Heinz G. Konsalik
Roman
»Glaub mir, Brüderchen, es ist ein Alptraum von einem Zug, ein wahrer Satanszug, aber ich bin stolz, darin der Schaffner zu sein!«, sagte Boris Fedorowitsch Mulanow zu dem jungen Speisewagenkellner Fedja.
Sie standen im Gang zwischen dem Speisewagen und einem Schlafwagen zweiter Klasse, rauchten miteinander eine Papyrossa, blickten hinaus auf die vorbeigleitende Landschaft und warteten auf die ersten Häuser von Gorkij.
Es war ein eintöniges Bild: Birken und Fichtenwälder, dazwischen riesige Flächen mit Feldern, in Furchen hingeduckte Dörfer, eine große Sowchose mit langen Geräteschuppen, Teiche und kleine Flussläufe.
Über dem allen spannte sich ein bedeckter Vorfrühlingshimmel, aus dem es seit zwei Wochen ununterbrochen geregnet hatte. Es gab daher keine Wege mehr durch dieses Land, nur ein Geflecht aus Schlammstreifen, durch das sich die Fuhrwerke quälen mussten – wie seit tausend Jahren.
Natürlich waren auch Straßen da, schöne, breite, feste Straßen, blanke Bänder durch diese Einsamkeit; aber links und rechts von ihnen begann immer wieder das Land, das zweimal im Jahr in Schlamm und Morast ertrinkt, das ewige alte Russland. Zweimal im Jahr: im Frühling und im Herbst, wenn der Regen entweder die Sommerglut oder die eisige Winterkälte ankündigt.
»Du fährst nun schon oft«, fuhr Mulanow fort und blies den Rauch gegen die gewölbte Waggondecke, »die Strecke Moskau–Wladiwostok. Das ist schon etwas! Quer durch die halbe Welt! Auf der ganzen Welt gibt es keinen solchen Zug mehr. Trotzdem: Es ist ein Satanszug!«
»Und warum, Boris Fedorowitsch?« Der junge Kellner Fedja trat seine Papyrossa aus. Im beinahe leeren Speisewagen langweilten sich drei Reisende, lasen Zeitung und tranken Tee. »Es ist der schönste Zug der ganzen Sowjetunion. Der Transsib! Ich bin rot vor Freude wie ein kleines Mädchen geworden, als ich damals hierher versetzt wurde.«
»Der Zug ist schön. Aber die Menschen, Fedja, die Menschen!« Mulanow zeigte hinaus auf die ersten Häusergruppen von Gorkij. Die Wagen glitten weich und gut gefedert über Weichen; ein großer Verschiebebahnhof zog an ihnen vorbei.
»Sieben Jahre fahre ich jetzt diese Strecke. Ohne Reklamation! Der Genosse Abteilungsleiter hat mir die Hand gedrückt und mich gelobt. Wem passiert so etwas, na?« Mulanow lehnte sich stolz gegen die Wand.
Er war ein mittelgroßer, stämmiger Mensch mit einem kleinen Schnauzbart und Stoppelhaar. Seine Eisenbahneruniform trug er wie ein General, und wenn er durch die Gänge ›seines Zuges‹ schritt und die Abteile inspizierte, war es, als nähme er eine Parade ab.
»Weißt du, was das heißt?« Nun gab’s kein Halten mehr, Mulanow war bei seinem Lieblingsthema angekommen. »Keine Reklamationen! Bei diesen Menschen in diesem Zug? Alles kleine Teufel, sage ich dir. Mehrere hundert Teufel auf zwei Schienen, und zehn Tage und zehn Nächte immer in deinem Nacken! ›Genosse Abteilungsleiter‹, habe ich geantwortet, als er mir die Hand drückte, ›ich habe meine Nerven im Stahlwerk von Kuibyschew eingekauft. Beste dicke Drahtseile!‹, und er hat gelacht, der Genosse Abteilungsleiter. Hat gelacht, dass sein Bauch wackelte und er sich fast verschluckte.«
Mulanow kratzte sich den stoppeligen Kopf.
»Ein Diplomat muss man sein, Fedja, und ein Psychologe, und man muss die Menschen erkennen – sofort! Mit dem ersten Blick, wenn sie bei dir einsteigen und sich in ihrem Abteil häuslich niederlassen, muss man sie erkennen. Man sieht’s sofort, wie sie die Koffer behandeln, ihre Mäntel ausziehen, die Mitreisenden begrüßen, ihre Ehefrauen kommandieren, ihre Kinder anschnauzen, über den Zug meckern, die Fahrkarten hinhalten, wenn man sie kontrolliert … Die einen nicken einem freundlich zu, die andern sehen einen gar nicht dabei an, andere suchen und fluchen, manche ziehen sogar ihre Schuhe aus, als wenn sie dort die Billetts untergebracht hätten, und wieder andere tun so, als solltest du sie am Hintern lecken! Und das zehn Tage und zehn Nächte lang … ich sage dir, Fedja, ein Betriebsausflug der Teufelchen aus der Hölle! Und trotzdem bin ich stolz darauf, hier Schaffner zu sein …«
Vor dem Fenster sah man jetzt die Vorstädte von Gorkij.
Zuerst sausten die alten Häuser aus der Zeit, als Gorkij noch Nischni Nowgorod hieß, vorbei, dann die Neubaublocks. Es waren Betonkästen wie überall auf der Welt, uniform, seelenlos; Wohnsilos, die unter einem trüben Himmel noch grauer und abstoßender wirkten als sonst.
Endlich fuhr der Express in die riesige Bahnhofshalle ein, und ein Gewirr von Schienen, Weichen, Elektromasten und Lagerhallen, Abstellplätzen und Werkstätten umgab sie.
»Ein paar neue Höllenkinder steigen zu!« Mulanow zückte sein Notizbuch. »Wen haben wir denn da vorangemeldet? Zweiter Klasse – interessiert nicht! Erster Klasse: zwei Parteifunktionäre, vier Geologen, einen Professor für Physik, der nach Irkutsk will. Aha, und da!« Mulanow zeigte die Eintragung dem jungen Kellner. »Werner Forster, Abteil drei, Wagen fünf. Das ist eines der Staatsabteile, Brüderchen. Nur zwei Plätze … haben den ganzen Raum für sich, wo sonst sechs sitzen. Das sind die Schlimmsten, Fedja! Reserviert von einem Ministerium! Man muss sie anfassen wie weiche Eier. Werner Forster, ein Deutscher!« Mulanow klappte sein Notizbuch zu. »Ein wichtiger Mensch muss das sein. Fährt bis zur Endstation Wladiwostok. Ich werde ihn auf Deutsch begrüßen: Gutten Tak, gospodin. Die Ausländer sind wichtig, Fedja! Unser Zug ist die Visitenkarte Russlands. Was man später von uns erzählt, färbt auf das ganze Land ab.«
Der Zug hielt. Boris Fedorowitsch Mulanow kontrollierte noch schnell den korrekten Sitz seiner Mütze, riss die Tür auf und sprang auf den Bahnsteig.
