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Heinz G. Konsalik

Liebe am Don

Roman

hockebooks

Gewidmet

Michail Scholochow,

dem großen Epiker der Kosaken,

den ich bewundere wie ein Kind einen König.

(Auch, wenn er diese Widmung zurückweisen wird.)

1

Der Blitz schlug ein, als niemand in der Kirche war.

Vater Ifan Matwejewitsch Lukin hatte im Garten gearbeitet und die Bohnen angehäufelt, als der Regen begann, ein völlig unplanmäßiger Regen in dieser Jahreszeit, in der alles grünte und blühte und der schwere Duft des Wermutkrautes sich vermischte mit dem süßen Hauch der Kirschblüten, ein Odem, der über die Steppe schwebte und mit der Strömung des Flusses nach Süden getragen wurde. Plötzlich war das helle Blau des Himmels dunkelgrau geworden, aus dem Norden pfiff ein Wind heran, trieb dicke Wolken über den Don und ließ es regnen, als bräche der Himmel ein. Ifan hatte sich schimpfend in den Schutz eines alten Schuppens gestellt, stützte sich auf den Schaufelstiel und starrte missmutig in die dicken prasselnden Tropfen. Da geschah es.

Ein Zucken in den Wolken, ein heller, zischender Strahl, darauf ein Krachen, dass sich das Trommelfell bog, Vater Ifan bekam weiche Knie und bekreuzigte sich, es roch sogar nach Schwefel, als sei der Satan selbst unter die Menschen gefahren – dann schlossen sich die Wolken, der Donner grollte dumpf, und vorbei war alles.

Ifan Matwejewitsch sah es sofort, denn in dem Dach klaffte plötzlich ein Loch.

»Welch ein Unglück!«, schrie er und warf die Schaufel weg. »Warum in die Kirche? Gibt es nicht genug Häuser von ungläubigen Genossen? Immer trifft es die Falschen!«

Er rannte durch den Garten, raffte das lange schwarze Popengewand und ließ seinen weißen Bart im Wind wehen. In der Kirche roch es noch stärker nach Brand und Schwefel als draußen, doch beim ersten Blick bemerkte Ifan nichts, was zerstört war. Das gezackte Loch in der Decke wies den Weg, den der Blitz genommen hatte, auf dem Steinboden waren drei Platten zersplittert, und schon wollte Ifan aufatmen und dem heiligen Wladimir ein Loblied singen, als er erstarrte und weite, vom Schrecken aufgerissene Augen bekam.

Der Blitz war durch die Ikonostase gefahren, durch die Wand mit den bunten Heiligenbildern, und hatte die goldgrundige Ikone des Wladimir in zwei Teile zerrissen.

Ifan Matwejewitsch setzte sich auf die Stufen vor der Ikonostase, verbarg beide Hände unter seinem Bart und seufzte tief.

Der heilige Wladimir war der Schutzpatron von Perjekopsskaja. Man muss dieses Perjekopsskaja kennen, um zu verstehen, was das bedeutete. Ein elendes Nest ist es an den seichten Ufern des Don, ein Bauernflecken mit Holzhäusern, Blockhütten, einem Steinhaus für den Dorfsowjet, einem langgestreckten Bau, der als Fest- und Versammlungssaal dient, einer großen Banja, einer Kollektivscheune und einem riesigen Stall für die Schweinezucht der Kolchose »Triumph der Revolution«. Eine breite Straße führt durch das Dorf, immer am Ufer des Don entlang, vorüber an den Gärten mit den geflochtenen Zäunen oder den Palisaden aus Knüppelholz. Es ist ein friedliches Dorf, auch wenn seine Bewohner berühmt waren für ihre kriegerische Wildheit. Die Kosaken von Perjekopsskaja, das waren Kerle gewesen, die in allen Kriegen immer an der Spitze ritten, verwachsen mit ihren schnellen, halbhohen, struppigen Pferden. Sonst aber waren sie fleißige Bauern, galten als wankelmütige Kommunisten und wurden in Woronesch, wo die Distriktsregierung saß, seit jeher kritisch beobachtet.

Der heilige Wladimir von Perjekopsskaja war ein Wunderbild. 1914 hatte es begonnen, als die Kosaken im fernen Norden gegen die Deutschen ihre Attacken jagten. Die Weiber waren allein im Dorf, sie vermissten die Männer, gackerten wie die Hühner und hatten vor Sehnsucht schlaflose Nächte. Da hinein platzte eines Tages Iwan Iwanowitsch Schilow. Er war Kosak, verwundet am linken Arm, hatte Heimaturlaub und ließ sich von den Weibern bestaunen. Einen Orden trug er sogar auf der Brust, aber das war es nicht, was sie Frauen so wild machte. Schilow war kerngesund bis auf seinen Arm, und – verdammt noch mal – er war ein Bild von einem Mann. Großgewachsen, mit schwarzen Locken, einem Bärtchen auf der Oberlippe und harten Muskeln.

Ifan Matwejewitsch, damals ein junger Priester, sah es mit verdunkelten Augen: die Weiber kamen um den Verstand. Fast Schlange standen sie vor dem Haus Schilows, schlichen nachts durch dessen Garten, ließen die Türen ihrer Häuser offen oder trugen Decken in die Büsche am Don.

»Er ist wie ein Stier!«, seufzte Ifan. »Woher nimmt er das bloß?«

Vor Ostern geschah dann das Wunder des heiligen Wladimir. Schilow kam zur Beichte, um den Ostersegen reinen Herzens empfangen zu können, und erzählte Vater Ifan alles.

Ifan Matwejewitsch wurde es schwarz vor Augen, als er die Namen hörte, die Schilow herunterrasselte. Da fehlte kaum ein Frauchen, selbst die Jungfrauen waren nicht verschont worden. Sogar Proskowja, die Frau des Dorfältesten, war dabei, und sie zählte immerhin schon zweiundsechzig Jahre.

»Ist das alles?«, fragte Ifan mühsam.

»Ich glaube, es sind alle«, antwortete Schilow demütig. Trotz seiner Potenz war er ein einfältiges Gemüt. In seinem Schädel lag mehr Luft als Hirn. »Habe ich einen Namen vergessen, Väterchen … was macht es? Ich habe die Kontrolle verloren.«

Ifan Matwejewitsch starrte auf Schilows gesenkten Nacken. Dann sprach er mit dunkler Stimme: »Knie vor dem Bild des heiligen Wladimir und bete.«

Schilow tat es, und da geschah das Wunder.

Der Heilige sprach plötzlich zu ihm. Hohl, himmelsfern, entrückt, aber deutlich.

»Dreh dich um, Schilow«, sagte er.

Schilow gehorchte. Was dann passierte, erzählten Schilow und Vater Ifan mit heiligem Schauer.

Der heilige Wladimir stieg aus der Ikone – Schilow sah es nicht, denn er drehte ihm ja den Rücken zu – und gab dem Sünder einen so mächtigen Tritt, dass Schilow wie aus einem Rohr geschossen durch die Kirche sauste, mit dem Kopf gegen die erste Betbank stieß und die Besinnung verlor.

»O Gott!«, sagte indessen Vater Ifan und hielt sich den rechten Fuß fest. »Hat der ein hartes Gesäß!«

In der Sakristei zog er den Stiefel aus, konstatierte einen Bluterguss im großen Zeh und hatte in den nächsten Tagen große Mühe, sich nicht durch Hinken zu verraten.

