Inhalt

Vorwort

Die Nürnberger Prozesse – 1946

Wie der europäische Gerichtshof für ­Menschenrechte entstand

Das Sykes-Picot-Abkommen – 1916

Wie europäische Kolonialmächte die arabische Welt aufteilten

Die karolingische Minuskel

Wie die Europäer schreiben lernten

Der Rheinbund – 1806

Wie Napoleon Deutschland ordnete

Der Alldeutsche Verband – 1891

Wie Rassismus die Gehirne zerfraß

Die Gründung Preußens – 1701

Wie Gehorsam und Toleranz zu Maximen ­wurden

Die Gründung der türkischen Republik – 1923

Wie die moderne Türkei geboren wurde

Der Zwei-plus-Vier-Vertrag – 1990

Wie aus zwei Deutschländern eines wurde

Die Baseler-Rede von Winston Churchill – 1946

Wie eine Rede eine Friedensvision beschrieb 

Der anglo-irische Vertrag – 1921

Wie eine Insel geteilt wurde

Der Rücktritt Michail Gorbatschows – 1991

Wie ein Rücktritt eine Ära beendete

Die Wannseekonferenz – 1942

Wie eine Konferenz den Holocaust befahl

Act of Union – 1707

Wie England und Schottland zu Großbritannien wurden

Die Straßburger Eide – 842

Wie Frankreich und Deutschland entstanden

Die Römischen Verträge – 1957

Wie ein Vertragswerk Europa vereinte

Das Edikt von Alhambra – 1492

Wie Muslime und Juden aus Spanien vertrieben wurden 

Die Gründung der Unabhängigen ­Sozialdemokraten – 1917

Wie sich die SPD zum ersten Mal spaltete

Das Ende des Paragraphen 175 – 1994

Wie Homosexualität in Deutschland entkriminalisiert wurde

Der Auschwitzprozess – 1963

Wie die Vergangenheit die Gegenwart einholt

Das Hambacher Fest – 1832

Wie ein Bürgerfest Grundlagen der Demokratie manifestierte

Das Verbot der Sozialistischen Reichspartei – 1952

Wie eine Nazi-Partei in der Bundesrepublik verboten wurde

Die Auswanderung Mohammeds – 622

Wie eine Vertreibung eine Religion groß machte

Das Attentat von München – 1972

Wie der Terror nach Deutschland kam

Die erste Teilung Polens – 1772

Wie ein Land ein Trauma bekam

Das konstruktive Misstrauens­votum – 1982

Wie ein Kanzler mit rechtsstaatlichen Mitteln gestürzt wurde

Die Pest – 1346

Wie der Schwarze Tod Europas Bevölkerung dezimierte

Die 95 Thesen Martin Luthers – 1517

Wie eine neue christliche Konfession entstand

Die Oktoberrevolution – 1917

Wie eine Revolution die Welt veränderte

Der Mord an Werner von Oberwesel – 1287

Wie der Hass auf Juden überdauerte

Der deutsch-deutsche Grundlagenvertrag – 1972

Wie zwei Staaten füreinander kein Ausland wurden

Die Taufe des Merowingerkönigs Chlodwig I. – 507

Wie eine Taufe dem Christentum in Europa zum Durchbruch verhalf

Die „Kritik der reinen Vernunft“ von Immanuel Kant – 1781

Wie Europa aufgeklärt wurde

Der Beitritt Englands zur ­Euro­päischen Wirtschaftsgemeinschaft – 1973

Wie das Vereinigte Königreich sich Europa näherte

Der niederländische Befreiungskrieg – 1568

Wie die Niederländer achtzig Jahre um ihre Freiheit kämpften

Die Mainzer Republik – 1793

Wie die Französische Revolution auf deutschem Boden wirkte

Die Geburt von Karl Marx – 1818

Wie die Ideen eines Mannes die Welt ­veränderten

Die deutsche Revolution – 1848

Wie eine deutsche Staatsgründung scheiterte

Der Prager Fenstersturz – 1618

Wie der Streit der Konfessionen Europa in den Abgrund stürzte

Die Berliner Luftbrücke – 1948

Wie eine Stadt gerettet wurde

Die Filbinger-Affäre – 1978

Wie Unrecht Unrecht blieb

Der Prager Frühling – 1968

Wie der Sozialismus ein menschliches Antlitz bekommen sollte

Der Großmufti von Jerusalem – 1938

Wie Islam und Faschismus in einer Person fusionierten

Die „glorreiche“ Revolution – 1688

Wie eine Revolution in England Europa den Parlamentarismus brachte

Das „Plebis scitum“ – 287 v. Chr.

