und Dankbarkeit bzw. die Anerkennung der Leistung des Anderen als Leistung für mich. In einem Gruppenzusammenhang entwickelt sich Loyalität und wird als Verpflichtung erlebt. Die Geltung dieser Normen resultiert aus einer Perspektive, die sowohl die eigenen wie auch die Interessen der Anderen im Blick hat (zu Kohlberg: Kapitel 17 bei Göppel 2019).

Zu (6): Spielen-Können stellt in zweierlei Hinsicht eine nicht zu unterschätzende und wahrscheinlich nicht ersetzbare Voraussetzung für moralisches Verhalten dar. Zum einen lassen sich ins Spiel gefahrlos aggressive, sadistische oder verführerische Impulse einbringen, weil sie nicht tatsächlich ausgeführt, sondern nur angedeutet werden (Bittner 1983; Schwabe 2019, 210 ff.). Im Spiel jemanden totzuschießen oder ihm einen Kinnhaken zu verpassen oder – wie bei Mädchen beobachtet – einem untreuen Ehemann Nägel und Scherben ins Bett zu legen oder das eigene Kind in den Keller zu sperren, schadet niemandem, der sich auf das Spiel als einem der Wirklichkeit enthobenen Rahmen eingelassen hat. Winnicott hat für die Welt des Spiels den Ausdruck intermediär geprägt und meint damit einen eigenen Bereich zwischen Realität und Traum (Winnicott 1987, 49 ff.). Die dort eingebrachten Impulse fühlen sich echt an und werden doch fiktionalisiert, indem sie mit Gesten angedeutet (das Hineinstreuen der Glasscherben) oder kontrolliert ausgeführt werden (z. B. der Schlag stoppt weit vor dem Körper des mitspielenden Kindes). So werden für diese Impulse, die im Alltag nicht mehr toleriert werden, Orte gefunden, wo sie einerseits ausgedrückt werden dürfen und andererseits beherrscht werden. Dass sie zuverlässig einen Platz im Spiel haben, hilft dem Kind dabei, in der Realität auf sie zu verzichten und sich dort strengeren Maßstäben zu unterwerfen.

Freilich kann die mit diesen Impulsen verbundene Erregung ins Spiel einbrechen (die Kontrolle gelingt nicht) und es verderben, weil es damit entgleist. Das passiert immer wieder, wobei Kinder lernen, damit umzugehen, und sich diesbezüglich genau beobachten und kontrollieren. Insofern handelt es sich beim Spielen um einen Selbstbildungsprozess par excellence, der die Kinder weiterbringt, meist ohne dass Erwachsene eingreifen müssten. Freilich wird das Mitspielen von Erwachsenen diese Prozesse mit befördern.

Genauso wichtig für die moralische Entwicklung wie das Phantasiespiel ist das Regelspiel wie Mensch-Ärgere-Dich-Nicht, Mau-Mau oder auch Fangen und Fußballspielen. Alle diese Spiele operieren mit vorgegebenen Regeln, denen sich das Kind unterwerfen muss, wenn es »richtig« spielen will (Krappmann 1983). Schon bei sechsjährigen Kindern kontrollieren beide Spieler die Einhaltung der Regeln und geben sich darüber Rückmeldungen: »Schummeln gilt nicht!«. In den Rahmen von Spielen mit Wettkampfcharakter kann man (Größen-)Phantasien vom Besiegen eines Gegners einbringen, muss aber damit zurechtkommen, dass das Gegenüber ähnliche Phantasien hegt. Das Spiel eröffnet einen Raum und organisiert einen geordneten Prozess, in dem Sieg und Niederlagen erlebt und zugleich begrenzt bleiben (G. Bateson, ebd. 246 ff.). Dazu müssen die Gewinnchancen und damit die für das Spiel erforderlichen Fähigkeiten halbwegs gleich verteilt sein (wenn die Chancen zu unterschiedlich verteilt sind, macht das Spiel keinen Spaß). Im besten Fall erlebt man, dass es eine nächste Runde gibt und sich Sieg und Niederlage abwechseln. Auch hier kann die mit dem Spiel verbundene Erregung ins Spiel einbrechen, sodass man versucht, die Regeln zu verändern oder zu unterlaufen, wenn man zu verlieren droht. Nirgendwo wird so oft diskutiert und gestritten wie bei Regelspielen, da diese den Rahmen, aber nicht alle Eventualitäten festlegen (Krappmann, ebd. 116 f.). Manchmal entstehen daraus neue Abmachungen, die sich noch echter anfühlen, weil man selbst bei ihrer Aushandlung mitgewirkt hat. Manchmal eskaliert der Streit aber auch und läuft ein Spielpartner anschließend wütend weg und erklärt den Sieg des Anderen für ungerecht. Dennoch machen die meisten Kinder immer wieder neue Anläufe mit Spielen nach Regeln, so als hätten sie verstanden, dass sie weder um diese Form noch um das Aushalten der damit verbundenen Frustrationen herumkommen, sondern daran wachsen.

