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Heinz G. Konsalik

Die schöne Ärztin

Roman

hockebooks

1

Als die drei großen, rotgestrichenen Sonder-Omnibusse um die Ecke bogen und durch die Hauptstraße von Buschhausen fuhren, winkte ihnen niemand zu. Sie rollten an den Schaufenstern der Geschäfte vorbei, ein paar einkaufende Frauen blieben stehen, einige Kinder unterbrachen ihr Ballspiel und blickten ihnen mit neugierigen Augen nach, und hinter dem Fenster der Wirtschaft »Zum Theodor« hoben sich einige Köpfe, senkten sich aber dann wieder auf die Biergläser.

»Da sind sie!«, sagte jemand. »Jungs, ich bin ja ein guter und friedlicher Bürger … aber ich ahne Böses …«

Aus den drei Sonderbussen klangen Musik und Singen. Einhundertzwanzig braungebrannte Köpfe mit schwarzen Haaren wiegten sich im Takt des Gesanges, Zähne blitzten, und schwarze Augen leuchteten. Auf den Dächern der Fahrzeuge schwankte das festgezurrte Gepäck … Kästen aus Holz und Pappe, Säcke, Kartons, Koffer, mit Bindfäden umwickelt, geflochtene Körbe, Wäschebündel, in Decken eingerollt. Ein paarmal winkten hundert Hände und Arme aus den Fenstern der Busse, wenn diese an einem Mädchen vorbeifuhren; Pfeifen und Rufen wurde laut und verstärkte sich, wenn die Mädchen die Köpfe abwandten oder verlegen wurden. Dann, ganz plötzlich, wurde es stiller … Vor ihnen tauchten die Gebäude und Fördertürme der Zeche Emma II auf, der Hauptschacht V mit den Verwaltungsbauten, der Direktion, der großen Waschkaue und dem Gewirr von Schienen und Laderampen, umgeben von den dunklen, täglich wachsenden Bergen der Kohlenhalden.

Dr. Bernhard Pillnitz, der Werkarzt von Emma II, blickte aus dem Fenster, als die drei Busse auf den Hof der Verwaltung rollten und knirschend bremsten. Er wusch sich gerade die Hände und rieb sie sich mit dem Handtuch trocken.

»Sie kommen, schöne Kollegin«, sagte er. »Die Sonne des Südens fällt auf Buschhausen. Wir werden uns bemühen müssen, Italienisch zu lernen. Unsere Italien-Erinnerungen mit den Vokabeln dolce vita und amore werden nicht ausreichen.«

Dr. Waltraud Born trat neben Dr. Pillnitz an das Fenster des Untersuchungsraumes. Seit einem halben Jahr war sie als Assistentin des Werkarztes hier tätig. Zuerst hatte es sie Überwindung gekostet, mit den oft derben Bergleuten umzugehen, aber dann hatte sie entdeckt, dass man sich Respekt nur durch die gleiche Derbheit verschaffen kann. Willi Korfeck, den man in Buschhausen nur »Willis-Bums« nannte, weil ein Schlag seiner rechten Faust wirksamer war als 10 ccm Äther, war der Erste, der Dr. Waltraud Borns Umstellung zu spüren bekommen hatte. »Los! Hose runter!«, hatte sie ihn angeschrien, als er verlegen und blinzelnd im Untersuchungszimmer gestanden war und über einen Furunkel am Gesäß geklagt hatte. »Sie sind ja sonst nicht so zimperlich.«

Seit diesem Tage war Dr. Waltraud, wie man sie nur noch nannte, ein anerkanntes Belegschaftsmitglied der Zeche Emma II. Es war sogar bekannt, dass man bei Krankschreibungen besser zu ihr als zu Dr. Pillnitz gehen müsse, denn – so sagte man – die kleine Dr. Waltraud hatte ein Herz für den Arbeiter.

»Die sehen ja ganz passabel aus«, sagte Dr. Waltraud zu Dr. Pillnitz, als sich die Türen der Busse öffneten und die Italiener auf den betonierten Hof sprangen. »Wenn man bedenkt, dass sie sich nie sattessen konnten …«

Dr. Pillnitz schielte zur Seite. »Sie sind blond, Kollegin. Und dass Sie hübsch sind, sagt Ihnen jeder Spiegel. Was dort ausgeladen wird, sind 120 heißblütige Casanovas, die in zwei Stunden hier an Ihnen entlangmarschieren werden zur Untersuchung. Wie Sie diese Glut aushalten wollen …« Er lächelte sarkastisch. Dr. Waltraud trat vom Fenster zurück und warf den Kopf in den Nacken.

»Ich bin Ärztin, weiter nichts!«, sagte sie knapp.

»Das ›weiter nichts‹ möchte ich stark anzweifeln.«

»Wenn ich Sie nicht kennen würde, Bernhard, müsste ich jetzt wütend werden. Aber Ironie ist Ihr Salz des Lebens … Wann kommen die Söhne Siziliens?«

»In zwei Stunden. Erst rollt der ganze Pipapo ab … Begrüßung durch die Werkleitung, Ansprache des Chefs, Einweisung in die Quartiere, Begrüßungskaffee mit Kuchen, Händeschütteln, Versicherungen von Freundschaft und Kameradschaft … Es wird ein kräftiges Sandstreuen in die schwarzen Augen werden.«

Dr. Waltraud setzte sich an ihren Schreibtisch und klopfte mit einem langen Bleistift auf die Platte. »Was haben Sie eigentlich gegen die Italiener?«

»Nichts, schöne Kollegin.«

»Wohin ich in den vergangenen Tagen hörte, überall das Gleiche: Das kann ja heiter werden! Na, lass die mal kommen! Denen werden wir mal zeigen, was arbeiten heißt … Und so ging es weiter in den gehässigsten Tönen. Warum eigentlich? Diese Männer kommen 1500 km weit quer durch Europa zu uns gefahren, um unsere Kohlen aus der Erde zu brechen und selbst einmal das erträumte Glück zu genießen, satt zu sein und Geld in der Hand zu fühlen. Zu Hause, in ihren Steinhütten, haben sie Frauen und Kinder, Mütter und Väter, die vor Glück weinten, als ihre Männer und Söhne hinausziehen konnten in das Goldland Germania.«

»Himmel! Die kleine Waltraud entwickelt dichterische Talente. Fängt der Zauber des Südens schon an? Kaum erblickt man eine schwarze Locke, schmilzt das nordische Eis …«

»Sie reden Quatsch!«, sagte Dr. Waltraud Born böse. »Ich hasse diese deutsche Überheblichkeit! Sie hat uns schon zwei Kriege eingebracht.«

Dr. Pillnitz schwieg. Er trat wieder an das Fenster. Im Hof standen die Italiener vor den roten Sonderbussen, die sie vom Bahnhof Gelsenkirchen nach Buschhausen gebracht hatten. Der Personalchef, der Obersteiger, ein Herr von der Verwaltung und der neu ernannte Lagerleiter des Italienerlagers kamen aus dem Direktionsgebäude. Am Eingang stand Dr. Fritz Sassen, der Sohn des Zechendirektors Dr. Ludwig Sassen, und unterhielt sich mit dem Transportleiter.

»Jetzt geht’s los, Waltraud!«, sagte Dr. Pillnitz laut. »Zuerst spricht der Personalchef. Soll ich Ihnen sagen, wie er anfängt? ›Liebe neue Mitarbeiter, im Namen der Zeche Emma II …‹ Psst … hören Sie!« Er öffnete das Fenster und legte den Finger auf den Mund.