Perjekopsskaja aber erstarrte in Ehrfurcht vor der Ikone. Schilow erzählte es jedem, wie der Heilige ihn bestraft hatte, und zwei Tage später fuhr er weg, in den Süden, nach Rostow, wo seine Schwester wohnte. Von Stund an galt der heilige Wladimir als Bestrafer der Ehebrecher. Immer wenn eine Frau vor ihm kniete und betete, bekam deren Ehemann blanke Augen und stiftete heimlich eine dicke Kerze vor dem Wunderbild. Auch Vater Ifan, nun schon sechsundfünfzig Jahre als Priester in Perjekopsskaja, lebte gut von der Furcht der Nesträuber. Sie brachten ihm heimlich Speck und Eier, Schinken und eingelegte kandierte Beeren, gesalzenen Fisch und dicke Sahne.

»Sprich mit dem heiligen Wladimir«, hieß es dann immer. »Es war nur eine Verirrung bei mir. Bete für uns, Väterchen.«

Das war nun vorbei. Der Blitz hatte das Bild zerfetzt. Der heilige Wladimir hatte Perjekopsskaja verlassen.

Ifan Matwejewitsch tat etwas, was sonst nur noch zu Ostern und bei Katastrophen üblich war: Er läutete die Glocke.

Eine halbe Stunde später war die kleine, bunt bemalte Holzkirche voller Menschen. Von den Feldern und aus den Gärten waren sie herangelaufen, sogar die Fischer hatten die Kähne ans Ufer gerudert und standen nun, nach Fisch stinkend, vor der geschändeten Ikonostase.

Vater Ifan bekam rotumränderte Kaninchenaugen. Er sah auf Dimitri Grigorjewitsch Kolzow herab und freute sich, dass auch dieser in der Kirche war. Kolzow war der Bürgermeister des Dorfes, Mitglied des Bezirkskomitees, Altbolschewist und Vorsitzender der Kolchose »Triumph der Revolution«.

»Wir sind vernichtet«, sagte Ifan dumpf.

»Die Kirche ist längst am Ende!«, schrie Kolzow zurück.

Er war ein schwerer Mann mit grauen Haaren, die wie ein Kranz um seinen dicken Schädel lagen.

»Ist das ein Grund, die Glocke zu schlagen?«

»Der heilige Wladimir ist vernichtet.«

Ifan trat zur Seite. Über die Leute von Perjekopsskaja senkte sich erschrockenes Schweigen. Auch Kolzow, der Dorfsowjet, starrte auf das zerrissene Bild. Ihm wurde heiß unter dem Kragen, und er fuhr sich mit beiden Händen um den Hals.

»Welcher Hund war das?«, schrie einer aus der Menge. »Unser Wunderbild!«

»Es war der Himmel!«, sagte Ifan feierlich. »Ein Blitz, Brüder. Ein einziger Blitz nur im ganzen Land, und er traf uns!«

»Ich habe ihn gesehen und gehört«, rief eine alte Frau. »Er zuckte aus dem blauen Himmel.«

Ifan widersprach nicht. Es ist das Recht der Wunder, sich in der Fantasie zu verstärken.

»Und was bedeutet das?«, fragte Kolzow. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Der Bolschewismus ist von den Menschen gemacht, dachte er, aber das hier war ein Fingerzeig Gottes.

»Es wird ein Unglück geben«, sagte Vater Ifan dröhnend. »Noch in diesem Jahr wird über Perjekopsskaja Feuer regnen.«

Die Männer und Frauen des kleinen Dorfes am Don senkten die Köpfe.

Gab es einen neuen Krieg? Kamen die Deutschen wieder?

»Wir werden aufpassen!«, sagte Kolzow in die qualvolle Stille hinein. »Wir werden auf der Hut sein, Genossen.«

Jelena Antonowna stand neben dem Leiter der Zollabfertigung hinter dem langen, blanken Tisch und blickte auf die runde Uhr in der weiträumigen Flughafenhalle.

Am Horizont, glitzernd gegen den blauen Frühlingshimmel wie ein Raubvogel mit silbernem Gefieder, senkte sich eine Turbo-Prop-Maschine auf das Rollfeld. Die Fahrwerke waren ausgeschwenkt, drei Omnibusse fuhren dem Flugzeug über eine Betonstraße entgegen. Aus den Lautsprechern schallte die Stimme der Sprecherin im Kontrollraum.

»Flug 23, Prag–Moskau, landet in wenigen Minuten.«

»Das ist sie«, sagte der Leiter der Zollabfertigung. »Die TU 104. Soll ich ihn schon im Omnibus ausrufen lassen?«

»Nein. In der Halle. Ich will ihn mir aus der Ferne ansehen.« Jelena Antonowna knöpfte die Jacke ihres hellblauen Sommerkostüms zu. Sie war ein hübsches Mädchen mit langen Beinen und einem schlanken Körperchen, großen dunkelbraunen Kulleraugen und einem Kirschenmund. Die schwarzen Haare waren kurz geschnitten, so kurz, dass der Wind hindurchfegen konnte, ohne sie zu zerzausen. Das Kostüm, das Jelena trug, war ein Modell aus Budapest. Ein Glücksfall, den sie im Kaufhaus »GUM« erstand, ehe die Sendung aus Ungarn in der Bevölkerung überhaupt bekannt wurde. Als dann die Modenschau stattfand, war Jelena schon Besitzerin dieser modischen Neuheit. Es hagelte zwar über diese »Schiebung« Beschwerden bei der Kaufhausleitung, aber merkwürdigerweise hörte man nie wieder etwas darüber. Jelena Antonowna Dobronina besaß einen geheimnisvollen, mächtigen Gönner – man wird noch manches darüber zu sagen haben.

So wie sie jetzt hinter dem Zolltisch stand und auf die landende Maschine aus Prag blickte, bot sie den Anblick frühlingsfrischer Jugend. Elegant, modern, mit einer Note Keckheit und einem Schuss Sex. Ein Weibchen, bei dem die Männer feuchte Lippen bekommen.

Die »TU 104« rollte aus, schwenkte auf die Piste, die Gangway wurde herangefahren, die breite Tür klappte zur Seite, zwei Stewardessen traten heraus und bildeten Spalier für die Fluggäste.

Eberhard Bodmar war einer der Ersten, die das Flugzeug verließen. Er nickte den Stewardessen freundlich zu und stieg die steile Treppe der Gangway hinab zu den Russen. Auf halber Höhe blieb er stehen und überblickte den Flughafen Scheremetjewo.

Der klotzige Kontrollturm, die riesigen Krakenarme der Radarstationen, das langgestreckte, in der Sonne blendende Hauptgebäude und ringsherum das Waldmassiv, dunkelgrün, ein wogendes Laubmeer, das am Horizont den Himmel auffraß – erster Eindruck einer anderen Welt, in der es keine Enge gibt, in der die Weite das Herz ergreift.

Eberhard Bodmar war zum ersten Mal in Russland. Aber er kannte dieses Land aus Erzählungen und Berichten, Bildern und Filmen und aus den vergilbten Briefen seines Vaters, an den er nur noch eine verschwommene Erinnerung hatte. Acht Jahre war er alt gewesen, als ein nüchterner Brief der Mutter und ihm mitteilte, dass der Leutnant Holger Bodmar bei einem Stoßtruppunternehmen gefallen sei. In Stalingrad. Mitten in der Stadt. In einer Straße, die zum Roten Platz führte. »Er hat nicht lange gelitten, er war sofort tot«, schrieb der Bataillonskommandeur. »Wir haben unseren Kameraden Bodmar mit allen Ehren begraben.«

Seine Witwe glaubte es und setzte »in stolzer Trauer« die Nachricht vom Heldentod ihres Mannes in die Zeitung. Erst Jahre später erfuhr sie, dass von einem Begräbnis ›mit allen Ehren‹ wohl keine Rede gewesen sein konnte. Als Leutnant Bodmar fiel, war die eingeschlossene, verhungernde, verfaulende, verratene 6. Armee bereits in der Auflösung begriffen. Täglich starben Tausende an Hunger, Verwundungen, Wundfieber, Typhus und Schwäche und wurden, steifgefroren wie bizarre Eiszapfen, in die Trichter geworfen, in zerschossene Keller geschoben oder einfach zwischen den Trümmerbergen der Stadt liegengelassen.

