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Für meine Eltern,

bitte überspringt die Sexszenen.

E I N S

Diamond

Diamond tigerte in seinem Apartment auf und ab, das Handy noch immer ans Ohr gepresst. Schon wieder ging Thea nicht ran. Zum siebten Mal in Folge. Wütend schmiss er das Mobiltelefon aufs Sofa.

Er hatte nach dem Prozess gestern für sie da sein wollen, doch Thea hatte es vorgezogen, ihre Sorgen mit ihrer besten Freundin zu teilen und anschließend zu ihrer Schicht im Devels zu gehen, einem der angesagtesten Clubs der Stadt und zufällig Eigentum von Diamonds Familie. Seitdem hatte er sie nicht mehr zu Gesicht bekommen.

Diamond hatte ihren Wunsch zuerst respektiert, doch mit seinem Verständnis war es nun vorbei. Er machte sich Sorgen um Thea, große Sorgen sogar. Denn wenn sie wirklich Zweifel plagten, drohte sie einen gigantischen Fehler zu begehen. Brach sie ihre Abmachung mit Balcoin Traffic, besagte der Vertrag, dass sie ihre gesamte Seele verlieren würde. Eine Konsequenz, die Diamond unter keinen Umständen zulassen konnte.

Wie häufig er Theas Nummer gewählt hatte, nachdem er sie bei Cassidy abgesetzt hatte, wusste Diamond nicht mehr. Es konnten Dutzende Male gewesen sein. Und jeder einzelne Versuch hatte seine Wut mehr und mehr angestachelt, denn Ms Thea Brady hatte ihr Handy ausgeschaltet. Ausgeschaltet! Genau wie auch jetzt, kurz nachdem sie ihm per SMS geschrieben hatte, dass sie tatsächlich vorhatte gegen den Vertrag zu verstoßen.

Das war hoffentlich ein schlechter Witz, denn so einfach konnte man diese Art von Handel nicht hinschmeißen. Ihrer beider Seelen waren an den Deal gebunden. Seine, weil er bei Nichterfüllen eines Auftrags das Seelenfragment des jeweiligen Menschen wieder an ihn zurückgeben musste, was einen Verlust für ihn selbst und Balcoin Traffic bedeuten und im schlimmsten Fall zum Erlöschen seines Seelensteins führen würde. Und ihre, weil Thea bei einem vorsätzlichen Vertragsbruch ihre vollständige Seele verlor und damit auch ihr Leben.

Hätte er noch das Handy in den Händen gehalten, hätte er es in diesem Moment zertrümmert. Was glaubte sie eigentlich, was sie hier tat? Sie brachte ihr Leben in Gefahr, verdammt noch mal! Was war in Thea gefahren, dass sie sich gegen ihren Deal entschieden hatte? Und das zu Gunsten zweier Fremder? Clarks Kinder waren in einer Pflegefamilie untergekommen, solange ihr Vater vor Gericht stand. Sollte er nach dem Prozess verurteilt werden und ins Gefängnis kommen, würden seine Sprösslinge in dieser Familie bleiben.

»Verdammte Scheiße«, fluchte Diamond wütend vor sich hin.

Er wusste einfach nicht, was er tun sollte. Angst kroch in ihm empor. Noch nie in seinem Leben hatte er sich Gedanken um einen Vertragsbruch machen müssen. Nicht nur weil seine Klienten sich immer an die Anforderungen gehalten hatten, sondern auch weil Diamond ihr Schicksal stets vollkommen gleichgültig gewesen war. Ihn hatte es nicht interessiert, ob ein Handel eingehalten wurde oder nicht, was kümmerten ihn schon fremde Menschen?

Doch bei Thea war das anders. Sie hatte sich in sein Herz geschlichen, ohne dass Diamond etwas dagegen hatte tun können. Sollte sie also nun ihren Deal brechen, würde er sie zwangsläufig verlieren und dazu war Diamond einfach nicht bereit. Jemanden zu verlieren, der einen Teil des eigenen Herzens besaß, tat höllisch weh und hinterließ Narben tief im Inneren. Diamond wusste genau, wie sich das anfühlte. Seine Mom war nicht mehr bei ihm, ebenfalls wegen eines Seelenraubs. Erneut wollte er diesen Schmerz nicht fühlen, besonders nicht, wenn es um Thea ging.

Wenn Thea sich dazu entschloss, am Tag der Verhandlung nicht im Gerichtssaal aufzutauchen, dann war ihr Schicksal besiegelt. Falls Balcoin Traffic überhaupt so lange warten würde. Ihre endgültige Entscheidung, den Vertrag zu brechen, reichte für seine Familie bereits aus, um folgenschwere Schritte einzuleiten. Thea konnte sich dummerweise nicht mehr daran erinnern, dass dabei ihr Leben auf dem Spiel stand, weshalb Diamond versucht hatte ihr ins Gewissen zu reden, ohne diese Informationen preiszugeben. Vergeblich.

Was war nun der ratsamste Schritt? Noch nie zuvor hatte Diamond in einer solchen Situation gesteckt. Noch nie zuvor hatte er echte Gefühle für eine seiner Klientinnen entwickelt. Bei dem Gedanken, dass Thea womöglich bald sterben würde, drehte sich ihm der Magen um.

Sollte er sie aufsuchen, um noch einmal persönlich mit ihr zu sprechen? Doch wenn er sie bedrängte, lief er Gefahr, sie noch weiter von sich wegzustoßen. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen und war ihrem Herzen gefolgt. Ein solcher Entschluss war nur schwer ins Wanken zu bringen, vor allem bei Thea. So gut kannte er sie bereits.

Oder sollte er lieber zum Teufel höchstpersönlich gehen? Wenn er in die Firma fuhr, konnte er direkt vor Ort Schadensbegrenzung betreiben. Dadurch riskierte er aber Misstrauen unter seinen Familienmitgliedern zu erregen und so erst recht auf Thea aufmerksam zu machen. Und wenn Diamond ehrlich war, wagte er zu bezweifeln, dass sein Vater ihm helfen würde. Wahrscheinlich nicht einmal dann, wenn er ihn auf Knien anflehte.

Malachai Balcoin war CEO von Balcoin Traffic und als Oberhaupt ihrer Familie der wohl mächtigste Seelenhändler, der derzeit existierte. Nur leider hielt Malachai nichts von Menschen. Er war an ihren Seelen interessiert, zu mehr waren sie seiner Überzeugung nach nicht zu gebrauchen. Sollte ein Vertrag gebrochen werden, konnte das seinem Vater nur recht sein, denn mit jeder weiteren vollständigen Seele gewann ihresgleichen an Macht.

