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©2021 Peter H. Kemp

Umschlagdesign, Satz, Herstellung und Verlag

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-7534-7485-4

Printed in Germany

Inhalt

Gehen ohne Füße, fliegen ohne Flügelschlag,
denken, fühlen mit und ohne Verstand

Prolog

Selbst wenn wir den Verbrauch deutlich effizienter gestalten: Mit heimischem Wind- und Sonnenstrom allein wird Deutschland künftig kaum auskommen, wenn die fossilen Energieträger vollständig durch erneuerbare ersetzt worden sind. Keine 10 Prozent betrug 2020 der Anteil erneuerbar erzeugten Stroms am gesamten Endenergieverbrauch. Die Ausbaumöglichkeiten für Wind- und Solarenergie sind begrenzt – und gerade diese beiden Formen der Energiegewinnung sind zudem abhängig vom Wetter.

Deutschland hat sich zwar zum Ziel gesetzt, dass bis 2030 etwa zehn Millionen Autos mit reinem Batterieantrieb oder teilelektrisch als »Plug-in-Hybride« auf den Straßen unterwegs sein sollen. Doch selbst wenn dieses ambitionierte Ziel erreicht wird, würden hierzulande voraussichtlich immer noch mehr als 35 Millionen Pkw mit Verbrennungsmotor fahren. Studien zeigen, dass es zu lange dauert, um die Klimaziele allein durch den Einsatz von E-Autos zu erreichen.

Nachdem sich Fusionskraftwerke als Energiequelle durchgesetzt hatten, führte die Miniaturisierung zu einer weiteren Verbesserung der Raketentechnik mittels Fusionskraft (Fusionsbrennstoff, Helium-3, der auf der Mondoberfläche gefördert wurde). Dadurch wurde die Treibstoffeffizienz wesentlich verbessert und die Leistungsfähigkeit der Außenposten im Orbit und in den Kolonien weiter vorangetrieben. Eine Lösung für mehr Klimaschutz stellen auch erneuerbare Kraftstoffe aus dem Orbit dar, zum Beispiel wird mittels Solarsatelliten im Weltraum Energie gewonnen und diese vom All aus auf die Erde »gebeamt«. Kernkraftwerke neuen Typs liefern Energie und recyceln den angesammelten Atommüll, Endlager für Atommüll sind nicht mehr vonnöten.

Erneuerbare flüssige Kraftstoffe verfügen über eine hohe Energiedichte und lassen sich gut transportieren und speichern. Der Kohlenstoffkreislauf wird auf diese Weise geschlossen.

Die Lesung

Geschafft! Er, der Junge aus dem kleinen Pfälzer Weinstädtchen, hatte es nicht nur an die Fachhochschule und die Uni geschafft, er hatte sich sogar erfolgreich in Kernchemie spezialisiert. Am Thoriumreaktor in Berlin sowie am Fusionsreaktor ITER bei Marseille hatte Arnfried eine Arbeitsstelle, dazu eine Dozentenstelle auf der Raumstation im Orbit.

Bei Arnfrieds Buch, das er in einer Lesung vorstellte, handelte es sich um Eingriffe mit »technischen und wissenschaftlichen Mitteln« in geochemische oder biogeochemische Kreisläufe der Erde. Ziel derartiger Eingriffe war das Abbremsen der anthropogenen globalen Erwärmung durch den Abbau von Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre, Energie zu gewinnen mittels Reaktortechnik mit Thorium (ohne Uran), Kernfusion und des Einsatzes von Orbit-Treibstoffen (Fusion, Helium-3) zur Überwindung des »Klimawandels« (ein juristischer Weg, den auch junge Leute zu gehen beabsichtigten; siehe Hinweis im Anhang des Buches).

Endlich war das Buch über Science-Fiction-Maschinen vollendet, in dem die für die künftigen Jahre dringend notwendige Energieversorgung und die Schnittpunkte von Ingenieurwissenschaften und Lebenswissenschaften beschrieben wurden. Man hatte 2050 verstanden, wie lebende Systeme funktionierten, und konnte dieses Wissen auch im Orbit technisch nutzen. Dazu gehörten die Entwicklung neuer Treibstoffe für den Orbit und Verfahren in der chemischen Industrie (zum Beispiel Stromfresser-Klimaanlagen, »Closed-Cavity-Fassaden«, pH-Swing-Verfahren in der Chemie, also die Herstellung von Carbonsäuren, Lacken, Kunststoffen, Pflanzenschutzmittel und Pharmaprodukten ohne Verwendung von Erdgas oder Öl). Umgekehrt war ingenieurwissenschaftliches Wissen in den Nanowissenschaften erforderlich, um biologische Systeme in technische Prozesse zu integrieren.