Aber die Briefe aus Russland waren geblieben. Eberhard Bodmar hatte sie oft gelesen. Aus ihnen hatte er sich das Bild dieses Landes gemacht, das seinen Vater verschlungen hatte.

»Russland ist von einer schrecklichen Schönheit«, hatte im Jahre 1942 der Leutnant Holger Bodmar geschrieben. »Man kann verstehen, dass nur hier und nirgend anders ein Iwan der Schreckliche, ein Peter der Große, eine Katharina und ein Rasputin leben konnte. Nur hier war es möglich, dass man für den Bau einer Straße durch die Taiga 200000 Menschen opferte, nur hier kann man verstehen, dass der einzelne Mensch elend und winzig ist und nicht mehr wert als ein Staubkorn.«

Nun also war er, der Sohn, in Russland! Welch ein Gefühl, dachte er. Verdammt, ein Journalist sollte solche Gefühle nicht haben! Ein Journalist soll nüchtern denken, klar, kompromisslos, wahr, frei von Emotionen und leidenschaftslos. Er soll die Wirklichkeit sehen und darüber berichten. Aber kann man das in Russland? Kann das ein Eberhard Bodmar?

Er blieb vor dem Omnibus stehen und ließ erst die anderen Fluggäste einsteigen. Noch einmal blickte er in die Runde.

Ich glaube, ich habe mir zu viel vorgenommen, dachte er. In Deutschland, in der Redaktionsstube, sieht das alles ganz anders aus. Da purzeln die Pläne aus dem Hirn, da fährt der Finger auf der Karte einfach die Strecken ab, als wolle man hinaus zum Fußballstadion. Da sagt man kaltschnäuzig: »Na was denn! So ein Trip nach Stalingrad, auf den Spuren der deutschen Armeen, was ist das schon? Wir sind eine andere Generation, nüchtern, sachlich. Uns steht nicht gleich das Wasser in den Augen, wenn wir Namen nennen wie Minsk, Charkow, Terek, Großer Don-Bogen, Krim, Ladogasee, Ilmensee, Pripjetsümpfe, Orscha, Rshew, Stalingrad. Das waren unsere Väter … jetzt sehen wir die Welt. Die Jugend, die Söhne der ›Helden‹. Und wenn ich jetzt die Schlachtfelder von damals abfahren darf, so will ich die Augen verdammt offenhalten. Für unsere Väter war dieses Russland das größte, einschneidendste, unvergesslichste Erlebnis ihres Lebens, erkauft mit zehn Millionen Toten und dreißig Millionen Verwundeten. Wir sehen dieses Land anders! Wir werden den Krieg nicht wieder aufwärmen wie ein Brötchen am Sonntag.«

Und nun stehst du auf russischem Boden, Eberhard Bodmar, und denkst an deinen gefallenen Vater.

Junge, du fängst an, ein schlechter Journalist zu werden.

Er stieg in den Bus, ließ sich über das Rollfeld fahren, betrat die große Abfertigungshalle, zeigte dem Polizeibeamten an der Sperre seinen Flug- und Passierschein und durfte weiter in die Halle.

Zolltische, wie überall auf den Flughäfen. Kofferreihen, wartende Menschen, Zollbeamte, die Gepäck durchsuchen, Protestierende, Ängstliche, die das zum ersten Mal erleben, Abgebrühte, die mokant lächeln.

An einem Nebentisch drei Russen, zurückgekehrt aus Westdeutschland. Ihre Koffer werden ausgeleert und peinlich untersucht. Genossen, man kennt die Tricks der Imperialisten! Es wäre nicht der erste Koffer mit doppeltem Boden.

Eberhard Bodmar sah sich gerade um, in welcher Reihe er sich anstellen sollte, als es direkt über ihm in dem von der Decke hängenden Lautsprecher knackte. Eine helle Mädchenstimme.

»Härr Bodmar aus Käln wird gebätten, zum Zollbüro zu kommen. Achtung! Härr Bodmar aus Käln wird gebätten …«

Bodmar blickte nach oben zu dem Lautsprecher, sah dann seine Koffer auf dem Fließband herangleiten und zögerte. Was tun? Koffer dem Zoll vorzeigen oder gehorchen?

Er entschloss sich, zum Zollbüro zu gehen. Dass man seinen Namen in der Halle von Scheremetjewo ausrief, verwunderte ihn nicht. Er hatte so etwas erwartet. »Diese Reise, Jungs, wird nicht glattgehen«, hatte er in Köln zu seinen Redaktionskollegen gesagt, als er sich verabschiedete. »Was die mir in Moskau alles im Voraus erlaubt haben – da ist ein Dreh dabei. Noch nie hat ein westdeutscher Journalist die Erlaubnis bekommen, allein mit der Kamera kreuz und quer durch Russland zu fahren. Wohin er will. Und ausgerechnet ich darf es.«

»Tauwetter, mein Lieber«, behaupteten die Kollegen, aber Bodmar behielt das kritische Gefühl.

Nun war es soweit, sein Name tönte aus den Lautsprechern. Härr Bodmar aus Käln.

Bodmar nickte zu der noch immer ausrufenden Stimme hinauf, blickte sich suchend um und entdeckte am Ende der langen Tischreihe den Glaskasten des Zollbüros. Ein Mann in blauer Uniform stand davor. Neben ihm lehnte ein hübsches Mädchen in einem hellblauen Kostüm an der Wand.

»Da ist er«, sagte Jelena, als sie Bodmar aus der Schlange der wartenden Menschen ausschwenken sah. »Auf dem Foto sieht er ganz anders aus.«

»Ein schöner Mensch.« Der Leiter der Zollstelle öffnete hinter sich die Tür. »Groß und blond. Man sollte Ihr Herz hier in den Panzerschrank schließen, Jelena Antonowna.«

»Dummheit!« Jelenas weiches, fröhliches Gesicht wurde kantig und böse. »Es gibt auch große blonde Russen – ich habe keinen Deutschen nötig, Awdeij Iwanowitsch. Einen Deutschen – nie!«

Sie warf den Kopf in den Nacken und ging Eberhard Bodmar drei Schritte entgegen, als sich dieser suchend umblickte.

»Ich begrüße Sie in der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, Gospodin Bodmar«, sagte sie, als sie vor ihm stand. Zwei Köpfe kleiner als er war sie, und sie musste den Kopf in den Nacken legen, um ihn anzuschauen.

»Es lebe das Paradies der Arbeiter und Bauern«, entgegnete Bodmar.

Das war eine Antwort, die Jelena sehr verwirrte. Sie betrachtete das Gesicht des Deutschen, denn Spott lässt sich nicht verbergen, am wenigsten in den Augen. Aber diese Augen hier waren blau wie ein See unter einem Sommerhimmel, klar und leuchtend. Das verwirrte sie noch mehr, und sie senkte den Kopf.