Die Idee, in den Balcoin Tower zu fahren und Malachai um Rat zu bitten, war demnach hinfällig. Diamond wollte Thea nicht noch weiter in Gefahr bringen. Sie hatte es schon allein geschafft, sich verdammt tief in die Scheiße zu reiten. Nun war es seine Aufgabe, sie wieder dort herauszuholen. Um das zu bewerkstelligen, brauchte er nichtsdestotrotz Hilfe.

Thea kam vermutlich gerade bei ihrer Freundin Cassidy unter. Die hübsche Barkeeperin war clever. Sie selbst hatte bereits einen Deal mit Balcoin Traffic abgeschlossen, nur war dieser Handel weitaus einfacher über die Bühne gegangen als der mit Thea. Wenn er Cassidy überzeugen konnte Thea wieder auf den richtigen Weg zu führen, dann hatte er eine Chance. Falls es ihm selbst nicht gelang, dann war sie seine letzte Option.

Das Klingeln seines Handys riss Diamond aus seinen Gedanken. Vor sich hin brummend hob er es vom Sofa auf. Der Name seiner Sekretärin Savannah leuchtete ihm vom Display entgegen.

»Was gibt es?« Er klang patziger als beabsichtigt und bereute es noch im selben Moment. Savannah konnte nichts für seine Wut.

»Ich dachte, dich würde es vielleicht interessieren, dass ein neuer Name auf der Liste aufgetaucht ist.«

Diamonds Herz setzte einen Augenblick lang aus. Das ging viel zu schnell. So schnell war selbst Balcoin Traffic nicht.

»Bist du sicher?« Seine Stimme zitterte.

Die Liste, besser bekannt als Memento Mori. Gedenke deiner Sterblichkeit war die Bedeutung ihres lateinischen Namens und diese traf genau ins Schwarze. Sie war einer der magischsten Gegenstände ihrer Welt. Eines der geheimnisvollen Bücher, die in den heiligen Hallen des Balcoin Towers aufbewahrt wurden. Auf ihr tauchten die Namen all jener auf, die dem Tod geweiht waren. Nicht nur Menschen, die gegen ihre Verträge verstoßen hatten, sondern auch solche, die aus anderen Gründen nicht mehr lange am Leben sein würden. Die Liste wusste sofort, wenn jemand vorhatte einen Vertrag zu brechen, und dementsprechend zeichnete sie den Namen der betroffenen Person auf ihren Seiten ab. Danach musste nur noch der Auftrag an einen Seelenfänger vergeben werden und das Leben des Menschen war verwirkt. Erschaffen worden war diese Liste von Azrael höchstpersönlich. Todesengel und Schöpfer aller Seelengeleiter. Nur ihm verdankten sie ihre Macht.

»Thea Bradys Name ist eben auf der Liste aufgetaucht.« Savannah klang reumütig, dabei traf sie nicht die geringste Schuld. Als Angestellte und Vertraute der Balcoins wusste sie über die übernatürliche Welt Bescheid. Demnach war ihr bewusst, was nun geschehen würde.

Diamond brauchte einen Moment, bevor er Savannah antworten konnte. »Danke, dass du mir Bescheid gibst.«

»Diamond, da ist noch was. Der Auftrag wurde bereits vergeben«, sagte sie mit gepresster Stimme.

Seine schlimmsten Befürchtungen wurden in diesem Moment bestätigt. Thea hatte sich endgültig dazu entschieden, den Vertrag zu brechen, und nun schickte Balcoin Traffic jemanden, der sich um ihre Bestrafung kümmerte.

»Wer hat den Auftrag erhalten?« Vielleicht gab es noch einen Weg, das Unausweichliche zu verhindern. Noch hatte er einen letzten Funken Hoffnung und vor alles in seiner Macht Stehende zu tun, um Thea zu retten.

»Das wurde nicht vermerkt. Diamond, es tut mir leid.«

»Muss es nicht, den Rest übernehme ich.« Mit diesen Worten legte er auf und wählte bereits die nächste Nummer.

Diamond kannte alle Seelenfänger, denen ein solcher Auftrag zugeteilt werden konnte. Sein erster Anruf ging an die beste Seelenfängerin, die Balcoin Traffic zu bieten hatte. Niemand außer ihr war so präzise in ihrem Job, niemand so talentiert.

Seine kleine Schwester Jade nahm bereits nach dem ersten Klingeln ab. »Bruderherz, ich würde wirklich gerne mit dir plaudern, aber ich bin beschäftigt. Sobald ich das hier erledigt habe, rufe ich zurück, okay?«

»Nein!«, schrie Diamond ins Telefon. »Du darfst deinen Auftrag auf keinen Fall ausführen. Hast du mich verstanden?« Seine Stimme klang flehend und Diamond verfluchte sich dafür, doch er konnte nichts gegen die Panik tun, die Besitz von ihm ergriffen hatte. Jade war offenbar bei der Arbeit, was bedeutete, dass sie kurz davorstand, einem Menschen die Seele zu rauben. Allein bei dem Gedanken, dass es sich bei dieser Person um Thea handeln könnte, schnürte es ihm die Kehle zu.

Stille antwortete ihm am anderen Ende der Leitung. Mit jeder weiteren Sekunde, in der Jade schwieg, wuchs Diamonds Angst. Dann seufzte sie.

»Darf ich fragen, was du davon hast, wenn ich eine siebzigjährige Dame verschone?«

Perplex starrte Diamond auf sein Handy. »Was?«

Jade stieß ein Schnauben aus, als stünde Diamond gewaltig auf dem Schlauch. »Na, mein Auftrag: Ms Rosalie Fernandez, Downtown. Ich stehe bereits vor ihrem Haus. Also sag mir bitte, warum ich warten soll.«

Wer auch immer diese Ms Fernandez war, sie war nicht das Mädchen, das Diamond um jeden Preis beschützen wollte. Er hatte gerade Wichtigeres zu tun, als sich über das Schicksal einer alten Dame Gedanken zu machen.

»Ich rede von Thea!«, brüllte er ungehalten ins Telefon.

»Was soll mit Thea sein?«

Verdutzt hielt Diamond inne. Das ehrliche Erstaunen in Jades Stimme ließ ihn darauf schließen, dass sie nicht die geringste Ahnung hatte, wovon er sprach.

»Wann hast du den Auftrag bekommen, Jade?«

»Heute Mittag, wieso? Diamond, was ist hier los?«

Ein frustrierter Laut löste sich aus seiner Kehle. Er griff sich mit Daumen und Zeigefinger an die Nasenwurzel und versuchte die auftretenden Kopfschmerzen wegzumassieren.