Vom Hof drang Stimmengewirr ins Zimmer, das langsam verebbte. Dann wurde eine helle Stimme laut.

»Liebe, neue Mitarbeiter. Im Namen der Zeche Emma II heiße ich Sie auf das Herzlichste willkommen …«

»Sehen Sie!« Dr. Pillnitz lächelte breit. »Man kommt als Personalchef mit vierzehn Floskeln und Stammredensarten blendend aus. Er wird jetzt gleich weiterreden von Arbeitsgemeinschaft, Völkerfreundschaft, gemeinsamem Ziel, Wohlstand und Familienglück … aber er wird tunlichst verschweigen, dass ab morgen acht Stunden Knochenarbeit auf die Söhne des Südens warten, 400 Meter tief unter der Erde.«

»Machen Sie das Fenster zu, Bernhard.« Dr. Waltraud trat zurück. »Warum sind Sie eigentlich Zechenarzt geworden? Mit Ihrem Sarkasmus hätten Sie eine glänzende klinische Karriere machen können.«

Dr. Pillnitz schloss das Fenster. Waltraud Born hörte gerade noch die Worte: »… die geschichtliche Freundschaft unserer Völker …«, dann knallte das Fenster zu.

»Mein Vater war Bergmann«, sagte Dr. Pillnitz plötzlich ernst. »Er starb an einer Silikose. Damals starben mehr als 40% aller Bergleute daran. Ich habe mir unter Tage das Geld für das Studium verdient und mir geschworen, meinen Kumpels zu helfen, wenn ich es einmal schaffe und Arzt bin. Man soll solche Schwüre nie vergessen, Waltraud.«

Dr. Born schwieg. Sie sah Dr. Pillnitz plötzlich mit anderen Augen an. Zum ersten Mal erfuhr sie etwas Privates von ihm. In dem halben Jahr, in dem sie nun schon zusammen das Krankenrevier der Zeche Emma II betreuten, hatte es bisher nur berufliche Diskussionen oder läppische Neckereien zwischen ihnen gegeben. Sie wusste eigentlich nicht mehr von Dr. Pillnitz, als dass er unverheiratet war, weil seine Verlobte bei einem Autounfall gestorben und er seitdem von einer merkwürdigen Scheu Frauen gegenüber war, wenn er spürte, dass sie sich für ihn zu interessieren begannen. Er bewohnte eine Neubauetage, verkehrte in keiner Wirtschaft Buschhausens, hatte keinen Stammtisch, trat nicht dem neu gegründeten Tennisclub bei und war lediglich zahlendes Mitglied des Brieftaubenvereins und ehrenhalber Sportarzt des Fußballvereins Buschhausen 09. Ein Sonderling, hieß es in Buschhausen, ein guter Arzt, aber ein scharfer Hund, wenn’s um das Krankschreiben ging. Bei der Zechenleitung war er nicht gerade beliebt, weil er das sagte, was er dachte, unverblümt, ohne diplomatische Schnörkel, frei heraus wie ein Bergmann, der er trotz des weißen Kittels geblieben war.

Dr. Waltraud lauschte. Draußen wurden noch immer Reden gehalten. »Verstehen die denn, was man ihnen sagt?«, fragte sie. Dr. Pillnitz lächelte wieder.

»Warum? Es genügt, dass die das Gefühl haben, ehrenvoll empfangen zu werden. Wenn Sie in Venedig in einer Gondel fahren und ein Gondoliere singt Sie an, verstehen Sie ja auch nichts. Aber schön finden Sie’s. Darauf kommt’s an.«

Im Hof redete nun der Lagerleiter. Er war der Einzige, der Italienisch sprach, zwar mühsam, aber die grinsenden Italiener verstanden ihn wenigstens und klatschten und jubelten nach jedem Satz. Sie hörten von gutem Essen, heimatlicher Küche, guten Zimmern und vorbildlicher Hygiene, ließen einen Vortrag über Benehmen und Sauberhaltung der Unterkünfte über sich ergehen und sahen zu den Fenstern des Verwaltungsgebäudes hinauf, wo sich einige Mädchenköpfe zeigten. Da schnalzten sie mit den Zungen und warfen sich in die Brust.

Der Lagerleiter sprach reichlich lange. Dem Transport der ersten 120 Italiener für Zeche Emma II war eine hektische Vorbereitung vorausgegangen. Das Wohnproblem hatte man schnell gelöst. 400 Meter von Schacht V entfernt standen noch die Barackenlager aus dem Krieg, in denen einmal 400 russische Kriegsgefangene gehaust hatten. Es waren langgestreckte, grün gestrichene Gebäude aus Holz, mit einem Sammelwaschraum, einigen Kaninchenställen und einem sogenannten Revier, in dem bis 1945 die furunkelkranken und halbverhungerten Russen von sowjetischen Feldschern und einem deutschen Sanitäter behandelt worden waren. In den Jahren nach dem Krieg waren die Baracken verrottet, die Dächer angefault, die Leitungen verrostet. Aus der Küchenbaracke hatte man die Kochkessel entfernt. In den Wassertrögen nisteten Hühner oder warfen Katzen ihre Jungen.

Drei Monate lang wurden die Baracken wieder in Ordnung gebracht, bis sie bewohnbar waren. Aber selbst der schönste grüne Anstrich konnte nicht den doppelten Stacheldrahtzaun vergessen machen, der noch aus dem Krieg stammte. Er umzog das ganze Lager und trennte es von der Außenwelt. Ein breites Tor war der einzige Weg in die Freiheit.

»Die werden sich daran gewöhnen«, hatte Direktor Dr. Sassen bei der letzten Besprechung gesagt. »Schließlich bekommen sie saubere Zimmer, Toiletten, Waschräume, einen Aufenthaltsraum, gute Betten … so haben die Brüder noch nie in ihrem Leben gewohnt. Wichtig scheint mir fürs Erste zu sein, den Zaun zu belassen. Sie kennen unsere jungen Burschen, meine Herren, und wir kennen die Mentalität der Sonnensöhne, für die ein Rock das Signal zum Angriff ist!«

In der letzten Reihe der 120 Italiener stand auch Luigi Cabanazzi. Er war der Einzige, der nicht direkt aus Sizilien kam. In München war er zu dem Transport gestoßen, mit ordentlichen Papieren. Man nahm ihn mit, weil sich gerade in München ein unliebsamer Zwischenfall ereignet hatte. Bei dem sechsstündigen Aufenthalt auf dem Hauptbahnhof bis zur Weiterfahrt nach Gelsenkirchen war der Italiener Giulio Bosco verschwunden. Man hatte gesehen, wie er durch die Sperre gegangen war. Zurück aber kam er nicht. Man nahm an, dass er in München untertauchte, und war froh, als sich Luigi Cabanazzi meldete und den Transport von 120 Mann wieder vervollständigte.

Nun stand Cabanazzi auf dem Hof der Zeche Emma II und sah sich um. Schon während der Fahrt durch Buschhausen hatte er Dinge gesehen, um die er sich kümmern wollte … ein Geschäft mit schönen Anzügen, eine Wirtschaft mit dem Namen »Onkel Huberts Hütte«, ein Kino, in dem man einen Film von Vittorio de Sica spielte, und einige schöne Mädchen auf hochhackigen Schuhen, die in Cabanazzi ein kribbeliges Gefühl erzeugten.