Aus den Lautsprechern tönte noch die Zugansage. Das ist Olga, dachte Mulanow, Olga mit der schnell sprechenden hellen Stimme. Olga mit dem dicken Hintern … Madonna von Kasan, wie man jede Kleinigkeit nach sieben Jahren kennt …
Es war keine Kunst, Werner Forster zu entdecken. Er stand neben zwei hellen Schweinslederkoffern, die allein schon die Aufmerksamkeit der sowjetischen Reisenden auf sich zogen. Und dann die Kleidung! Der Anzug aus englischem Stoff, graubraun mit einem Karo in Blau. Rötliche weiche Schuhe in Mokassinform, über dem Arm einen Mantel aus Fuchspelz – in Moskau gekauft –, vor der Brust einen Fotoapparat, über der Schulter eine moderne Tasche mit langem Riemen, ohne Hut …
Ein Mensch, der auffiel, weil alles an ihm anders war als in Russland.
Mulanow straffte sich, setzte sich in Bewegung und marschierte auf den Deutschen zu. Drei Schritte vor ihm blieb er stehen, als habe jemand »Halt!« kommandiert, und legte die Hand an den Mützenschirm.
»Gutten Tak, gospodin«, sagte der Bahnbeamte. »Ich bien Schaffner von Sie!«
Werner Forster nickte freundlich. Die große Reise, ein Traum, den er schon als Junge geträumt hatte, wurde Wirklichkeit. Er suchte nach seinem Fahrschein, aber Mulanow winkte großmütig ab.
»Sie sind mir angezeigt, gospodin«, sagte er jetzt auf Russisch. »Bitte, folgen Sie mir.«
Er wartete, ob der Deutsche ihn verstand, und zu seinem Erstaunen antwortete Forster auf Russisch: »Sie sind wirklich sehr höflich. Danke!«
Eine schauderhafte Aussprache, dachte Mulanow. Deutsches Schulrussisch! Aber man kann ihn verstehen.
Es wird sich die Möglichkeit ergeben, ein Schwätzchen zu halten. Noch knapp zehn Tage bis Wladiwostok.
Vielleicht kann man – ganz vorsichtig – erfahren, wie die Deutschen leben. Zum Beispiel ein deutscher Eisenbahnschaffner! Vergleiche sind immer gut.
Die Mulanows leben zufrieden, das kann man wohl sagen. Eine hübsche Frau mit zwei Kinderchen, und eine Wohnung mit zwei Zimmerchen in Moskau. Ein Bad für drei Mietparteien – na, ist das etwa nichts? Und bisher keine Reklamationen mit dem warmen Wasser, wie’s im Block nebenan immer ist. Da tutet es aus dem Kran, wenn man warmes Wasser haben will! Ein Musiker, der dort wohnt, sagte neulich, es wäre a-Moll! Und er wolle eine Sonate über das Getute schreiben …
Mulanow tat etwas, das sonst unter seiner Würde war: Er nahm einen der schönen Schweinslederkoffer und trug ihn dem Deutschen voraus zum Wagen fünf.
Vor den Waggons der zweiten Klasse – Großraumwagen für sechzig Personen – stauten sich die Reisenden, warfen ihr Gepäck voraus durch die Fenster, enterten den Wagen, als seien sie Piraten, stießen sich gegenseitig weg und benahmen sich so, wie es Mulanow nicht anders erwartet hatte und seit sieben Jahren kannte.
Die Erste-Klasse-Reisenden waren schon eingestiegen. Sie hatten Platzkarten und suchten in Ruhe ihre Plätze auf.
»Bitte, gospodin«, sagte der Schaffner und zeigte auf ein geschlossenes großes Fenster. »Das ist Ihr Abteil. Nur für zwei Personen. Es wird Ihnen bei uns gefallen.«
»Davon bin ich überzeugt.« Forster folgte dem Schaffner bis zu der breiten Schiebetür. Im Abteil saß bereits ein Reisender, der sich sofort erhob, als Mulanow und Forster eintraten.
»Darf ich Ihnen behilflich sein?«, fragte der Herr.
»O danke. Es geht schon.«
Werner Forster hob die Koffer in die Ablage, hängte den Pelzmantel an einen Haken und stellte Fotoapparat und Umhängetasche auf die lange, dick gepolsterte Bank.
Mulanow klappte ein Tischchen unter dem Fenster heraus und zog das weiße Deckchen gerade, das über die Nackenstütze gezogen war.
Forster fuhr zum ersten Mal mit einem sowjetischen Luxuszug. Bisher hatte er Russland nur vom Flugzeug oder Auto aus kennengelernt Und die ländlichen Züge, die er zweimal benutzen musste, hatten ihn an Erzählungen von Tolstoi oder Gorki erinnert: es waren rollende, schwankende, rappelnde und in den Federn ächzende Historien.
Wegen der Pflichterfüllung kontrollierte Mulanow noch schnell die Fahrkarte und das Sonderbillet für den Staatswagen, grüßte dann stramm und verließ das Abteil.
Er rannte durch den langen Zug zur zweiten Klasse. Dort gab es Streit wegen eines Fensterplatzes. Irgendein Idiot bei der Fahrkartenausgabe hatte zweimal den gleichen Platz reserviert, und nun standen sich zwei Männer gegenüber wie David und Goliath und zankten sich darum.
Der eine – ein Riese mit einem schönen Bass, der aber leider stotterte –, der andere klein wie ein Frettchen und mit einem Mundwerk, das man nur zuschweißen konnte, damit es Stillstand.
»Ruhe!«, brüllte Mulanow. »Sie befinden sich im Transsib, Genossen, und nicht in einem Ferkelzug! Zwei gleiche Nummern? Ist das meine Schuld? Warum einigt man sich nicht? Jeder sitzt einen Tag am Fenster, immer abwechselnd! Ist das denn so schwer? Beginnen wir mit dem kleinen Genossen …«
»Wa-warum?«, brüllte der Riese zurück. »Er ha-hat Platz im Gep-päcknetz!«
»Ein Baumstamm ohne Hirn!«, kreischte der Kleine zurück. »Genosse Schaffner, ich kann Ihnen ein ärztliches Zeugnis beibringen! Im Gepäcknetz! Ich leide seit vier Jahren an chronischen Blähungen. Ich muss mich gerade setzen. Sitze ich krumm – schon geht’s los! Soll ich es Ihnen vormachen, Genossen? Auf Ihre Verantwortung! Ich habe ein ärztliches Zeugnis …«
In seinem Abteil hatte sich Werner Forster an das Fenster gesetzt und blickte hinaus. Er konnte durch den offenen Teil der Halle hinübersehen auf eine Gleisanlage, die etwas außerhalb der Bahnsteige lag.