»Thea hat gegen unseren Vertrag verstoßen.« Er sprach so leise, dass er sich nicht sicher war, ob Jade überhaupt ein Wort verstand. Es war ein Schuldeingeständnis. Auch wenn es Theas eigene Entscheidung gewesen war, machte Diamond sich selbst verantwortlich. Er hatte versagt. Wäre er besser in seinem Job gewesen, hätte Thea diesen Schritt niemals in Erwägung gezogen.

Jade atmete scharf ein. »Und du glaubst, dass der Auftrag bereits vergeben worden ist?«

Diamond nickte, bis ihm einfiel, dass Jade ihn nicht sehen konnte. »Ja, Savannah hat mich angerufen.«

»Di, das tut mir leid. Ich hatte keine Ahnung. Aber wenn ich den Befehl nicht erhalten habe, wissen wir beide, wer ihn stattdessen bekommen hat.«

Hatte Diamond eben noch geglaubt, dass der Tag nicht schlimmer werden konnte, so wurde er nun eines Besseren belehrt. Denn Jade hatte recht. In den obersten Kreisen des Unternehmens gab es nicht viele Seelenfänger, die Balcoin Traffic aussenden würde. Zuerst wurde die Elite geschickt und nur wenn diese bereits anderweitig beschäftigt war, kamen die eher unbedeutenden Mitglieder der Familie an die Reihe.

Drei Seelenfänger kamen also grundsätzlich für diesen Job infrage. Seine Cousine Amber war derzeit nicht im Dienst, sie hatte sich eine Auszeit genommen, wie sie selbst zu sagen pflegte. Jade wiederum war die Beste, die sie hatten, doch sie erfüllte bereits einen anderen Auftrag. Demnach blieb nur noch eine Person übrig, die Diamond am liebsten gänzlich vermied.

»Obsidian.« Er spuckte den Namen förmlich aus.

Sein Cousin war ein absoluter Einzelgänger. Mysteriös, unnahbar und kalt. Und dazu kam die Tatsache, dass er aus einem wirklich miserablen Genpool stammte, immerhin war Diaspro seine kleine Schwester. Diamond konnte sich nur zu gut vorstellen, dass sie ihren Bruder gegen ihn aufgestachelt hatte. Die Kluft, die zwischen Diamond und seiner Cousine lag, war groß. Seit sie mit ihrem Wettstreit begonnen hatten, bei dem es darum ging, wer jeden Monat die meisten Seelen eintrieb, befand er sich auch privat mit Diaspro im Krieg. Und Obsidian war definitiv auf der Seite seiner Schwester.

»Er war auch heute Mittag im Tower und Obsidian braucht nie besonders lange, um heraufzufinden, wo sich seine Beute aufhält.«

Diamond knurrte. Nur über seinen kalten, toten Körper würde er zulassen, dass Thea Obsidian zum Opfer fiel. Und das dürfte schwer werden, denn als Seelengeleiter war er beinahe unsterblich.

»Das wird nicht passieren«, war seine harte Antwort.

»Diamond, tu ja nichts Unüberlegtes. Ein Vertrag ist ein Vertrag und wenn Thea ihn gebrochen hat, kannst du nichts tun.« Jade kannte ihn zu gut, denn Diamond hatte nicht vor tatenlos herumzustehen, während Obsidian Jagd auf Thea machte und ihre Seele stahl. Das würde er niemals zulassen, ganz egal welche Ratschläge seine kleine Schwester ihm gab.

»Danke, Jade.«

Er legte auf und musste sich abermals zusammenreißen, das Handy in seiner Hand nicht zu zerquetschen. Diamond atmete tief durch. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass Theas Schicht im Devels bald enden würde. Obsidian war nicht so dumm, einen Seelenraub vor Zeugen durchzuführen. Vermutlich würde er sie auf dem Weg nach Hause abfangen und genau das wollte Diamond verhindern. Er schnappte sich seine Autoschlüssel und rannte zum Fahrstuhl. Er musste zum Devels, und zwar so schnell wie möglich.

Der Aufzug kam ihm so langsam wie nie vor. Ungeduldig trommelte Diamond gegen die Türen. Wieso dauerte das so lange? In der Tiefgarage angekommen stürmte er zu seinem Wagen. Er betätigte die Fernbedienung für die Tore und sauste hinaus auf die Straßen L. A.s.

Während er fuhr, schossen ihm unzählige Bilder durch den Kopf. Wie Obsidian Thea abfangen und sie in seine Arme ziehen würde. Nicht auf eine romantische Art, sondern auf eine furchterregende. Sein Seelenstein, der so schwarz war wie der Nachthimmel, würde anfangen zu leuchten und seine Macht als Fänger offenbaren. Theas Seele würde von diesen Kräften angezogen und ihr gewaltsam aus dem Körper gerissen werden. Es mochte aussehen wie glitzernder Nebel, der von ihr auf Obsidian überging, doch ein Seelenraub war nicht so harmlos, wie es den Anschein hatte. Theas Haut würde immer weißer werden und ihre Rehaugen würden ihren Glanz verlieren, während das Leben aus ihr wich. Jade hatte ihm einst erzählt, dass dieser Prozess mit Qualen einherging, was auch der Grund dafür war, dass es Seelenfängern möglich war, die Gefühle von Menschen zu beeinflussen. Sie konnten ihnen währenddessen die Angst und die Schmerzen nehmen, so war es zumindest gedacht.

Diamonds Hände schlossen sich fester um das Lenkrad, seine Fingerknöchel traten weiß hervor. Das Bild einer leblosen Thea brannte sich in sein Gedächtnis. Es war ein angsteinflößendes Bild, das Diamond dazu veranlasste, jegliche Geschwindigkeitsbegrenzungen zu ignorieren. Er musste Thea finden, bevor es zu spät war.

Sollte er sie nicht mehr retten können, würde Diamond sich das niemals verzeihen. Es war seine Schuld, dass sie von Zweifeln geplagt wurde. Er hätte sie nicht zu der Anhörung mitnehmen dürfen. Stattdessen hatte Diamond gegen seine eigenen Prinzipien verstoßen und Thea zu nah an sich herangelassen. Niemals durfte er etwas für seine Klientinnen empfinden. Niemals und doch war es geschehen.

Nicht nur dass er sie, um den Auftrag voranzutreiben, auf eine Veranstaltung der High Society Los Angeles’ eingeladen hatte. Er hatte sie zu seinem eigenen Vergnügen ausgeführt, war mir ihr essen gegangen und hatte dabei ihre Gesellschaft genossen. Nun konnte er die Gefühle, die er für Thea hegte, nicht mehr ignorieren. Er hatte eine Grenze überschritten und bekam die Konsequenzen zu spüren.