Arnfried stellte sein Buch einer Zuhörerschaft im kleinen Saal der Berliner Urania vor, einem Veranstaltungsort, der seit der Überflutung der Berliner Innenstadt lediglich mit dem Boot zugängig war. Vor der Urania tummelten sich die Boote. Die Innenstadt war überflutet, das Umland von Berlin vertrocknet und versteppt. Nicht nur die Eisbären an den Polen waren nahezu ausgestorben, durch den Klimawandel war ein Viertel der Tier- und Pflanzenarten um Berlin und Marseille verschwunden. Das Problem des Schadholzeinschlags infolge von Insektenschäden war nicht zu beziffern.

Vom Vorlesen waren die Wangen des 35-jährigen Arnfried leicht gerötet. Seine Platin-Nickelbrille war etwas verrutscht. Mit seiner ausgeprägten Nase und dem dichten roten Bart ähnelte er einem bretonischen Küstenfischer. Sein eher schmächtiger Oberkörper steckte in einem überdimensionalen Pullover, seine nackten Füße in Sandalen.

Nach seinen Lesungen war er meistens etwas durcheinander, er erkannte selbst Freunde und Bekannte nicht wieder oder hatte Probleme, sich an ihre Namen zu erinnern. Auch jetzt dauerte es einen Moment, sich zu erinnern, bis er das Lächeln des vor ihm stehenden Zuhörers erkannte, es war sein alter Lehrer von der Raumstation, den er nach anfänglichem Zögern in seine Arme schloss.

Beim Signieren schweiften Arnfrieds Gedanken ab zu seinen geliebten Hunden (zwei männlichen Maremmano-Mischlingen) in seiner Undersea-Lodge auf der Spree. Sein Traum war es einmal gewesen, Tierarzt zu werden. Stattdessen wurde er zunächst Weinbauer. Noch heute hörte er den Geschützdonner, der vom Truppenübungsplatz Baumholder bis in die Steillagen der Weinberge seines Heimatstädtchens hallte. Er entging knapp einem Schicksal als »Verdingkind«. So wurden im süddeutschen Raum Kinder bezeichnet, die an Bauern (Weinbauern) vermittelt und meist als günstige Arbeitskraft ausgenutzt, misshandelt und missbraucht wurden.

Nach dem frühen Tod der Mutter wusste niemand so recht, was man mit dem Jungen nach der Schule anstellen könnte. Das harte Leben in den steilen Weinbergen stählte zunächst seinen Willen. Trotz seiner Verbundenheit mit der Heimat wollte er vor allem eines: Fort aus der ländlichen Enge, weg von der Plackerei. Eine Ausbildung zum Weinbauern und Küfer in Ludwigshafen war zunächst seine große Chance, bis er die Chemie entdeckte und in das Technikum der BASF wechselte, zwei Jahre später dann ein Chemiestudium anschloss, wie schon sein Großvater fünfzig Jahre vor ihm.

Das alles ging Arnfried durch den Kopf, während er gedankenverloren die Bücher signierte. Hinter dem ersten Zuhörer standen noch etliche andere, die geduldig warteten. Die Lesung war gut gelaufen; ohne aufzusehen, hatte er bei Patzern gespürt, dass die meisten Zuhörer ihm diese verziehen und weiter seinen Ausführungen folgten.

Arnfrieds Botschaft war kein Geheimnis: Die Überflutung nach der Corona-Krise war eine tiefe Krise, die Strukturveränderungen hervorgerufen hatte, die angegangen wurden.

Berlin-Mitte, Charlottenburg und auch große Teile von Kreuzberg sowie Friedrichshain hatte es getroffen. Die über dem Wasser herausragenden Fassaden – Bodemuseum, Dom, Zeughaus, Schloss und Gebäude des Alex – spiegelten sich in der trüben Wasseroberfläche.