Hier warteten Loks und Waggons auf ihre Zusammenstellung oder waren nach der Fahrt abgestellt worden, um gereinigt zu werden.
Da die Bahnsteige leer waren, beobachtete Forster, dass vor einem langen Zug mit Güterwagen ein paar Milizsoldaten hin und her patrouillierten. Sie hatten Maschinenpistolen vor der Brust und führten Schäferhunde an ihrer Seite.
Der Herr im Abteil räusperte sich diskret. Forster wandte den Kopf.
»Wir werden zehn Tage lang zusammenwohnen«, sagte der Herr in einem absichtlich langsam und deutlich gesprochenen Russisch. »Da ist es gut, wenn man sich kennt. Mein Name ist Pal Viktorowitsch Karsanow, Professor der Agrarwissenschaft.«
Er erhob sich und verneigte sich höflich. Forster verbeugte sich ebenfalls. Wie bei Tolstoi, dachte er von Neuem.
Das ist das Geheimnis Russlands, vor dem wir sprachlos stehen. Seit über fünfzig Jahren verändert sich in Russland alles, und es verändert sich so, dass es das neue Gesicht der Welt mitbestimmt – aber im Grunde ihrer Seele bleiben die Russen, was sie immer waren: menschliche Rätsel zwischen Himmel und Hölle!
Allein schon dieser Zug! Überall spricht man vom Sozialismus; alle Menschen sind gleich … aber man hat eine zweite Klasse mit sechzig Plätzen, man hat eine erste Klasse mit vier oder sechs Plätzen und Sonderabteile mit zwei Sitzen. Reserviert für hohe Offiziere, Parteifunktionäre und Staatsgäste.
Wer hat von einer klassenlosen Gesellschaft gepredigt? War’s Lenin?
»Ich heiße Werner Forster und bin Ingenieur.«
Dann saßen sie sich gegenüber, blickten aus dem Fenster und suchten den Anfang für ein Gespräch.
Er sieht aus wie ein biederer Familienvater, dachte Forster. Gutmütig, behäbig, das graumelierte Haar wird schon licht in der Mitte. Er trägt einen Anzug aus dem Kaufhaus, Marke »Stirallka«, wie die Leute diese Anzüge nennen, die nach einem Regenguss wirklich wie zusammengenähte Staubtücher aussehen. Die Schuhe sind mehrfach besohlt, das bläuliche Hemd ist zerknittert, nur der rote Schlips ist neu.
Ein lieber Onkel, ein Professor, der Formeln besser kennt als eine Bügelfalte in der Hose.
»Sie sind Deutscher?«, fragte Karsanow.
»Man hört es, nicht wahr?« Forster lachte jungenhaft. Sein offenes Gesicht wurde dann beinahe alterslos. Er konnte achtzehn, aber auch dreißig Jahre alt sein. In Wirklichkeit war er dreiunddreißig.
»Ich hatte große Mühe, soweit Russisch zu lernen, dass ich mich verständlich machen kann. Für einen Deutschen ist Russisch ein Alptraum!«
»Das Kompliment gebe ich zurück.« Karsanow lachte nun ebenfalls. »Für jeden Ausländer ist Deutsch die Sprache der krachenden Zunge. Sie fahren auch bis Wladiwostok?«
»Ja! Mein Kindertraum wird wahr.«
Forster blickte wieder aus dem Fenster. Der Zug da draußen auf den Rangiergleisen interessierte ihn. Die Milizionäre mit den Hunden riegelten anscheinend das ganze Gebiet ab. Außer ihnen war kein Mensch dort zu sehen. Kein Bahnarbeiter, keine Rangierer und auch nicht die Frauen mit den verblichenen Kopftüchern, die mit Schrubbern an langen Stangen die Waggons von außen abwaschen. »Von Wladiwostok fahre ich dann per Schiff nach Hause.«
»Eine wundervolle Reise. Sie haben in Russland gearbeitet?«
»Ja, an der geplanten Erdgasleitung nach Deutschland. Ich war eine Art Vorkommando. Es gab da vieles, was man koordinieren musste.«
»Natürlich, die Erdgasleitung! Eine gute Sache, mein Herr! Zwei Völker kommen sich endlich näher, weil sie sehen, dass man sich gegenseitig braucht. Wie hieß Ihr Vater?«
Forster sah Karsanow verblüfft an. »Anton Forster. Warum?«
»Sehr gut!« Karsanow lächelte freundlich. »Es redet sich leichter im Russischen, wenn man das weiß. Sie gestatten, dass ich Sie Werner Antonowitsch nenne? Ich bin Pal Viktorowitsch! Wir werden uns in den kommenden zehn Tagen lieben oder zerfleischen lernen. Weiß man es im Voraus?«
An dem abgesperrten Zug geschah jetzt etwas Merkwürdiges.
Aus einigen Lüftungsschlitzen wehten Taschentücher im Wind, und ein paar Papierschnipsel trieben träge über die Gleise davon.
Die Milizionäre wurden unruhig, traten an die Waggons und schlugen mit den Fäusten dagegen. Die Hunde zerrten an den Leinen und bellten, aber die Taschentücher verschwanden nicht. Sie flatterten weiter aus den Schlitzen, bis endlich ein paar Milizsoldaten mit den Läufen ihrer Maschinenpistolen die weißen Stofffetzen wegrissen.
»Sehen Sie sich das an, Pal Viktorowitsch«, meinte Forster. »Da drüben, der Güterzug! Aus den Luftschlitzen winken Taschentücher. In den Waggons transportiert man also Menschen! Dazu die Miliz mit Hunden … Ich denke, das gibt es nicht mehr in Russland?«
»Blicken Sie woandershin, Werner Antonowitsch«, knurrte Karsanow.
Seine Stimme hatte sich plötzlich verändert. Sie klang ärgerlich und etwas härter als zuvor.
»Vor drei Tagen in Moskau habe ich noch mit einigen Herren darüber diskutiert.«
Forster zeigte hinüber zu dem Güterzug. Die Milizionäre stießen wieder mit den Gewehrkolben gegen die geschlossenen Waggons und schimpften.
»Sagen Sacharow und Solschenizyn die Wahrheit?, habe ich gefragt. Ich gehöre einer Generation an, die bei Kriegsende vier Jahre alt war. Was unsere Väter erzählten, was man später in vielen Büchern las – es mutete alles so unglaubwürdig an, und dann das, was man uns in den Schulen erzählte … wer hat recht? Wenn Solschenizyn …«
»Nennen Sie diesen Namen nicht!«, sagte Karsanow ungnädig.
Er streckte die stämmigen Beine aus und blinzelte missmutig zu dem Zug und den Milizsoldaten hinüber.