Der Handel mit ihr war von Anfang an anders als seine bisherigen Deals gewesen. Diamond wusste selbst nicht warum. Nicht nur dass ihre Beweggründe ihn beeindruckt hatten. Diamond hatte auch sofort den Drang verspürt, sie an seiner Seite zu haben. Ihr Wesen hatte so interessant und anziehend auf ihn gewirkt, dass er mehr über sie hatte wissen wollen. Und nun war sie seinetwegen in Gefahr. Hätte er alles allein erledigt, säße Clark jetzt hinter Gittern und die Bedingungen des Vertrages wäre alle eingehalten worden.

Malachai behielt recht. Und dass Diamond sich das eingestehen musste, ging mit einem sehr bitteren Beigeschmack einher. Hätte Diamond Berufliches und Privates getrennt und sich außerhalb seines Jobs von Menschen ferngehalten, so wie sein Vater es immer befohlen hatte, wäre all das nicht passiert.

Blöd nur, dass Diamond nicht auf ihn hatte hören wollen. Er war so besessen von der Idee gewesen, Malachai zu übertrumpfen, dass er unvorsichtig geworden war.

Und Thea musste nun den Preis dafür bezahlen.

Diamond biss die Zähne zusammen. Er war nicht mehr weit vom Devels entfernt, doch die Zeit spielte gegen ihn. Theas Schicht war inzwischen bereits vorbei und ihm blieb nichts anderes übrig, als zu beten, dass sie ausnahmsweise länger geblieben war. Nur so lange, bis er da war, um sie zu beschützen.

Z W E I

Diamond

Als er den Club erreichte, sprang Diamond aus dem Wagen, ohne ihn abzuschließen. Der Türsteher warf ihm einen verwirrten Blick zu, doch Diamond kümmerte das nicht. Er stürmte ins Devels und wurde von einer Menschenmasse verschluckt. Im Club war es so voll wie nie. Ihm schien es so, als hätte sich die gesamte Partyszene von Los Angeles hier versammelt. Zu viele Menschen standen zwischen ihm und seinem Ziel. Diamond erkannte den blonden Schopf von Cassidy, Theas bester Freundin und Barkeeperin des Devels, sofort. Sie stand hinter der Theke und flirtete mit einem rothaarigen Kerl.

Diamond stieß den Typen zur Seite und brachte ihn mit einem wütenden Blick zum Schweigen, als dieser anfing ihm einen bösen Spruch an den Kopf zu werfen.

»Hast du Thea gesehen?« Seine Stimme klang genauso gehetzt, wie er sich fühlte.

Cassidy sah ihn skeptisch an. »Sie schläft heute bei mir. Du solltest sie vielleicht in Ruhe lassen und dich erst morgen bei ihr melden.«

Diamond schüttelte den Kopf und unterdrückte den Impuls, sich die Haare zu raufen. Seine Faust flog mit voller Wucht auf den Tresen, was Cassidy erschrocken einen Schritt zurückfahren ließ. Mit großen Augen sah sie ihn an.

»Hör mir zu, Thea könnte wegen des Vertragsbruchs in Gefahr sein. Ich muss sie finden. Also, wenn du weißt, wo sie ist, dann spuck es aus!«

Cassidy öffnete wortlos den Mund und schloss ihn dann wieder. Diamond sah, wie sie hart schluckte.

»Sie durfte früher gehen und ist schon auf dem Weg zu mir nach Hause.« Sie klang beinahe entschuldigend.

»Wann ist sie los?« Er sah auf seine Armbanduhr.

»Vor zehn, vielleicht fünfzehn Minuten«, sagte Cassidy stockend. In ihren Augen lag Sorge.

Diamond fluchte laut. Er könnte bereits zu spät sein. Ein Seelenraub dauerte nicht länger als einige Minuten. Verdammt! Er schlug erneut auf den Tresen und rannte wieder Richtung Ausgang. Cassidy rief ihm noch etwas nach, doch Diamond ignorierte sie. Alles, was jetzt zählte, war Thea.

Er nahm die Straße, die zu Cassidys Wohnung führte. Seine Schuhe donnerten über den Asphalt. Diamond konnte das Blut in seinen Ohren rauschen hören. Alles in ihm schrie sich zu beeilen. Als Seelengeleiter war er schneller als normale Menschen. Ihre körperliche Verfassung war um ein Vielfaches besser und machte sie stärker. Diamond rannte wie der Teufel durch die langen Straßen Los Angeles’, von der ständigen Angst begleitet, Theas leblosen Körper hinter der nächsten Straßenecke liegen zu sehen. Diamond wusste nicht, was er tun sollte, falls er zu spät kam. Seine Kehle schnürte sich zu. So weit durfte es einfach nicht kommen. Thea durfte nicht zum Opfer ihres Handels werden.

Er stieß einen erstickten Schrei aus, als sein Seelenstein anfing zu brennen. Mit einer raschen Bewegung zog er das Band von seiner Haut. Der Diamant leuchtete, während der darin enthaltene Bruchteil von Theas Seele rasend schnell umherschwirrte.

Ein Fluch löste sich von seinen Lippen. So etwas war ihm noch nie passiert. Reagierte das Fragment auf Theas restliche Seele? Das war kein gutes Zeichen. Verdammte Scheiße!

Diamond legte noch einen Zahn zu und als er um die nächste Ecke bog, sah er sie: Obsidian, der seine Hände um Theas Körper geschlungen hatte, und Thea, die kraftlos in seinen Armen hing.

»Aufhören!« Es sollte wie ein Donnern klingen, doch Diamonds Stimme zitterte bei diesem Anblick so stark, dass es mehr einem Wimmern glich.

Der Kopf seines Cousins schoss nach oben. Die schwarzen Augen wurden schmal und spiegelten seine Verwirrung wider.

»Diamond. Was willst du hier?«

Diamond schloss zu der Szene auf. Sein Blick flog sofort zu Thea. Ihre Haut war aschfahl, die Augen waren geschlossen und der Mund leicht geöffnet. Sie sah aus, als wäre sie bereits tot. Doch Diamond wusste es besser. Der Teil ihrer Seele, der noch immer in seinem Stein gefangen war, pulsierte noch. Sie lebte, gerade so.

»Du darfst sie nicht töten.« Sein Blick bohrte sich in den seines Cousins. Dieser hob fragend eine Augenbraue.

»Und warum nicht?«

Diamond atmete tief durch. Er hatte nicht darüber nachgedacht, was er Obsidian sagen wollte. Wie er ihn überreden konnte, ihm noch etwas Zeit zu geben. Bei Jade wäre das kein Problem gewesen. Auch wenn sie für gewöhnlich unnachgiebig und dickköpfig war wie keine Zweite, hätte sie Diamond diesen Gefallen erwiesen. Doch Obsidian war ihm nichts schuldig. Ihn interessierten Diamonds Gefühle kein bisschen. Er war der gefühlskälteste Seelenfänger, dem Diamond jemals begegnet war. Seit jeher umgab ihn eine Dunkelheit, die selbst Diamond eine Heidenangst einjagte. Wie er jetzt so prüfend von ihm betrachtet wurde, lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken.