»Kommen Sie mit, bitte«, sagte sie in einem fast reinen Deutsch. »Ich bin von ›Intourist‹ beauftragt, Sie zu betreuen. Bevor wir alle Formalitäten erledigen und in die Stadt fahren zu Ihrem Hotel, wäre noch einiges zu besprechen. Bitte.«

Sie betraten das Zimmer des Zollleiters, und Awdeij Iwanowitsch verließ den Raum. Er legte dabei grüßend die Hand an die Mütze. Bodmar nickte ihm freundlich zu.

»Ich heiße Jelena Antonowna Dobronina.«

»Welch ein Klang! Wenn das Tschaikowskij gehört hätte, er hätte ein Lied daraus gemacht. Jelena Antonowna …«

»Lassen Sie das!« Sie drehte ihm den Rücken zu und ging zum Fenster, das hinausführte auf den Vorplatz des Gebäudes. »Merken Sie sich eins, Gospodin Bodmar: Ihre westliche Art, mit Frauen zu reden, ist hier unerwünscht! Sie haben Ihre Aufgabe, derentwegen Sie nach Russland gekommen sind, ich habe meine Aufgabe: den Auftrag, Ihnen Informationen zu geben, noch bevor Sie endgültig unsere Republik betreten. Sie wissen, dass man mit Ihnen eine große Ausnahme gemacht hat.«

»Ja. Hat man Sie geschickt, damit ich mich dafür bedanke? Eine blendende Idee.«

»Ihre Reise ist bestens organisiert.«

»Genau das wollte ich nicht. Ich habe die Zusage, mich völlig frei in ganz Russland zu bewegen.«

»Wir halten unser Versprechen.« Jelena Antonowna drehte sich langsam um. »Sie können hinfahren, wohin Sie wollen – ich werde Sie begleiten.«

»Ich möchte dem Väterchen vom Presseamt dafür ein Küsschen auf seinen Bart drücken.«

Jelena zog das Kinn an. Ihr schöner Kopf mit dem kurzen schwarzen Haar und den Kulleraugen glühte vor Empörung. Welch ein Affe, dachte sie. Überheblich und dumm. Dreist und widerlich. Gibt es in Deutschland keine anderen Journalisten?

»Wir werden es schwer miteinander haben«, sagte sie eisig und steckte die Hände in die Täschchen ihres Kostüms. »Kommen Sie mit zur Zollabfertigung und zur Passkontrolle. Ich kann es ja nicht ändern.«

Der Glockenrock wippte um ihre schlanken Beinchen, er war kurz und lustig; schön war sie, die Jelena Antonowna, und Bodmar hatte das Gefühl, dass Russland begann, äußerst interessant zu werden.

Vor dem Flughafengebäude wartete die lange Reihe der Taxen. Limousinen, an den Seiten mit einem Schachbrettmuster bemalt.

»Nehmen wir auch ein Schachbrett?«, fragte er. Jelena Antonowna zog die Augenbrauen hoch. In ihrem kurzgeschnittenen Haar wirbelte der Wind ein paar Strähnen hoch. Auch Bodmars Haar wehte über seine Augen.

»Wieso Schachbrett?«, fragte sie.

»Ein Taxi, Gosposha Jelena.«

»Nein.« Ihre dunklen Augen schienen jetzt fast schwarz zu sein. »Gehen wir.«

»Bis Moskau?«, rief Bodmar mit gespieltem Entsetzen. »Dreißig Kilometer? Ich hatte nicht die Absicht, Russland zu erwandern.«

Jelena Antonowna verzog das Gesicht, als habe sie an einer Zitrone gelutscht, und ließ Bodmar einfach stehen. Mit schnellen Schritten ging sie hinüber zu dem großen Parkplatz.

Bodmar lief Jelena nach und sah, wie sie vor einem schwarzen Moskwitsch-Wagen stehenblieb, ihn aufschloss, aus dem Handschuhfach etwas herausnahm und sich dann umdrehte.

»Das Presseamt des Informationsministeriums stellt Ihnen einen Wagen zur Verfügung«, sagte sie, als Bodmar erstaunt das Auto umkreist hatte. »So war es doch ausgemacht?«

»Man hatte so etwas angedeutet. Ich wollte mit meinem eigenen Wagen kommen, aber es hieß, das sei nicht notwendig.«

»Sie haben alle Papiere bei sich? Internationalen Führerschein?«

»Natürlich. Sogar eine Lebensversicherung über 50000 Mark. Ich weiß nur nicht, wer sie nach meinem Ableben bekommen soll.«

»Ihre Frau.«

»Fehlanzeige, Jelena. Ich bin unbeweibt.«

»Ihre Eltern.«

»Meine Mutter starb vor zwei Jahren.«

»O Verzeihung.«

»Mein Vater fiel 1942 in Stalingrad.«

Jelena Antonowna ließ den Autoschlüssel, der an einem Chromkettchen hing, um den Zeigefinger wirbeln. »Und nun will der Sohn nach Stalingrad«, sagte sie hart.

»Ja, ich will auf den Spuren meines Vaters durch dieses Land ziehen. Aber das weiß man doch im Informationsministerium. Die Kollegen vom Moskauer Presseamt fanden die Idee großartig – so sagte es wenigstens der Presseattaché in der sowjetischen Botschaft in Rolandseck.«

»Und was wollen Sie schreiben?«

»Was ich sehe und … empfinde.« Zögernd hängte Bodmar das letzte Wort an den Satz, ein Wort, das er eigentlich während seiner Reise streichen wollte. Aber jetzt, auf russischem Boden, merkte er, dass es sinnlos war, Gefühlen nicht zu gehorchen und vor Empfindungen wegzulaufen. Dieses Land, diese Menschen, dieser Himmel, unter dem sich so viel Schicksal vollzogen hatte, waren nur zu entdecken, wenn das Herz mitsprach. Russland mit dem Verstand zu begreifen ist eine Utopie; wer seine Seele zu Hause lässt, wird in Russland immer ein Fremder bleiben.

»Bitte, Ihre Schlüssel, die Autopapiere, der Sonderausweis des Innenministeriums. Der Wagen gehört Ihnen.« Jelena Antonowna hielt ein Bündel Papiere Bodmar unter die Nase. »Sie wohnen im Hotel ›Ukraina‹ am Dorogomilowskaja-Kai.«

»Sieh an. Ich kenne das Hotel von Bildern. Ein Palast, ein Wolkenkratzer im Stil einer verzuckerten Hochzeitstorte.«

»Dreißig Meter hoch, 1026 Zimmer für 1500 Gäste. Über Stil und Schönheit kann man sich streiten. Ich finde Ihre westlichen Wolkenkratzer scheußlich. Aufeinandergetürmte Steine, weiter nichts. Fassaden voller Seelenlosigkeit. Fenster wie hundert erblindete Augen. Unsere Bauten erfreuen das Herz. Wir sind stolz auf sie.«

Jelena öffnete die Wagentür und setzte sich. Sie strich den Rock über ihren Schenkeln glatt und starrte missmutig über den halbleeren Parkplatz. Die Kolonne der Taxen brummte über die Ausfallstraße nach Moskau. Dazwischen die Busse mit dem bunten Völkergemisch.

»Fahren wir?«, fragte Jelena böse. Bodmar nickte, schwang sich hinter das Steuer und schloss seine Tür. Er steckte den Schlüssel in das Zündschloss und wandte sich dann zur Seite.

»Ich nehme an, sowjetische Autos reagieren wie andere Autos. Wenn ich den Schlüssel drehe, brummt der Motor auf, nicht wahr?«

Jelena beugte sich vor, als sei sie kurzsichtig. Bodmar bemerkte unter der Bluse ihre kleinen spitzen Brüste.