»Jedes Ding kann man von zwei Seiten betrachten. Die einen sehen in einer Toilette eine hygienische Einrichtung, die andern dagegen sagen nur: Es stinkt! Beide haben recht! Warum es leugnen? Ja, das dort drüben ist ein Transport mit Staatsfeinden. Ist es nicht das Recht eines jeden Staates, für Ordnung zu sorgen? Jeden Ansatz von Chaos zu vernichten? Die Sowjetunion ist ein Land des Friedens. Natürlich hapert es noch an vielen Ecken und Enden … Was tausend Jahre vernachlässigt haben, kann man nicht in fünfzig Jahren wegbügeln! Wer das nicht einsieht …«
Karsanow erhob sich und knöpfte die Jacke seines Anzugs zu. Die Hose beulte sich an den Knien, der Stoff knitterte im Rücken. Werner Forster blickte zu ihm hinauf.
»Es gibt also Deportationen in Straflager?«
»Werden bei Ihnen die Verurteilten in goldenen Kutschen weggefahren? Russland hat andere Entfernungen, also müssen auch die Transportmittel andere sein.«
Karsanow verließ das Abteil.
Forster sah, wie er ausstieg und mit schnellen Schritten über den Bahnsteig ging. Vor einem Verkaufskiosk für Limonade und Backwaren traf er auf einen Bahnbeamten und sprach ihn an.
Es musste ein ziemlich erregtes Gespräch sein, denn der Beamte rückte nervös an seiner Mütze, und Karsanow gestikulierte mit beiden Armen.
Tatsächlich sagte Karsanow: »Wer ist verantwortlich für diese Sauerei? Glotzen Sie mich nicht so blöde an, Genosse! Dort drüben steht ein Transport nach Sibirien, für jedermann sichtbar, als biete man Tomaten feil! Steht da, wo man weiß, dass der Transsib einläuft und mit Ausländern besetzt ist! Und da wundert man sich hinterher in Moskau, wenn die westliche Propaganda auf die Pauke haut. Eine Schweinerei ist das! Wer ist dafür zuständig?«
Es zeigte sich, dass niemand zuständig war.
Karsanow ging mit dem Beamten in das Telefonhäuschen der Bahnsteigaufsicht und telefonierte herum – vom Stellwerk bis zum Bahnhofsvorsteher, vom Milizkommandanten bis zum Leiter des örtlichen KGB. Jeder nannte diese Panne eine Dummheit, die fast an Sabotage grenze – aber verantwortlich war niemand. Wer den Deportiertenzug gegenüber vom Transsibirien-Express abgestellt hatte, war nicht mehr nachprüfbar.
Irgendjemand hatte am Telefon gesessen und die Anweisung gegeben, dann hatte alles andere die Technik übernommen, die Weichen wurden elektronisch gestellt, Miliz marschierte auf, sperrte ab – man hatte sogar – eine halbe Stunde vor Einlaufen des Transsib! – die Waggontüren geöffnet und Verpflegung verteilt.
Hunderte Menschen hatten zugesehen, aber da es ausschließlich Russen waren, löste dieser Anblick keinerlei sichtbare Reaktionen aus. Glücklich der, der frei auf einem Bahnsteig stehen kann!
Karsanow hängte wütend den Hörer ein.
»Es ist nervtötend!«, sagte er laut »Immer das Gleiche! Keiner ist zuständig! Ich werde es nach Moskau melden, Genosse. Mich wundert nur, dass niemand die Verurteilten an unserem Zug vorüberziehen lässt – wie Mannequins!«
Aus dem Lautsprecher schallte von Neuem die helle Stimme Olgas mit dem dicken Hintern: »Alle Reisenden einsteigen und die Türen schließen! Der Transsibirien-Express fährt in Kürze ab!«
Karsanow beeilte sich, zu seinem Wagen zu kommen.
Er war gerade aufgesprungen, als Mulanow hinter ihm die Tür zuschlug. Es klang wie ein Schuss, als die schwere Tür ins Schloss krachte, und Karsanow zuckte heftig zusammen.
»Haben Sie sich erkundigt, Pal Viktorowitsch?«, fragte Forster, als sich Karsanow schnaufend und voll angestauter Wut auf die Polsterbank warf.
Der Zug ruckte an und verließ dann fast lautlos die riesige Bahnhofshalle von Gorkij. Der Bahnsteigaufseher grüßte stramm, als der Wagen Nummer fünf an ihm vorbeirauschte.
Karsanow kniff die Lippen zusammen und ignorierte die flehentliche Geste des kleinen Beamten: Genosse, verschonen Sie mich! Ich bin nur ein unwesentlicher Beamter, der die Züge abfahren lässt …
»Wo geht der Transport hin?«
»Werner Antonowitsch, wir sollten uns einigen, wenn wir zehn Tage zusammenleben müssen«, erwiderte Karsanow mit erzwungener Ruhe. »Verbrecher gibt es in jedem Land. In Ihrem Vorbild Amerika gibt es mehr als – zusammengerechnet – in der ganzen Welt! Und über solche Menschen sollte man nicht diskutieren. Verstehen wir uns?«
»Im Prinzip – ja, Pal Viktorowitsch.«
»Sehr gut.« Karsanow versuchte ein Lächeln, aber es geriet schief. »Bleiben wir bei Radio Eriwan und seinen Witzen. Obgleich auch die ein völlig schiefes Bild liefern …«
Forster lehnte sich in die Polster zurück. Draußen flogen die Häuser vorbei.
Bilder wie überall, wenn ein Zug eine Stadt verlässt.
Und nach wenigen Minuten begann wieder das schlammige Land, diese vom Regen aufgeweichte Grenzenlosigkeit aus Feldern, Büschen und Wäldern …
»Sie lassen nicht ein Stäubchen auf Ihrem Land liegen, was?«, fragte Werner Forster und suchte in der Pelzmanteltasche nach seinen Zigaretten.
»Nein! Ich bin Russe!« Karsanow schob das Kinn vor. »Meine Heimat ist für mich heilig.«
Nach zwei Stunden verließ Forster das Abteil, um in den Speisewagen zu gehen. Boris Fedorowitsch Mulanow war noch einmal vorbeigekommen, hatte den Kopf durch einen Türspalt gesteckt und gefragt, ob alles in Ordnung sei. Da keiner eine Antwort gab, hatte er rasch die Tür wieder zugeschoben. Dann ging er aus dem Blickfeld des Abteils und stellte sich an ein Gangfenster.
Dicke Luft, dachte er. Das gütige Väterchen und der Deutsche! Wer hätte das gedacht? Man muss ein Auge auf sie haben.
Er seufzte und richtete sich darauf ein, die nächsten zehn Tage seine Drahtseilnerven zu gebrauchen.