»Weil es sich hier um ein Missverständnis handelt.«

Überraschung spiegelte sich auf Obsidians Gesicht wider. »Ein Missverständnis? Inwiefern?«

Diamond musste an sich halten Thea nicht aus Obsidians Armen zu reißen, um sie in Sicherheit zu bringen. Gegen die Kräfte eines Seelenfängers war selbst er machtlos. Nur Obsidian konnte den Prozess, den er bereits begonnen hatte, aufhalten.

»Sie hat noch immer Zeit, die Bedingungen des Vertrages einzuhalten. Es steht noch nicht fest, ob sie es sich noch anders überlegen wird.«

Das war auch der Grund gewesen, warum ihn Savannahs Anruf so erstaunt hatte. Diamond hatte mit der Jagd erst nach dem Ende von Clarks Prozess gerechnet, sobald Thea sich dabei endgültig gegen eine Aussage entschieden hätte. Doch Balcoin Traffic war nicht für seine Geduld bekannt. Seine Tante Zirkonia, die als Oberhaupt der Seelenfänger dafür verantwortlich war, dass die Aufträge verteilt wurden, war dabei mehr als gründlich.

Obsidians Miene verzog sich nicht. Er sah hinunter zu Thea und dann wieder zu Diamond. Die schwarzen Augen wurden erst schmal, dann umspielte ein diabolisches Grinsen seine Mundwinkel.

»Diaspro hatte also wirklich recht. Du magst sie.«

Mit dem Kinn deutete Obsidian auf Thea.

Diamond biss die Zähne zusammen. Natürlich hatte Diaspro ihrem Bruder alles erzählt, was sie wusste. Und Diaspro wusste wirklich alles. Jedes Gerücht, jede Spekulation. Seine Cousine war stets im Bilde. Sie hatte aus irgendeinem Grund das Glück, immer im richten Moment am richtigen Ort zu sein, und bekam so alles mit, was im Unternehmen vor sich ging, ohne dass ihr jemand Informationen zustecken musste. Im Spionieren war sie unübertrefflich.

Als Diamond nicht antwortete, warf Obsidian den Kopf in den Nacken und stieß ein bellendes Lachen aus. Diamond zuckte bei diesem Geräusch zusammen. Im Gegensatz zu seiner Schwester war Obsidian nicht für seine Grausamkeit bekannt, doch vielleicht hatte Diamond sich getäuscht.

»Ich fasse es nicht. Der berühmte Diamond Balcoin, Erbe der Firma und absoluter Frauenheld, hat sich in einen Menschen verliebt.«

Das Grinsen auf Obsidians Lippen wurde breiter und in dem Moment waren die Ähnlichkeiten zwischen den beiden Geschwistern mehr als deutlich. Abbilder von Gehässigkeit und Boshaftigkeit. Doch wo Diaspro kalt und berechnend war, verhielt Obsidian sich, als wären ihm jegliche Gefühle gleichgültig. Das Wort Mitleid hatten sie beide anscheinend noch nie gehört. Die Geschwister verkörperten die tiefsten Abgründe, die sich ein Mensch nur vorstellen konnte. Sie waren Albträume, die aussahen wie der schönste Tagtraum.

»Und wenn schon. Das ändert nichts daran, dass Thea offiziell den Vertrag noch nicht gebrochen hat«, knurrte Diamond. Sein Kiefer war angespannt, während er seinen Cousin hasserfüllt ansah. Mit Mitleid würde er hier ohnehin nicht weiterkommen.

»Warum ist dann ihr Name auf der Liste aufgetaucht?« Obsidian legte den Kopf schief, das Grinsen war nicht aus seinem Gesicht verschwunden.

»Das weiß ich nicht, aber es ist ein Fehler. Ich kann sie noch umstimmen«, sagte Diamond mit harter Stimme. Er wollte zu Thea, wollte nachschauen, ob es ihr gut ging, und dabei seinem Cousin am liebsten ins Gesicht schlagen. Dafür dass er es überhaupt gewagt hatte, sie anzufassen.

»Ein Fehler?« Obsidian zog die Augenbrauen hoch und lachte gehässig. »Die Liste irrt sich nicht, Diamond. Fehler können bei unserem Job nicht passieren, im Gegensatz zu eurem. Sie ist der Beweis dafür.« Erneut deutete Obsidian auf Thea. Diamonds Hände ballten sich zu Fäusten.

»Die Frage ist doch vielmehr, wer den Fehler begangen hat. Sie oder du. So wie du aussiehst, liebster Cousin, gibst du dir wohl selbst die Schuld daran.«

Wutentbrannt trat Diamond einen Schritt auf Obsidian zu. Sie wurden nur noch von Theas Körper getrennt. Diamond hätte lediglich die Hand heben müssen, um Thea zu berühren. Oder um seine Faust mit Obsidians Gesicht kollidieren zu lassen.

»Niemand hat hier Schuld an irgendwas. Die Liste hat sich geirrt und damit ist dein Job hinfällig.«

»Wenn du dir so sicher bist, dass hier ein Missverständnis vorliegt, warum hast du dann nicht deinen Vater angerufen?« Obsidians Stimme war dunkel und bedrohlich. Doch in den fast schwarzen Augen blitzte es auf. Er machte sich über Diamond lustig. Obsidian wusste genau, welche Knöpfe er bei ihm drücken musste, um ihn anzustacheln. Und es funktionierte.

Das Verhältnis zu seinem Vater war nie einfach gewesen und Diamond ahnte, dass Malachai nichts für Theas Rettung unternehmen würde. Ihm war es gleichgültig, ob ein Mensch starb oder nicht. Es würde nur eine weitere Seele bedeuten, die in den Besitz von Balcoin Traffic wechselte.

Auch Obsidian war das klar, so wie jedem anderen in der Firma. Malachai machte sich weder die Mühe, seine Abneigung für Menschen, noch, das angespannte Verhältnis zu seinen Kindern zu verbergen.

»Du weißt genau warum«, sagte Diamond leise.

»Balcoin Traffic vergibt keine zweiten Chancen«, beantwortete Obsidian seine eigene Frage.

Diamond nickte bloß. Das war die Firmenphilosophie.

»Und Malachai Balcoin interessiert es einen Scheiß, ob dieses Mädchen bereits gegen den Vertrag verstoßen hat oder nur im Begriff war, es zu tun. Ihr Leben ist verwirkt.« Obsidian sprach von Thea, als wäre sie bereits tot. Eine leblose Hülle, nichts weiter.