Wie das Volk im alten Rom mit den Füßen abstimmte

Die Wahl von Karol Wojtyła – 1978

Wie ein Papst seinem Volk Hoffnung gab

Die Spanische Inquisition – 1478

Wie die Inquisition Spanien in den Würgegriff nahm

Der Reichsrätekongress – 1918

Wie eine Grundsatzentscheidung gefällt wurde

Die Gründung der Universität Bologna – 1088

Wie Europa an die Uni ging

Das Corpus Iuris Civilis – 528

Wie antikes römisches Recht bis heute wirkt

Die Ausstrahlung der TV-Serie „Holocaust“ – 1979

Wie eine TV-Serie die Bundesrepublik erschütterte

Die Weimarer Verfassung – 1919

Wie die erste deutsche Republik eine Verfassung bekam

Das Ende des spanischen Bürgerkriegs – 1939

Wie Spanien faschistisch wurde

Der Tod des Georges Danton – 1794

Wie die Revolution ihre Kinder fraß

Die Nelkenrevolution – 1974

Wie eine friedliche Revolution Portugal von der Militärdiktatur befreite

Das Grundgesetz – 1949

Wie ein Provisorium zur stabilen Ordnung einer Demokratie wurde

Der Versailler Vertrag – 1919

Wie ein Friedensvertrag doch keinen Frieden stiftete

Die Eroberung Jerusalems – 1099

Wie im Namen des Herrn eine Stadt ausgelöscht wurde

Die Pornokratie – 904

Wie im Vatikan Orgien gefeiert wurden

Der Hitler-Stalin-Pakt – 1939

Wie der „Pakt der Diktatoren“ Polen zerstörte

Das erste Warenhaus von Leonhard Tietz – 1879

Wie wir anfingen zu shoppen

Der Vertrag von Tordesillas – 1494

Wie die Welt unter den Hammer kam

Das Brandenburgische Toleranzedikt – 1664

Wie ein Machtwort konfessionellen Frieden verordnete

Der Prozess gegen die „Hexe von Waldshut“ – 1479

Wie eine Frau zur Hexe wurde

Die Weltwirtschaftskrise – 1929

Wie eine Spekulationsblase die Welt in den Abgrund riss

Das Konzil von Konstanz – 1414

Wie drei Päpste ab- und einer eingesetzt ­wurden

Der Fall der Berliner Mauer – 1989

Wie die deutsche Teilung friedlich überwunden wurde

Die Geburt von Ernst Moritz Arndt – 1769

Wie ein Schriftsteller vom Sockel gestoßen wurde

Die Gründung der Grünen – 1980

Wie eine neue Farbe in die Politik kam

Das Edikt Cunctos populos – 380

Wie das Christentum kaiserlichen Segen ­erhielt

Die Luftangriffe auf Dresden 1945

Wie eine Stadt in drei Tagen zerstört wurde

Die Gründung der NSDAP – 1920

Wie das Böse in ein politisches Programm gegossen wurde

Der Völkermord an den Armeniern – 1915

Wie ein Volk verschwinden sollte

Die Flucht Adolf Eichmanns nach Argentinien – 1950

Wie „Ricardo Klement“ flüchten konnte

Das Afrikanische Jahr – 1960

Wie sich ein Kontinent befreite

Der Boxeraufstand in China – 1900

Wie europäische Kolonialherren eine ­Revolte niederschlugen

Die Kapitulation des Deutschen Reichs – 1945

Wie der Zweite Weltkrieg endete

Die deutsche Währungsunion – 1990

Wie aus zwei Währungen eine wurde

Die Gründung der Sozialistischen Arbeiterpartei – 1875

Wie die Arbeiter eine Partei bekamen

Die Gründung der Gewerkschaft Solidarność – 1980

Wie in Polen die Solidarität siegte

Die Emser Depesche – 1870

Wie Worte einen Krieg auslösten

Die Geburt Caesars – 100 v. Chr.

Wie zum ersten Mal der Rubikon überschritten wurde

Die KSZE-Schlussakte von Helsinki – 1975

Wie Diplomatie über Ideologie siegte

Über die Autoren

Über das Buch

Vorwort


Die Feststellung, dass die Vergangenheit nicht vergehen will, löste 1986 den Historikerstreit aus, bei dem es um die Deutung des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen ging. Auch heute erleben wir die Wiederkehr unserer jüngsten Vergangenheit durch rechtsextreme Gewalt, Anschläge auf Synagogen oder antisemitische Pöbeleien auf offener Straße. Entsetzt fragen sich viele Menschen, woher Rassismus und Antisemitismus kommen. Angriffe auf Flüchtlingsheime oder ausländerfeindliche Parolen skandierende Demonstranten lösen Fragen nach unserem Verhältnis zu Afrika und seinen Bewohnern aus. All das geschieht in Deutschland, obwohl die Deutschen wie kaum ein anderes Land in Europa die Beschäftigung mit der eigenen Geschichte auf die Agenda ihrer Bildungseinrichtungen gesetzt hat.

Heute besuchen so viele junge Menschen eine Universität wie noch nie zuvor. Sie sind ein Beleg dafür, dass Europa seit dem Ende des 12. Jahrhunderts ein Kontinent des Studierens und Wissens ist. Einst legte das den Grundstein für die große Prägekraft, die Europa auf dem eigenen Kontinent, aber auch in weiten Teilen der Welt hatte. Diese Hegemonie brachte große Taten und schwere Verbrechen hervor.

Europäische Intellektuelle und Wissenschaftler haben durch bahnbrechende Entdeckungen den Lauf der Dinge verändert und dadurch eine Kultur geschaffen, die in ihrer Vielfalt kaum zu übertreffen ist. Aber in der langen gemeinsamen Geschichte der europäischen Völker sind auch jede Menge Verbrechen geschehen, die unseren Alltag am Beginn des 21. Jahrhunderts immer noch beeinflussen. Polen reagiert mitunter allergisch auf politische Äußerungen aus Moskau oder Berlin, weil es in den vergangenen rund 250 Jahren mehrfach von diesen beiden Ländern besetzt und drangsaliert worden ist. Die Politik Russlands wiederum ist kaum nachvollziehbar, wenn man nicht auch das Ende des Kalten Krieges 1991 und den von vielen Russen als Schmach empfundenen Untergang der Sowjetunion denkt.

„Eine Stunde History“ ist ein Podcast-Format von Deutschlandfunk Nova, das seit mehr als vier Jahren historische Ereignisse und Personen behandelt, die bis in unsere Tage Wirkung zeigen. Damit wird Geschichte als Vorläufer der Gegenwart in die Lebenswelt der Menschen von heute geholt. Aktuelle Fragen lassen sich natürlich nicht allein mit einem Verweis auf die Geschichte lösen. Aber die Kenntnis von historischen Zusammenhängen und Entwicklungen kann Verständnis wecken für politische Entscheidungen, die heute gefällt werden. Dabei geht es nicht um das Auswendiglernen von Daten, sondern um die Erkenntnis, dass Geschichte die Tagespolitik der Vergangenheit war und Politik die Geschichte von Morgen sein wird.

Deshalb steht neben der Geschichte auch das zivilgesellschaftliche Engagement im Vordergrund. Denn wenn unsere Politik durch die Geschichte unserer Vorfahren geprägt ist, dann wird die Politik der kommenden Generationen durch unser heutiges Handeln bestimmt sein. Also wird die Beschäftigung mit der eigenen Geschichte mit dem Aufruf verbunden, sich für die Politik von heute zu interessieren und sie aktiv mitzugestalten. Wie im Straßenverkehr der Blick in den Rückspiegel zeigt, ob man rechts oder links fahren kann, stellt die Beschäftigung mit Geschichte eine Vergewisserung für den Weg unserer modernen Gesellschaft dar. Wir sollten uns der Vergangenheit sicher sein, damit wir einen guten Weg in die Zukunft finden können.

Die Podcasts von „Eine Stunde History“ basieren auf dieser Idee. In jeder Sendung wird deshalb der Zusammenhang hergestellt zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Genauso in diesem Buch. Mehr als achtzig ausgewählte Sendungen, die sich alle mit Themen der europäischen Geschichte befassen, werde in der Reihenfolge ihrer Veröffentlichung kurz beschrieben, ein QR-Code ist auf den jeweiligen Podcast verlinkt. Dabei geht es in erster Linie um die Bedeutung für unser heutiges Leben: Gibt es historische Gründe für die katastrophale Lage Afrikas, woher kommt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, wie ist die Idee einer Volksbefragung entstanden, warum hat Europa so viele Universitäten und warum hat sich der bis zum Genozid gesteigerte Judenhass in Europa 2000 Jahre gehalten?


Köln, im Sommer 2020



Matthias von Hellfeld 

 Markus Dichmann 

 Meike Rosenplänter

Die Nürnberger Prozesse – 1946

Wie der europäische Gerichtshof für ­Menschenrechte entstand

Heute kommen Kriegsverbrecher vor Gericht. Der Einsatz von Massenvernichtungswaffen oder von Kindersoldaten, Massaker an der Zivilbevölkerung, Völkermord – wer sich dieser Verbrechen schuldig macht, muss sich vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag verantworten. Dieser Gerichtshof ist eine unmittelbare Lehre aus den Verbrechen der Deutschen im 20. Jahrhundert.