Das Leben kann schön sein, dachte er und lächelte versonnen. Ich werde dafür arbeiten müssen, sicherlich … aber die Stunden des dolce far niente würde man ausfüllen mit der Süße des Lebens, die sich einem auftut, wenn man schwarze Locken hat, dunkle, sprechende Augen und einen Mund, der zärtlich sagt: O bella bionda …

Genau zwei Stunden später, wie es Dr. Pillnitz vorausgesagt hatte, wurden die neuen Kumpels von Schacht V zum Krankenrevier geführt.

Die Stimmung war merklich gesunken. Die ersten Proteste waren bereits verhallt, die ersten Auseinandersetzungen mit gestenreichen Gebärden überstanden. Da waren zunächst die Baracken mit den Zimmern, in denen zehn Mann schlafen mussten. Und da war der verfluchte Stacheldrahtzaun, den man nicht übersehen konnte. Und dann die Küche – o mamma mia! – undenkbar, dass man darin Spaghetti oder gar eine gute Pizza zubereiten konnte. Das waren Kessel für deutsche Erbsensuppe, aber nicht für Makkaroni oder eine schöne Pasta al brodo. Alles in allem aber … es war besser als in der verfallenden Hütte von Postamente am Meer, wo die Ziege neben dem Bett lag und die Hühner auf dem Tisch herumspazierten. Und außerdem hatte die Zechenleitung versprochen, alles noch zu verbessern. Für den Anfang ließ es sich leben. Auch Gott hat die Welt nicht in einem Tag erschaffen.

»An die Gewehre!«, sagte Dr. Pillnitz, als sich das Wartezimmer mit dem ersten Schub füllte. »Ich gehe mal raus und lasse die den Oberkörper freimachen. Ich nehme an, dass Ihnen die Herz-Lungen-Untersuchung am angenehmsten ist. Das andere mache ich dann schon.«

»Wenn Sie nur nicht so viel und so dumm reden würden, Bernhard.« Dr. Waltraud drückte sich die beiden Enden des Membranstethoskops in die Ohren. Dr. Pillnitz verließ das Untersuchungszimmer. Durch die angelehnte Tür hörte Waltraud mit Verwunderung, dass er seine Anweisungen auf Italienisch gab. Dann raschelten Kleidungsstücke, Füße schabten, Gemurmel und einmal ein Lachen waren zu vernehmen.

Dr. Pillnitz kam zurück. Ihm folgten die ersten zehn mit nacktem Oberkörper, die meisten mit den Händen ihre Hosen festhaltend. Schmächtige, knochige Gestalten, an denen man die Rippenbögen abzählen konnte wie Leitersprossen. Dünne Hälse, hervorstechende Schulterblätter. Menschen, die wussten, was hungern heißt. Dr. Pillnitz ließ sie sich an der Wand aufstellen.

»Die ersten Adonisse!«, sagte er. »Waltraud, wem reichen Sie den goldenen Apfel?!«

»Prego!«, sagte sie kurz und winkte dem ersten Italiener. Es war Luigi Cabanazzi. Er stand an der Wand und ließ keinen Blick von Dr. Waltraud Born. Ihm schien, als habe er noch nie ein so schönes Mädchen gesehen. Lange, blonde Haare, unter dem weißen Arztkittel der Körper einer Venus, lange, schlanke Beine, das Gesicht einer Madonna … für Cabanazzi begann die Welt zu leuchten, und je heller es um ihn wurde, desto heißer pulste ihm das Blut durch die Adern.

Waltraud winkte noch einmal, als Cabanazzi sich nicht rührte. »Prego!«, sagte sie wieder. Sie blickte zur Seite und sah, wie Dr. Pillnitz am anderen Ende der Zehnerreihe begann und den ersten Patienten auf Leistenbrüche abtastete. Plötzlich erschrak sie leicht, sie fuhr zusammen. Cabanazzi stand vor ihr, sein dunkel behaarter Brustkorb wölbte sich vor ihren Augen.

»Signorina Dottore …«, sagte eine dunkle, einschmeichelnde, warme Stimme, mit einem Ton, als sänge sie ein seliges Piano. »Da isch bin.«

»Sie … Sie können Deutsch?«, fragte Dr. Waltraud einen Augenblick verwirrt.

»Bisken …« Cabanazzi lächelte strahlend. »Bella Signorina Dottore …«

Waltraud setzte das Stethoskop auf die Brust Cabanazzis. Aber sie hörte nichts. Ein Rauschen war in ihren Ohren, als hielte sie die empfindliche Membrane an einen Wasserfall. Sie zwang sich, ganz ruhig zu sein, und tastete mit dem Stethoskop hinunter zur Herzspitze Cabanazzis.

»Isch gesund …«, sagte die zärtliche, warme Stimme über ihr. Es war, als flüstere er es ihr ins Ohr. »Isch ganz gesund, Madonna.«

»Halten Sie die Luft an! Nicht atmen!«, sagte Dr. Waltraud mit belegter Stimme. Noch immer war das Rauschen in ihren Ohren. Über sich selbst zornig, presste sie die Lippen zusammen. Ich bin kindisch, dachte sie. Ich bin wirklich kindisch.

In diesem Augenblick spürte sie einen Druck. Eine braune Hand lag auf ihrer rechten Brust und streichelte sie. Mit einem Ruck fuhr sie aus der gebückten Haltung empor und stieß die Hand weg. Cabanazzis Gesicht strahlte.

»Bella!«, sagte er wieder. Dann griff er wieder zu, fester und fordernder.

Dr. Waltraud Born zögerte einen kurzen Augenblick, dann hob sie die Hand und schlug kräftig auf den Arm Cabanazzis. Es gab ein lautes Klatschen, das Dr. Pillnitz aufblicken ließ. Zunächst sah er nur die breit grinsenden Gesichter der Männer an der Wand, dann blickte er zu Waltraud und Cabanazzi und sah, wie sie bemüht war, sich gegen den Mann zur Wehr zu setzen.

»Verdammt!«, stieß Dr. Pillnitz hervor. Mit ein paar Schritten war er bei Cabanazzi, packte ihn am Genick und riss ihn herum. Die Augen Cabanazzis flammten auf, als er in das entschlossene Gesicht des Arztes blickte. Er wollte sich dem Griff des Arztes entwinden, aber das gelang ihm nicht. Zwei harte Hände hielten ihn fest und beförderten ihn aus dem Untersuchungszimmer hinaus in den Warteraum.

Vierzig Augenpaare starrten auf den Landsmann, der plötzlich durch einen Arzt in ihre Mitte gestoßen wurde. Sie schwiegen. Ihre Blicke, die Cabanazzi galten, waren abweisend. Nur Mario Giovannoni, der sich auf der Fahrt mit ihm angefreundet hatte, weil er aus der gleichen Küstengegend stammte, ging auf ihn zu.

»Was ist denn, Luigi?«, fragte er. »Was war denn da los?«

»Nichts.« Cabanazzi griff nach seinem Hemd und zog es wieder über. »Es gibt nur einige Gesichter, die man sich merken muss.«

Im Untersuchungszimmer wusch sich Dr. Waltraud die Hände, als habe sie sie beschmutzt. Dr. Pillnitz reichte ihr ein Handtuch.