Diamond blickte zu ihr hinunter. Er überzeugte sich davon, dass sich ihre Brust noch regelmäßig hob und senkte. Das tat sie, wenn auch in einem sehr langsamen Rhythmus.

»So muss es nicht sein. Du könntest eine Ausnahme machen.«

Obsidians Augen weiteten sich kaum merklich. »Wieso sollte ich?«

Diamond schloss für einen Wimpernschlag die Lider. Er würde nun etwas tun, das er noch nie in seinem Leben getan hatte. Etwas, von dem er geglaubt hatte es niemals tun zu müssen. Sein Stolz und seine Eitelkeit hatten seit jeher verhindert, dass er sich so erniedrigte.

»Obsidian, bitte, lass sie gehen. Ich schwöre dir, ich werde sie davon überzeugen, den Vertrag einzuhalten, und niemand wird erfahren, dass du mir Zeit verschafft hast. Bitte.«

Keine Regung zeigte sich auf dem Gesicht seines Cousins und Diamond wusste, dass er dabei war zu verlieren.

»Ich flehe dich an, gib mir ein paar Tage. Mehr brauche ich nicht. Nur, bitte, lass sie am Leben.« Seine Stimme brach.

Ein Seelengeleiter spürte mithilfe seiner magischen Kräfte seine Beute auf. Für einen solchen Auftrag brauchten sie nicht mehr als einige Tage. Es gab keine festgelegte Frist, bis wann sie ihren Job erledigt haben mussten, aber nach spätestens einer Woche bekamen sie Druck von Balcoin Traffic, so viel wusste Diamond.

Obsidian sah zu Thea hinunter. »Bedeutet sie dir wirklich so viel, dass du dich für sie gegen die Familie stellst?« In seiner Stimme schwang Verwirrung mit. Etwas, das bei Obsidian sehr selten vorkam.

Bei diesen Worten wanderte Diamonds Blick abermals zu Thea. Ihr Kopf hing schlaff zur Seite. Die braunen Haare fielen ihr in losen Strähnen ins Gesicht. Der Teil ihrer Seele, der um Diamonds Hals baumelte, stieß eine Wärme aus, die ihm durch Mark und Bein ging. Das Fragment spürte Theas Anwesenheit und die Bedrohung, die über ihr schwebte.

»Ich stelle mich nicht gegen meine Familie. Aber ich habe diesem Mädchen versprochen, dass es eine Zukunft haben wird, und ich habe vor dieses Versprechen zu halten.«

Obsidian schnaubte. »Sie mag dir viel bedeuten, aber das allein wird nicht ausreichen, um sie zu retten. Verschwindet ihr Name nicht von der Liste, kann niemand sie dauerhaft verschonen.«

Diamond nickte schnell. Er würde nicht zulassen, dass jemand aus seiner Familie Thea Schaden zufügte. Ganz egal um wen es sich dabei handelte.

Obsidian sah ihm in die Augen. Ein harter Zug lag um seinen Mund. »Drei Tage, Diamond. Steht ihr Name dann noch immer auf der Liste, kann ich nichts mehr für dich tun. Ich habe noch nie länger für einen Auftrag gebraucht und ich will auch nicht, dass sich das ändert.«

Überrascht blickte Diamond seinen Cousin an. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Obsidian auf seine Bitte eingehen würde. Vielmehr war er davon ausgegangen, dass er mit ihm um Thea würde kämpfen müssen. Ob er diesen Kampf gewonnen oder verloren hätte, wusste er nicht.

»Danke, Obsidian.«

Das allein reichte nicht annähernd aus, um Diamonds Verbundenheit auszudrücken. Ihm fehlten die Worte, um seinem Cousin zu zeigen, was in ihm vorging. Doch der schien ihn auch so zu verstehen.

»Vier Tage, Diamond. Nicht mehr.«

Obsidians Griff verstärkte sich um Theas Körper, als er sie an sich zog. Mit einer schnellen Bewegung hob er sie in seine Arme. Diamond ließ Thea dabei nicht aus den Augen.

Sie sah aus, als schliefe sie. Ihr Gesicht hatte inzwischen wieder an Farbe gewonnen. Obsidians Seelenstein glühte kurz auf und Diamond beobachtete, wie Theas Seele aus dem Anhänger zurück in ihren Körper floss. Ein leuchtendes Gewirr, das schöner war als alles, was Diamond je gesehen hatte.

Thea stieß ein Seufzen aus, als ihre Seele zu ihr zurückgekehrt war, doch ihre Lider blieben geschlossen.

»Sie wird bald aufwachen und ich warne dich hiermit vor: Die Kleine wird sich an alles erinnern, was passiert ist. Du solltest dir eine plausible Erklärung überlegen oder, besser noch, ihre Erinnerungen löschen.«

Diamond nickte und nahm die bewusstlose Thea aus Obsidians Armen. Ihr Körper war kalt und auf ihrer Stirn lag ein Schweißfilm. Er wollte sich gar nicht vorstellen, was für Qualen und Ängste sie in den letzten Minuten hatte ertragen müssen. Er glaubte nicht, dass Obsidian seine Kräfte genutzt hatte, um ihr dabei den Schmerz zu nehmen.

Diamond war dabei, seinem Cousin den Rücken zuzukehren, doch dieser war noch nicht fertig mit ihm.

»Pass auf dich auf, Diamond. Nicht nur sie schwebt jetzt in Gefahr. Wir wissen beide, dass Malachai hiervon erfahren wird. Egal ob ich es ihm sage oder nicht. Und dein Vater kann eine Befehlsverweigerung nicht ausstehen.«

Das war noch eine Untertreibung, doch Diamond wusste die Warnung zu schätzen und nickte ihm dankend zu.

Obsidian wandte sich ab, drehte sich dann aber noch mal zu Diamond um. Sein rechter Mundwinkel war nach oben geneigt und in seinen dunklen Iriden blitzte es gefährlich. »Ach und, Diamond? Du schuldest mir etwas.«

Diamonds Augen wurden schmal, während er ihn argwöhnisch taxierte. »Was willst du?«

Obsidian schüttelte nur den Kopf. »Nicht jetzt. Aber eines Tages werde ich dich aufsuchen und dich um einen Gefallen bitten. Und du wirst ihn mir erweisen. Betrachte es als Blutschuld. Dein Leben für ihres.«

Diamond nickte. Thea war diesen Handel wert. Wenn sie dadurch überlebte, war er sogar gewillt in Obsidians Schuld zu stehen. In diesem Moment realisierte er, dass er bereit war noch viel weiter zu gehen. Wenn es um Theas Leben ging, würde Diamond alles tun, um sie zu beschützen.