Eine trübe Wasseroberfläche war auch im überfluteten Marseille, vor allem im Alten Hafen, wo Anwohner großartige Möglichkeiten fanden, sich in bezahlbaren Undersea-Lodges anzusiedeln. So auch Arnfried. Er wohnt hier und arbeitet am Fusionsreaktor außerhalb Marseilles (in Cadarache). In La Butte Bellevue, dem ärmsten Viertel der Stadt und gleichzeitig ganz Frankreichs, hatte bereits vor der Überflutung ein Bauprojekt zur Sanierung alles zu verändern gedroht. Die Einwohner waren besorgt gewesen und hatten versucht, trotz sozialer und kultureller Unterschiede und den dadurch herrschenden Spannungen und Schwierigkeiten gemeinsam Front gegen das Altstadt-Bauprojekt zu machen. Die persönlichen Schicksale verbanden die Menschen zu einem gemeinsamen Kampf gegen die weitere städtebauliche Verelendung.

Arnfrieds Wohnviertel erstreckte sich rund um einen belebten Jachthafen und einige Straßen waren bekannt für seine stilvollen Hotels, die Cafés am Wasser und Meeresfrüchterestaurants, in denen Meeräschen, Hummer und Austern vom Fischmarkt am Kai serviert wurden. Direkt über dem Hafen wachten das jahrhundertealte Fort Saint-Jean und die Kuppel der romanischen Kirche St-Laurent im fahlen Licht der kosmischen Hintergrundstrahlung. Der Platz vor der Kirche war einer der schönsten mit Blick auf den Hafen, die Altstadt und das Mittelmeer sowie Ausläufer des Nationalparks Calanques. Trotz Überflutung spielte sich hier in den Bars und Clubs ein turbulentes Nachtleben ab.

Zurück zur Signierungsstunde nach der Lesung in der Berliner Urania: Arnfried sagte zwischendurch, während er Widmungen in die Bücher schrieb: »Zum Hauptbahnhof und zum Alex kommt man immer noch mit der S-Bahn. Dagegen fährt die hoch gelegene U-Bahn am Cottbusser Tor nur ein kleines Stück weit.«

Lachend erwähnte er, wie pfiffige junge Leute sich Boote angeschafft hätten, um die Menschen kostenlos vom Innenstadtbereich zu ihren Zielen am Rande der Stadt zu rudern. Diesen Service würden sie auch nach der Lesung anbieten. Der öffentliche Nahverkehr auf den Booten und in E-Bussen werde gratis angeboten. Nach diesem intensiven Abend konnte Arnfried sich nicht vorstellen, gleich nach Hause zurückzukehren. So fragte er in die Runde, wer noch Zeit und Lust auf ein Bier oder einen Wein habe. Viele nickten zustimmend. Auch sein alter Lehrer wollte mitkommen.

In der Kneipe wurde Arnfried gefragt, für wen er schreibe? Seine Antwort war: Für Leser, die »Welten« entdecken wollten, denn was gebe es draußen im All und Orbit noch außer uns »Erdlingen«? Der Ausdruck Erdling bezeichne Wesen irdischer oder erdnaher Herkunft (zumeist vom Planeten Erde, wie viele Naturwissenschaftler und Orbiter annehmen). Es gebe für sie »einen Anfang von Raum, Zeit und Materie«. Er wisse, »dass man erst seit wenigen Jahren ernsthaft und systematisch darüber nachdenke, welchen Einfluss ein Kontakt mit Außerirdischen auf die menschliche Gesellschaft haben würde«.

Der alte Lehrer sagte, dass Arnfried ein besonderes Talent habe, problematische Dinge im Raum anzusprechen: »Dass er nicht nur Bilder imaginiere, sondern mit einem Bleistift die Ebenen im vierdimensionalen Raum markiert.« So zum Beispiel die Raumzeit, die Darstellung des dreidimensionalen Raums und der eindimensionalen Zeit in einer vierdimensionalen mathematischen Struktur.

Arnfried war der Meinung, dass auch fachfremde Menschen Zugang zu seinen Molekülbildern, Atomen und Räumen fänden, wenn sie das so vor Augen hätten. Eben mit diesem künstlerischen Talent erreiche er auch sie. Diese Vorgänge seien in Wirklichkeit unsichtbar. Genau wie ein geowissenschaftlicher Atlas auch »Ansichten« der Erdoberfläche hat, die es in Wirklichkeit nicht gibt.

Bevor nach einem unterhaltsamen Abend alle auseinandergingen, baten einige um einen Termin für einen gemeinsamen Besuch am Thoriumreaktor in Berlin-Wannsee.

