Michael J. Sullivan

DIE
VERBORGENE STADT
PERCEPLIQUIS

RIYRIA 6

Mit einem Glossar für die gesamte Reihe

Aus dem Englischen von
Wolfram Ströle

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Hobbit Presse

www.hobbitpresse.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

»HEIR OF NOVRON/PERCEPLIQUIS« im Verlag Orbit, Hachette Group, New York

© 2012 by Michael J. Sullivan

© Karte by Michael J. Sullivan

Für die deutsche Ausgabe

© 2016 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Birgit Gitschier, Augsburg

Illustration: Federico Musetti

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96017-4

E-Book: ISBN 978-3-608-10026-6

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Inhalt

1 Das Kind

2 Albträume

3 Gefängnisse

4 Mauerfall

5 Der Markgraf von Glouston

6 Freiwillige

7 ZUM LACHENDEN GNOM

8 Amberton Lee

9 Kriegsrat

10 Unter der Erde

11 Der Patriarch

12 Das Ziel vor Augen

13 Die Fahrt der Herold

14 Die große Kälte

15 Percepliquis

16 Der weiße Fluss

17 Die Große Par

18 Staub und Stein

19 Das Tor wird geschlossen

20 Das Gewölbe der Tage

21 Das Opfer

22 Novron der Große

23 Der Himmel in Aufruhr

24 Das Geschenk

25 Die Ankunft

26 Die Rückkehr

27 Der Zweikampf

28 Der Kreis schließt sich

29 Aus heiterem Himmel

Länder und Götter Elans

Glossar der Namen, Orte und Begriffe

Die Welt Elan

1 

Das Kind

So hatte sich Miranda immer den Beginn des Weltuntergangs vorgestellt – ohne Vorwarnung und mit Feuer. Flammen und Funkenregen stiegen hinter ihnen zum nächtlichen Himmel auf und der Himmel leuchtete rot. Die Universität von Sheridan brannte.

Sie hielt die kleine Mercy an der Hand und hatte schreckliche Angst, das Mädchen im Dunkeln zu verlieren. Bereits seit Stunden eilten sie blind durch den Kiefernwald und mussten immer wieder verdeckte Äste beiseiteschieben, auf denen sich der Schnee häufte. Alles war tief verschneit. Miranda kämpfte sich durch Schneewehen, die ihr bis über die Knie reichten. Unermüdlich bahnte sie dem Mädchen und dem alten Professor den Weg.

In einiger Entfernung hinter ihnen hatte Arcadius Mühe, ihnen zu folgen. »Geht nur weiter, wartet nicht auf mich.«

Miranda, die das schwere Bündel schleppte und das Mädchen hinter sich herzog, lief so schnell sie konnte. Immer wenn sie ein Geräusch hörte oder einen Schatten zu sehen glaubte, der sich bewegte, musste sie einen Aufschrei unterdrücken. Panik drohte sie zu überwältigen. Der Tod folgte ihnen auf den Fersen und ihre eigenen Füße waren wie bleierne Gewichte.

Das Kind tat ihr leid und sie hoffte nur, dass sie ihm nicht zu sehr wehtat, wenn sie es am Arm hinter sich herzog. Einmal hatte sie zu heftig gezogen und Mercy förmlich über den Schnee geschleift. Mercy hatte den Schnee ins Gesicht bekommen und geweint, allerdings nur kurz. Das Mädchen hatte aufgehört, Fragen zu stellen oder über Müdigkeit zu klagen. Es sagte überhaupt nichts mehr und stapfte nur noch hinter Miranda her, so gut es konnte. Es war ein tapferes Mädchen.

Sie erreichten die Straße und Miranda kniete sich vor das Mädchen. Mercys Nase lief, an ihren Wimpern hingen Schneeflocken, ihre Wangen waren gerötet und die schwarzen Haare klebten ihr nass an der Stirn. Unter dem wachsamen Blick von Ringelpelz strich Miranda ihr einige lose Strähnen hinter die Ohren. Der Waschbär schmiegte sich wie eine Pelzstola um den Hals des Mädchens. Mercy hatte vor ihrem Aufbruch unbedingt die Tiere aus den Käfigen freilassen wollen. Der Waschbär war ihren Arm hinaufgeklettert und hatte sich droben festgeklammert. Auch er schien das drohende Verhängnis zu spüren.

»Geht’s noch?«, fragte Miranda. Sie zupfte die Kapuze des Mädchens zurecht und schnallte die Spange enger, die ihren Mantel hielt.

»Ich habe kalte Füße.« Das Mädchen hielt den Blick auf den Schnee gesenkt, seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

»Ich auch«, erklärte Miranda so munter sie konnte.