»Danke, Bernhard«, sagte sie leise. »Vielleicht lag es auch an mir. Ich habe mich nicht vorgesehen. Wollen Sie den Vorfall der Werkleitung melden?«

»Warum?« Dr. Pillnitz schüttelte den Kopf. »Der dachte sich vielleicht gar nichts dabei. Ich habe nur Angst davor, wie unsere Jungs reagieren werden, wenn diese 120 glühenden Südländer Samstag und Sonntag in Buschhausen ausschwärmen werden.«

Zunächst schien es, als merke man den Belegschaftszuwachs gar nicht. Die 120 wurden auf die einzelnen Schichten verteilt, sie kamen vor Ort, halfen dem Schießsteiger beim Tragen der Sprengladungen, arbeiteten als Schlepper, stemmten sich mit den Bohrhämmern gegen den Fels und bohrten in das Flöz die Löcher für die Sprengungen, verkästeten die Strecke, halfen am Bremsfördergestell oder arbeiteten mit den Kolonnen, die von einem neuen Förderquerschlag aus das Hochbrechen des neuen Wetterschachtes ausführten.

Auch in der Waschkaue fielen sie nicht auf. Sie waren schwarz wie die anderen, sprangen nackt unter die dampfende Brause und wuschen den fetten Kohlenstaub von ihren glänzenden Leibern. In ihren Baracken hatten sie sich schnell eingewöhnt und innerhalb von zwei Tagen die Atmosphäre sizilianischer Leichtigkeit verbreitet. Wäsche flatterte an Leinen von Baracke zu Baracke, Gitarren erklangen abends, an den Wänden hingen Chiantiflaschen und die bunten Bilder der Heimat. Es roch nach Tomatensoße und Parmesan, alter Salami und heißem Olivenöl. In der Küche arbeiteten vier Köche und stellten auf langen Nudelbrettern Ravioli her. Ein großer Kessel mit Tomatensoße stand immer unter Feuer. Am Sonntag, das wurde mit echtem südländischem Jubel aufgenommen, sollte es eine Minestrone geben, wie zu Hause in Postamente.

Auch die deutschen Kollegen waren vorerst freundlich und halfen den Söhnen des Südens, sich unter Tage und vor Ort zurechtzufinden. Ein wenig lächelten sie über den Eifer, mit dem sich die Italiener an die Arbeit machten, wie sie mit der Keilhaue gegen die Kohle wüteten und unermüdlich, Stunde um Stunde, an der Spannsäule standen und die Bohrmaschine gegen das Gestein trieben. Willi Korfeck sprach das aus, was die anderen dachten: »Das machen die nur ein paar Tage, dann fallen die vom Fleisch. Und wenn die uns den Rhythmus verderben, muss man mal Deutsch mit ihnen reden.«

In den Wirtschaften wurde das Thema Fremdarbeiter fleißig diskutiert. Nach Schichtwechsel traf man sich am Tresen, kippte seinen Korn und hinterher das Bier, kratzte sich den Kopf und sah das ganze Problem zunächst von der falschen Seite.

»Es ist alles Scheiße, von wegen Wirtschaftswunder und Vollbeschäftigung, und was die Knilche von der Gewerkschaft uns vorquatschen«, sagte der Hauer Theo Barnitzki. Man nickte ihm beifällig zu, denn Barnitzki war etwas Besseres, er machte seit einiger Zeit in Abendkursen einen Lehrgang als Steiger mit. »Verdienen wollen die, immer mehr und mehr verdienen, das ist alles. Bisher hat auf Emma II alles geklappt, und wenn ihr euch die Halden anseht und das Geschrei über die Absatzkrise – Jungs, warum sollen wir immer mehr fördern? Aber nein, da holt man die Itacker nach hier – und es sollen noch zweihundert dazukommen! – Im Schacht stehen sie nur im Weg, weil man mit ihnen wie mit Taubstummen sprechen muss, mit Händen und Füßen, die Halden wachsen und wachsen, Jungs, sagt mal selbst: Wo ist denn da noch ein Sinn?« Er feuchtete seine trockene Kehle erneut mit einem Korn an und hieb mit der Faust auf den kleinen, runden Tisch mit der Kunststoffplatte. »Ich sage euch, das gibt einmal eine riesige Pleite! Und wer ist in’n Fot gekniffen? Wir! Wie immer! Dem Sassen tut dann kein Zahn mehr weh … der hat seine Millionen im Sack!«

Die Stimmung in Buschhausen richtete sich also bald nach dem Eintreffen der Fremdarbeiter gegen diese. Aber nicht allein in den Wirtschaften warf der Zuwachs der Belegschaft Schatten auf die Gemüter, auch in den kleinen, schmucken Siedlungshäusern war dieses Thema ebenso aktuell wie in der Villa des Grubendirektors, Dr. Ludwig Sassen.

Am Sonntag lag eine merkwürdige Stille über Buschhausen. Die jungen Buschhausener waren nach Gelsenkirchen gefahren, um Schalke 04 zuzujubeln. Die älteren gruben ihre Gärten um oder kümmerten sich um ihre Brieftauben. Es war ein schöner Frühlingstag, warm und fast windstill. Der Rauch aus den hohen Schornsteinen der nahen Kokerei stieg fast senkrecht in den blauen Himmel, das Seilscheibengerüst des Förderschachtes V hob sich gegen das wolkenlose Blau wie ein bizarrer, schwarzer Scherenschnitt ab.

Hans Holtmann saß zufrieden auf der Bank an der Gartenwand seines Häuschens und rauchte eine Pfeife. Elsi, seine Frau, und Barbara, seine Tochter, saßen vor ihm an einem selbstgeschreinerten Tisch und putzten holländischen Blumenkohl für das Mittagessen. Sohn Kurt war in Gelsenkirchen.

»Was gibt’s heute im Fernsehen?«, fragte Hans Holtmann und drückte mit dem Daumen den glimmenden Tabak tiefer in den Pfeifenkopf. Dass er daraufhin den schmutzigen Daumen an der Hose abwischte, war ein Ärgernis, mit dem Elsi Holtmann sich seit zehn Jahren herumschlug. Strafend sah sie auf die Hand, und Holtmann versteckte sie mit einem wie um Verzeihung bittenden Lächeln unter der Tischplatte.

»Guck mal, wer da kommt«, sagte Barbara, ehe die Frage nach dem Fernsehen beantwortet werden konnte. »Das ist doch einer von den Italienern.«

Über die Straße fuhr langsam auf einem Fahrrad Luigi Cabanazzi. Die Geschichte des Fahrrades war ein Roman für sich. Es hatte im Krieg dem deutschen Wehrmachtsposten gehört, der die Russen jeden Morgen um 5 Uhr zum Schacht V gebracht hatte. Dann war das Rad jahrelang in einem Schuppen des Lagers herumgelegen, unbemerkt, unter Bauholz und Trümmern. Auch beim Herrichten des Lagers für die Italiener hatte man es nicht entdeckt, weil man den Schuppen noch nicht brauchte. Luigi Cabanazzi aber fand es, als er seine Umgebung inspizierte. Es war seine Angewohnheit, jeden neuen Ort, an den er kam, erst genau zu untersuchen, so wie ein Hund eine fremde Gegend abschnüffelt, um alles kennenzulernen. Zweimal war ihm das schon von Nutzen gewesen und hatte ihn gerettet, aber das wusste man in Buschhausen nicht. Es war ein Geheimnis, das Cabanazzi mit sich herumtrug. Ein Geheimnis, das ihn zu größter Vorsicht mahnte und ihn immer auf der Hut sein ließ wie einen gejagten Wolf.