Am Gründonnerstag 1946 sitzt Niklas Frank mit seiner Familie zu Hause vor dem Radio. Sie hören zu, wie sein Vater zum ersten Mal aussagt, von seiner Mitschuld an der Vernichtung der Juden spricht. Hans Frank war Generalgouverneur im von Deutschland besetzten Polen gewesen, wurde auch der „Schlächter von Polen“ genannt und stand als einer von 24 führenden Nationalsozialisten vor dem alliierten Kriegsgericht in Nürnberg. Einige Monate später wird er zum Tode am Strang verurteilt. Sein Vater habe das Urteil verdient, denkt der damals siebenjährige Niklas. Es war eines von insgesamt zwölf Todesurteilen, die bei den heute weltberühmten und damals schon weltweit mitverfolgten Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen ausgesprochen wurden.

Schon während des Zweiten Weltkriegs stellten sich die Alliierten eine Frage: Wie soll für den Fall einer deutschen Kapitulation mit den führenden Nationalsozialisten umgegangen werden? Wie kann man sie für das, was sie im Zweiten Weltkrieg angerichtet haben, vor ein Gericht stellen? Die Antwort fanden sie bis 1945 im Londoner Statut für den Internationalen Militärgerichtshof. Dieses Statut sollte die Grundlage bilden, auf der ab November 1945 in Nürnberg 218 Tage lang verhandelt wurde. Eine juristische Mission, die ihres gleichen suchte: In weniger als einem Jahr wurden 5000 Beweisdokumente gesichtet und 240 Zeugen verhört.

Neben Hans Frank wird in Nürnberg unter anderem auch Reichsminister Hermann Göring und Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß der Prozess gemacht. Beide bekennen sich als im Sinne der Anklage unschuldig. Heß schnauzt gerade einmal ein lautes „Nein“ in den Saal, nachdem ihm die Anklage verlesen worden war. Während der Verhandlung blättert er in Groschenromanen. Keiner der Angeklagten zeigt Einsicht oder Reue. Sie hätten von allem nichts gewusst. Sie hätten nur Befehle befolgt. Sie artikulieren auf eine Weise das, was damals noch viele Deutsche dachten: Die Alliierten kommen daher mit diesem Verfahren und ihren Urteilen, dabei hätten die Deutschen nur nach geltendem deutschen Recht gehandelt. Deutschland hatte erst vor einem halben Jahr kapituliert, die Menschen saßen auf den Trümmern der zerstörten Städte, und viele fühlten sich ungerecht behandelt, der Begriff der „Siegerjustiz“ wurde in diesen Tagen geboren.

Aber im Zuge des Prozesses wurde die deutsche Öffentlichkeit mit den Verbrechen der Nazis, die letztlich auch ihre eigenen Verbrechen waren, konfrontiert. Im Gerichtssaal werden Aufnahmen von einem Bulldozer gezeigt, der im KZ Bergen-Belsen Leichenberge wegschaufelt. Das weckt bei den einen Scham, andere flüchten sich ins Leugnen der Realität. Während seine Geschwister den Vater immer noch als „Opfer der Siegerjustiz“ verteidigen, beginnt Niklas Frank ein Gefühl für die Schuld des Vaters und der Familie zu entwickeln und zieht daraus seine Schlüsse für die Zukunft. Und auch wenn drei der angeklagten Nazis freigesprochen wurden, sehen Historiker wie Manfred Görtemaker in den Nürnberger Prozessen einen ganz wichtigen Schritt in der Entnazifizierung und der Umerziehung der Deutschen. Es sei wichtig gewesen, ein rechtsstaatliches Verfahren auf die Beine zu stellen, um nicht den Eindruck zu erwecken, hier sei nur Rache geübt worden.

Damit sollten die Nürnberger Prozesse auch ein Präzedenzfall werden und ein Beispiel dafür, wie mit einem Regime wie dem der Nationalsozialisten umgegangen werden kann. Es war das erste Mal, dass die internationale Gemeinschaft gemeinsam strafrechtliche Mittel angewendet hat, um Kriegsverbrecher und Völkermörder zu bestrafen.

Diese Idee lag allerdings in den Jahrzehnten nach Nürnberg, in Zeiten des Kalten Kriegs, brach. Erst in den Neunzigerjahren sollte sie im Jugoslawien-Tribunal wiederentdeckt werden.

1993 kam in Den Haag der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien zusammen, um wegen der schweren Kriegsverbrechen in den Jugoslawienkriegen zu ermitteln. Und hier ist eine direkte Linie zu 1946 erkennbar, denn wie der Völkerrechtler Christoph Safferling feststellt, haben die Strafverfolger in Den Haag das Statut der Nürnberger Prozesse eigentlich eins zu eins kopiert.

Die Idee, dass Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, egal wo sie begangen werden, verfolgt und bestraft werden, erfuhr 2002 ihren vorläufigen Höhepunkt. In diesem Jahr nahm der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag seine Arbeit auf. Seitdem hat er schon einige Erfolge vorzuweisen: Der kongolesische Milizenführer Thomas Lubanga wurde für die Rekrutierung von Kindersoldaten und wegen des Einsatzes sexueller Gewalt als Kriegswaffe zu lebenslanger Haft verurteilt. Gegen den sudanesischen Präsidenten Umar al-Bashir sprach Den Haag wegen seiner Kriegsverbrechen einen Haftbefehl aus, 2020 soll er ausgeliefert werden. Und das Jugoslawien-Tribunal verurteilte zum Beispiel den Kriegsverbrecher Ratko Mladić zu lebenslanger Haft.

Aber es gab auch Misserfolge: 2019 musste Laurent Gbagbo nach über sieben Jahren U-Haft und drei Jahren Verhandlungen aus Mangel an Beweisen freigesprochen werden. Dabei wurden ihm als ehemaliger Präsident der Elfenbeinküste Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Last gelegt. Viele Kriegsverbrechen kommen außerdem nie bis nach Den Haag, weil die Täter weiter an der Macht bleiben, sich in ihren Heimatstaaten verbarrikadieren oder aber weil Staaten wie die USA, Russland oder auch die Philippinen das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs nicht ratifiziert oder ihre Anerkennung wieder zurückgezogen haben.

Da kriegt er Sorgenfalten, sagt auch der Völkerrechtler Safferling, denn Den Haag funktioniere nicht so, wie man sich das wünscht. Aber man brauche Geduld und dürfe keine schnellen Erfolge erwarten. Immerhin würden wir auch bis heute noch KZ-Wärter verfolgen.