So weit ein Überblick über das, was Kinder ins Jugendalter mitbringen sollten, um den Erwartungen von Schule und Freunden an regelkonformes Verhalten und die Einhaltung von Grenzen halbwegs gerecht werden zu können. Diese Ansprüche lassen sich nicht mit Hilfe von ein, zwei oder drei Kompetenzen erfüllen, schon gar nicht mit isolierten Fähigkeiten wie dem moralischen Räsonieren oder einem prompten Gehorsam. Das Entscheidende ist, dass von außen gesetzte Regeln zu inneren Strukturen und Grenzen werden.

Dazu bedarf es eines ganzen Netzwerks interagierender Fähigkeiten auf unterschiedlichen Ebenen (emotional, kognitiv, sozial) und in unterschiedlichen Modi der Existenz (Erleben, Reflektieren, Handeln). Anders als aus einem Netzwerk – oder aus einem individuellen Dickicht –, aus persönlichen Befähigungen ist das, was Kinder und Jugendliche brauchen, um sich sozial verträglich zu bewegen und Konflikte auf faire Weise auszutragen, nicht zu bekommen.

Es ist klar, dass es diesbezüglich eine erhebliche Varianz zwischen Kindern und Jugendlichen einer Klasse oder einer Konfirmandengruppe etc. geben wird. Kinder sind in diesem Alter hinsichtlich ihrer kognitiven und emotionalen Kompetenzen unterschiedlich weit entwickelt. Es ist gut möglich, dass manche sprachlich genau anzugeben wissen, was von ihnen erwartet wird, und das auch selbst richtig finden. Aber sie sind noch nicht in der Lage, ihr Verhalten entsprechend zu steuern. Andere verhalten sich zwar diszipliniert, lassen es aber an Interesse an Anderen und an Empathie fehlen und können sich nicht gut mit anderen abstimmen. Wieder andere haben keine Probleme damit, sich in offizielle Ordnungen einzufügen, verhalten sich aber unsozial, wenn sie sich unbeobachtet wähnen.

Neben individuellen Variationen, die mit angeborenem Temperament und unterschiedlichem Entwicklungstempo zu tun haben, muss man damit rechnen, dass die skizzierten Voraussetzungen nicht überall gleichermaßen gefördert bzw. erreicht wurden und sich einzelne Kompetenzen häufig nicht so verbunden haben, wie es nötig wäre, um sich gegenseitig unterstützen zu können. Ähnlich wie bei der sprachlichen Entwicklung und dem Zugang zu Bildung sind die familiären Bedingungen dafür nicht immer günstig. Die Lernprozesse, die in KiTa und Schule stattfinden, können hier einiges kompensieren, aber nur eingeschränkt Grundlagen dafür schaffen. »Wissenschaftliche Studien zeigen übereinstimmend eine Prävalenz psychischer Störungen bei Kindern in Deutschland zwischen 15 und 20 % in Verbindung mit einer deutlichen Risikoverschärfung von Kindern und Jugendlichen aus niedrigen Statusgruppen« (Opp & Otto, 2016, 186). Nach einer Untersuchung von Groos & Jehles weisen dort etwa 30 % der Kinder mit zehn Jahren deutliche Entwicklungsverzögerungen auf (Groos & Jehles 2015; Alt & Beier 2012), die, wenn sie erkannt werden und förderlich mit ihnen umgegangen wird, durchaus noch aufgeholt werden können (Dornes 2012, 400). Für emotionale Grundlagen, insbesondere die Frage von Bindungsformen, können sich aber Entwicklungsfenster bereits geschlossen haben (Großmann u. a. 1989). Solche Entwicklungen können, wenn überhaupt, nur noch unter therapeutischen Bedingungen nachgeholt werden. Dabei können sie in sozialpädagogisch ausgerichteten Erziehungshilfen oft besser hergestellt und genutzt werden als in klassischen Therapieformen, weil sich Jugendliche oft schlicht weigern, dort hinzugehen, oder nicht über die inneren Strukturen verfügen, regelmäßige Termine pünktlich wahrzunehmen (Baer 2019, Schmid 2004).