Arbeit am Thoriumreaktor

Bei der Begrüßung der kleinen Gruppe stellte Arnfried erfreut fest, dass er einige der Besucher kannte oder schon einmal gesehen hatte. Es freute ihn besonders, dass unter ihnen sein alter Lehrer Herr Dr. Leyendecker aus dem Orbit war und ein kleiner Junge, das war Kläuschen, der einmal Orbiter werden wollte. Die anderen waren eine bunte Mischung, zwei junge Frauen (eine mit blaugrünen Augen, die Arnfried im Gedächtnis blieben, die andere mit Rehaugen und strahlend weißen Zähnen), beide Chemotechnikerinnen von Beruf, die voller Piercings waren. Bei den vollbärtigen Männern im mittleren Alter sah Arnfried Tätowierungen an den bloßen Armen. Malcom, ein Amerikaner und Psychologe, hatte eine Lederwerkstatt. Richard war an der Uni im Fach Physik tätig. Die Gruppe wirkte lustig und gesprächig, manche von ihnen waren etwas verträumt, aber sympathisch.

Bevor es losging, kam einer der Bärtigen auf Arnfried zu und sagte: »Hören Sie, ich verstehe vermutlich von dem, was Sie uns erzählen werden, sehr wenig – bitte machen Sie es so einfach wie möglich.«

Arnfried nickte, er nahm sich vor, es zu tun. Nach der Begrüßung sagte er: »Wir sind hier an einem historischen Ort. Hier wurde in den 60er Jahren schon einmal ein Thoriumreaktor erbaut, der gut funktionierte.« Diese Worte wurden in der Gruppe kommentarlos aufgenommen. Der vollbärtige Marcell wollte wissen, wofür die und jene Rohre, Pumpen, Kabel und Uhren beziehungsweise Messgeräte dienten, was Arnfried erklärte.

Sein alter Lehrer aus dem Orbit kommentierte: »Es ist hier wie im Science-Fiction-Film Unser Freund, das Atom von Walt Disney«, worauf alle nickten.

Auch die beiden Frauen, Charlotte und Sylvia, äußerten sich. Für sie stelle der Reaktor quasi eine anregende technische Kulisse dar.

Manfred fragte, warum der Reaktor jetzt erst ans Netz gegangen sei? Arnfried fuhr fort, wo er zuvor stehen geblieben war: »Der Thorium-Versuchsreaktor, der in Berlin gebaut worden war, lief tadellos, wurde aber aus politischen Gründen nicht weiterbetrieben, weil in ihm kein waffenfähiges Plutonium erbrütet werden konnte.«

Darauf reagierte Sylvia: »Das heißt, dass hier im Reaktor kein Plutonium entsteht?«, was Arnfried mit den Worten bestätigte: »Bei dieser Art von Reaktor spielt Uran keine Rolle. Trotzdem können auch von diesem Reaktor Gefahren ausgehen, die im kriminellen Bereich liegen.« Darauf wollte Arnfried später eingehen.

»Warum ist Uran überhaupt so gefährlich«, fragte daraufhin Marcell mit seinem Sohn Klaus an seiner Seite.

Arnfrieds Antwort: »Uran ist wegen seiner Strahlung gefährlich. Besonders gefährlich ist angereichertes Uran aus einem AKW, da es noch radioaktiver ist als die normalerweise in der Natur vorkommende Form des Urans. Das angereicherte Uran sendet seine schädliche Strahlung über Jahre aus, was nach wenigen Jahren beim Menschen zur Entstehung von Krebs führen kann. Das Uran gelangt meistens über Unfälle in die Umwelt, siehe die Beispiele »Tschernobyl und Fukushima« Arnfried malte ein einfaches Schaubild auf das Flipchart und kommentierte es mit den Worten: »Erdstrahlen und Wasseradern, die ebenfalls potenziell eine Krankheitsursache darstellen, können, zum Beispiel als Schutz einer Schlafstätte, mit Kopchina-Kork abgeschirmt werden. Alphastrahlung kann mit Papier, Betastrahlung mittels Aluminiumblech eingedämmt werden und eine Massivwand, beispielsweise aus circa fünf Zentimeter dickem Blei, schützt vor Gammastrahlung.«

»Die bestimmte Reichweite der Strahlung erklärt sich daraus«, sagte Richard, der Physiker, an die Gruppe gewandt, »dass die Teilchen ihre Energie nicht auf einmal, sondern in vielen kleinen Schritten an den Absorber abgeben – durch Anregen von äußeren Hüll-Elektronen und, in geringem Maße, durch Herausschlagen innerer Elektronen aus dem Atom. So auch bei der LED-Technik, dem linearen Energietransfer.«