Literaturhinweise:

Annette Weinke: Die Nürnberger Prozesse. München 2006

Hans-Heiner Kühne, Robert Esser, Marc Gerding: Völkerstrafrecht. 12 Beiträge zum internationalen Strafrecht und Völkerstrafrecht. Osnabrück 2007

Niklas Frank: Dunkle Seele, feiges Maul. Wie absurd, komisch und skandalös sich die Deutschen beim Entnazifizieren reinwaschen. Bonn 2016

Hubert Seliger: Politische Anwälte? Die Verteidiger der Nürnberger Prozesse. Baden-Baden 2016



Das Sykes-Picot-Abkommen – 1916

Wie europäische Kolonialmächte die arabische Welt aufteilten

Wenn man von den international anerkannten Staatsgrenzen ausgeht, dann treffen ganz im Norden, am See Genezareth, Israel, Syrien und Jordanien zusammen. Mit Jordanien hat Israel einen Friedensvertrag, aber mit seinen syrischen Nachbarn gibt es immer wieder Probleme, weil Israel die Golanhöhen besetzt hält, die eigentlich zu Syrien gehören. So zumindest hatte es das Sykes-Picot-Abkommen 1916 festgelegt. 

Dieses geheime Abkommen wurde am 16. Mai 1916 zwischen den Regierungen von Großbritannien und Frankreich geschlossen. Darin legten beide fest, wie das geschwächte Osmanische Reich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs aufgeteilt würde. Großbritannien und Frankreich gingen davon aus, den Krieg zu gewinnen und damit über das Gebiet des Osmanischen Reichs verfügen zu können.

Das Osmanische Reich erstreckte sich über das Gebiet der heutigen Türkei, Armenien, den Irak, Kuwait, Syrien, den Libanon, Israel und den zu Saudi-Arabien gehörenden Küstenstreifen des Roten Meeres. Seit Ende des 17. Jahrhunderts war das Osmanische Reich in einem wirtschaftlich schlechten Zustand. Das Wort vom „kranken Mann am Bosporus“ machte die Runde, der abhängig geworden war von den europäischen Großmächten. Die Europäer brauchten das Osmanische Reich zur Kontrolle des Bosporus und der Dardanellen, um den Weg zum Mittelmeer für Russland zu blockieren und das Kräftegleichgewicht in Europa zu erhalten. 

Nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs unterzeichnete die Regierung des Osmanischen Reichs einen Bündnisvertrag mit dem Deutschen Reich. Zur Schwächung der von Deutschland geführten Mittelmächte versuchten die Briten, arabische Stämme zu einem Aufstand gegen die Osmanen zu bewegen. Ab 1915 verhandelten der britische Hochkommissar von Ägypten, Sir Henry McMahon, und Hussein ibn Ali, Großscherif von Mekka, über die Bedingungen einer arabischen Revolte gegen die Osmanen. Als Lohn für einen erfolgreichen Aufstand versprachen die Briten, die Errichtung eines „großarabischen“ Staates zu unterstützen. Der britische Vormarsch nach Damaskus wurde durch die von Thomas Edward Lawrence, besser bekannt als Lawrence von Arabien, angeführte arabische Revolution, die im Juli 1916 begann, maßgeblich erleichtert.

Im Hintergrund gab es allerdings andere Absprachen, denn im November 1915 hatten sich der französische Diplomat François Georges-Picot und sein britischer Kollege Mark Sykes getroffen, um im Geheimen die arabischen Provinzen des Osmanischen Reiches für die Zeit nach dem Ende des Ersten Weltkriegs in eine britische und eine französische Einflusssphäre aufzuteilen. Am Reißbrett zogen sie eine Linie von Kirkuk (im heutigen Irak) nach Haifa im damaligen Palästina – ungeachtet der Wünsche der Bevölkerung, ungeachtet aller ethnischen und konfessionellen Grenzen, quer durch zahlreiche Stammesgebiete. Nördlich der Linie sollte Frankreich das Sagen haben, südlich davon Großbritannien. Dementsprechend erhielten die Briten die irakischen Provinzen Bagdad, Basra und das heutige Kuwait, außerdem die Gebiete von Kirkuk über das heutige Jordanien bis an die ägyptische Grenze des Sinai. Frankreich dagegen sollte die Herrschaft über die Südost-Türkei, den heutigen Nordirak, Syrien und den Libanon übernehmen. Jedes Land konnte die Staatsgrenzen innerhalb seiner Einflusszone frei bestimmen, und beide Länder hatten das Recht, in ihren Einflussbereichen nach ihren Wünschen direkte oder indirekte Verwaltungen einzurichten. 

Uneinig waren sich die beiden Parteien über die Zukunft Palästinas. Auf dieses Gebiet erhob auch das russische Zarenreich Anspruch. Es sollte deshalb erst einmal unter internationale Verwaltung gestellt werden, bis sein endgültiges Schicksal entschieden sei. 1920 wurde es durch eine Entscheidung des Völkerbunds britisches Mandatsgebiet. 

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs besetzten Frankreich und Großbritannien die Gebiete, die ihnen im Sykes-Picot-Abkommen zugeteilt worden waren. In der Folge kam es immer wieder zu Aufständen, die aber von den britischen und französischen Truppen niedergeschlagen wurden. Damit war der arabische Traum eines großen, geeinten und vor allem wirtschaftlich starken arabischen Staates dahin. Stattdessen organisierte der britische Diplomat Sykes die Balfour-Deklaration, in der 1917 festgelegt wurde, dass Großbritannien die Gründung eines jüdischen Staates in Palästina unterstützt. Palästina war aber Teil des arabischen Großreichs, das dieselbe britische Regierung den arabischen Stämmen für die Unterstützung beim Kampf gegen das Osmanische Reich versprochen hatte.

Zwar wurde der Staat Israel erst 1947 aus der Taufe gehoben, aber die Folgen des Sykes-Picot-Abkommens waren sofort zu erkennen, und sie bestimmen bis heute die politische Situation im Nahen und Mittleren Osten. Die Briten gründeten aus den drei osmanischen Provinzen Bagdad, Mossul und Basra den Irak und fügten jordanische Beduinenstämme mit dem britischen Mandatsgebiet Palästina zum neuen Staat Jordanien zusammen. Ähnlich agierte die französische Regierung, die 1920 den Libanon gründete und bis 1946 in Syrien herrschte. Bei der Aufteilung der arabischen Welt zogen beide Kolonialmächte nicht nur willkürliche Staatsgrenzen, sondern missachteten auch bestehende ethnische oder religiöse Unterschiede. Deshalb leben noch heute Familien und ehemalige Stämme auf verschiedene Länder verteilt – vom Libanon, über Syrien und Jordanien bis in den Irak und nach Saudi-Arabien. Die Bindungen sind über alle nationalstaatlichen Grenzen und alle Jahrzehnte hinweg bestehen geblieben. 