1.2       Jugendspezifische Moralentwicklung als Entwicklung selbstbestimmter Ziele

Jugendliche bauen auf vielem auf, was sie in der Kindheit gelernt haben, um damit neue und alte Aufgaben zu bewältigen (vgl. Zimmermann 1999; Göppel 2019, 164, von Salisch/Seiffge-Krenke 2008). Insbesondere Empathie und Perspektivenübernahme, aber auch das Spielen werden zuverlässige Stützen für die Bewältigung der Anforderungen in der nächsten Lebensetappe. wenn auch in erweiterten bzw. neuen Formen (image Kap. 2 und image Kap. 5). Aber das moralische Selbst kann, will und muss sich weiterentwickeln. Die wichtigsten jugendspezifischen Aufgaben bestehen in einer Autonomisierung der Moral, die sich von externen Autoritäten ablösen können muss, und der kontextspezifischen Ausbalancierung von Normenbeachtung und Eigensinn. Wie wir sehen werden, geht es in diesem Lernprozess nicht nur darum, »hinreichend gut«, sondern immer wieder auch »hinreichend schlecht« oder besser »hinreichend unangepasst« handeln zu können (Bittner 2016, 31). Denn an unterschiedlichen Orten wird von den Jugendlichen Unterschiedliches erwartet und erwarten sie auch von sich selbst die Beachtung je anderer Werte und Regeln wie auch je andere Formen dieser Ausbalancierung. Es kommt demnach darauf an, sich flexibel verhalten zu können, was Nicht-Angepasstheit impliziert, ohne dabei gegen zentrale Werte zu verstoßen oder die eigene, sich formierende Identität ins vollends Diffuse entgleiten zu lassen.

Was meint Autonomisierung der Moral? Für Kinder stellt es häufig kein Problem dar, sich einem fremden Regime wie dem der Schule unterzuordnen und dort gleichsam mitzuschwimmen, vor allem, wenn sie erleben, dass dies von allen gefordert wird. Sie spüren häufig sogar einen gewissen Stolz darüber, dass sie diesen Disziplinanforderungen außerhalb des Elternhauses gewachsen sind, und wenden dafür mitunter ein Ausmaß an Impulskontrolle auf, zu dem sie zu Hause manchmal nicht (mehr) bereit sind. Zugleich betrachten sie andere, denen das nicht gelingt, mit Missbilligung oder gar Verachtung.

Für Jugendliche wird eine solche fraglose Anpassung in dem Maße schwieriger, in dem sich ihr Selbstbild verändert (King 2004, 55; Müller, B. 2010, 397 f.). Die Unterwerfung unter fremdbestimmte Regeln kollidiert mit ihren Autonomieansprüchen. Entweder gelingt ihnen, was von ihnen gefordert wird, als sinnvoll anzuerkennen und sich zu eigen zu machen, weshalb sie solche Regeln auch einhalten oder es zumindest von sich selbst erwarten. Oder aber sie erleben diese als fremdbestimmt, zweifeln deren Sinn an und unterstellen, dass man sie damit unnötig gängeln möchte, weshalb Widerstand und/oder Ignorieren zur Wahrung der eigenen Autonomieansprüche geboten erscheinen.