Cabanazzi blickte von der Straße hinüber zu dem kleinen Siedlungshaus, das aussah wie alle Häuser in dieser stillen Straße. Ein spitzes, rot gedecktes Dach, ein Vorgarten, ein schmaler, langer Hintergarten, drumherum eine Hecke, ein paar Obstbäume, ein Kaninchenstall, im Dach eingelassen ein Taubenschlag. Alles zusammen eine kleine, in sich abgeschlossene, saubere, glückliche Welt. Das Besondere aber dieses Hauses war das Aufleuchten von blonden Haaren in der Sonne; es war ein Anblick, der Cabanazzi sofort zum Bremsen reizte. Er schob das Rad an den Gartenzaun, hob sich auf die Zehenspitzen, blickte über die Hecke und zeigte sein schönstes Lächeln.

»Buon giorno«, sagte er und winkte. »Schönes Tag heute.«

»Ja.« Hans Holtmann hielt die Pfeife mit den Zähnen fest und suchte nach der Sonntagszeitung, um so zu demonstrieren, dass er an einer Unterhaltung nicht interessiert sei. Cabanazzi aber fuhr fort, Barbara Holtmann anzustrahlen. Wie schön, dachte er. Wie jung. Wie wundervoll blond. Und wenn sie lacht, wie jetzt, hat sie ein Grübchen in der linken Wange.

Er wandte den Blick von Barbara ab und sah Elsi Holtmann an. »Buon giorno, Signora«, sagte er höflich. »Nicht Weggehen bei schönes Wetter?«

»Nein!«, sagte Holtmann laut, ehe Elsi antworten konnte. »Was wollen Sie?«

»Isch Luigi Cabanazzi …«

»Da haben Sie aber Glück gehabt …«

»Bittä?«

»Aber Vater!« Barbara legte den Blumenkohl auf den Tisch. »Er ist doch so nett …«

Hans Holtmann blies in seine Pfeife und erhob sich von der Gartenbank. Langsam kam er auf die Hecke zu und blieb zwei Meter vor Cabanazzi stehen.

»Noch was?«, fragte er mit deutlichem Knurren. Luigi Cabanazzi winkte Barbara zu und setzte sich auf sein Rad.

»Schönes Tag noch!«, rief er. Sein braunes Gesicht unter den schwarzen Locken leuchtete, als könne es das Sonnenlicht speichern. »Schönes Sonntag …«

Hans Holtmann trat erst wieder vom Zaun zurück, nachdem Cabanazzi um die Ecke gebogen war. Er sah seine zwei Frauen verschlossen und wütend am Tisch sitzen und weiter Gemüse putzen.

»Du hast dich unmöglich benommen, Vater!«, sagte Barbara, als Holtmann brummend seine Zeitung aufschlug. »Er hat dir gar nichts getan!«

»Und höflich war er auch!« Elsi Holtmann begann mit dem Kartoffelschälen. »Davon könnte mancher sich eine Scheibe abschneiden.«

»Prost Mahlzeit!« Holtmann stand auf und ließ die Zeitung auf den Tisch fallen. »Ich geh in ‘n Schlag. Die Tauben quatschen wenigstens nicht.«

Der Sonntagvormittag war ihm verdorben. Nach dem Essen gehe ich zu Lorenz, dachte er, und trinke mir einen an. Kaum sehen die Weiber einen schwarzen Lockenkopf, stellen sie sich auf dessen Seite. Das kann ja lustig werden in Buschhausen, wenn bald 350 von dieser Sorte herumrennen. Darum sollte sich mal die Gewerkschaft kümmern, und nicht nur um die Beiträge!

Er stieg hinauf unters Dach und öffnete den Taubenschlag. Hans Holtmann war bekannt als einer der besten Taubenzüchter rund um Gelsenkirchen.

Der Morgenkaffee wurde auf der Terrasse unter der weit ausgezogenen, orangefarbenen Markise serviert. Weiß lackierte französische Gartenmöbel mit dicken, buntgeblümten Polstern leuchteten in der Sonne. Der parkähnliche Garten lag in tiefer Sonntagsruhe, auf dem frischgrünen Rasen drehten sich lautlos zwei Rasensprenger. Das Hausmädchen Erna hatte den Kaffee bereits auf die Warmhalteplatte gestellt und wartete nun auf das Erscheinen der Familie Sassen.

Die Villa des Zechendirektors Dr. Sassen lag etwas außerhalb Buschhausens in einem aufgeforsteten Haldengelände. Die künstlichen Hügel mit den Birken und Fichten, Nussbüschen und Buchenheistern erzeugten die Illusion einer reizvollen, fast romantischen Mittelgebirgslandschaft. Wenn man aber auf den Kuppen der grünen Hügel stand, zerstob die Illusion. Der Blick schweifte über das Zechenland … Hallen, Ziegelbauten, Kokereien, Fördertürme, Wetterschächte, Schornsteine, Siebereien und Verladerampen, Schuttplätze und Schmutz. Dazwischen ein schmaler Wasserlauf, oft verschlammt, ölig und ohne Leben in seinen Fluten.

Aber hier, geschützt von Baumgruppen, befand man sich in einem kleinen Paradies. Die neue Villa hatte Dr. Sassen vor acht Jahren bauen lassen, als er zum zweiten Mal geheiratet hatte. Seine erste Frau war plötzlich an einem Herzschlag gestorben, weit weg von Gelsenkirchen, in einer Bucht von Ischia. Erhitzt war sie ins Wasser gesprungen, hatte noch einmal die Arme emporgeworfen und war dann versunken. Als zwei Sporttaucher sie aus dem Meer zogen, waren alle Wiederbelebungsversuche schon sinnlos. Fünf Jahre hatte Dr. Sassen dann als Witwer gelebt, bis er auf einem Empfang die junge und attraktive Veronika Bender kennengelernt hatte. Noch einmal begann sein Herz zu glühen, und kurz entschlossen heiratete er sie. Ein Jahr später kam Oliver zur Welt, heute noch mit seinen sieben Jahren der Mittelpunkt der Familie Sassen. Seine Geschwister aus Dr. Sassens erster Ehe, die schwarzhaarige Sabine mit ihren 21 Jahren und Dr. Fritz Sassen, 26 Jahre alt, benutzte er als Quelle guter Nebeneinnahmen, denn immer dort, wo er nicht sein sollte, tauchte Oliver auf und wechselte Beobachtungen in klingende Münze um. Dr. Fritz Sassen nannte seinen Halbbruder deshalb ein »geborenes Finanzgenie«.

Veronika Sassen, mit ihren 28 Jahren, war es gewohnt, dass man sich nach ihr umdrehte. Groß, schlank, mit rötlich gefärbten Haaren, dem Schritt einer Society-Prinzessin und der spöttischen Überlegenheit einer Frau, die weiß, dass ihre Gegenwart Unsicherheit bei anderen hervorruft, zog sie allen Glanz auf sich, den Dr. Ludwig Sassen zu vergeben hatte. Sie war Mittelpunkt der Gesellschaften und Empfänge, Mittelpunkt der Familie und das große Glück des alternden Dr. Sassen. Noch spürte er den Altersunterschied von 27 Jahren nicht so sehr, zumindest zeigte er es nicht. Er hatte sich im Garten eine Sauna gebaut, in der er sein Gewicht drückte und um eine sportliche Figur kämpfte. Er lernte die neuesten Tänze und hielt wacker durch, wenn die Gesellschaften bis in den Morgen hinein dauerten. Er tat überhaupt alles, um seiner jungen Frau Veronika das Leben zu bieten, das sie sich ersehnte. So hart Dr. Sassen als Industrieller war, so weich war er als Ehemann einer viel jüngeren Frau, die er anbetete mit der stummen Ergebenheit eines Tieres, das glücklich über jedes Streicheln, über jede kleine Liebkosung ist.