Das macht es Terrorgruppen wie al-Qaida und dem IS einfacher, über Staatsgrenzen hinweg zu agieren. 2014 hatte die Terrororganisation IS bekanntgegeben, ein Kalifat zu gründen, auf einem Gebiet im Nordwesten des Irak und im Osten Syriens, das sie zuvor militärisch erobert hatten. Auf Twitter verkündeten sie: „Wir zerschmettern Sykes-Picot.“

Literaturhinweise:

Jeremy Wilson: Lawrence von Arabien. Die Biographie. Berlin 2004

Klaus Kreiser: Der Osmanische Staat 1300–1922. München 2008

Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkrieges. München 2014



Die karolingische Minuskel

Wie die Europäer schreiben lernten

Heute hacken wir ein paar Buchstaben ins Smartphone und haben sie schon verschickt, bevor wir überhaupt mit dem Gedanken fertig sind. Vor 1250 Jahren mussten wir uns erst einmal einigen, welche Buchstaben wir überhaupt verwenden. Wir brauchten die Karolingische Minuskel und einen Briten namens Alkuin.

Alkuin war ein Gelehrter, der zu seiner Zeit alles wusste und alles konnte, was man nur wissen und können konnte: Er sprach diverse Sprachen, befasste sich mit Jura, Philosophie und Religion, und viele nennen ihn das Universalgenie des frühen Mittelalters. Wir können ihn aber auch einen ziemlichen Nerd nennen, denn neben Texten über „das sorgfältige Schreiben“, „das korrekte Sprechen“ und „das vernünftige Stellen von Fragen“ hinterließ er uns auch ein paar mathematische Scherzfragen. Echte Schenkelklopfer.

Dieser Alkuin stattet jedenfalls der italienischen Stadt Parma im Jahr 781 einen Besuch ab und lernt dort niemand Geringeren kennen als Karl den Großen. Karl ist König des Frankenreichs und gerade im Begriff, aus diesem Frankenreich den wichtigsten politischen Player in Europa zu machen – nicht zuletzt mit Waffengewalt. Als er und Alkuin sich kennenlernten, führte Karl gerade einen Feldzug gegen die Sachsen am östlichen Rand seines Reiches. Die Losung lautet: Tod oder Taufe. Konvertierung zum Christentum oder Kopf ab.

Das Reich, von dem Karl der Große träumte, war also ein christliches Reich. Es sollte aber auch ein römisches Reich sein. Und in dieser Vorstellung kamen er und Alkuin nun überein, denn beide teilten die Idee der vier großen Reiche: Es gab ein großes Babylonisches Reich, ein großes Persisches Reich, es gab das Reich Alexanders des Großen und das Römische Reich. Und wenn man wollte, konnte man eine Bibelpassage so auslegen, dass dieses vierte Römische Reich das letzte Reich und Reich Gottes auf Erden sein würde. Ginge dieses vierte Reich unter, ginge auch die Welt unter.

Karl und Alkuin entwickelten nun die Idee, dieses vierte Reich zu retten. Karl sollte die römische Herrschaft fortsetzen, indem er sich vom Papst nicht etwa zum Kaiser der Franken, sondern zum Kaiser des Heiligen Römischen Reichs krönen lassen sollte. Bei dieser Rettungstat kam Alkuin die Rolle des intellektuellen Bewahrers zu. Er sollte das Wissen der alten, antiken Welt sammeln, vor dem Vergessen retten und in die neue Zeit, also die damalige Gegenwart, bringen. Auf Einladung von Karl begleitete er diesen an seinen Hof und leitete schon nach kurzer Zeit die karolingische Hofschule in Aachen. Von dort entsandte er seine Schreiber und Archivare in die damals bekannte Welt, um wertvolle Texte, Schriften und auch Gesetzesbücher abschreiben zu lassen. Und dabei machte er weder vor politischen noch vor religiösen Grenzen halt. Alkuins Team ging bis nach Konstantinopel und noch weiter bis nach Bagdad, um die wertvollen Schätze zu bergen. Auch immer mehr „profane“ Texte von „heidnischen Dichtern“ sollten so für die Nachwelt gerettet werden: Vergil, Cicero, Horaz oder Ovid.

Wichtigste Aufgabe war nun aber, diese Texte zu konservieren und auch einem neuen Publikum verständlich zu machen. Und deshalb wurde an der Aachener Hofschule die karolingische Minuskel etabliert. Diese Schriftart war zum ersten Mal einige Jahre zuvor in Corbie, einem Königskloster im nordfranzösischen Tal der Somme aufgetaucht. Diese Handschrift kannte ausschließlich Kleinbuchstaben, die für die Schreiber zwar brutal umzusetzen war, weil aufwändig, die aber für die Leser viel besser lesbar war, weil eindeutiger. Und wenn man sich jetzt diese über tausend Jahre alten Manuskripte anschaut, dann sieht man: Das sind die gleichen Buchstaben, die wir heute noch verwenden. Die karolingische Minuskel hat über die Jahrhunderte hinweg natürlich eine Menge Reformen erfahren, aber sie ist die Grundlage unserer heutigen Schreibschrift. Und da wir ja beim Texten auf dem Smartphone auch mal gerne die Großbuchstaben weglassen, sehen auch unsere digitalen Nachrichten aus wie in einer frühmittelalterlichen Schreibstube.

Es gibt aber ein noch wichtigeres Erbe für unsere heutige Zeit, das uns Alkuin hinterlassen hat. Der Historiker Max Kerner nennt das Aufeinandertreffen von Karl dem Großen und Alkuin nämlich eine historische „Richtungsentscheidung“. Karl der Große entschied sich durch die Begegnung mit Alkuin, seine politische Herrschaft an gelehrte Hilfe zu knüpfen. Er verband seine Politik mit den Ideen von Bildung und Fortschritt und förderte beides. Und weil dies auch in der Rückbesinnung auf die Tugenden und Errungenschaften der Antike geschah, wird diese Zeit auch die Zeit der „karolingischen Renaissance“ genannt. Gute 700 Jahre bevor ein gewisser Leonardo Da Vinci auf die Idee kommt, eine gewisse Mona Lisa zu malen und damit das bekannteste Werk der Renaissance des 15. und 16. Jahrhunderts zu schaffen.

Aber zurück zum Frankenreich: Wer dort etwas werden wollte, musste die Schulbank drücken. Grammatik, Rhetorik und Mathematik waren Pflicht. Und weil die Texte durch die karolingische Minuskel für immer mehr Menschen lesbar wurden, kamen auch immer mehr Menschen in den Genuss von Bildung. Auch die für uns heute völlig selbstverständliche Idee, ein Buch aufzuschlagen und darin etwas zu lernen, also die Idee eines Lehrbuchs, stammt aus Alkuins Feder. Er soll solche Bücher für die Kinder von Karl dem Großen entwickelt haben. Für eine bis dahin weithin ungebildete Gesellschaft war das eine Revolution. So betrachtet, kann man Karl den Großen und seinen wissenschaftlichen Lehrer Alkuin als die ersten Bildungsreformer Europas bezeichnen.