Forster und Karsanow hatten in den letzten zwei Stunden kein Wort miteinander gesprochen. Pal Viktorowitsch las in einem Buch, das »Die Helden vom dunklen Fluss« hieß und beschrieb, wie vier tapfere Geologen die Einöden Kamtschatkas überwanden und dabei reiche Bodenschätze entdeckten. Es war ein schönes Buch aus der Pionierzeit Sibiriens.
Forster blickte aus dem Fenster. Die Sonne war durch die Wolken gebrochen, das ertrunkene Land sah jetzt freundlicher aus. Die Dörfer an der Strecke hatten etwas Märchenhaftes an sich: Holzhütten mit geschnitzten und bemalten Fensterläden, strohgedeckt und moosbewachsen, oder mit Brettern und Dachpappe vernagelt und mit dicken Steinen gegen die Herbststürme beschwert. In den mit Knüppelzaun umgebenen Gärten arbeiteten Frauen und blickten kurz auf, als der Luxuszug an ihnen vorbeiraste. Ihre Kopftücher flatterten im Wind, auf ihren ausgeblichenen Kleidern lag der Sonnenglanz, als könne er ihnen neue frohe Farben geben.
»So habe ich mir Russland immer vorgestellt«, sagte Forster einmal, aber Karsanow gab keine Antwort.
Das ist schon wieder eine Frechheit, dachte er nur. Diese Hütten, die bald im Verlauf eines neuen Zehnjahresplans verschwinden werden, wo moderne Höfe mit Zentraldepots für Maschinen entstehen sollen, diese Hütten nennt er das typische Russland! So kann nur ein Deutscher denken.
Russland – das sind für ihn alte Hütten, arme Bauern, vollbusige Mädchen, Balalaikamusik, Krakowiak und Wodka!
Karsanow las beleidigt weiter und schielte nur ab und zu über den Buchrand zu Forster hinüber.
Er frisst mit den Augen, stellte Karsanow fest. Aber begreift er denn auch, dass dieses riesige Land nicht wie sein Ruhrgebiet sein kann, Haus an Haus, Straße an Straße?
Auf dem Gang zum Speisewagen prallte Forster mit einer Frau zusammen, die ihm plötzlich den Weg versperrte. Er hatte sie nicht kommen sehen, und der Zusammenstoß war so stark, dass er taumelte, Halt suchend um sich griff und in etwas Festes fasste. Ebenso schnell zuckten seine Hände zurück, und er lehnte sich verlegen an die Gangwand.
Zwei gewaltige, runde und feste Brüste wölbten sich ihm entgegen, durch die dünne Bluse kaum verhüllt, und ein Gesicht von wilder herausfordernder Schönheit, umwallt von einem Kranz feurigroter Haare, lachte ihn an.
»Verzeihung –«, sagte Forster verwirrt. »Ich muss beim Gehen geschlafen haben. Es war nicht meine Absicht …«
Die Frau mit den flammenden Haaren und den grell geschminkten, etwas zu dicken Lippen blieb stehen. Sie versperrte den Weg mit ihrer wuchtigen Figur.
Für eine Dame war sie zu auffällig gekleidet und geschminkt; und wie sie jetzt dastand, die dicke Brust vorgestreckt, die Beine etwas gespreizt, ein breites Lächeln auf dem runden, aber durchaus noch schönen Gesicht, erinnerte sie Forster an jene Mädchen, die er in Hafenstädten an Haustüren oder hinter Fensterscheiben gesehen hatte und die nicht übers Wetter sprachen, sondern ihren Preis nannten.
»Ein neuer Gast!«, sagte sie und musterte Forster. Auf eine Russin musste er in seinem Maßanzug wie ein Millionär wirken. »Amerikaner?«
»Nein, Deutscher.«
»Bis Wladiwostok?«
»Erraten.«
»Eine lange Fahrt, Sie schöner Mann!«
Sie atmete tief ein und aus, und ihre Brüste lockten. Das war gekonnt! Forster stellte es fest, wie ein Schiedsrichter ein Tor ansagt.
»Über das Schlafen können wir reden …«
»Über was, bitte?«, fragte Forster überrascht.
»Sie haben doch eben gesagt, Sie hätten beim Gehen geschlafen.«
Die Rotflammende stützte sich mit den Armen rechts und links von den Gangwänden ab. Ihr ganzer Körper schien durch den dünnen Stoff zu glänzen, die Linie des Leibes, die Schenkel, die Hüften wirkten wie entblößt.
»Man schläft nicht im Gehen, wenn es andere Möglichkeiten gibt. Ich habe Abteil dreiundzwanzig.«
Die Frau lachte ihn an, und ihr geschminktes Gesicht, auf dem jetzt ganz kurz Sonnenglanz lag, wirkte komisch und tragisch zugleich – wie eine Clownsmaske.
»Schönes Herrchen, haben Sie Deutsche Mark? Es gibt zehn Prozent Rabatt gegenüber dem Rubel!«
Forster begriff, und die Begegnung begann ihm Spaß zu machen.
»Vielleicht später –«, sagte er. »Jetzt habe ich Durst.« Er schob sie an die Wand, und sie richtete es so ein, dass er ihre festen Brüste von Neuem streifen musste. Dabei seufzte sie tief und bekam einen traurigen Blick.
»Ich habe zu trinken in meinem Abteil.«
»Haben Sie ein Abteil ganz für sich?«, fragte Forster.
»Wo gibt es das, schöner Mann? Es sind noch drei Mitreisende drin, eine Ehepaar und ein junges Mädchen.«
»Aber das geht doch nicht,…«, meinte Forster unsicher. »Sie können doch nicht,…«
»In der Nacht hat jeder sein Bett!« Die Rotflammende strich sich wollüstig mit beiden Händen über die Brust. »Das Ehepaar schläft. Es sind alte Leute, muss man wissen. Und das Mädchen? Wen stört es? Entweder schläft es auch. Oder es lernt noch etwas dazu. Wer wird sich an solchen Problemen stoßen? Sagen wir, um zehn Uhr? Ich notiere es.«
»Nein!« Forster drängte sich an ihr vorbei. Der Gedanke, vor Zuschauern zu lieben, jagte ihm Schauer über den Rücken. »Ich glaube, wir kommen nicht ins Geschäft.«
»Wenn es Ihnen lieber ist, komme ich in Ihr Abteil, gospodin!«
Forster dachte an Karsanow und schüttelte lachend den Kopf. Er stellte sich Pal Viktorowitsch als Augen- und Ohrenzeugen nächtlicher Umarmungen vor und geriet in eine verrückte Fröhlichkeit.
»Mein Abteilgenosse ist ein vornehmer Mensch.« Er lachte. »Sie können ihn ja einmal fragen. Wagen fünf. Abteil Nummer drei. Er wird Ihnen etwas von Lenin vorlesen.«
»Das sind die Schlimmsten!«, rief die Frau ihm nach. Sie hatte die Brüste eingezogen, und Forster konnte passieren.
