Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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Originalausgabe
1. Auflage 2020
© 2020 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
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Für die asylrechtliche Beratung danken wir ganz herzlich Herr Dr. Roman Lehner von der Universität Göttingen.
Redaktion: Sabine Franke
Umschlaggestaltung: ADOPEKID, www.adopekid.com
Umschlagabbildung: Diyalaphotography
Layout, Satz und E-Book: Daniel Förster, Belgern
ISBN Print 978-3-96775-003-4
ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-0830-3
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-0831-0
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Gewidmet meiner Mutter.
Möge jede Träne, die wegen mir,
aus deinen müden Augen gefallen ist,
ein Fluss im Paradies für Dich werden.
PROLOG
Dresden, im Winter 2010
ZYKLUS I
MASIR
PRÄLUDIUM
KAPITEL 1
Abenteuer
KAPITEL 2
Verletzung
KAPITEL 3
Abstumpfung
KAPITEL 4
Zerstörung
Bildteil
ZYKLUS II
ALQUA
KAPITEL 5
Auferstehung
KAPITEL 6
Aufstand
KAPITEL 7
Kampf
ZWISCHENSPIEL
KAPITEL 8
Erfüllung
Es heißt, dass jede Reise ein Ausdruck der rastlosen Sehnsucht nach dem Leben ist. Aber wenn das Leben selbst eine einzige Reise bleibt, dann sehnen wir uns nach einem Platz, an dem wir Rast machen können. Nach einem Platz, an dem wir Ruhe finden. Einem Ort, den wir Heimat nennen. Doch was ist schon Heimat? Ist die Heimat wirklich ein konkreter Ort oder ist sie bloß ein Gefühl, etwas, das wir nur in uns selbst finden können?
Ich starrte an die Decke und atmete tief durch. Ich war müde. Ich war wahnsinnig müde. Aber ich lag trotzdem hellwach in meinem unbequemen Etagenbett und bekam kein Auge zu. Ich hatte einfach zu viele Gedanken im Kopf. Eigentlich hatte ich schon mein ganzes Leben lang zu viele Gedanken im Kopf, aber seit einigen Wochen war alles noch viel komplizierter geworden. Auf was hatte ich mich da bloß eingelassen? Wieso hatten wir nur mit so einer Scheiße angefangen? Ich vertrieb den Gedanken wieder und zog meine Decke etwas höher. Wie spät es wohl war? 2 Uhr? 3 Uhr? Ich beobachtete eine Kakerlake, die an der Wand entlangkrabbelte. Die Viecher trauten sich nur bei Nacht raus. Ich dachte kurz darüber nach, ob ich aufstehen und sie mit meinem Schuh erschlagen sollte. Aber es hatte keinen Sinn. Sie kamen sowieso immer wieder. Die Dinger waren nicht kaputt zu kriegen.
Ich schreckte auf. Was war das für ein Knall? Ruhig, Ghassan, dreh nicht durch! Das war nichts, das waren nur die Nachbarn. Ich versuchte das Geräusch in meinem Kopf einzuordnen. Zersprungenes Geschirr. Vielleicht ein Glas oder ein Teller. Dann hörte ich Stimmen. Erst leise, dann immer lauter. Die Wände hier waren verdammt dünn. Ich versuchte die beiden Stimmen zuzuordnen. Es waren zwei Männer. Das mussten die Hamad-Brüder sein, sie wohnten links neben uns. Iraner. Ich hatte keine Ahnung, in welchem Verhältnis die beiden wirklich zueinander standen. Sie waren beide Anfang zwanzig. Vielleicht waren sie wirklich Brüder. Oder Freunde. Oder Cousins. Es war eigentlich egal. Für uns waren die beiden die Hamad-Brüder, und das würden sie auch bleiben. Die Wände hier waren so dünn, dass ich jedes einzelne Wort verstand, das gesprochen wurde. Auch wenn ich nicht begreifen konnte, was es bedeutete.
Die beiden sprachen Farsi. Persisch. Aber da war noch eine dritte Person. Und eine vierte. Ich versuchte mich auf die Stimmen zu konzentrieren. Sie wurden immer lauter. Bedrohlich laut. Die Männer brüllten sich an. Ich konnte sie nicht richtig auseinanderhalten. Zwar hatte ich in den letzten Jahren ein paar Worte Farsi aufgeschnappt, aber es reichte natürlich nicht, um zu verstehen, worum es ging. Ich kannte nur den ein oder anderen Begriff. Vertrauen. Ehre. Geschäfte. Dann ein stumpfes Geräusch. Als wäre ein schwerer Gegenstand auf den Boden gefallen. Oder … ein Körper? Einer der Männer schrie laut auf und ich saß jetzt senkrecht in meinem Bett. Gottverdammt!