Wir sollten allerdings auch nicht übertreiben. Bildung im 8. Jahrhundert bedeutete natürlich auch weiterhin nur Bildung für die Hofgesellschaft, für Priester, Juristen und Mediziner, nicht für die Leute in den Werkstätten und auf den Feldern, nicht für Bauern und Handwerker. Trotzdem kann man Alkuin als Erfinder dessen sehen, was wir heute Informations- oder Bildungsgesellschaft nennen. Denn Bildung und Wissen wurden ein ganz selbstverständlicher Teil des Lebenswegs. Max Kerner drückt es noch epochaler aus: Die karolingische Renaissance sei die geistige Grundsteinlegung Europas. Und nicht zuletzt könnte man sagen, dass die Archivierung und das Sammeln und das Bereitstellen von Wissen in Aachen, so etwas wie ein frühmittelalterliches Wikipedia war. Inklusive der mathematischen Scherzfragen.

Literaturhinweise:

Ernst Tremp, Karl Schmuki, Theres Flury: Karl der Große und seine Gelehrten. Zum 1200. Todestag Alkuins. St. Gallen 2004

Max Kerner: Karl der Große. Eine Biographie. München 2006

Matthias Becher (u. a.): Das Reich Karls des Großen. Stuttgart 2011

Rudolf Schieffer: Die Karolinger. Stuttgart 2014



Der Rheinbund – 1806

Wie Napoleon Deutschland ordnete

Wenn die Fußballnationalmannschaften Frankreichs und Deutschlands aufeinandertreffen, spielen zwei Teams, die ursprünglich in einem großen Reich vereint waren, sich dann lange Zeit als Feinde gegenüberstanden und nun die treibenden Kräfte der Europäischen Union sind. Während die französischen Spieler vor dem Anpfiff voller Inbrunst die „Marseillaise“ singen, verhalten sich die deutschen Spieler beim „Deutschlandlied“ deutlich zurückhaltender. Bei der Suche nach dem Ursprung dieses erstaunlichen Unterschieds kann man mehr als 1200 Jahre zurückgehen.

Weihnachten 800 wurde der fränkische König Karl von Papst Leo III. deshalb zum römisch-deutschen Kaiser gekrönt, weil beide – biblischen Texten folgend – davon überzeugt waren, dass das Imperium Romanum nicht untergehen durfte. Indem der Papst die Würde eines römischen Kaisers auf den Frankenkönig übertrug, hatten sie symbolisch das schon 476 untergegangene Weströmische Reich wieder zum Leben erweckt und im Sinne der biblischen Weissagung die Welt vor dem Untergang bewahrt.

Karls Nachfolger teilten das Reich auf. Es entstanden ein west- und ein ostfränkisches Reich mit den ungefähren Umrissen Frankreichs und Deutschlands. Im „deutschen“ Teil herrschte der Kaiser über ein großes Territorium, in dem eine Vielzahl von Stämmen und Völkern lebten. Da auch der Kirchenstaat dazu gehörte, war der Kaiser viel unterwegs und geradezu gezwungen, das Land dezentral zu regieren. Anders als im „französischen“ Teil des alten Karlsreiches gab es im späteren Deutschland weder eine Hauptstadt noch den für Frankreich bis heute charakteristischen Zentralismus.

Im deutschen Teil des alten Frankenreichs waren die Kaiser auf die Mithilfe der Territorialfürsten angewiesen, wenn sie Heere aufstellen oder Gesetze verabschieden wollten. Diese frühe Form der politischen Partizipation der Landesherren sorgte dafür, dass sich Gemeinsamkeitsgefühle weniger mit der kaiserlichen Zentralmacht, als vielmehr mit den regionalen Fürstenhäusern oder Königtümern entwickelten. Die Landesteile und die Zentralmacht waren voneinander abhängig. Daraus entstand die dezentrale oder föderale Struktur des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation. Am Beginn des 16. Jahrhunderts existierten etwa 350 eigenständige Territorien, die ihre Interessen auf Reichstagen gegenüber dem Kaiser vertraten und nach dem Westfälischen Frieden von 1648 sogar als Völkerrechtssubjekte anerkannt waren. Heute werden die Ausläufer dieser Entwicklung durch die Beteiligung der Bundesländer am Gesetzgebungsverfahren sichtbar.

Am Ende des 17. Jahrhunderts war der deutsche Flickenteppich in der Mitte Europas etwas übersichtlicher geworden, weil sich kleine Territorien zu größeren Einheiten zusammengeschlossen hatten. Nun waren sie aber eingeklemmt zwischen den mächtigen Nachbarn Frankreich, dem neu entstandenen Preußen und der österreichischen Habsburgermonarchie, die selbst mit einigen Ländereien dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation angehörte. 1789 erschütterte die Französische Revolution das europäische Machtgefüge so stark, dass es zwischen 1792 und 1797 zum ersten Koalitionskrieg kam, in dem Preußen und Österreich gegen Frankreich kämpften. Im Verlauf dieses Krieges besetzten französische Truppen das linke Rheinufer und machten den Rhein zur Grenze zwischen Deutschland und Frankreich.

Damit verwirklichten die französischen Revolutionssoldaten einen langgehegten Traum, wonach die „natürliche Ostgrenze“ Frankreichs der Rhein war. Diese Vorstellung soll schon Mitte des 17. Jahrhunderts aufgetaucht sein. Als 1792 nach der Kanonade von Valmy der Sieg der französischen Revolutionstruppen über ein preußisches Heer feststand, sollten die Soldaten „über den Rhein“ gejagt und das Gebiet annektiert werden. Wenige Monate später formulierte Justizminister Georges Danton: „Die Grenzen Frankreichs sind durch die Natur gegeben, wir erreichen sie (…) am Ufer des Rheins, an den Ufern des Ozeans, in den Pyrenäen und Alpen. Dort müssen die Grenzen unserer Republik vollendet werden.“

Im Februar 1801 akzeptierte Preußen die neue Grenze zwischen Frankreich und den deutschen Ländern und nahm die mit der Besetzung des linken Rheinufers verbundenen eigenen Gebietsverluste in Kauf. Zwei Jahre später wurden Preußen und andere enteignete Fürsten zu Lasten der katholischen Kirche auf der rechten Seite des Rheins entschädigt. Diese Säkularisierung führte 1803 dazu, dass zwei Kurfürstentümer, neun Reichsbistümer, 44 Reichsabteien und 45 Reichsstädte aufgelöst wurden, nahezu 45 000 km² Land den Besitzer wechselten und etwa fünf Millionen Menschen neue Landesherren bekamen. Anschließend machte sich der französische Kaiser Napoleon an die Neuordnung Europas unter französischer Hegemonie. Wesentlicher Baustein dafür war ein französisches Protektorat auf der östlichen Rheinseite. Am 12. Juli 1806 ließ Napoleon deshalb den Rheinbund gründen. 39 deutsche Territorien traten bei und akzeptierten ihren Status als Protektorat. Mit dem Beginn des bis 1815 bestehenden Rheinbunds war gleichzeitig das Ende des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation besiegelt, denn die neuen Mitglieder des Rheinbunds verließen im gleichen Moment das seit 800 bestehende Heilige Römische Reich deutscher Nation. Beim Wiener Kongress 1815 wurde der Rheinbund wieder aufgelöst und die deutschen Länder im Deutschen Bund zusammengefasst. Nachdem auch bei der deutschen Revolution von 1848 die Gründung eines deutschen Einheitsstaates misslungen war, wurde der erste gemeinsame deutsche Staat mit der Reichsgründung im Spiegelsaal von Versailles am 17. Januar 1871 aus der Taufe gehoben.