»Ich werde die Zentrale bitten, mich abzulösen«, fauchte sie. »Ich kann mit einem Menschen wie Ihnen unmöglich wochenlang zusammen sein. Oder wollen Sie, dass ich Sie eines Tages umbringe?«

»Das Ende meiner Reise habe ich mir eigentlich anders vorgestellt. Den Anfang allerdings auch.«

Jelena fuhr auf dem Sitz herum. Ihre schönen, vollen Lippen zitterten. »Was gefällt Ihnen nicht? Die Sowjetunion empfängt Sie wie einen Ehrengast, und Sie benehmen sich wie ein Revanchist!«

»Genau das ist es, was mir missfällt, Jelena Antonowna, diese Katalogisierung des Menschen. Kommunist – Revanchist … Arbeiter – Kapitalist. Das ist zu einfach, Gosposha.« Bodmar ließ den Motor an, löste die Handbremse und gab vorsichtig Gas. Ein massives Auto mit dem dicken Blech eines Traktors, Bodmar, ein Autonarr, der aus Leidenschaft für das Fahren auch Autos testete und vielbeachtete Berichte darüber schrieb, fühlte sich wohl in dem Moskwitsch-Wagen. »Ich habe nur ehrlich ausgesprochen, was ich bisher gesehen habe. Ich nehme an, auch bei Ihnen ist Wahrheit oberstes Gebot.«

»Fahren Sie den Taxen nach.« Jelena wandte sich ab. Innerlich bebte sie vor Zorn.

Sie fuhren über eine breite Waldstraße nach Moskau. Dörfer lagen rechts und links der Chaussee, flache Häuser, umgeben von Gärten, in denen die Obstbäume blühten. Ab und zu ein alter Ziehbrunnen, dessen Hebelmasten steil in den blauen Frühlingshimmel stachen. In der Ferne die grüne Wand der Wälder.

Bodmar fuhr schnell, überholte die Autobusse und die karierten Taxen und sah, wie einige Chauffeure an den Mützen rissen und die Fäuste schüttelten.

»Darf man hier nicht überholen?«, fragte er. »Wenn ich etwas falsch mache, müssen Sie mir das sagen, Jelena.«

»Fahren Sie weiter!«

Die Flughafenstraße mündete in eine Art Autobahn. Hier wurde der Verkehr dichter, fast westeuropäisch. Bodmar fädelte sich ein und fuhr etwas langsamer, als er von Weitem ein gewaltiges Denkmal sah: ein Monument aus Reliefs, klobigen Steinen und heldenhaften Figuren.

»Was ist denn das?«, fragte er.

»Das Mahnmal zur Erinnerung an den Überfall der Deutschen.« Jelena tat es gut, so etwas zu sagen. »Bis hierher kamen sie 1941, dann besiegte sie unsere Rote Armee!«

Bodmar fuhr rechts ran und hielt auf einem Parkstreifen. Stumm blickte er hinüber zu dem Ehrenmal. Dann sah er die Autobahn hinunter – in der Ferne begannen die Vorstädte Moskaus, ahnte man das Häusermeer der 7,5-Millionen-Stadt.

»Wenn man bedenkt, dass hier unsere Väter lagen, überrascht vom eisigen Sturm eines plötzlichen Winters, ohne Mäntel, ohne Handschuhe, ohne warme Wäsche, ohne Fellstiefel, dass sie hier erfroren und krepierten, Moskau vor Augen.«

»Das macht Sie mächtig stolz, was?«

»Nein, das macht mich traurig, Jelena. So etwas darf sich nie mehr wiederholen.« Plötzlich sprach Bodmar Russisch, und Jelena fuhr herum, als habe man sie ins Gesäß gestochen.

»Sie können Russisch?«, schrie sie und ballte die Fäuste.

»Ja. Ich habe zwei Jahre einen Kursus besucht.«

»Und mich lassen Sie die ganze Zeit Deutsch sprechen?«

»Ich dachte, es macht Ihnen Spaß, Jelena.«

»Oh, ich hasse Sie! Ich hasse Sie!«

Sie trommelte mit den Fäusten auf Bodmars Brust und war außer sich vor Wut. Ihr Kopf glühte, als habe sie ein offenes Feuer angeschürt. Bodmar ließ sie trommeln, aber dann packte er doch ihre Fäuste und drückte sie auf die Polster.

»Warum benehmen Sie sich so, Jelena?«, fragte er leise. »Was habe ich Ihnen getan?«

»Sie sind arrogant, überheblich, widerlich.«

»Das alles stimmt ja nicht.« Er schüttelte den Kopf, aber hielt weiter ihre zuckenden Fäuste fest. »Ich bin ein verdammter Narr, Jelena. Ich bin in Ihr Land gekommen, um mit den Augen der neuen Generation das ›deutsche Schicksal Osten‹ zu betrachten. Die Hurra-Stimmung unserer Väter hasse ich. Und dann sehe ich ein Ehrenmal wie dieses hier, und plötzlich bin ich mitten durchgerissen. Was soll ich in Russland tun, Jelena?«

»Weiterfahren!« Sie riss die Fäuste aus seinen Händen und presste sie in den Schoß. Sieh ihn nicht an, befahl sie sich. Sieh ihn nicht an! Seine Augen sind groß und traurig. In die Arme müsste man ihn nehmen und trösten. »Auch Ihr Vater hat unser Land überfallen, und mein Vater starb in deutscher Gefangenschaft, an einer Blutvergiftung, in Homberg-Hochheide … Oh, ich habe den Namen behalten, ich habe ihn auswendig gelernt, ich habe ihn so lange vor mich hin geschrien, bis er in mein Gehirn gebrannt war. Kohlen holte mein Vater aus dem Berg, jeden Tag zehn Stunden lang in 450 Meter Tiefe, bei Kohlsuppe und Schlägen. Seine Hände platzten auf, an den Fingern bildeten sich Hornstreifen, sie wurden klobig und dick, und dann übersäten Furunkel seinen Körper, der Eiter drang ins Blut, und er starb. Wissen Sie, was Väterchen war?«

»Sagen Sie es, Jelena.«

»Pianist. Nikolai Jefimowitsch Dobronin. Er gab Konzerte in New York und Paris, in Berlin und Tokio. In der ganzen Welt. Und er musste in einem Bergwerk sterben.«

»Wir wollen uns die Grauen des Krieges nicht gegenseitig aufrechnen, Jelena«, sagte Bodmar leise. »Wozu das alles?«

Er griff nach ihrem Kopf und drehte ihn zu sich herum. Da sah er, dass sie weinte. Lautlos rannen aus ihren großen braunen Augen die Tränen über das Gesicht.

»Jelena«, sagte er heiser. Eine Welle von Zärtlichkeit überflutete ihn. Er umfasste ihre Schultern und zog sie an sich heran. Sie lag in seinen Armen ohne Gegenwehr, nur ihre Augen bekamen einen wilden Glanz.

»Tun Sie es nicht«, sagte sie wie erstickend. »Bitte, lassen Sie das.« Dann schloss sie die Augen, und als er die zuckenden, tränenfeuchten Lippen küsste, warf sie die Arme um seinen Nacken und klammerte sich an ihn. Ebenso plötzlich aber riss sie sich mit einem Ruck von ihm los, stieß ihn mit beiden Händen fort und holte dann weit aus. Klatschend schlug ihre Rechte in Bodmars Gesicht.