»Einverstanden.«

Es war pure Ironie. In der Welt der Menschen war er dafür bekannt, dass er seinen Kunden die sehnlichsten Wünsche erfüllte und als Gegenleistung einen Gefallen seiner Wahl forderte. Nun war es Diamond, der seinem Cousin im Austausch für seine Hilfe etwas schuldete.

Das diabolische Grinsen kehrte auf Obsidians Gesicht zurück. »Dann haben wir einen Deal.«

Dem war wohl so. »Behalte das für dich. Niemand muss wissen, dass du mir Zeit geschenkt hast. Auch deine psychotische Schwester nicht.«

Obsidian lachte bei seinen Worten nur. »Du weißt doch selbst am besten, dass man nichts vor Diaspro geheim halten kann. Gerade dann nicht, wenn es um ihre Lieblingsbeschäftigung geht: für deinen Untergang zu sorgen.«

Auch wenn die Taten seiner Schwester Obsidian zu belustigen schienen, konnte Diamond nicht dasselbe von sich behaupten. Diaspro hatte es auf ihn abgesehen, gleichwohl er bis heute nicht verstand weshalb. Doch solange sie sich von Thea fernhielt, war ihm dieser Grund auch egal.

»Danke, Obsidian. Ich weiß zu schätzen, was du für sie getan hast«, presste Diamond hervor. Es war unerträglich, in der Schuld seines Cousins zu stehen.

Obsidians Augen hatten wieder den gleichgültigen Ausdruck angenommen, den Diamond gewohnt war. »Ich habe das nicht für sie getan. Auch wenn wir nicht die besten Freunde sind, gehörst du zur Familie. Und eine Familie hält zusammen.«

Mit diesen Worten drehte er sich um und ließ Diamond mit Thea im Arm in der Gasse zurück.

Diamond schaute seinem Cousin nach. Vielleicht hatte er sich doch in ihm getäuscht. Auf ihn war im Notfall Verlass. Auch wenn er noch so unnahbar und kalt wirkte, gehörte Obsidian zu den halbwegs Guten, zumindest für diesen Moment.

Mit sorgenvollem Blick sah Diamond auf Thea hinab. Sie war federleicht in seinen Armen. Er drückte sie näher an sich und war überrascht, als er merkte, wie sein Blick sich mit Tränen füllte. Es waren Tränen der Erleichterung, darüber, dass sie wieder bei ihm war.

Und Diamond würde dafür sorgen, dass das so blieb. Koste es, was es wolle.

D R E I

Thea

Um sie herum herrschte Stille und absolute Dunkelheit. Thea konnte ihr Herz klopfen hören. Es pochte im selben Rhythmus wie der große schwarze Stein, der vor ihr schwebte. Bei jedem Schlag leuchtete er auf, nur um dann wieder zu erlöschen. Hell und dunkel. Immer abwechselnd.

Dann tauchte das Gesicht des fremden Mannes auf. Seine tiefschwarzen Augen, die Thea wie Beute betrachteten. Das dunkle Haar, das ihm bis in den Nacken reichte. Um ihn herum schwirrten Schatten, die seine restliche Gestalt verbargen. Nur das Gesicht konnte Thea glasklar erkennen.

Der Mann streckte die Arme nach ihr aus und Thea wollte schreien. Schreien, so laut sie nur konnte. Aber es ging nicht. Aus ihrer Kehle drang kein Laut. Sie hatte den Mund zu einem Kreischen geöffnet, doch sie blieb stumm.

Die Hände des Mannes kamen ihr immer näher und Thea versuchte ihn abzuwehren, ihr Körper gehorchte ihr allerdings nicht. Ihre Arme blieben schlaff an ihren Seiten hängen, ihre Beine verweigerten ihr den Dienst.

Thea schloss die Augen, als könnte sie so das Unausweichliche aufhalten. Im nächsten Moment spürte sie schon die kalten Hände, die sich um ihr Herz schlossen und zudrückten.

Thea keuchte. Ein unbekannter Schmerz schoss durch ihre Gliedmaßen und lähmte sie. Die Hände verstärkten ihren Druck, bis Thea glaubte zu zerbrechen. Spitze Fingernägel gruben sich in ihr Inneres und hinterließen dort tiefe Wunden.

Bei jedem Schnitt spürte Thea eine unsagbare Qual. Die Furchen wurden größer und sie konnte fühlen, wie einige Teile ihrer selbst zersplitterten. Wie sie auseinandergerissen wurde.

Sie öffnete die Lider. Die schwarzen Iriden des fremden Mannes waren verschwunden. Stattdessen blickte sie ein Paar farbloser Augen an. Farblos wie geschliffene Diamanten.

Diamond. Ein schelmisches Grinsen auf den Lippen, um den Hals sein Diamant. Auch dieser Stein leuchtete rhythmisch auf. Mit jedem weiteren Atemzug durchfuhr sie der tiefsitzende Schmerz.

Sie versuchte sich von Diamond loszureißen, wollte ihn schlagen, ihn anschreien. Doch nichts geschah. Ihre Kräfte hatten sie verlassen.

Etwas in ihrem Inneren brach auseinander, rieselte wie Staub zu Boden und hinterließ eine unselige Pein. Thea spürte, wie ihr Herz aufhörte zu schlagen.

Voller Entsetzen starrte Thea in Diamonds Augen. Wollte ihn anflehen ihr zu helfen, etwas gegen diese Qualen zu unternehmen. Doch Diamond schwieg. Nur das Lächeln auf seinem Gesicht verrutschte nicht. Seine farblosen Iriden, die Thea gleichermaßen faszinierten, wie sie sie ängstigten, hatten einen unheimlichen Glanz angenommen.

Das Bild von Diamond verschwand und an seine Stelle trat erneut die dunkle Erscheinung des Fremden. Mit jedem Blinzeln wechselte sich Diamonds Gesicht mit dem des fremden Mannes ab, bis Thea ihre Lider nicht länger offen halten konnte.

Sie kämpfte gegen den Impuls an, ihre Augen zu schließen. Wohlwissend, dass sie für immer geschlossen bleiben würde, wenn sie jetzt losließ. Doch es half nichts. Ihre Lider wurden schwerer. Ihr Körper träge.

Thea gab der Dunkelheit nach. Diamonds boshaftes Grinsen war das Letzte, was sie sah.

***

Mit einem Ruck öffnete Thea die Augen. Schweiß rann ihre Stirn hinab und die Haare klebten ihr im Nacken. Sie keuchte und schnappte nach Luft. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust, während sie sich panisch umsah und versuchte zu begreifen, was gerade geschehen war. Was Wirklichkeit und was Albtraum gewesen war.