Sein Sohn Fritz war anders. Braungebrannt, sportlich und hochintelligent, begegnete er seiner Stiefmutter, die nur zwei Jahre älter war als er, zwar mit der gebührenden Höflichkeit – aber reserviert. Man sprach miteinander wie unter guten Freunden, doch innerlich, das spürte jeder von ihnen, lauerte eine gegenseitige Abwehr, ein Harren auf den Moment, in dem etwas Greifbares eine Explosion auslösen konnte. Worauf jeder wartete, war keinem klar; man wusste nur, dass es einmal kommen würde.

An diesem schönen Frühlingsmorgen trat Veronika Sassen in einem engen, silberglänzenden Hausanzug auf die Terrasse. Ihr rötliches Haar hatte sie frei über die Schulter fallen. Die Verbindung von Silber und Rot war faszinierend und atemberaubend. Dr. Sassen jr., der aus einem anderen Trakt der langgestreckten Villa zur Terrasse kam, küsste Veronika die Hand und schob ihr einen der Gartensessel zu.

»Sabine lässt sich entschuldigen«, sagte er. »Sie ist schon zum Tennis gefahren. Kommt Papa auch zum Kaffee?«

»Er telefoniert gerade.« Die Stimme Veronikas war melodiös. »Irgendetwas wegen der Italiener. Der Lagerleiter, glaube ich …«

Dr. Sassen setzte sich. »Da sind überhaupt mancherlei Probleme …«

»So?«

»Du wirst verzeihen, wenn ich nachher mit Papa über diese Dinge spreche …«

»Aber bitte. Ich bin es ja gewöhnt …« Es klang höflich, doch der Vorwurf war nicht zu überhören. Veronika goss sich Kaffee ein und suchte unter den abgedeckten Toastschnitten nach einer besonders braunen, knusprigen Scheibe.

Zusammen mit dem kleinen Oliver kam Dr. Ludwig Sassen aus dem Haus. Er hatte sich sportlich-jung gekleidet. Weiße Hosen, weißer Pullover mit blauem Rollkragen, die ergrauten Haare glatt zurückgekämmt, weiße Schuhe. Sein energisches Gesicht mit den lebendigen blauen Augen war gebräunt. Gesundheit, gespendet von der Strahlkraft der Höhensonne, unter der er jeden Tag eine Viertelstunde lang lag. Auch das gehörte zu seinen Bemühungen, an der Seite Veronikas nicht abzufallen.

»Ein herrlicher Tag!«, rief er und breitete die Arme weit aus. Dann küsste er Veronika auf die Haare und sagte das, was er jeden Morgen sagte: »Du siehst wieder bezaubernd aus, Vroni …«

»Danke, Louis.« Veronika lächelte gönnerhaft. Sie nannte ihren Mann mit dem französischen Vornamen. Ludwig, das klingt nicht gut, hatte sie gleich nach der Hochzeit gesagt. Dr. Sassen hatte es sofort eingesehen. Was Vroni tat oder sagte, war für ihn über jede Kritik erhaben.

»Guten Morgen, mein Sohn!«, sagte Dr. Sassen fröhlich und gab Fritz die Hand. »Sabine?«

»Beim Tennis.«

»Einer fehlt immer! Es scheint unmöglich zu sein, die ganze Familie einmal geschlossen um den Tisch zu versammeln.« Er setzte sich und ließ sich von seiner Frau den Kaffee einschenken. »Hast du etwas vor, Fritz?«

»Eigentlich nicht.« Fritz Sassen nahm ein Stück Sandkuchen. »Was wollte der Lagerleiter, Vater?«

»Der … Ach so.« Dr. Sassen blickte fragend auf Veronika, die nickte.

»Ich habe ihm von dem Telefonat erzählt, Louis.«

»Ach, nichts Wichtiges.« Dr. Sassen bestrich ein Toaststück mit Butter und ließ von einem silbernen Löffel Honig darauftropfen. »Es geht um die Umstellung der Italiener. Klimatische Schwierigkeiten, weißt du. Auch Dr. Pillnitz hat mich darüber informiert. Einige der Leute haben Kopfschmerzen und Erbrechen. Auch die andere Ernährung …«

Fritz Sassen schob seinen Teller etwas von sich weg. Sein Gesicht war ernst.

»Nimmst du das nicht alles ein bisschen leicht, Vater?«, fragte er.

Dr. Sassen biss in den Toast.

»Wieso?« Er kaute und zog die buschigen Augenbrauen zusammen. »Wenn ich nach Italien reise, habe ich auch in den ersten Tagen vom Olivenöl Durchfall.«

»Die Ursache ist eine andere, Vater.«

»Ich bitte euch, es ist Sonntag, und ich will wenigstens beim Frühstück nichts vom Betrieb hören.« Veronika hob beide Hände. Ihr Lächeln war gefroren. »Habt ihr keine anderen Themen?«

»Ich habe gestern im Labor vierzehn Luftproben durchgerechnet.« Fritz Sassen sah an seiner Stiefmutter vorbei, in das Gesicht seines Vaters. Es war abweisend. Vroni hatte um ein anderes Thema gebeten, und es war ungehörig, ihren Wunsch so zu ignorieren.

»Na und?«, fragte Dr. Sassen unfreundlich.

»Der CO2-Gehalt der Luft ist höher als normal. Deshalb die Übelkeit der Männer, die Kopfschmerzen, das Schwindelgefühl. Nicht das Klima in Deutschland ist es, sondern unser Klima in Schacht V trägt die Schuld! Wir täufen jetzt in 800 Metern den Schacht ab und gehen auf die sechste Sohle. Der Wetterschacht aber, den wir haben, ist zu eng! Der Saugkanal und der Lüfter reichen nicht aus! Wenn wir das sechste Flöz aufbrechen, kann es zu einer Katastrophe kommen, Vater! Wir müssen größere Lüfter einbauen … von Sohle vier ab automatische Absauger …«

Dr. Sassen legte seinen Toast auf den Teller zurück. Veronika spielte mit ihrer Scheibe, sie war nervös und verärgert. Immer diese verdammte Zeche, dachte sie. Wie herrlich wäre es, gleich in den Wagen zu steigen und wegzufahren … zu Susanne, die eine Gartenparty gibt, oder zum Baldeney-See, auf dem die Segeljacht der Sassens schaukelt.

»Überprüfe deine errechneten Werte noch einmal«, knurrte Dr. Ludwig Sassen.