»Ghassan?«, hörte ich meinen kleinen Bruder Nour. »Bist du wach?«
Er schlief im Doppelbett gegenüber.
»Ja«, flüsterte ich.
»Was ist denn da los?«, fragte er.
»Nichts. Die streiten. Ganz normal. Kennst du doch.«
Ich ließ eine kurze Pause. Wollte hören, was in der Wohnung nebenan passierte. Aber es war ruhig. Beängstigend ruhig. Ich hörte nur noch ein paar Geräusche, die so klangen, als würde man Möbel hin und her schieben. Ich spürte, wie mein Herzschlag immer heftiger wurde.
»Meinst du, die haben einen getötet?«, fragte Nour, der wahrscheinlich die ganze Zeit genauso wach gewesen war wie ich und ebenso jedes einzelne Geräusch aus der Nachbarwohnung verfolgt hatte.
»Red kein Unsinn!«, sagte ich scharf. »Schlaf jetzt.«
Doch ich wusste, dass er nicht schlafen können würde. Genauso wenig wie ich. Wahrscheinlich war niemand getötet worden. Aber ganz ausschließen konnte man das nicht. Ausschließen konnte man hier überhaupt nichts! Ich hasste dieses Loch, in dem wir lebten. Es war verrückt. Diese Wohnung war das Beste, was wir seit zehn Jahren gesehen hatten, und dennoch lag ich wach und war mir nicht ganz sicher, ob in der Nachbarwohnung nicht gerade jemand einfach umgebracht worden war.
Es war kalt. Mama hatte uns verboten, die Heizung aufzudrehen. Das würde nur Geld kosten, sagte sie. Und Geld war etwas, das wir nicht hatten. Zumindest bis jetzt nicht. In diesem Moment erinnerte ich mich wieder, warum wir uns auf diese Nummer eingelassen hatten. Ich atmete tief aus und hörte, wie mein großer Bruder Nasser sich im Bett neben mir umdrehte. Er hatte einen unruhigen Schlaf. Aber wenigstens konnte er überhaupt schlafen. Ich starrte wieder an die Decke und versuchte zur Ruhe zu kommen.
Die Hamads waren komische Leute. Sie waren ziemlich verschlossen. Grüßten niemanden. Blieben unter sich. Sie waren safe in irgendwelche seltsamen Geschäfte verstrickt. In dem Moment dachte ich wieder an unser eigenes Business. An die Drogen, die wir seit einigen Wochen verkauften. Mein Magen zog sich zusammen.
Ich wusste, dass das, was wir taten, falsch war. Ich wusste, dass wir uns auf sehr, sehr dünnem Eis bewegten. Dass wir uns auf sehr gefährliche Leute eingelassen hatten. Und ich wusste, dass das alles ganz brutale Konsequenzen haben konnte. Aber ich wusste auch, dass es keine wirkliche Alternative für uns gab. Mein ganzes Leben lang, meine gesamte Kindheit über war es mir und meiner Familie nur darum gegangen zu überleben. Wir hatten überlebt. Aber das, was wir nach zehn Jahren auf der Reise und im ständigen Kampf gewonnen hatten, war es nicht wirklich wert, ein Leben genannt zu werden.
Ich schreckte hoch. Wieder das Geräusch von Möbeln, die verschoben wurden. Dieses Mal lauter als vorhin. Was stellten die da bloß an? Dann hörte man, wie einer unserer Nachbarn seine Wohnungstür aufriss. »Jetzt haltet doch mal die Fresse!«, brüllte er in den Flur. Das war Herr Zahid. Ein übergewichtiger Araber, der mit seinen fünf Kindern und seiner Frau direkt gegenüber wohnte. Es war nicht so schwer, Herrn Zahid zu provozieren. Er war ein übler Choleriker. Es wunderte mich nicht, dass er auf die Barrikaden ging, wenn man seine Nachtruhe störte. Und seine Ansage zeigte Wirkung. Auf einmal war es ganz still.
Aber in meinem Kopf arbeitete es weiter. Ich malte mir aus, was da in der Wohnung nebenan passiert war. In dem Block, in dem wir lebten, passierte ständig etwas. Es gab immer irgendwelche Geschichten, die man hier erzählen konnte. Vielleicht lag das daran, dass hier so viele Menschen zusammengepfercht waren, die alle eine Vergangenheit mit sich schleppten, die ihnen ihre Gegenwart aussichtslos erscheinen ließ. Das waren Menschen, die keine Hoffnung mehr hatten. Und wenn ein Mensch keine Hoffnung mehr hat, dann verliert er seine Menschlichkeit.