»Fahren Sie weiter!«, schrie sie, und ihr Gesicht war so verzerrt, dass kaum noch eine Ähnlichkeit mit der bisherigen Jelena Antonowna vorhanden war. »Wenn ich Sie in Moskau abgeliefert habe, will ich Sie nicht mehr sehen.«

Verwirrt ließ Bodmar den Motor wieder an.

Sie hat mich wiedergeküsst, dachte er. Sie hat die Lippen geöffnet. Ich spürte ihre kleine Zunge, die Weichheit ihres Mundes streichelte mich, und ihre Hände glitten über meinen Nacken.

Jelena Antonowna, wer soll das verstehen?

»Ich möchte zuerst zur deutschen Botschaft«, sagte er heiser.

Der Presseattaché der deutschen Botschaft war sofort im Bild, als Eberhard Bodmar sich bei ihm melden ließ.

Die Reise des Journalisten aus Köln hatte die Diplomaten in dem alten Palais an der Großen Grusinischen Straße Nummer 17 seit Tagen rege beschäftigt. In der Botschaft verstand man nicht, wieso es einem westdeutschen Schreiber gestattet wurde, sich so völlig frei in Russland bewegen zu können. Bisher hatten die Sowjets es so gehalten, dass für Besuchs- und Besichtigungsreisen ein detailliertes Programm zur Verfügung gestellt wurde, von dem niemand abweichen durfte. Touristengruppen wurden von Fremdenführern des »Intourist«, des sowjetischen staatlichen Reisebüros, zu den Sehenswürdigkeiten gebracht, durch Moskau gefahren oder auf den Routen – bei Rundreisen etwa – begleitet. Fotografiert werden durfte alles, was nicht militärisch war, aber was war in Russland nicht militärisch? Schon die Fotos von den alten, schönen bemalten Holzhäusern in den Vorstädten von Moskau erzeugten bei den Fremdenführern Kummerfalten.

»Sie werden in Kürze abgerissen«, sagten sie wegwerfend. »Es lohnt sich nicht, sie zu fotografieren.« Es war, als schämten sie sich, dass um Moskau herum noch Holzhäuser standen, dass ein Funke der uralten Kultur noch zu spüren war, ein Hauch Zarentum, ein Nebel der herrlichen wilden Vergangenheit.

Und nun kam ein deutscher Journalist in das Land und durfte sich frei bewegen, alles schreiben und alles fotografieren. Wen wunderte es, dass in der deutschen Botschaft die Diplomaten zu Rätselratern wurden.

»Irgendetwas stimmt da nicht«, sagte der Presseattaché zu Eberhard Bodmar und goss ein hohes Glas mit grusinischem Kognak ein. »Wir haben versucht, ganz vorsichtig natürlich, die Beweggründe zu erfahren, warum man bei Ihnen diese Ausnahme macht. Schließlich sind in Stalingrad und in der nachfolgenden Gefangenschaft 234000 Deutsche ums Leben gekommen. Wenn jeder Sohn nun den Spuren seines Vaters nachreisen wollte …« Der Attaché lächelte mokant und prostete Bodmar zu. »Das wäre eine neue Völkerwanderung. Bisher reagierten die Sowjets immer sauer, wenn die Rede auf den Krieg kam. Und nun erscheinen Sie, lieber Bodmar, ein – verzeihen Sie meine Ehrlichkeit – nicht gerade allgemein bekannter Journalist, und bekommen eine Freiheit, die man noch nicht einmal befreundeten Reportern zugesteht.«

»Ich war selbst erstaunt.« Bodmar nippte an dem herrlichen, dunkelgoldenen Kognak aus dem Kaukasus. »Vielleicht werde ich eines Tages die Antwort erfahren.«

»Ganz sicher sogar. Der Herr Botschafter ist der Ansicht, dass Ihre Reise eine Art Testfall ist. Ein Versuchsballon, der leicht platzen kann … und dann haben wir die Scherereien.« Der Presseattaché stand auf, holte von seinem Schreibtisch eine Karte und breitete sie vor Bodmar auf dem Couchtisch aus. »Sie wollen von hier nach Stalingrad?«

»Ja.« Bodmar beugte sich über die Karte und fuhr mit dem Zeigefinger seine Strecke ab. »Von Moskau nach Woronesch. Dann auf den Wegen des deutschen Aufmarsches bis zum Don-Bogen und dann kreuz und quer durch den Kessel von Stalingrad, von Kalatsch bis zur Wolga, von den Traktorenwerken bis nach Beketowska, wo 36000 deutsche Soldaten an Hunger und Frost gestorben sein sollen. Und ich will – zu Fuß – die Todesstraße vom Flugplatz Pitomnik nach Stalingrad Mitte zurücklegen, diese mit steifgefrorenen Leichen gepflasterte Straße, über die mein Vater in seinem letzten Brief schrieb: ›Zum letzten Mal bin ich von Pitomnik zurückgekehrt in die Stadt. Wir sollten Verwundete hinbringen, aber auf der Höllenstraße starben sie unter unseren Händen. Wir haben sie am Straßenrand liegen lassen wie die Zehntausende vor ihnen. Aufeinandergeschichtet, Prellsteine aus Leibern, die die Richtung weisen: Dort hinten ist die Hölle!‹« Bodmar senkte den Kopf und starrte auf den roten Afghanteppich, der das Zimmer ausfüllte. »Der Brief wurde nicht beschlagnahmt. Ein Freund meines Vaters brachte ihn mit, sechs Jahre hatte er ihn durch die Gefangenschaft geschleppt, versteckt im rechten Stiefel. Die Schrift war vom Schweiß fast zerfressen.«

»Genau das ist es, worauf die Russen allergisch reagieren.« Der Attaché beugte sich wieder über die Karte. »Wann wollen Sie losfahren?«

»So schnell wie möglich.«

»Wo wohnen Sie in Moskau?«

»Im ›Ukraina‹. Ich werde hingebracht. Mein erster Weg vom Flughafen war zu Ihnen.«

»Hingebracht?« Der Attaché hob ruckartig den Kopf. »Sie sind nicht allein?«

»Nein. Ein entzückendes Mädchen von ›Intourist‹ wartet vor dem Haus im Wagen. Eine Kratzbrüste, sage ich Ihnen, bei der man jeden Stachel liebkosen möchte.«

»Dachte ich’s mir doch. Eine Frau. Lieber Bodmar, ein guter Rat unter Kollegen: Das Gefährlichste in Russland sind die Frauen! Hüten Sie sich vor ihnen. Die Liebe einer Dolmetscherin von ›Intourist‹ ist eingeplant, steht auf der Betreuungsliste – vergessen Sie das nie! Auch wenn sie bei Ihnen im Bett liegt und noch so zärtlich ist, am nächsten Morgen schickt sie ihren Bericht zum Distriktsleiter. Wer ist das Mädchen im Wagen?«

»Sie nennt sich Jelena Antonowna Dobronina.«

Der Presseattaché holte vom Schreibtisch einen Notizblock und einen Kugelschreiber und notierte sich den Namen.

»Sie holte Sie am Flughafen ab?«

»Ja. Eine Ohrfeige habe ich schon weg. Genau unter dem Mahnmal des deutschen Angriffs auf Moskau.«

»Sehr sinnig.« Der Attaché lächelte süßsauer. Für ihn war die Situation, in die Bodmar die deutsche Botschaft und vor allem die Pressestelle gebracht hatte, alles andere als humorvoll. Er lebte seit drei Jahren in Moskau und kannte mittlerweile alle Eigenheiten seiner Kollegen im Kreml. Der »Fall Bodmar« war deshalb völlig widersinnig.