Serkan, ein gerade 14 Jahre alt gewordener türkischstämmiger deutscher Junge, bringt das so auf den Punkt:

»Ey, Mann ich bin jetzt doch schon groß. Nachmittags helfe ich meinem Onkel im Laden und geb’ Wechselgeld (aus der Kasse) und so was alles bis abends um zehn. Ohne Pause, oder nur mal kurz so 5 Minuten, wenn’s grade geht. Mit so ne Kunden, manchmal …, die sind nicht gerad nett (verdreht die Augen). Aber mein Onkel sagt: der Kunde hat immer Recht. Also kneif Arsch zusammen und lächel! (grinst breit). Glaub mir Alter, das is kein Sahneessen, das is Maloche, richtig hart. Aber hier (gemeint ist die Schule) werd ich immer noch behandelt wie Kindergarten! Von wegen keine Kappen im Unterricht, nimm die ab, und Handyverbot und keine Musik hören in der Pause und diese Musik geht nicht und die Texte von dem Heino sind verboten und von jenem und keine Filme anschauen, und schon gar keine Pornos und noch tausend so Sachen. Mann, wo sind wir da? Und dann die ganze Zeit stillsitzen und das Gelaber anhören. Und dann noch ja, Frau S. und ja Herr B. danke für die Fünf in Mathe … bin ich selbst schuld, dass ich das nicht kapiere und lauter so Faxen …«

Wie man hört, gibt es auch im Laden seines Onkels viele, explizite und implizite Regeln, an die er sich halten muss, wenn er dort arbeiten will (nicht erwähnt hat er in diesem Interviewabschnitt das strikte Rauchverbot, was für ihn, der regelmäßig heimlich raucht, eine große Herausforderung darstellt). Aber er hält sich an sie. Der Unterschied ist, dass er sich im Laden und mit den Kunden in der Welt der Erwachsenen bewegt und von diesen als Großer ernst genommen wird, während für ihn in der Schule immer noch die gleichen Regeln gelten wie seit seiner Kindheit. Zudem hat er das eine Betätigungsfeld selbst gewählt und verdient dort eigenes Geld und ist deswegen auch bereit dazu, Neues zu lernen und gewisse Härten in Kauf zu nehmen. Bei Schule handelt es sich aber für ihn um eine seit Jahren auferlegte Pflichtveranstaltung, bei der er sich von den Erwachsenen als Kind behandelt sieht und mehr Misserfolgs- als Erfolgserlebnisse bilanziert und damit – ganz anders als im Laden des Onkels – wenig Gelegenheit für Selbstwirksamkeitserfahrungen und den Aufbau einer positiven Identität erhält.

Sicher könnten Vertreter*innen der Schule häufig ausführlicher begründen, welche vernünftigen Gründe hinter den unverhandelbaren Regeln stehen, und könnten andere Regeln zur Aushandlung freigeben, sodass diese auf Klassenebene als selbst- oder mitbestimmt erlebt werden könnten. Das würde nicht schaden, aber ob es dabei hilft, dass sich die Jugendlichen vermehrt an die Regeln halten, bleib fraglich. Offensichtlich hält sich Serkan an die Regeln im Laden seines Onkels, weil er dort sein will, nicht weil sie ihm gut begründet erscheinen und er ihre Geltung einsehen könnte. Die Bedeutung von Einsicht für die Einhaltung von Regeln scheint ein häufiges rationales Missverständnis vieler Erwachsener im Umgang mit Jugendlichen darzustellen. Es motiviert sie zu langen Erklärungen, die viele Jugendliche gar nicht interessieren. Jugendliche können sich an die (in Erwachsenensicht) absurdesten und pingeligsten Regeln halten, wenn sie sich mit dem Rahmen identifizieren können wie z. B. mit einer bestimmten Jugendkultur oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Clique (image Kap. 2). Beachtung oder Missachtung von Regeln hängt in erster Linie von der performativen Attraktivität des Rahmens ab, konkret davon, ob das Handeln in diesem Rahmen Freude macht und/oder neue interessante Erfahrungen bietet oder glaubhafte Zukunftsperspektiven eröffnet. Nur wenn Aushandlungsprozesse dazu beitragen, werden sie auch einen Beitrag zu regelkonformen Verhalten darstellen.

Bei der Frage, ob Regeln eingehalten und Grenzen beachtet werden, stellt sich für Jugendliche demnach zunächst die Frage, aus welcher Motivation heraus das geschehen kann und soll, oft noch vor der Frage nach den konkreten Inhalten der Erwartungen. Dafür ist die von Deci & Ryan ausdifferenzierte Unterscheidung von extrinsischer und intrinsischer Motivation