»Das habe ich. Dreimal! Sie stimmen! Wir brauchen …«

»Was wir brauchen, mein Junge, weiß ich gut genug. Um Emma II auf den neuesten Stand zu bringen, ist eine Investition von 120 Millionen notwendig. Das ist an sich kein Problem … aber es wird eines, wenn man weiß, dass Flöz acht das letzte Flöz auf Schacht V ist! Danach ist Sense! In fünf oder acht Jahren wird Schacht V geschlossen werden, weil er nicht mehr rentabel ist. Das weißt du doch auch alles, Fritz!«

»Aber die Sicherheit, Vater …«

»Es ist bisher gegangen, es wird auch noch fünf Jahre so gehen!«

»Und die Verantwortung dafür willst du übernehmen?«

»Ich bin der Generaldirektion gegenüber verantwortlich, Emma II rentabel zu halten! Es wäre völlig sinnlos, 120 Millionen zur Modernisierung einer Anlage zu verlangen, die in der Planung bereits abgeschrieben ist.« Dr. Sassen griff wieder nach seinem Toast. »Reden wir nicht mehr darüber, mein Junge. Vielleicht hatte der Lüfter gerade eine Stromstörung, als du die Proben genommen hast.«

»Wäre es nicht besser, der Generaldirektion die Luftproben vorzulegen, Vater?«

»Damit sie dort zu den Akten gelegt werden?«

»Es nimmt die alleinige Verantwortung von uns.«

»Nicht nötig, Fritz.«

»Auch Dr. Pillnitz ist der Ansicht.«

»Pillnitz?« Dr. Sassen zog die Augenbrauen zusammen. »Er soll sich um seine Kranken kümmern und nicht um die Bergbelüftung. Ich werde morgen mit ihm sprechen.« Dr. Sassen trank seine Tasse Kaffee leer. »Was sagen denn die Wettersteiger?«

»Noch nichts.«

»Na also!«

»Aber ihre Messgeräte schweigen nicht.«

»Mein Gott! Heute ist Sonntag! Ich bin dafür, dass wir das Gespräch bis morgen vertagen, Fritz. Kommst du mit zum See?«

»Nein, danke, Vater.« Es klang steif, abweisend, eine Barriere zwischen Vater und Sohn errichtend. Dr. Sassen zuckte mit den Schultern und stand auf. Oliver lief bereits voraus über den Rasen zu dem Gartenhaus. Er holte sein kleines Segelboot, das er an der Jacht in den Schlepp nehmen wollte. Veronika blieb noch sitzen. In ihren Augen blinkte es zufrieden. Er hat sich innerlich von seinem Sohn aus erster Ehe entfernt, dachte sie. Sein Herz hängt viel mehr an Oliver und an mir. Es war so einfach für mich gewesen, das zu schaffen. Ich führe ihn an meiner Leine, wie ich will.

»Gehen wir!«, sagte Dr. Sassen. »Du bist so still, Vroni …«

»Ich mache mir auch Sorgen wegen der schlechten Luft im Schacht«, heuchelte sie.

»Quatsch!« Dr. Sassen sah seinen Sohn böse an. »Ich bitte darum, Fritz, solche Dinge in Zukunft nicht mehr in Gegenwart von Veronika zu besprechen.«

»Ich werde es mir merken, Vater.«

Dr. Fritz Sassen wartete, bis die Familie das Haus verlassen hatte. Er wanderte dann unruhig im Park umher und sagte sich zum wiederholten Male, dass es unverantwortlich, ja strafbar sei, weiter zu schweigen und nicht die Generaldirektion zu verständigen, auch auf die Gefahr hin, sich dort unbeliebt zu machen.

Während Dr. Sassen, Oliver und das Hausmädchen Erna die Ausrüstung für den Segelausflug zum Wagen brachten, stand Veronika vor der Garage in der Sonne. Sie war noch immer mit ihrem engen, silbernen Hausanzug bekleidet; erst auf dem Boot wollte sie sich umziehen.

Um die Ecke der geteerten Straße bog in diesem Augenblick auf seinem Rad Luigi Cabanazzi. Als sei er geblendet, bremste er scharf, sprang vom Sattel und starrte Veronika Sassen wie eine überirdische Erscheinung an.

»Mamma mia!«, sagte er laut und atmete tief ein. Dann verbeugte er sich galant, lächelte, fuhr sich mit der Hand durch die schwarzen Locken und sah sie an mit Augen, in denen offen alles zum Ausdruck kam, was ihn gerade bewegte.

Veronika erwiderte seinen Blick keineswegs. Ihr schmales Gesicht war kalt wie Marmor … Als Cabanazzi nicht aufhörte, sie aufdringlich zu mustern, wandte sie sich mit einer brüsken Bewegung ab. Aus der Garage kam Dr. Sassen, schwitzend, kurzatmig und hochrot im Gesicht. Er hatte eine Liege zum Wagen getragen und ärgerte sich innerlich, dass ihn so etwas anstrengte.

Luigi Cabanazzi schwang sich auf sein Rad und grüßte höflich, als er an Dr. Sassen vorbeifuhr und zwischen einer Birkengruppe verschwand. Veronika sandte ihm einen verstohlenen Blick nach – nun auf einmal.

»War das einer von deinen neuen Italienern?«, fragte sie beiläufig.

»Sicherlich.« Dr. Sassen wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Morgen werde ich ein Schild anbringen lassen: Privatweg. Benutzung verboten. Auch auf Italienisch.«

»Das wäre gut, Louis.« Veronika Sassen ging in die Garage und setzte sich in den offenen weißen Wagen.

Seine Augen waren wie zwei glühende Kohlen, dachte sie. Welche Lebenskraft ist in ihnen … welche Leidenschaft …

Sie lehnte sich in die Polster zurück und streckte sich. Neben sich hörte sie Ludwig Sassen atmen, rasselnd und angestrengt. Die Liege hatte ihn strapaziert. Er ist doch ein alter Mann, dachte sie. Alt, aber reich … und ich bin jung …

Am Abend dieses Sonntags kamen fast gleichzeitig Kurt Holtmann und Dr. Fritz Sassen nach Hause zurück.

Hans Holtmann saß noch im Garten, als sein Sohn pfeifend durch das Heckentor kam.

»Na, wie war’s?«, fragte der Vater und klopfte die Pfeife an der Hauswand aus.

»Schön, Vater!« Kurt Holtmann strich sich über die braunen Haare. Er war groß und kräftig, unter den Ärmeln des Hemdes spannten sich die Oberarmmuskeln.

»Wie hat Schalke gespielt?«

Kurt Holtmann stutzte. Diese Frage hatte er nicht erwartet. Dann sagte er keck: »4:1! Ganz toll, Vater.«

»Das glaube ich.«

»Ist Mutter da? Ich habe Hunger …«

»Wir haben nur auf dich gewartet.«

Hans Holtmann machte sich seine Gedanken. Warum lügt er? fragte er sich. Schalke hat 2:0 gewonnen. Er war gar nicht in Gelsenkirchen. Was verheimlicht er? Wo war er den ganzen Tag? Warum hat er es nötig, seinen Vater zu belügen? Das hat er doch bisher nicht getan. Nie war es zwischen uns wie zwischen Vater und Sohn gewesen, sondern immer wie zwischen zwei Freunden. Man konnte sich alles sagen. Und plötzlich log er …

Irritiert ging Hans Holtmann in sein Häuschen. Der Duft von Bratkartoffeln mit Speck kam ihm entgegen. Und Quark, angemacht mit Zwiebeln, Pfeffer, Salz, Paprika sowie Schnittlauch, gab es. Dazu eine Flasche Pilsener Bier. Ein richtiges Sonntagsessen.

Wo war der Junge den ganzen Tag, dachte Holtmann und zog an seiner Pfeife. Warum belügt er mich?

Um die gleiche Zeit verabschiedete sich Dr. Fritz Sassen von Dr. Waltraud Born. Sie standen unweit der Villa in dem Birkenwäldchen und küssten sich.

Oben auf dem Hügel lag Luigi Cabanazzi im Gras und stieß einen leisen Pfiff durch die Zähne. Er lag auf dem Bauch und kaute ein Sauerampferblatt.

Sieh an, dachte er, so ist das also. Den einen wirft man hinaus, und den anderen küsst man. Eine Hexe, diese Signorina Dottore. Aber der Gedanke schmerzte ihn nicht mehr. Cabanazzi hatte inzwischen auch Veronika Sassen gesehen und konnte ihr Bild nicht mehr vergessen, gegen welches das der Signorina Dottore verblasste … Eine Frau in einer schillernden, silbernen Haut. Und darüber wehende rote Haare, die in der Sonne leuchteten wie Flammen. Der Anblick hatte Cabanazzi ins Herz getroffen.