Arnfried fuhr fort: »Auch elastische Streuprozesse an der Elektronenhülle tragen etwas zur Absorption bei, indem sie den Weg der geladenen Teilchen im Absorber verlängern. In der Chemie beschreibt Absorption den Prozess der Aufnahme oder des Lösens. In der Physik bezeichnet Absorption das Aufnehmen einer Welle.«

Richard erklärte es mit folgenden Worten: »Radioaktivität ist ein alltägliches Naturphänomen. Sie tritt auf, wenn sich ein instabiles Atom spontan in ein anderes umwandelt und ›zerfällt‹. Dabei wird Strahlung erzeugt. Uran-238 verwandelt sich beispielsweise in das Element Thorium – das Thorium, aus dem das Brennmaterial besteht –, dieses über mehrere Zwischenstoffe in Radium, das wiederum zum Edelgas Radon zerfällt, bis nach weiteren Umwandlungen eine Form von Blei entsteht, die sich nicht weiter umwandelt.«

Dr. Leyendecker ergänzte: »Es ist ein Naturgesetz, dass sich alle instabilen Atomkerne mit der Zeit zu stabilen Kernen umwandeln.«

Richard fuhr fort: »Von den über hundert heute bekannten chemischen Elementen kennt man über 2700 Atomkernvarianten, sogenannte Isotope. Davon sind gerade einmal 249 stabil. Die restlichen sind instabil und damit radioaktiv.«

Arnfried stand inmitten von Computern und Zubehör, das überall an den Wänden und Ecken im Labor unordentlich verteilt war. Dort, wo die Sachen nicht auf die Tische passten, hatte man sie auf dem Boden platziert, in einem Gewirr aus Strom- und Internetkabeln. Mehrere Router hatte man gar nicht erst eingebaut oder fest installiert, sondern auf die Server gestellt. Wo man auch hinsah, lag Papier verstreut umher. In den Ecken des Raumes standen kreuz und quer große Videoleinwände für Beamer.

Arnfried antwortete souverän auf weitere Fragen – doch war es auch ermüdend für ihn, auf die Gefährlichkeit des Urans und Ähnliches einzugehen. Er bewegte sich dabei im Schutzoverall sicher auf den schwankenden Laufstegen. Rundum tickte und pfiff es – was seine Ausführungen offensichtlich nicht beeinträchtigte. Seine Stimme war deutlich seinen Zuhörern zugewandt. Er erklärte, dass sich hinter den digitalen Anzeigen zum Teil mächtige Vorgänge abspielten, zum Beispiel das Verschmelzen von Thorium, das magnetisch zusammengehalten wurde, wobei es 100 Millionen Grad heiß wurde (zu dieser Zeit gab es noch keinen Stahl oder ähnliches Material, das dieser Hitze standgehalten hätte. Darum wurde das Plasma entwickelt und verwendet. Unter Plasma versteht man in der Physik und Chemie ein Teilchengemisch aus Ionen, Elektronen und meist auch neutralen Atomen oder Molekülen. Ein Plasma enthält freie Ladungsträger. Der Ionisationsgrad eines Plasmas kann weniger als 1 % betragen, aber auch 100 % (bei vollständiger Ionisation). Eine wesentliche Eigenschaft von Plasmen ist ihre elektrische Leitfähigkeit. Da der Plasmazustand durch weitere Energiezufuhr aus dem gasförmigen Aggregatzustand erzeugt werden kann, wird er auch als vierter Aggregatzustand bezeichnet.

Plasmazustand, Dampfentwicklung und Leistung der Turbinen werden in der zentralen Messstation des Reaktors ständig angezeigt und können von dort aus auch gesteuert werden.