»Ich wünsche Ihnen viel Glück. Und noch eins, lieber Kollege: Wir können nichts für Sie tun, wenn Sie verbotene Objekte fotografieren und dafür in irgendeine Zelle gesteckt werden. Wir können auch nichts für Sie tun, wenn man Sie dann wegen Spionage anklagt und verurteilt. Sie kennen die Grenzen, die man Ihnen trotz aller Freizügigkeit setzt. Überschreiten Sie sie, sind Sie verloren. Sie sind nicht der Typ, der zehn Jahre Zwangsarbeitslager in Bleibergwerken aushält oder bei vierzig Grad Kälte Straßen baut. Das halten Sie sich immer vor Augen, wenn Sie die Kamera ans Auge heben oder wenn Sie in den Armen irgendeiner Jelena besonders glücklich sind. Die Liebe der russischen Frauen ist wie ein heißer Steppenwind.«

Bodmar verließ die deutsche Botschaft nach knapp einer Stunde. Er traf Jelena Antonowna im Wagen sitzend an. Sie rauchte eine Papyrossa und las in einem Buch.

»Da bin ich wieder!«, rief er fröhlich und riss die Tür auf.

Jelena klappte das Buch zu. Ihr bisher gelöstes Gesicht wurde wieder hart. »Haben Sie mich vermisst?«

Jelena Antonowna antwortete nicht. Sie warf das Buch mit einem Schwung auf den Rücksitz und wischte mit einer müden Bewegung über das kurzgeschnittene schwarze Haar.

»Ich will mir nicht wieder eine Ohrfeige einhandeln, aber ich muss Ihnen sagen, dass Sie mir direkt fehlten. Ihre Nähe macht mich glücklich.« Bodmar ließ den Motor aufschnurren und blickte in die Runde. Der Verkehr auf der Straße war nicht stark; es war einfach, sich auf die Mitte der Straße zu schieben. Die zwei Milizsoldaten, die vor der deutschen Botschaft hin und her pendelten, blickten interessiert in den schwarzen Moskwitsch-Wagen. Ein Deutscher und ein russisches Vögelchen …

»Fahren Sie endlich!«, sagte Jelena gequält. »Wir fallen ja schon auf. Wozu so viele Worte? Ich höre Ihnen doch nicht zu. Sie sind wie das Quäken eines Sumpffrosches.«

Stumm fuhren sie durch die Stadt, nur die Angaben Jelenas unterbrachen die Stille zwischen ihnen: »Rechts«, sagte sie. Oder: »Links. Um den Platz herum.« Oder: »Immer geradeaus. Bleiben Sie auf der Uferstraße.«

Moskau. Der Fluss. Die Backsteinmauer des Kreml mit ihren Türmen und Toren. Die goldenen Kuppeln der Kirchen, auf denen sich die Sonne spiegelt. In den Himmel ragend die spitzen weißen Hochhäuser – das neue Antlitz der Riesenstadt. Die weißen Schiffe auf der Moskwa. Breite Boulevards, mit Bäumen eingefasst, wie in Paris. Die Parks mit ihren Alleen und Blumenrabatten.

Moskau. Die »weiße Stadt«. Acht Jahrhunderte bauten an ihr. Ein riesiger Schwamm, der die Völker in sich aufsog. Metropole eines Landes, das ein Sechstel dieser Erde umfasst. Vom sibirischen Meer mit ewigem Eis bis zu den mongolischen Steppen, von der Schwarzen Erde der Ukraine bis zu den Kohlenhalden von Chabarowsk, von den Bohrtürmen der Ölfelder von Baku bis zu den endlosen, im Sommer singenden, im Winter von Frost krachenden Wäldern der Taiga, durch deren meterhohen Schnee die Hundeschlitten gleiten und das Geheul der Wölfe mit dem Eissturm fliegt.

Moskau – das »Herz der Welt«, wie die Russen sagen.

Bodmar fuhr den Wagen in die Garage des Hotels »Ukraina«. Ein Gepäckträger und ein Boy rannten heran, nahmen die Koffer und schoben sie in einen der Aufzüge. Der Garagenwärter begrüßte Bodmar wie einen alten Bekannten. Jelena kannte er mit Namen und zwinkerte ihr zu, was ihr sehr unangenehm war. Man sah es an ihren geschürzten Lippen.

»Sie haben Zimmer 689«, sagte Jelena, als sie die Hotelhalle betraten, die groß wie ein Bahnhof war und von einem ungeheuren Luxus. An der riesigen Theke des Empfangs drängten sich Gäste aus allen Ländern.

»Ich habe gehört, dass man seinen Pass abgeben muss«, sagte Bodmar und griff in die Rocktasche. Seine Koffer wurden auf einem kleinen Wagen vorbeigefahren und entschwebten nach oben in einem der breiten Lastenaufzüge.

»Sie nicht.« Jelena sprach mit einem der Angestellten hinter der Theke.

Ein Boy, ein kleiner Bursche mit einem schwarzen Krauskopf, baute sich vor Bodmar auf und stand stramm.

»Folgen Sie mir bitte, Gospodin.«

»Und Sie?«, fragte Bodmar. »Sehe ich Sie wieder, Jelena?«

»Ich hoffe nicht.«

»Dann ist das jetzt ein Abschied für immer?«

»Ja.«

»Darf ich Ihnen noch etwas sagen?«

»Wenn es unbedingt nötig ist.«

»Es ist nötig: Sie wären die schönste Frau Moskaus, wenn sie ein wenig Rot auf Ihre Lippen legten und sich die Augenbrauen zupfen ließen.«

»Ich hasse die dekadente Puppenschönheit des Westens.«

»Wie Sie meinen, Jelena.« Er streckte ihr die Hand hin. »Leben Sie wohl. Schade, ich wäre so gern mit Ihnen durch Russland gefahren. Ja, sehr gern. Aber anscheinend bin ich nicht Ihr Typ.«

»Sie sind ein Deutscher!«, sagte Jelena Antonowna hart. »Was Sie auch denken und fragen, suchen Sie darin eine Antwort.«

Jelena Antonowna starrte dem Schatten des Aufzugs nach, der sich hinter der Glaswand abzeichnete und dann verschwand. Ihr Gesicht war erfüllt von einer spröden Zärtlichkeit, vom Widerschein eines Kampfes, der wild in ihrem Innern tobte und ihr Herz in eine brennende Kugel verwandelte.

Sie drehte sich schnell um, lief zu der Ladenstraße im Hintergrund der Hotelhalle und betrachtete mit schiefem Kopf die Auslagen eines Kiosks mit kosmetischen Artikeln. Die Verkäuferin beugte sich über den Ladentisch.

»Was darf ich Ihnen zeigen, Genossin?«

»Einen Lippenstift«, sagte Jelena mit fester Stimme. »Ein zartes Rot, Genossin, nicht so aufdringlich wie die westlichen Weiber. Dezent, verstehen Sie?«

»Selbstverständlich. Wir haben die besten Lippenstifte aus Paris. Wenn Sie unsere Auswahl durchsehen möchten, Genossin …«

»Ja.« Jelenas Blick glitt über die lange Reihe der Probestifte. Rot vom Cyclamen bis zum hellsten Rosa, vom blassen Hauch bis zum kräftigen Orange. Sie blickte in den Spiegel, den ihr die Verkäuferin hinrückte, und betrachtete ihr Gesicht mit kalter weiblicher Kritik.

Die Augenbrauen. Dunkel, fast schwarz, aber zu dick.