Noch während ich darüber nachdachte, dass inzwischen auch ich oft kurz davor stand, die Hoffnung zu verlieren, bemerkte ich, dass das gesamte Zimmer hell erleuchtet wurde. Irritiert schaute ich mich um. Die Decke, die Wände, die Möbel, alles blau. Ich brauchte einen kurzen Moment, um zu realisieren, was los war. Dann verstand ich. Das Blaulicht kam durchs Fenster. Ich stieg vorsichtig aus dem Bett und schaute auf den Hof hinaus. Da standen vier Polizeiwagen, aus denen jeweils zwei Beamte ausstiegen.
»Ghassan?«, hörte ich meinen kleinen Bruder. »Was ist da los?«
Ich reagierte nicht. Ich starrte einfach nur auf die Polizeiwagen. Auf die lautlosen Sirenen, auf das kreisende Blaulicht. Es war, als würde es mich hypnotisieren.
»Ghassan? Alles klar bei dir?«
Ich spürte, wie all die Gedanken, die mich den ganzen Abend über belastet hatten, von mir abfielen. Ich war auf einmal ganz klar und wechselte nun in einen ganz anderen Modus. In meinen Überlebensmodus.
»Bleib im Bett liegen!«, sagte ich zu Nour.
Dann zog ich meine Jogginghose an, streifte mir ein Shirt über und griff nach meiner Jacke.
»Ghassan, was machst du? Wo willst du hin?«
Ich wusste nicht, was ich meinem kleinen Bruder antworten sollte.
Ich ging zur Tür und schaute mich noch einmal im erleuchteten Zimmer um. Ließ meinen Blick über den kleinen Tisch mit den Aldi-Eistee-Packs und dem Fladenbrot schweifen, das wir nach dem Abendessen wieder in die hauchdünne blaue Plastiktüte verpackt hatten, damit es nicht hart wurde. Ich betrachtete das kleine verranzte Waschbecken mit den braunen Kalkablagerungen an der Wand. Auf dem Teppich sah ich im Blaulicht deutlich den riesigen rostfarbenen Fleck. Ich erinnerte mich, wie Mama zusammengezuckt war, als sie ihn das erste Mal gesehen hatte, an dem Tag, als wir hier eingezogen waren. Wie viele Stunden hatte sie versucht, ihn wegzuschrubben? Vergeblich. Ich betrachtete die kaputten Möbel, die uns das Rote Kreuz besorgt hatte – und die älter waren als wir. Dann schaute ich auf meine Brüder. Nasser und Mansour schliefen fest. Nur Nour lag wach und schaute mich mit großen Augen an.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte ich. »Alles wird gut.«
Ich öffnete die Wohnungstür einen kleinen Spaltbreit und versuchte zu hören, was im Hausflur vor sich ging.
»Los, los, los!«, hörte ich einen Mann brüllen. »Zweiter Stock, dritte Wohnung links. Schneller, schneller!« Die Männer stapften die Treppe hinauf.
»Alles ist gut, Nour!«, sagte ich zu meinem kleinen Bruder. »Du musst keine Angst haben.« Ich war ein klein wenig beruhigt. Ich wusste, dass sie nicht wegen uns gekommen waren. »Pass auf, dass Mama sich nicht aufregt, okay?« Nour nickte.
Dann verließ ich das Loch, das unsere Wohnung war, und zog die Tür hinter mir zu. Im Hausflur brannte Licht. Es stank beißend nach Urin. Ich hielt die Luft an und stieg die Treppe hinab. Ich spürte gar nichts mehr. Ich hatte eine ganz tiefe innere Ruhe gefunden.
»Aufmachen, Polizei!«, hörte ich jemanden brüllen. Ich steckte mir meine Kopfhörer in die Ohren und stöpselte sie in meinen MP3-Player.
»Sofort die Tür aufmachen!«
Ich drückte auf Play und drehte die Lautstärke auf Maximum. Dennoch konnte 50 Cent das, was um mich herum geschah, nicht übertönen.
Als ich die Treppe hinunterstieg, kam ich an zwei Polizisten vorbei. Sie waren in voller Montur, trugen schusssichere Westen, Helme und Maschinenpistolen.