Im Speisewagen bestellte er Tee und eine Flasche Mineralwasser. Dann gab er sich wieder dem Anblick der russischen Landschaft hin.
Die nächste Station ist Kirow, dachte er. Dann Perm, die wildromantische Fahrt durch den Ural, und schließlich Swerdlowsk. Das war dann schon Sibirien, das Tor in eine riesige neue Welt, von Menschen kaum zu bezwingen: die Taiga!
Swerdlowsk …
Werner Forster holte seine Sonnenbrille aus dem Jackett. Der Vorfrühlingstag ging zu Ende, die Sonne stand tief und blendete. Was hatte sein Vater von Swerdlowsk erzählt?
Die Zentrale der Gefangenenlager, der Außenlager, die über das ganze Land verstreut waren. Darin beinahe sechzigtausend Deutsche aus Stalingrad …
Er war gespannt, wie dieses Land aussah, in dem die Gräber der deutschen Plennis lagen, flachgewalzt, unbekannt …
Jeder Krieg ist ein Verbrechen, hatte sein Vater gesagt. Jeder Krieg, mein Junge! Da verrecken Millionen und wissen nicht, warum. Hat das ganze Blutvergießen wenigstens einen Sinn gehabt, ist die Welt dadurch besser und klüger geworden? Nein, im Gegenteil!
Die Gegensätze sind noch größer, die Ideologien noch fanatischer geworden. Als ob das Blut nur Dünger gewesen wäre, damit der Irrsinn noch üppiger wächst …
Forster trank seinen Tee und eine halbe Flasche Wasser, kaufte noch ein belegtes Brot – Schwarzbrot mit einer fetten Leberwurst – und ging zurück in sein Abteil.
Schon von Weitem hörte er Stimmengewirr. Eine Frau kreischte, dazwischen schrie Karsanow. Als Forster die Abteiltür aufschob, kam ihm die üppige Rothaarige entgegen. Sie hatte keine Spur mehr von erotischer Ausstrahlung, sondern wirkte megärenhaft. Ihre wutgeweiteten Augen blitzten.
»Ein Flegel, Ihr Nachbar!«, schrie sie Forster an. »Ein ekelhafter Eunuch! Ha, an dem werden Sie Freude haben! Zehn Tage mit ihm, und ich gehe ins Kloster! Kommen Sie zu mir! Um ihn zu ärgern, verlange ich von Ihnen kein Geld!«
»Ein Skandal!«, brüllte nun auch Karsanow, nachdem er Forster erblickt hatte. Er hatte einen hochroten Kopf, und seine Haare spreizten sich vor Wut wie bei einem gereizten Hund.
»Diese Huren werden immer frecher! Kommt hier ins Abteil, setzt sich mir gegenüber, lüftet den Rock, dass ich ihr bis zur Galle sehen kann, und sagt: ›Na, Alterchen, bewegt sich nichts bei dir? Da war doch mal was, nicht wahr?‹, und als ich aufspringe und losschreie: ›Hinaus, du Hurenbiest!‹, da sagt sie doch: ›Übernimm dich nicht, Alterchen! Brüll nicht weg, was du an anderer Stelle brauchst …‹ Was soll man dazu sagen? Es ist ungeheuerlich!«
Karsanow ließ sich erschöpft auf die Bank fallen, drückte seinen Kopf gegen das Polsterkissen und schnaufte laut.
»Man sollte solche Weiber steinigen!«, sagte er später, als die Frau das Abteil schimpfend verlassen und er sich wieder etwas beruhigt hatte. Er nahm sogar aus Forsters Reiseflasche einen Schluck grusinischen Kognak an, was ihm sichtlich gut tat.
»Diese Hure ist übrigens besonders impertinent. Die anderen waren sanfter.«
»Wieso die anderen? Sind noch mehr im Zug?«
»Ich fahre diese Strecke dreimal im Jahr, Werner Antonowitsch.« Karsanow bediente sich noch einmal aus der Reiseflasche. »Es ist jedes Mal eine andere.«
»Aber immer ist eine Dirne im Zug?«
»Was wollen Sie?« Karsanow hob resignierend die Schultern. »Man verbietet es; man bestraft sie, wenn sie angezeigt werden. Trotzdem fahren sie immer mit. Sie gehören fast schon zum Zugpersonal. Ich vermute, die Schaffner bekommen Prozente. Auch das ist ein Skandal! Aber beweise das mal einer! Doch dieses Luder werde ich anzeigen, das schwöre ich Ihnen! Alterchen, sagt sie zu mir. Ich bin vierzig Jahre alt. Ist man mit Vierzig ein Greis? Sehe ich aus wie eine vertrocknete Kartoffel? Ich bin tief getroffen, Werner Antonowitsch. Dieses Aas werde ich in Wladiwostok verhaften lassen!«
»Warum denn erst in Wladiwostok, Pal Viktorowitsch?«, fragte Forster.
»Glauben Sie, ich will von anderen Reisenden zerrissen werden?«, antwortete Karsanow schlicht. »Zehn Tage und zehn Nächte sind eine lange Zeit …«
Irgendwo auf der Strecke hatten sie Verspätung. Warum, das wusste nicht einmal Mulanow.
Zwischen Perm und Swerdlowsk hielten sie mitten im Ural in einer Felsschlucht, und als sie weiterfahren durften, war der Fahrplan so durcheinandergeraten, dass sie Swerdlowsk erst in der Nacht erreichten.
Mulanow, der sich verpflichtet fühlte, seinen hochgestellten Gästen im Wagen fünf Erklärungen abzugeben, mutmaßte, dass einige Signale eingefroren waren. Man hatte tatsächlich Arbeitertrupps passiert, die, dick in Winterjacken vermummt, wie Gespenster links und rechts des Schienenstranges standen.
Im Ural kam man wieder in den Winter. Das Land lag schlafend unter einer dichten Schneedecke. Hier gab es keinen Vorfrühling, hier herrschte im März noch tiefster Frost.
Forster stand am Fenster, als sie endlich in Swerdlowsk einfuhren.
Karsanow schlief auf seiner aufgeklappten Bank, die man in ein gutes Bett verwandeln konnte, und schnarchte.
Vor der ersten gemeinsamen Nacht hatte er sich bereits vorbeugend entschuldigt: »Ich habe das Übel zu schnarchen, Werner Antonowitsch. Wenn es Ihnen unangenehm wird, zwicken Sie mir ruhig in die Nase. Oder pfeifen Sie einen hellen langgezogenen Ton, das hilft! Meine Frau tut das auch immer. Warum ein Schnarcher dann aufhört, weiß ich nicht, aber Pfeifen hilft immer!«
Forster pfiff weder, noch zwickte er in Karsanows Nase. Er gewöhnte sich schnell an das Schnarchen, und jetzt, in Swerdlowsk, war er sogar froh, dass Karsanow tief und fest schlief.