Auf eine Nachfrage von Marcell mit dem kleinen Kläuschen äußerte sich Arnfried folgendermaßen: »Stellt euch vor, das mit dem Thorium sind alte Gedanken, die wieder ins Leben gerufen wurden. Beim Thoriumreaktor werde anstelle von Uran Thorium als Brennstoff verwendet. Thorium ersetze das strahlende Uran.«

Charlotte erwiderte daraufhin laut, indem sie ihren Mundschutz abnahm: »In der deutschen Landschaft fielen trotzdem fünf rheinische Dörfer den Baggern in der Nähe von Keyenberg zum Opfer, obwohl der Kohleausstieg durch die Bundesregierung beschlossen worden war, sich Windkrafträder im Wind drehten und Photovoltaikanlagen auf den Dächern Eigenversorger zufriedenstellten.« Einer der Zuhörer warf in die Diskussion ein: »In Deutschland wird weiterhin Braunkohle als Gemeinwohl gefördert, es ist sehr widersprüchlich, dass dabei Tausende durch den Systemwechsel Heimat und Arbeitsplatz verlieren, abgesehen von der wunderschönen Landschaft, die endgültig zerstört wird.« Einer, der sich bis dahin noch nicht geäußert hatte, sagte: »Der Braunkohletagebau ist ein Statement für soziale Ungerechtigkeit. Wichtige soziale Strukturen werden dadurch zerbrochen, zum Beispiel Kindertagesstätten, auch werden Lebensbedingungen verschlechtert, Umschulungen erzwungen für Jobs, die viele nicht haben wollen. Zudem werden Denkmäler und wichtige Orte, wie Friedhöfe, zerstört.«

Malcolm bemerkte: »Ich verstehe nicht, dass die installierten Windkrafträder sich gegen den Uhrzeigersinn drehen, um 23 Prozent mehr Strom zu produzieren, als wenn sie sich im Uhrzeigersinn drehten.«

Darauf antwortet Arnfried: »Windkrafträder drehen sich auf der Nordhalbkugel systematisch in die falsche Richtung. Denn würden sie sich links- statt rechtsherum drehen, könnten sie rechnerisch bis zu 23 Prozent mehr Strom erzeugen. Das hat eine Arbeitsgruppe unter der Leitung des Instituts für Physik der Atmosphäre am Deutschen Zentrum für Luft und Raumfahrt (DLR) kalkuliert.«

Arnfried: »Aber man muss dabei bedenken: Ob diese theoretischen Berechnungen, bei denen sich die Erdrotation bemerkbar macht, in der Praxis überhaupt eine Relevanz haben?«

Malcolm: »Würde es sich da nicht lohnen, auf der Nordhalbkugel zumindest die Neuanlagen künftig mit spiegelverkehrten Rotorblättern auszustatten?«

Arnfried: »Dazu muss man wissen: Die Berechnungen, die hier angestellt wurden, sind theoretischer Art. In der Praxis sind die Auswirkungen minimal. An Land sind die Anlagen ohnehin oft so dicht beieinander, dass die Strömung zwischen den Anlagen nur wenig durch die Corioliskraft beeinflusst wird. Zudem mindern auch Turbulenzen den Effekt erheblich. Diese wurden in den theoretischen Berechnungen wenig berücksichtigt – nur so kommt man auf die hohen Prozentzahlen.«

Ortswechsel: In einem Vorführraum hatte Arnfried mit Kollegen einen Versuch aufgebaut, um zu zeigen, was im Reaktor vor sich ging und wie bei Thorium »die außergewöhnliche Energie greifbar zu machen war«.

Zur Demonstration verwendete Arnfried ein Fluorid-Flüssigsalz-Gemisch. Das silbrig-weiße Erz Thorium kommt in Monazit-Erz vor, einem komplexen Phosphat-Erz aus Thorium, welches von Arnfried in der Fluorid-Salz-Verbindung aufgelöst und einer Reaktorkammer zugeführt wurde. Dort setzte er es einer Neutronenstrahlung aus, die weitere Energie freisetzte ...

Zum Versuch erzählte er: »Grundsätzlich kann bei jeder Kernreaktion, bei der genügend Energie zur Verfügung steht, mit der Emission von Neutronen gerechnet werden. Die dabei erzielbaren Intensitäten sind größer als die vorangegangene Quelle.«

Richard ergänzte: »Außerdem lassen sich durch eine geeignete Wahl der Reaktionen die Neutronenenergien variieren.«

Dr. Leyendecker fügte noch hinzu: »Die Thorium-Reihe ist eine in der Natur auftretende natürliche Zerfallsreihe.«

Arnfrieds Neutronenquelle am Berliner Helmholtz-Zentrum war für einige spezielle Anwendungen, wie zum Beispiel die Isotopenproduktion, optimiert. Diese führte er ebenfalls dem Reaktorprozess zu, um Energie freizusetzen (Anmerkung: Die Fluoridlösung befand sich bei circa 650 Grad unter Normaldruck). Um das Thorium in der Flüssigkeit zu lösen, war keine weitere Energiezufuhr als die Neutronen vonnöten.