»Junge, was machst du denn hier?«, brüllte mir einer ins Gesicht. Ich starrte ihn nur kurz an und ging wortlos weiter. Er ließ mich vorbei. Ich wusste, dass es hier nicht um uns ging. Als ich im zweiten Stock ankam, schaute ich in den Flur, wo gerade zwei Beamte eine Tür aufbrachen. Zweiter Stock, dritte Wohnung links. Ich überlegte kurz, ob ich wusste, wer hier wohnte. Aber nein, ich kannte diese Leute nicht.
»Auf den Boden, Hände hinter den Kopf!«, brüllte ein Bulle. »Sofort auf den Boden, habe ich gesagt!«
Ich ging die Treppe weiter runter und verließ das Wohnhaus. Als ich draußen an der frischen Luft war, nahm ich einen tiefen Atemzug. Dann fischte ich mir eine Zigarette aus der Jackentasche und zündete sie an.
Ich ging an den Polizeiautos vorbei. In dem Moment kamen zwei weitere Streifenwagen angefahren, eine Sirene heulte kurz auf und ich erschrak. Ich weiß nicht, warum sie mich so sehr in ihren Bann zog, aber immer wenn ich dieses Licht sah und dieses penetrante, eindringliche Geräusch hörte, verlor ich ein Stück von mir selbst. Irgendwas zog mich dann aus der Wohnung und ich hatte das Bedürfnis, einfach rauszugehen und durch die Gegend zu laufen. Vielleicht hatte ich mir irgendeinen psychischen Knacks zugezogen, in all den vergangenen Jahren. Ein Psychologe würde bestimmt viel Freude an meiner Geschichte haben. Ich schaute zu unserer Wohnung hoch und sah Nour, wie er am Fenster stand. Er blickte mich ängstlich an. Ich gab ihm ein Zeichen zu verschwinden. Dann ging ich an den Polizeiautos vorbei Richtung Hauptstraße.
Es war nicht so, dass ich flüchtete. Es war eher so, dass ich mich in einen anderen Zustand brachte. In den Kriegsmodus. In einen Zustand, in dem ich bereit war zu kämpfen. In dem ich bereit war, meine Familie zu verteidigen. Es gab nichts Positives, das ich mit der Polizei assoziierte. Mit der Polizei verband ich nur Gewalt, Angst und Abschiebung. Immer wenn die Polizei zu uns gekommen war, bedeutete das, dass sie uns etwas wegnahm. Oder dass sie uns wegschickte. Ich wusste, dass das nicht gerecht war. Dass die allermeisten Polizisten nur ihren Job machten. Aber es spiegelte nun einmal meine Erfahrung wider, und gegen das Gefühl, das diese Erfahrungen in mir auslösten, konnte ich mich einfach nicht wehren.
Ich drehte mich ein letztes Mal um und sah, wie vier Beamte einen vielleicht vierzigjährigen Mann mit einem dicken Schnauzer in einen der Streifenwagen drückten. Er hatte nur eine weiße Unterhose und ein Paar Schuhe an. Sonst war er völlig nackt. Er setzte sich nicht zur Wehr. An der Tür von unserem Haus stand eine ältere Frau mit Kopftuch, die schrie und weinte.
Ich ging die Hauptstraße entlang und drehte mich nicht mehr um. Ich ging einfach geradeaus und hörte auf die Musik in meinen Ohren. Irgendwann bog ich dann in eine kleine Seitengasse ein. Von dort aus ließ ich mich treiben. Ich kannte Dresden mittlerweile recht gut, war hier halbwegs heimisch geworden. Immer wenn ich Ärger hatte, lief ich nachts hier einfach ein wenig herum. Es war, als würde ich Frieden in den Lichtern dieser Stadt suchen, dachte ich. Und dennoch fand auch ich hier immer wieder Orte, die ich noch nie zuvor gesehen hatte.
Ich hatte keine Ahnung, wie spät es war. Es musste mittlerweile 3 oder 4 Uhr sein, schätzte ich. Die Straßen waren menschenleer. Doch dann sah ich, dass aus einer Gasse Licht kam. Ich blieb stehen und nahm meine Kopfhörer aus den Ohren. Nun hörte ich einen komischen Gesang. Merkwürdig, dachte ich. Um diese Zeit? Ich folgte dem Licht und dem Gesang und ging in die kleine Gasse, die mich schließlich zu einem großen Platz führte. Ich traute meinen Augen nicht. Wo war ich denn hier gelandet? Diesen Platz hatte ich noch nie gesehen.