So war er mit seinen Gedanken allein. Allein mit den Worten seines Vaters; und er hörte ihn erzählen:
»In Swerdlowsk haben wir auf dem Bahnhof den Wasserturm römisch zwo gebaut. Ob er noch steht? Wir haben nämlich in den Beton Salz und Zucker gemischt, weil es hieß, eines Tages mache das den Beton mürbe. Ob es stimmte? Wir haben damals alles geglaubt. Junge, war das ein Jahr in Swerdlowsk! Wir haben im Vergleich zu allen anderen Lagern wie die Maden im Speck gelebt. Diese Außenkommandos wurden von allen beneidet. Einige hatten sogar Weiber, Russinnen, die in Arbeitsbrigaden am Bahnbau arbeiteten. Aber die anderen Lager! Junge, da gab es Tage, da konnten die Grabkommandos nicht so viele Löcher in den vereisten Boden hacken, wie Tote herumlagen. Das war Swerdlowsk!«
Der Bahnsteig war fast leer.
Es stiegen nur ein paar Reisende in den Transsib, müde vom langen Warten, durchgefroren und den armen Mulanow beschimpfend, der an der Verspätung am wenigsten schuld war.
Und dann sah Forster sie …
Zunächst war es nur eine Gestalt im Schatten des längst geschlossenen Verkaufskiosks, so eng an die Wand gedrückt, dass das Licht der Bogenlampen auf dem Bahnsteig sie nicht erreichte.
Erst als die Reisenden eingestiegen waren und die Stimme eines ebenfalls müden Beamten aus dem Lautsprecher das übliche ›Türen schließen‹ verkündete, regte sich die einsame Gestalt.
Forster erkannte ein schlankes Mädchen, den Kopf umwickelt mit einem ausgeblichenen Kopftuch, das bis zur Schulter reichte. Es trug einen langen gesteppten Rock und eine wattierte Jacke aus grauem Leinen.
Das Mädchen hatte kein Gepäck bei sich. Es lief wieselschnell aus dem Schatten des Kiosks über den Bahnsteig zum Zug und sprang rasch in die noch geöffnete Tür eines Zweiter-Klasse-Wagens hinein.
Im gleichen Augenblick rannte Mulanow am Zug entlang, stieß die noch offenen Türen zu und hob den Arm. Der Zug ruckte an, der Schaffner sprang auf und hauchte in seine Hände.
Diese Kälte! Welch ein Land, dieses Sibirien!
Im Winter müsste man ein Bärenfell haben, und im Sommer hatte man Lust, nackt herumzulaufen.
Mulanow wollte in sein Schaffnerabteil gehen und kam dabei an Nummer dreiundzwanzig vorbei.
Leise schob er die Türe auf und lauschte. Das alte Ehepaar schlief, auch das Mädchen links oben war ruhig. Aber unten links herrschte rege Tätigkeit. Das Bett knirschte und knackte.
»Alles in Ordnung, Klaschka?«
»Ein guter Tag. Boris Fedorowitsch!« Klaschkas Stimme klang etwas belegt, ohne dass das Rumoren unterbrochen wurde. »Für dich fünfzehn Rubelchen!«
Zufrieden schob Mulanow die Tür wieder zu. Er sparte auf einen Moskwitsch-Wagen, und so ein Auto, Freunde, ist für einen Schaffner eine teure Sache …
Leise verließ Werner Forster sein Abteil und tastete sich durch die nur schwach erhellten Gänge zu den Wagen der zweiten Klasse.
Wer war dieses Mädchen?, dachte er. Warum versteckte es sich und sprang erst im letzten Augenblick in den Zug? Ohne Gepäck, angezogen, als käme es direkt aus einer Arbeitskolonne?
Wo war es geblieben?
Nur den Bruchteil einer Sekunde hatte der Deutsche das Gesicht der Unbekannten gesehen, ihre Augen, groß, aber gehetzt und randvoll mit Angst. Ein Blick, der sich in ihn eingebrannt hatte.
Sie hat auch mich gesehen, dachte er. Sie muss mich am offenen Fenster gesehen haben, und mit wilder Verzweiflung hat sie sich in den Zug geworfen. Sie hat mich doch auch angesehen – mit einem Blick, der mich beinahe zerschnitt! Wie kann ein Mensch einen solchen verzweifelten Blick haben?
Er tappte weiter, kam in die zweite Klasse und begann, systematisch alle Reisenden zu mustern. Sechzig in jedem Wagen.
Ein Konzert aus schlafenden Mündern, Wolken von Ausdünstungen … Er sah verkrümmte Körper auf den Sitzen, Kinder in den Gepäckablagen und Menschen in Decken und Mäntel gewickelt, auf dem Mittelgang des Großraumwagens. Er sah einen Betrunkenen, der im Schlaf rülpste. Er sah ein junges Paar, das erschrocken auseinanderfuhr, als Forster es anstarrte …
Wer ist dieses Mädchen?, dachte er immer wieder. Wo ist es geblieben? Was ist mit einem Menschen geschehen, der solch einen verzweifelten Blick hat?
Nicht nur alle, die Mulanow kannten, sondern er selbst fragte sich manchmal, wann denn eigentlich auf dieser Mammutfahrt von zehn Tagen und Nächten der mit einem Händedruck des Abteilungsleiters ausgezeichnete Schaffner ein notwendiges Nickerchen hielt. Denn immer, wenn man ihn brauchte, war Mulanow zur Stelle; und er war auch gegenwärtig, wenn man ihn nicht brauchte.
Schlaf kannte er anscheinend nicht, solange er mit seinem Transsib quer durch einen Kontinent rollte. Vielleicht kam das daher, dass er die Wagen drei bis sechs unter seiner Kontrolle hatte, die besten Wagen mit den wichtigsten Passagieren des ganzen Zuges.
So stieß auch Werner Forster unausweichlich auf Mulanow, als er von seiner nächtlichen Suche in die zweite Klasse zurückkam und sich durch die Wagengänge tastete, die nur notdürftig erhellt waren.
»Suchen Sie etwas, gospodin?«, fragte Boris Fedorowitsch freundlich.
Er hatte es sich bequem gemacht, trug keine Mütze, hatte den Schaffnerrock aufgeknöpft und das Hemd bis zum Gürtel offen.
Die Wagen waren gut geheizt. Während draußen der Frost in den Bäumen knackte, rann einem hier der Schweiß über den Nacken.