Am Mittwoch kam, von wenigen beachtet, ein neuer Dauergast nach Buschhausen. In einem alten Wägelchen hielt er Einzug in dem Ort und stoppte vor dem katholischen Pfarrhaus. Zwei Koffer wurden ausgeladen, dann das Wägelchen in den Hof gefahren und mit einer Plane überdeckt, als sollte sein Anblick niemanden verletzen.

Und doch war mit diesem Zuwachs über die Gemeinde Buschhausen eine Art heilige Revolution hereingebrochen: Pater Paul Wegerich war eingetroffen.

Dr. Ludwig Sassen war äußerst erstaunt, als man ihm einen Priester meldete, der ihn zu sprechen wünschte … außerhalb des für Wochen ausgearbeiteten Besuchsplans.

»Bitte …«, sagte er mit freundlicher Reserve und wies auf einen der großen Ledersessel in dem pompösen Chefzimmer. »Was führt Sie zu mir, Pater? Meine Sekretärin sagte mir, dass es dringend sei. Sie wissen ja, wir armen Industriellen haben alles, nur keine Zeit …« Er lachte etwas gezwungen und präsentierte Pater Wegerich ein Kistchen mit Zigarren.

Pater Paul Wegerich blieb stehen. Er trug Zivil und unterschied sich in nichts von einem normalen Bürger. Er war von mittlerer Größe, schlank, fast zierlich, mit schmalen, langen Händen und einem verträumten Gesicht.

»Was ich zu sagen habe, ist schnell gesagt.«

Dr. Sassen war verblüfft. Die Stimme des Paters klang sonor und kraftvoll, sie passte gar nicht zu dessen Äußerem. »Ich bitte Sie, in den Schacht einfahren zu dürfen …«

Dr. Sassen stutzte, nickte aber dann zustimmend. »Warum nicht? Wenden Sie sich bitte an den Betriebsleiter. Er wird Ihnen einen guten Steiger mitgeben, der Ihnen alles zeigt …«

»Wir missverstehen uns, Herr Dr. Sassen.« Pater Paul Wegerich faltete die Hände vor der Brust. »Ich möchte nicht nur besuchsweise einfahren. Ich möchte vor Ort arbeiten.«

»Was wollen Sie?«

Dr. Sassen starrte den schmächtigen Priester an.

»Arbeiten! Ich will ein Kumpel unter Kumpeln sein.«

»Aber warum denn?«

»Ich will denen helfen, an die Kraft Gottes zu glauben.«

»Dazu ist – soviel ich weiß – Ihr Pfarrkollege in der Kirche da.«

»Über Tage, ja. Aber es gibt Dinge, die man unter Tage besser versteht …«

»Verzeihen Sie, Pater, aber irgendwie sehen Sie mich jetzt hilflos.« Dr. Sassen steckte sich eine Zigarre an und sah dem Rauch nach. »Verstehen Sie mich nicht falsch, aber Bergmanns-Arbeit, unter Tage, vor Ort … das ist kein Zuckerlecken! Ich wüsste keinen Beruf, der ihm an Härte gleichkäme. Und wenn ich Sie so ansehe, lieber Pater …«

Dr. Sassen blickte auf die zarten Hände des Priesters, musterte dessen gelockten, braunen, jungenhaften Kopf. Der Schutzhelm allein wird ihm schon zu schwer werden, dachte er. Was glauben die Leute eigentlich, wie es in 800 Meter Tiefe aussieht? …

»Ich habe bereits in französischen und belgischen Gruben gearbeitet«, sagte Pater Wegerich schlicht. »Und es hat mich nicht umgeworfen …«

Dr. Sassen schwieg beeindruckt. Er sog an seiner Zigarre und kam sich irgendwie blamiert vor. »Mir scheint, Sie machen es sich selbst ziemlich schwer, Pater?«

»Ja, ich will sehen, ob ich sonntags mit ruhigem Gewissen in der Kirche beten kann: Herr, wir danken dir für die vergangene Woche …«

»Warum sollen Sie das nicht?«

»Man kann Gott nicht für Dinge danken, von denen man zu weit entfernt ist. Der Mensch, der kleine, arbeitende Mensch kann nicht viel sagen … er ist abhängig vom Wohlwollen seiner Arbeitgeber. Aber ich kann etwas sagen … ich habe nur Gott als Chef.«

»Eine sehr nützliche Einrichtung.« In Dr. Sassens Stimme klang dicker Sarkasmus. Was will der kleine Pater eigentlich, dachte er. Schnüffeln? Die Leute aufhetzen? Die Betriebsleitung mit Beschwerden bepflastern? Habe ich das nötig?

Pater Wegerich schien Sassens Gedanken lesen zu können. Er griff in die Innentasche seines Rockes.

»Ich habe eine Empfehlung des Herrn Bischofs bei mir.«

»Auch der Bischof kennt kein Flöz«, sagte Dr. Sassen fast grob.

»Aber er kennt die Not der Herzen, Herr Doktor.«

»Mein lieber Pater, was soll das alles?« Dr. Sassen legte seine Zigarre in den großen marmornen Aschenbecher. »Meine Zeche Emma II ist ein Musterbetrieb. Wir haben eine vorzügliche Kantine, ich habe einen guten Betriebsrat, die Gewerkschaft ist voll des Lobes über uns, ich unterhalte ein eigenes Lazarett mit zwei Ärzten und einer Schwester, ich baue Siedlungen und Einfamilienhäuser, ich habe einen Kindergarten gegründet, ich mache Betriebsausflüge, und wir haben an der Ostsee ein eigenes Ferienheim für unsere Arbeiter. Ich unterstütze die Künstlerschaft des Ruhrgebietes mit Spenden. Ich habe für das Theater einen namhaften Betrag gegeben. Ich habe den Kirchenneubau unterstützt und den Altar gestiftet. Im nächsten Jahr baue ich ein Altersheim für die Invaliden … ich glaube, das ist genug, um am Sonntag zu sagen: Gott, ich habe mich bemüht, dir gefällig zu sein …«

»Gewiss.« Pater Wegerich nickte. »Aber wenn ich trotzdem darum bitten dürfte, einfahren zu können …«

»Von mir aus. Sprechen Sie mit dem Personalchef darüber, berufen Sie sich auf mich.«

Pater Wegerich verabschiedete sich rasch. Auf dem Flur blieb er stehen und sah hinaus auf das weite Zechengelände. Sie haben alles, dachte er. Aber die Unfallquote ist dreimal so hoch wie auf anderen Zechen.

Am Freitag gellten die Alarmglocken durch den Schacht V. Die Meldung kam von der vierten Sohle. Noch wusste keiner genau, was geschehen war. Im Berg war es ruhig gewesen, die Wettermeldungen waren normal, es konnte sich nicht um ein schlagendes Wetter handeln. Der Fahrsteiger war der Erste, der unterrichtet wurde. Mit beiden Schachtfördergestellen schickte er einen Bautrupp und dicke Grubenstempel in die Tiefe. Die Betriebsleitung rief im Lazarett an.

»Ein Strebbruch«, sagte Dr. Pillnitz, als er den Hörer auflegte. »Das Hangende auf einem Teilstück der Sohle vier war schwerer als die Verkästung. Immer derselbe Mist. Wir werden einige schöne Quetschungen hereinbekommen …«