Sie lag in Diamonds Bett. Ein Blick nach draußen verriet ihr, dass bald die Sonne über den Dächern Los Angeles’ aufgehen würde. Vielleicht hatte sie doch nur halluziniert. Vielleicht war nichts von alledem wirklich passiert und ihr Verstand hatte ihr einen bösen Streich gespielt.

Schritte näherten sich dem Schlafzimmer und Theas Kopf fuhr zur Tür herum, in deren Rahmen nun Diamond stand. Der Ausdruck auf seinem Gesicht verriet ihr, dass sie nicht geträumt hatte. Wenn das hier Einbildung gewesen wäre, würde er sie nicht so voller Sorge anschauen.

Theas Hand schoss zu ihrer Brust. An jener Stelle, an der der Schmerz am größten gewesen war, konnte sie auch jetzt noch ein Ziehen spüren. So als wäre sie meilenweit gerannt und ihr Körper würde sie nun mit Seitenstechen dafür bestrafen.

Doch Thea war nicht gerannt. Sie war angegriffen worden. Ihre Augen zuckten erneut zu Diamond, der langsam auf sie zutrat. Aus einem Reflex heraus flüchtete Thea ans Kopfende des Bettes. Er hielt mitten in der Bewegung inne. Besorgt musterte er sie und hob die Hände als Zeichen dafür, dass er keine Gefahr für sie darstellte.

Doch das sah Thea ganz anders. Sie wusste nicht, wer er war, oder besser gesagt, was er war. Aber sie wusste mit Sicherheit, dass er weder menschlich noch ungefährlich war. Von ihm ging eine Bedrohung aus, die Thea nicht verstehen, jedoch mit jeder Faser ihres müden Körpers spüren konnte.

»Alles ist gut. Du bist in Sicherheit.« Diamonds Stimme klang gedämpft und trotzdem zuckte Thea zusammen. Er verstummte sofort.

Ihr Gespür riet ihr, den Raum und auch die Wohnung schnellstmöglich zu verlassen, doch Thea machte sich gar nicht erst die Mühe, einen Fluchtversuch zu starten, es brachte ohnehin nichts. Diamond blockierte den einzigen Ausweg.

Aus den Augenwinkeln sah sie, wie er einen weiteren Schritt auf sie zumachte. Mit einem Satz sprang sie aus dem Bett. Der Instinkt in ihr hatte übernommen. Und wie der Hase, der dem gerissenen Fuchs entkommen wollte, versuchte Theas Intuition sie vor Diamond zu warnen.

Doch sie hatte sich verrechnet. Ihre Beine, die sich wie Wackelpudding anfühlten, gaben unter ihrem Gewicht nach. Ihre Sicht verschwamm und sie hörte das Blut in ihren Ohren rauschen. Schwarze Punkte tanzten vor ihren Augen und alles begann sich zu drehen.

Diamond stand plötzlich direkt vor ihr und fing ihren Sturz ab. Seine übermenschliche Geschwindigkeit erinnerte Thea an den Fremden und sie wollte sich aus seinen Armen winden, doch ihr Körper versagte ihr weiterhin den Dienst.

Tränen sammelten sich in ihren Augen und ein Schluchzen drang aus ihrer Kehle, als Diamonds Duft sie umhüllte. Theas Kopf war mit einem Mal wie leergefegt. Die starken Arme, die sie umschlossen, und die Finger, die über ihren Rücken fuhren, waren sanft und warm, nicht bedrohlich.

Thea wusste nicht, was sie denken oder fühlen sollte. Diamond redete beruhigend auf sie ein, doch sie konnte kein Wort verstehen. Ihr Verstand hatte ausgesetzt. Sie versuchte noch immer die Ereignisse von letzter Nacht zu begreifen. Versuchte zu verstehen, was passiert war. Doch es gelang ihr nicht.

Ihre Tränen liefen über. Sie rannen ihre Wangen hinab und verschwanden in Diamonds Shirt. Immer weiter flossen sie und wurden von Theas leisem Wimmern begleitet. Ohne darüber nachzudenken, vergrub sie die Finger in dem Stoff an Diamonds Rücken und presste sich an ihn. Seine Wärme umfing sie und vertrieb die Kälte, die in Theas Gliedern gehaust hatte.

Diamond hob sie hoch und trug sie zurück zum Bett. Er positionierte sich so, dass Thea auf seinem Schoß saß, die Finger noch immer in sein Shirt gekrallt, während er sie festhielt. Besänftigend fuhr er mit den Händen über ihren Körper.

»Alles ist in Ordnung, niemand wird dir mehr wehtun. Das schwöre ich.« Seine Stimme drang wie durch Watte an ihr Ohr. Sie verbarg ihr Gesicht an seiner Schulter.

Thea war nicht mehr Herrin ihrer Sinne. Die Tränen liefen weiter und auch das Zittern hörte nicht auf. Nur Diamonds sanfte Worte und die Berührung seiner Finger schafften es, sie langsam zu beruhigen.

Der Nebel in ihrem Verstand lichtete sich und einzelne Puzzlestücke der vergangenen Nacht setzten sich zusammen. Und obwohl Thea jede Sekunde klar vor ihrem inneren Auge sah, verstand sie doch den Zusammenhang nicht. Konnte nicht begreifen, was mit ihr geschehen war.

Sie rückte von Diamond weg, so weit es ihr in der Position auf seinem Schoß möglich war. Sein besorgter Blick ruhte auf ihr, doch Thea schaute ihn nur verunsichert an.

»Ich weiß, du hast eine Menge Fragen, und ich werde dir jede einzelne von ihnen beantworten. Aber sag mir zuerst, ob es dir gut geht.«

Thea blickte ihn lange an und horchte dann in sich hinein. Ging es ihr gut? Sie wusste es nicht. Sie spürte keinen körperlichen Schmerz mehr, nur Anstrengung und Müdigkeit. Auch das Ziehen in ihrer Brust war verschwunden. Doch wie es mit ihrem Inneren aussah, wusste Thea nicht. Wie schlimm war der Schaden, den dieser fremde Mann in ihr angerichtet hatte?

Thea löste ihre Hände von Diamonds Shirt und wischte sich die Tränen von der Wange. »Ich weiß es nicht.« Ihre Stimme klang kratzig, rau und so gar nicht wie sonst.

»Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht.« Diamond zog sie wieder an sich und vergrub sein Gesicht in ihrem Haar.

In ihr machte sich der Impuls breit, ihn zu trösten. Ihm liebevoll über den Kopf zu streicheln, um ihm jegliche Sorgen zu nehmen. Doch Thea konnte es nicht. Stattdessen blieb sie regungslos in seinen Armen liegen. Ließ zu, dass Diamond sich noch fester an sich presste. Als wollte er sichergehen, dass sie wirklich bei ihm war. Gesund und am Leben.