»Gibt es einen Apparat, mit dem man die Brauen zupfen kann?«, fragte sie.

»Auch das, Genossin.«

»Ich nehme ihn … und diesen Lippenstift.« Sie tippte auf ein Rosa, zart wie eine Apfelblüte, bezahlte einen verrückt hohen Preis für so viel westliche Dekadenz und verließ dann schnell die Hotelhalle.

Es war, als flüchte sie von dem Ort einer Niederlage.

2

Auch in Russland geschehen Morde. Sogar in internationalen Luxushotels wie dem »Ukraina«.

Man sollte es nicht für möglich halten, aber irgendjemand war in der Nacht in das Zimmer 688 geraten und hatte dem Inhaber des breiten Bettes, dem Diplomingenieur Russlan Dementijewitsch Gorlowka, den Schädel eingeschlagen. Es war ein unästhetischer Mord, das Bett war voller Blut, der dicke Teppich aus Astrachan war beschmutzt, und der Tote lag nackt in einer Blutlache, hatte sein Gehirn bis an die schweren Plüschvorhänge gespritzt und sah so entsetzlich aus, dass der Polizeiinspektor laut verkündete: »Hier muss ein Vieh am Werk gewesen sein!«

Das Zimmermädchen entdeckte den Mord, als es das Frühstück bringen wollte. Russlan Dementijewitsch hatte bei der Etagenbeschließerin am Abend vorher sein Morgenmahl für acht Uhr bestellt. Ein Beweis, dass er da also noch lebte und mit einem frühen Appetit rechnete. Nadja Fillipowna, ein Mädchen aus Kiew, das an diesem Morgen den Kaffeedienst auf der Etage versah, klopfte an die Tür von Zimmer 688, hörte keine Antwort und betrat zunächst den Vorraum, einen Salon.

»Genosse, Ihr Kaffee!«, rief sie, und da Russlan Dementijewitsch anscheinend einen tiefen Schlaf hatte, der Kaffee aber nicht kalt werden sollte, betrat Nadja den Schlafraum. Hinterher erinnerte sie sich nur noch daran, dass sie gellend geschrien hatte. Dann fiel sie ohnmächtig um, bevor die Beschließerin Ustenjka ins Zimmer stürzte und über die liegende Nadja stolperte.

In dem riesigen Palastbau des Hotels merkte kaum jemand, was im 23. Stockwerk geschehen war. Nur die Bewohner der Appartements 680 bis 695 wurden abgesondert, durften ihre Zimmer nicht verlassen und erhielten durch höfliche Pagen den Bescheid, sie sollten sich für ein Verhör durch die Polizei bereithalten. Auch bei Eberhard Bodmar erschien ein Zimmerkellner und weckte ihn aus tiefem Schlaf.

»Polizei?« Bodmar setzte sich im Bett auf und blickte auf die Uhr, einen Reisewecker. Knapp halb neun. »Was ist denn los? Was will man denn von mir?«

»Das wird Ihnen der Genosse Inspektor sagen.« Der Kellner verbeugte sich höflich, machte eine Bewegung wie »Ich kann es nicht ändern, Gospodin« und entfernte sich.

Russlan Gorlowka war Experte für das Raketenwesen gewesen. Er war von einer Studienreise durch Amerika zurückgekommen, hatte dort die Abschussbasen der Amerikaner besucht, war bei dem Start einer Apollo-Rakete zugegen gewesen und hatte viele freundschaftliche Gespräche geführt. Die Mikrofilme, die er dabei anfertigte, verbarg er in einem fast sicheren Versteck, er klebte sie an seinen Unterleib, an die Rückseite seiner Hoden. Das war zwar ein auf die Dauer unangenehmes Gefühl, aber für das Vaterland ist es zu ertragen. So brachte der gescheite Gorlowka seine Filme sicher durch alle Kontrollen, denn niemand kam auf den Gedanken, ihm zwischen die Beine zu fassen. Er hätte dagegen auch laut protestiert.

Mit demselben Flugzeug wie Bodmar, von Prag kommend, wo er mit dem Leiter der westeuropäischen Zentrale für Meinungsfragen konferiert hatte – ein netter Name für ein Nest voller Agenten –, war er in Scheremetjewo gelandet. Allerdings war er nicht vorschriftsmäßig sofort zum Staatssicherheitsdienst gefahren, um seine Filme abzuliefern, sondern hatte sich erst im Hotel von seiner Reise und dem strapaziösen Abschied von einem Prager Weibchen erholen wollen. Das war sein tödlicher Fehler.

Alles das wusste man noch nicht, als der Flur auf dem 23. Stockwerk abgesperrt wurde. Man stellte nur eines fest: Alle Koffer waren durchwühlt, die Schlösser aufgebrochen, Kleidung und Wäsche lagen verstreut mit Papieren und Akten auf dem Boden des Ankleidezimmers hinter dem Schlafraum.

Major Boris Grigorjewitsch Tumow von der Abteilung II des KGB, der Spionagezentrale Russlands, trat auf den Plan. Er war ein drahtiges Männchen mit gekrümmten Kosakenbeinen, vierundvierzig Jahre alt, verheiratet, drei Kinder und Träger dreier Tapferkeitsmedaillen, die er sich vor Königsberg, Danzig und Berlin erworben hatte. Wenn er betrunken war, brüstete er sich damit, nach der Eroberung der Reichskanzlei gegen den Schreibtisch Hitlers uriniert zu haben, während noch die SS-Wachen durch das Gebäude schossen. Wenn Tumow dieses Erlebnis wiedergab, war ein trister Abend immer gerettet.

Tumow ging der Ruf voraus, in jedem Verhör Sieger zu sein. Über seine Methoden schwiegen alle, die mit ihm zusammenarbeiten mussten. Der pure Selbsterhaltungstrieb machte sie stumm und blind. So kam es, dass die Unterabteilung V der Hauptabteilung II im KGB die höchste Erfolgsquote hatte und der Name Tumow gleichbedeutend war mit Geständnis.

Boris Grigorjewitsch Tumow betrachtete die Leiche des kopfgespaltenen Gorlowka eine Weile stumm und ohne Bewegung. Währenddessen sagte der Polizeiinspektor seinen Bericht auf und erwähnte auch seinen Verdacht.

»Natürlich ist das ein Agentenmord«, sagte Tumow plötzlich in den Wortschwall des Polizisten hinein. Er riss die Decke vom Tisch, der in einer Ecke stand, und warf sie über den nackten, blutbespritzten Russlan Dementijewitsch. »Ein ganz dämlicher Mord, völlig unkompliziert. Gorlowka kommt mit wichtigen Papieren aus den USA, geht auf sein Zimmer, legt sich ins Bett, dieses Rindvieh, und bekommt von dem Kerl, der ihn die ganze Zeit beschattet hat, den Schädel gespalten. So einfach ist das, wenn man Grütze im Kopf hat. Schimmelige Grütze, Genossen!« Major Tumow blickte mit einem deutlichen Ekel auf die durchwühlten Koffer. General Rowenkinow besaß da eigene Ansichten. »Im ›Ukraina‹ wurde er ermordet?«, würde er sagen. »Mitten unter Tausenden von Menschen? Und keiner hat etwas gesehen, gehört oder gerochen? Major Tumow, erzählen Sie mir so etwas nicht! Soll ich dem Ministerium melden, dass meine Offiziere verblödet sind? Ich bekomme von Ihnen den Täter vorgeführt, oder unsere Freundschaft zerbricht wie das Schädelchen des Genossen Gorlowka.«