»Nein«, antwortete Forster müde. »Ich habe mich nur verlaufen. Plötzlich stand ich in der zweiten Klasse.«
»Ein Problem, gospodin, ein wirkliches Problem, diese zweite Klasse.« Mulanow schloss die unteren Knöpfe der Jacke, um nicht ganz vor diesem hohen Staatsgast im Freien zu stehen.
Wusste man denn, welche Funktion er hatte? Ein Deutscher, der in einem Abteil reist, das sonst nur hohen Funktionären und Generälen vorbehalten war – das gibt zum Denken Anlass!
Vielleicht ist er ein in Westdeutschland bekannter Politiker, auch wenn auf der Meldung der Zentrale ›Ingenieur‹ steht. Viele wichtige Persönlichkeiten reisen heute inkognito.
Man kann nie wissen …
Ein gutes Wort über den Schaffner Mulanow an der richtigen Stelle, und eine neue Auszeichnung ist fällig!
»Die Leute liegen da herum, stinken die Wagen voll, benehmen sich wie eine Hammelherde und haben bis zur Endstation hundertmal Streit miteinander. Man sollte diesen Zug nur mit der ersten Klasse fahren lassen, gospodin. Und einen anderen, einen zweiten Zug für die Bauern und Arbeiter. Nicht, dass wir unsozial denken – aber tun wir den Reisenden mit weniger Kultur einen Gefallen, wenn sie zusammen mit den Gebildeten fahren? Nein! Sie fühlen sich gehemmt, werden in ihrem gewohnten Leben beeinträchtigt; eine Qual wird’s für sie, sich so zu benehmen, wie sie’s nur in Büchern lesen!«
Mulanow blickte den Gang hinunter, den Forster gerade heraufgekommen war. »Sie haben nichts gesucht, gospodin?«
Das kann ich dir doch nicht sagen, dachte Werner Forster. Ich suche zwei ängstliche, in Panik geweitete Augen. Der Zug ist lang – irgendwo werde ich das Mädchen finden …
»Ich wollte zum Speisewagen«, antwortete er nun ausweichend.
Mulanow staunte.
»Genau entgegengesetzt, gospodin! Hinter Wagen vier, Sie waren doch schon dort.«
Forster lächelte schief.
»Vielleicht war ich da gerade schlaftrunken. Ist überhaupt jemand im Speisewagen um diese Zeit?«
»Fedja ist immer da. Die Köche allerdings schlafen längst. Man müsste Koch sein, gospodin. Eine feste Arbeitszeit, braucht nur in Töpfen zu rühren und Blinis in der Pfanne hüpfen zu lassen, kann sich rund und fett fressen und bekommt gute Rubel dafür.«
Der Schaffner Mulanow setzte sich in Bewegung. Es war seine Aufgabe, den hohen Gast zu seinem Abteil zurückzugeleiten.
Forster folgte ihm. Für heute war die Suche beendet.
»Ich habe gehört, Klaschka hat Sie belästigt?«, fragte Boris Fedorowitsch.
»Wer ist Klaschka?«, fragte Forster zurück. Er dachte an das unbekannte Mädchen, das in den Zug sprang wie ein gejagter Fuchs.
»Na, Sie wissen doch, gospodin …« Mulanow blinzelte mit den Augen.
»Das rothaarige Riesenweib?«
»Die Reisenden reagieren natürlich unterschiedlich darauf. Pal Viktorowitsch, Ihr Nachbar, war tief beleidigt. Aber die meisten lieben es, ein wenig Unterhaltung zu haben. Zwischen Tjumen und Omsk wird es langweilig, da fahren wir durch die Sümpfe. Und zwischen Krasnojarsk und Irkutsk ist nur Wald und wieder Wald! Und dann hinter Tschita, am Amur entlang … Wir haben Bären an den Schienen gesehen, die haben vor Einsamkeit geweint! Man könnte trübsinnig werden, gospodin, und deshalb ist Klaschka notwendig. Eine medizinische Notwendigkeit genaugenommen, zur Abwendung seelischer Störungen. Ich werde dafür sorgen, dass sie Ihr Abteil nicht mehr besucht.«
»Danke.«
Forster sehnte sich nach seinem Bett. Die Geschwätzigkeit Mulanows fiel ihm jetzt auf die Nerven.
Sie war ganz ohne Gepäck, dachte er. Und wie sie in den Zug sprang – es sah ganz so aus, als habe sie keine Fahrkarte. Ein blinder Passagier im Transsibirien-Express? Wo kann man sich hier verstecken?
Unter den wachsamen Augen Mulanows schien das unmöglich, und trotzdem musste es gelungen sein, denn der Schaffner erwähnte mit keinem Wort ein Mädchen, das so unverfroren war, ohne Billett quer durch Russland zu fahren …
Im Abteil saß Karsanow in seinem Bett und blickte missmutig vor sich hin. Er trug einen jener typisch russischen gestreiften Schlafanzüge, die man überall trifft.
Karsanow schien Forster vermisst zu haben. Er atmete sichtlich auf, als sich die Schiebetür öffnete und der Schaffner Forster höflich einließ.
»Da sind Sie ja, Werner Antonowitsch!«, rief Karsanow.
Er wartete, bis die Tür zugeschoben und der Schaffner zurück in sein Dienstabteil gegangen war.
»Sagen Sie bloß, Sie haben diesem rothaarigen Frauenzimmer einen Besuch abgestattet! Ein Mordsweib, das muss man zugeben – aber gefährlich, sehr gefährlich! Ich möchte Sie vor diesen Dirnen warnen! Es ist ein Fehler, die Syphilis eine Franzosenkrankheit zu nennen, sie ist vielmehr eine russische Krankheit. Historisch belegt! Nirgendwo gab es so viel Idioten und Krüppel wie im alten Russland. Aber es bessert sich, es bessert sich alles! Wir kehren mit eisernem Besen. Wir haben die Prostitution verboten, aber was da noch heimlich geschieht – wer kann’s kontrollieren? Wer kann’s abstellen? Und Gauner wie dieser Boris Fedorowitsch verdienen noch daran!«
»Sie haben sich unnötig Sorge um mich gemacht, Pal Viktorowitsch.« Forster zog sich aus, schlüpfte in seinen französischen Pyjama, von Karsanow aufmerksam beobachtet. Man konnte aus seinen Augen deutlich ablesen, dass der Russe dabei an die Dekadenz des Westens dachte.
Forster legte sich auf sein Bett. Er deckte sich nicht zu, denn das Abteil war überheizt, die Luft stand dick im Raum und roch säuerlich von Karsanows Schweiß.
»Sind Sie verheiratet?«, fragte der Russe plötzlich.
Forster schloss die Augen.
Sei still, Genosse, dachte er. Ich habe ein Mädchen gesehen, das nicht mehr aus meinen Gedanken geht.
»Nein«, antwortete er kurz.
»Warum nicht?«
»Ich hatte keine Zeit dazu.«