Literaturhinweise:

Edgar Liebmann: Das Alte Reich und der napoleonische Rheinbund. In: Peter Brandt, Martin Kirsch, Arthur Schlegelmilch (Hrsg.): Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte. Institutionen und Rechtspraxis im gesellschaftlichen Wandel. Bonn 2006

Ingo Knecht: Der Reichsdeputationshauptschluß vom 25. Februar 1803. Rechtmäßigkeit, Rechtswirksamkeit und verfassungsgeschichtliche Bedeutung. Berlin 2007

Wolf D. Gruner: Der Deutsche Bund. 1815–1866. München 2010

Jürgen Wilhelm (Hrsg.): Napoleon am Rhein, Wirkung und Erinnerung einer Epoche. Köln 2012

Günter Müchler: Napoleon. Revolutionär auf dem Kaiserthron. Darmstadt 2019



Der Alldeutsche Verband – 1891

Wie Rassismus die Gehirne zerfraß

„Deutsche Leitkultur statt Multikulturalismus“ – so heißt eine Überschrift aus dem Grundsatzprogramm der Alternative für Deutschland. Diese Leitkultur besteht laut der AfD aus den Werten des Christentums, aus unserer Sprache und unseren Traditionen. Multikulturalismus gefährdet alle diese Errungenschaften, behauptet jedenfalls die AfD. 

Solche Aussagen sind nicht neu, es gab sie schon mehrfach in der deutschen Geschichte. Unter anderem vom Alldeutschen Verband, der im deutschen Kaiserreich gegründet wurde. Immer wieder hat der Alldeutsche Verband seine rassistischen und antisemitischen Ideen wie Nadelstiche unters Volk gebracht und so den Weg für die Ideologie des Nationalsozialismus bereitet.

Der Alldeutsche Verband war eine überparteiliche politische Organisation, die imperialistische, völkische und im Laufe der Jahre immer klarer formulierte antisemitische Positionen vertreten hat. Am 9. April 1891 war dieser rechtsextreme Verband als Allgemeiner Deutscher Verband (ADV) in Berlin gegründet und im Juli 1894 in Alldeutscher Verband (AV) umbenannt worden. Eines der Gründungsmitglieder war der Unternehmer Alfred Hugenberg. Er war ein deutscher Montan- und Rüstungsindustrieller, vor allem aber besaß er einen Verlag, mit dem er die Hälfte der deutschen Presse kontrollierte. Zu seinem Imperium gehörten auflagenstarke Tages- und Wochenzeitungen und Unternehmen der Filmbranche. 1927 übernahm er die UFA-Universum Film AG und sanierte sie mithilfe der Deutschen Bank. Hugenbergs Medienimperium trug durch die Veröffentlichung nationalistischer und antisemitischer Propaganda maßgeblich zum Aufstieg der rechten bzw. rechtsextremistischen Parteien in der Weimarer Republik bei. Er gilt deshalb als bedeutendster bürgerlicher Wegbereiter des Nationalsozialismus. 

Anlass der Gründung des Alldeutschen Verbands war der am 1. Juli 1890 geschlossene Vertrag über die Kolonien und Helgoland zwischen Deutschland und dem Vereinigten Königreich, in dem die jeweiligen Gebietsansprüche in Afrika geregelt wurden. Dieser Vertrag regelte die Gebiets- und Hoheitsansprüche der beiden großen europäischen Mächte: Deutschland hatte die Schutzherrschaft über Witu im Norden des heutigen Kenia, über Pemba, einer Insel des ostafrikanischen Sansibar-Archipels, und über die Gewürzinsel Sansibar vor der ostafrikanischen Küste des heutigen Tansania aufgegeben, dafür aber die strategisch wichtige Nordseeinsel Helgoland bekommen. 

Rechtsnationale Kreise schätzten diesen Tausch als nachteilig für Deutschland ein. Sie warfen der Regierung vor, die imperialen Interessen Deutschlands zu verraten. Kolonialenthusiasten stöhnten, man habe Königreiche für eine Badewanne hergegeben. Auch der erst drei Monate vorher entlassene ehemalige Reichskanzler Otto von Bismarck machte Stimmung gegen den sogenannten Helgoland-Sansibar-Vertrag. Man habe einen Rock gegeben und einen Knopf dafür bekommen, wurde er in der Presse zitiert. 

Im Alldeutschen Verband sammelten sich Menschen vom rechtsextremen Rand der Gesellschaft des Deutschen Kaiserreichs. Sie propagierten ein Europa unter deutscher Hegemonie, wollten Juden aus dem Land treiben, weite Teile Osteuropas annektieren und überseeische Kolonien erwerben. Um diese Ziele zu erreichen, war ihnen jedes Mittel und jede radikale Propaganda recht. Einer ihrer Vorsitzenden war Heinrich Claß. Er formulierte Anfang des 20. Jahrhunderts den rassistischen Kurs seines Verbandes mit diesen Worten:

„Wo fängt das an und wo hört es auf, was uns zugemutet werden soll, als zur Menschheit gehörig zu lieben und in unser Streben einzuschließen? Ist der verkommene oder halbtierische russische Bauer des Mir, der Schwarze in Ostafrika, das Halbblut Deutsch-Südwests oder der unerträgliche Jude Galiziens oder Rumäniens ein Glied dieser Menschheit?“

Der Alldeutsche Verband war keine große Organisation, aber sein Einfluss reichte weit über die eigenen 52 000 Mitglieder hinaus, die 1922 im Verband organisiert waren; vorher waren es sehr viel weniger. Aber selbst dieser kleine Verband schaffte es immer wieder, seine Ideen in der Gesellschaft zu verbreiten. Viele Mitglieder waren auch in anderen völkischen Vereinen und Verbänden tätig. Durch diese Mehrfachmitgliedschaften innerhalb der rechtsextremen Vereine und Gruppierungen wurden Informationen schneller ausgetauscht, und die rechte Szene war bestens vernetzt. So konnte der Alldeutsche Verband unter anderem Beziehungen zum Deutschen Flottenverein, zum Deutschbund und der Deutschen Vaterlandspartei unterhalten. Überall verbreitete er seine völkische Ideologie, die in abgemilderter Form in all diesen Gruppierungen auftauchte. Zudem gab der Verband die sogenannten „Alldeutschen Blätter“ heraus, die ebenfalls das Programm und die ideologischen Ansichten des Verbandes beinhalteten. 