Eine Grünfläche. Versteckt mitten im Stadtzentrum. Überall standen Fackeln und es liefen Menschen herum, die ein paar Obststände aufgebaut hatten. Das muss wohl ein Nachtmarkt sein oder so was, dachte ich. Aber das hier war ganz anders als alle Märkte, die ich bisher gesehen hatte. Irgendwie fremdartig. Der Platz wirkte altertümlich, als würde er gar nicht zu Dresden gehören. Überall waren große Pflanzen in antiken Töpfen aufgestellt. Ein Straßenmusiker sang ein Lied in einer Sprache, die ich nicht kannte, und es gab eine Art Restaurant, das lange Tischreihen und Sitzbänke aufgebaut hatte, an denen Menschen saßen und Wein tranken. »Taverna Homer« stand auf einem Schild. Ich öffnete meine Jacke. Es war gar nicht mehr kalt. Im Gegenteil, es fühlte sich an, als wäre es eine Hochsommernacht. Vielleicht das Feuer, dachte ich.
Die Menschen hier schienen mich gar nicht zu beachten. Sie waren mit sich selbst beschäftigt. Die ganze Szene fühlte sich völlig surreal an. War ich noch in Dresden? War ich noch wach? Träumte ich das? Ich dachte daran zurück, dass ich noch vor einer halben Stunde in unserer versifften, viel zu kleinen Wohnung in meinem Bett gelegen hatte und von meinen Ängsten fast erdrückt worden war – und jetzt war ich … hier? Das war merkwürdig. Die Gedanken an die Polizei und die Hamad-Brüder fühlten sich auf einmal ganz fremd an. Als wäre das vor ganz langer Zeit passiert. Ich wurde seltsam ruhig.
In der Mitte des Platzes sah ich eine Parkbank, auf der ein alter Mann saß. Er kam mir irgendwie bekannt vor, obwohl ich mir sicher war, sein Gesicht noch nie gesehen zu haben. Er starrte einfach nur geradeaus und hatte einen großen, mächtigen Spazierstock aus Holz in der Hand.
Irgendetwas zog mich zu ihm. Ich näherte mich der Bank und sah, dass er mich zu sich winkte, ohne mich anzuschauen. Er blickte noch immer starr geradeaus.
»Setz dich zu mir, mein Junge«, sagte er mild. »Was machst du hier?«
Ich zuckte mit den Schultern und näherte mich dem Alten. »Ich weiß es selbst nicht so richtig.«
Der Mann starrte weiter vor sich hin. Seine Augen waren hellblau, aber sie wirkten starr. Ich fragte mich, ob er blind war.
»Es scheint, als wärst du fündig geworden.«
»Wie meinen Sie das?«
»Du warst auf der Suche.«
»Ich habe nichts gesucht.«
»Wir suchen alle etwas.«
Ich dachte kurz nach. Klar suchten wir alle etwas. Das ganze gottverdammte Leben ist doch nichts anderes als eine Suche. Die Suche nach Glück, Geld oder Anerkennung. Oder eben nach einer Heimat …
»Wie alt bist du, Junge?«
»Siebzehn«, antwortete ich. Ich ließ eine kurze Pause. »Aber ich fühle mich, als hätte ich schon mehrere Leben hinter mir«, fügte ich hinzu. Ich erschrak über mich selbst. Ich wusste gar nicht, warum ich das gesagt hatte. Eigentlich war ich seit einigen Jahren so verschlossen, dass ich solche Dinge nicht einmal andeutete. Nein, ich dachte sie nicht einmal. Aber irgendetwas an der Präsenz dieses Mannes war so außergewöhnlich, dass ich gar nicht anders konnte, als auszusprechen, was ich dachte. Vielleicht lag es auch an diesem merkwürdigen Ort. Der Alte nickte und starrte weiter geradeaus. »Du hast wohl eine ziemlich spezielle Geschichte, nicht wahr, Junge?«
»Kann schon sein.«
»Erzähl sie mir.«
»Das ist wirklich eine sehr lange Geschichte …«, versuchte ich abzuwiegeln.
»Schau mich an«, sagte der alte Mann mit den starren Augen. »Ich habe alle Zeit der Welt. Also los, erzähl sie mir. Ich habe das Gefühl, dass die Geschichte, die ich zu hören bekomme, sehr viel älter ist als du mit deinen siebzehn Jahren.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte ich ihn verwirrt. Doch er starrte nur weiter vor sich hin und stützte sich auf seinem Stock ab. Ich schaute mir noch einmal diesen fremdartigen Platz an, auf den ich gestoßen war.
»Also gut«, sagte ich. Und dann fing ich an, dem alten, mysteriösen Mann meine Geschichte zu erzählen.