Arnfried kam in seinem Vortrag ins Schwärmen und erklärte, wie faszinierend schön im Teleskop die Vorgänge aussähen: »In der Thoriumschmelze erscheinen ringförmige Nebel. Die Gashülle ähnelt einem Torus.« Arnfried weiter: »Darin erscheinen Heliumnebel dunkelblau, Stickstoff und Schwefel sind rot; Sauerstoff hellblau und Kohlenstoff farblos. Im Zentrum des Nebels erscheint meistens ein weißer Fleck, ähnlich dem im Zentrum eines Sterns, mit einer Oberflächentemperatur von etwa 70.000 Grad und einer beachtlichen Helligkeit, die am Abendhimmel lediglich als Lichtpunkt erkannt wird.«

Richard: »Wir müssen uns klarmachen, dass ohne diese Atome und Elemente im All das Leben auf der Erde nicht funktioniert. Es hätte auch nicht entstehen können.«

Arnfried schwärmte ebenfalls vom Kosmos und erzählte seinen Zuhörern, dass dessen chemische Vielfalt und auch die der Atome von den Sternen aufgebaut worden sei. Er erklärte, dass die meisten Elemente aus Verschmelzungen von kleineren zu größeren Atomkernen hervorgegangen seien, die in den Sternen beziehungsweise Atomen vorkämen und aus denen sie auch ihre Energie bezogen hätten.

Dr. Leyendecker äußerte: »Aus dem systematischen Vergleich vieler Sternspektren lassen sich so allmählich kernphysikalische Produktionsprozesse erkennen, bei denen sich der kosmische Reichtum nach und nach aufbaute.«

»Das ist doch mit viel Arbeit verbunden«, sagte die Chemotechnikerin Sylvia.

Arnfried berichtete daraufhin: »Diese Mammutaufgabe hätte ich niemals allein bewältigen können. Darum nahm ich meine Zwillingsschwestern Hannah und Kerstin als Mitstreiterinnen mit ins Boot.« Atomkern für Atomkern, vom leichten Kohlenstoff bis zum schweren Uran, untersuchten seine Zwillingsschwestern die einzelnen Reaktionen und fanden heraus, wo und wie die Elemente jeweils entstanden waren, nämlich in den heißen Bäuchen zahlloser Sterne.

Dr. Leyendecker dazu: »Die Existenz dieser Elemente und Atome wurden erst im 19. Jahrhundert zu einer umstrittenen Hypothese erklärt. Und erst 1938 realisierten Wissenschaftler und Techniker, dass sich manche Atome spalten ließen und dass bei der Spaltung großer Atome viel Energie frei wurde. Beim Uranatom kann der Spaltungsprozess so gesteuert werden, dass die auseinanderbrechenden Atome in einer Kettenreaktion immer weitere Atome spalten. Dieses Naturphänomen war die physikalische Grundlage für die Wärme- und damit die Stromproduktion in Kernkraftwerken. Seit Urzeiten nehmen Menschen und Tiere radioaktive Substanzen wie Uran oder Kalium-40 über die Nahrung und das Trinkwasser auf. Deswegen sind wir Menschen alle leicht radioaktiv. Auch Mineralwasser enthält öfters Spuren von natürlichem Uran, vor allem in alpinen Quellen, und es ist sehr gut verträglich.« Hannah und Kerstin hätten mit spektroskopischen Methoden herausgefunden, wie sich die in den Sternen geschaffenen neuen Stoffe im Weltall verteilten: »Sterne explodierten, in denen sich besonders viele neue Elemente bildeten, die ihren chemischen Stoffreichtum hinaus ins All schleuderten.« Die Methode beruhe auf der magnetischen Kernresonanz, einer resonanten Wechselwirkung zwischen dem magnetischen Moment von der Probe (es handelte sich um winzige Teilchen), die sich in einem starken statischen Magnetfeld befanden, mit einem hochfrequenten magnetischen Wechselfeld. Es seien nur solche Isotope der Spektroskopie zugänglich (Isotope haben Atomkerne, die sich von anderen des gleichen chemischen Elements nur in ihrer Anzahl von Neutronen unterscheiden), die im Grundzustand einen von null verschiedenen Kernspin und damit ein magnetisches Moment besäßen.