Auch wenn der Alldeutsche Verband nie als Partei aufgetreten ist, war er in seiner gesamten Konzeption eindeutig Vorläufer und Wegbereiter des Nationalsozialismus. Expansion nach Osten und die Eroberung von neuem Lebensraum für das deutsche Volk waren keine Erfindung von Adolf Hitler – es waren Ziele, die der Alldeutsche Verband vorgegeben hatte. Und so erhielt der Verband nach der Machtübernahme der NSDAP 1933 auch eine Sonderbehandlung und wurde nicht sofort gleichgeschaltet. Erst im Jahr 1939 löste ihn die Regierung auf mit der Begründung, die vom Alldeutschen Verband verfolgten Ziele seien jetzt erreicht worden und sein Weiterbestehen überflüssig. 

Literaturhinweise: 

Rainer Hering: Konstruierte Nation. Der Alldeutsche Verband 1890 bis 1939. Hamburg 2003

Peter Walkenhorst: Nation – Volk – Rasse. Radikaler Nationalismus im Deutschen Kaiserreich 1890–1914. Göttingen 2007

Mark Jones, Karl Heinz Siber: Am Anfang war Gewalt. Die deutsche Revolution 1918/19 und der Beginn der Weimarer Republik. Berlin 2017

Hans Mommsen: Die verspielte Freiheit. Aufstieg und Untergang der Weimarer Republik. Berlin 2018



Die Gründung Preußens – 1701

Wie Gehorsam und Toleranz zu Maximen ­wurden

Heute werden sie auf dem Fußballplatz beschworen: Rennen Brandt, Gnabry und Gündoğan schnell genug den Platz hoch und runter, werfen sich füreinander in die Bresche und lassen dem Gegenspieler keinen Platz zum Atmen, dann sind Marcel Reif und Béla Réthy glücklich. Denn dann erfüllen die Jungs im Nationaltrikot die „deutschen Tugenden“. Wobei, eigentlich sind es keine deutschen, auch keine bayerischen, badischen oder westfälischen Tugenden, sondern preußische Tugenden.

1701 war das schöne Land entlang der Ostsee bei Königsberg ein ziemliches Nichts. Kaum bewohnbar, kaum zu bewirtschaften und nach den verheerenden Kriegen des 17. Jahrhunderts auch ziemlich entvölkert. Ostpreußen hieß es, benannt nach den Prußen, einem baltischen Volksstamm, der einst hier gesiedelt hatte. Und dieses Ostpreußen gehörte dem Kurfürsten und Markgrafen von Brandenburg, Friedrich III. Der regierte und lebte allerdings lieber in Berlin, ließ in seiner Amtszeit prunkvolle Schlösser bauen und es sich in der Hauptstadt gut gehen. Im Winter 1700 jedoch zieht er mit einem Tross von 300 Wagen nach Königsberg, um sich dort selbst zum König zu krönen und 500 000 Taler für die dazu gehörigen Feierlichkeiten auf den Kopf zu hauen. Angeblich sollen sogar Orangen und Zitronen an den Bäumen gehangen haben, und der Wein soll aus den Brunnen gesprudelt sein.

Aber warum zog es Friedrich III. in das verlassene Preußen? Weil er sich in Brandenburg nicht hätte krönen dürfen. Brandenburg ist Teil des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, und das wird von einem Kaiser regiert. Nur mit Kaiser Leopolds I. Erlaubnis und dann auch nur außerhalb des Kaiserreichs konnte sich Friedrich III. selbst die Krone aufsetzen. Dafür musste er natürlich auch was leisten: die Königlich-Preußische Armee stand dem Kaiser im Spanischen Erbfolgekrieg gegen Frankreich zur Seite.

Politisch und strategisch war das clever, denn Brandenburg war unter seinem Vater schon ein wichtiger Player in Europa geworden, und als König stand Friedrich jetzt auf Augenhöhe mit den anderen Größen des Kontinents. Und er fand es außerdem ziemlich gut, dass er nicht mehr nur die Nummer drei, sondern die Nummer eins war: Friedrich I. in Preußen. Wichtig: König in, und nicht König von Preußen, denn der westliche Teil Preußens gehörte noch zu Polen, und man will ja nicht gleich Streit anfangen. Der sollte ohnehin noch kommen.

Denn was folgte, war harter Ellenbogeneinsatz: Der Sohn, Friedrich Wilhelm I., auch bekannt als der Soldatenkönig, und dessen Sohn, Friedrich II., auch bekannt als Friedrich der Große, steckten bis zu drei Viertel des Staatsetats in den Ausbau des Militärs. Und wo der Soldatenkönig seinen Fokus eher auf die Innenpolitik lenkte, legte es sein Sohn Friedrich der Große auf Expansion in Europa an. Preußen führte viele Kriege und wurde letztlich der dominanteste aller deutschen Staaten. Da war der Ruf schnell ruiniert: „Andere Staaten besitzen eine Armee, Preußen ist eine Armee, die einen Staat besitzt“, sagte zum Beispiel der französische Denker Gabriel de Riqueti Graf von Mirabeau. In Zahlen: Preußen hatte zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit der zwölftgrößten Bevölkerung die viertgrößte Armee Europas.

Aber Preußen hatte trotzdem noch mehr zu bieten als Krieg. Der Soldatenkönig führte die Schulpflicht ein, um die Bevölkerung zu bilden. Friedrich der Große, der eigentlich ständig Krieg führt, war Anhänger der Aufklärung, pflegte eine Brieffreundschaft mit dem Philosophen Voltaire. Er schafft Folter und Inquisition ab und gewährte vollständige Glaubensfreiheit. Französische Hugenotten, deutsche Juden und polnische Katholiken, alle lebten gemeinsam in Preußen. Er holte die Kartoffel ins Land, um die Ernährung der Bevölkerung zu sichern. Und es entwickelte sich in Preußen ein Beamtentum, das zuverlässig seine Aufgaben erledigte. Friedrich verfolgte dabei einen aufgeklärten Absolutismus: Nach dem Motto „Jeder soll nach seiner Façon selig werden“ hatte zwar jeder dem Staat zu dienen, aber im Gegenzug hatte der Staat seine Arbeit zu machen und sich in Privates nicht einzumischen.

:

Uwe A. Oster: Preußen. Geschichte eines Königreichs. Berlin 2010

Tillmann Bendikowski: Friedrich der Große. München 2011

Jürgen Kloosterhuis: Annäherungen an Friedrich Wilhelm I. Eine Lesestunde im Schloss Königs Wusterhausen. Berlin 2011

Christopher Schulze: Ein Dutzend Langer Kerls wäre mir lieber. Anekdoten über den Soldatenkönig. Berlin 2016