»Ah, das hat Spaß gemacht, nicht wahr?«, sagte der alte Professor, der in diesem Augenblick die Böschung zu ihnen hinaufstieg. Sein Atem kam in großen Wolken aus seinem Mund, an Bart und Augenbrauen hingen Schnee und Eis. Er verlagerte das Gewicht der Tasche auf seiner Schulter.

»Und wie geht es Euch?«, fragte Miranda.

»Oh, gut, danke. Ein alter Mann braucht hin und wieder etwas Bewegung. Aber wir müssen weiter.«

»Wohin gehen wir?«, fragte Mercy.

»Nach Aquesta«, antwortete Arcadius. »Den Namen kennst du, nicht wahr, mein Schatz? Dort wohnt die Imperatorin in ihrem großen Palast und regiert. Die würdest du doch bestimmt gern kennenlernen.«

»Kann sie die bösen Leute aufhalten?«

Das Mädchen blickte über die Schulter des Alten auf die brennende Universität. Auch Miranda betrachtete den hellen Schein über den Baumwipfeln. Obwohl sie schon viele Meilen gegangen waren, war immer noch der ganze Horizont erleuchtet. Durch den Schein des Feuers flogen dunkle Schatten. Sie stiegen über der Universität auf, kreisten in der Luft und spien Feuerströme aus ihren Mäulern.

»Hoffen wir es, Schatz, hoffen wir es«, sagte Arcadius. »Aber lass uns weitergehen. Ich weiß, du bist müde und frierst. Ich auch, aber wir müssen so schnell wie möglich weg von hier.«

Mercy nickte. Vielleicht zitterte sie auch nur, die Unterscheidung war schwierig.

Miranda klopfte ihr den Schnee von Rücken und Beinen, damit sie nicht noch nasser wurde, als sie ohnehin schon war. Das brachte ihr einen vorwurfsvollen Blick von Ringelpelz ein.

»Glaubt ihr, die anderen Tiere konnten fliehen?«, fragte Mercy.

»Ganz bestimmt«, versicherte Arcadius. »Die sind doch schlau. Wenn auch vielleicht nicht so schlau wie unser Ringelpelz – der hat sich gleich noch eine Trägerin beschafft.«

Mercy nickte wieder und fügte hoffnungsvoll hinzu: »Tasse konnte bestimmt auch entkommen. Sie kann fliegen.«

Miranda vergewisserte sich, dass das Bündel des Mädchens und ihr eigenes gut verschlossen und am Rücken festgeschnallt waren. Dann blickte sie die dunkle Straße entlang.

»Auf dieser Straße kommen wir über Colnora geradewegs nach Aquesta«, erklärte der alte Zauberer.

»Wie lange brauchen wir bis nach Aquesta?«, fragte Mercy.

»Ein paar Tage – vielleicht eine Woche. Wenn das Wetter schlecht bleibt, womöglich auch länger.«

Miranda sah die Enttäuschung in Mercys Augen. »Keine Sorge, wir gehen noch ein Stück und dann machen wir erst mal Pause, ruhen aus und essen etwas. Ich mache uns was Warmes und dann schlafen wir ein paar Stunden. Aber jetzt müssen wir weiter. Wenigstens ist das Laufen auf der Straße nicht so anstrengend.«

Sie nahm das Mädchen an der Hand und ging weiter. Zu ihrer Erleichterung behielt sie recht: Tiefe Wagenspuren halfen ihnen beim Fortkommen, außerdem führte die Straße bergab. Sie schlug ein strammes Tempo an und schon bald verschwand der feurige Schein in ihrem Rücken hinter den Bäumen. Es wurde dunkel und still und nur das Pfeifen des eisigen Windes leistete ihnen Gesellschaft.

Miranda warf dem alten Professor, der hinter ihnen herstapfte, einen Blick zu. Er hatte den Kragen hochgeschlagen und hielt ihn am Hals zusammen. Sein Gesicht war gerötet und fleckig, sein Atem ging keuchend. »Kommt Ihr auch bestimmt zurecht?«

Arcadius antwortete nicht gleich. Er schloss zu ihnen auf und lächelte angestrengt, dann flüsterte er Miranda ins Ohr: »Ich fürchte, ihr müsst diese Reise ohne mich fortsetzen.«

»Was?«, sagte Miranda zu laut. Sie blickte zu Mercy hinunter, aber das Mädchen reagierte nicht. »Wir machen bald Pause. Dann ruhen wir aus und morgen lassen wir uns Zeit. Wir haben heute schon eine gute Strecke geschafft.« Sie streckte die Hand aus. »Ich nehme Eure Tasche.«

»Nein, die behalte ich. Der Inhalt ist sehr empfindlich, wie du weißt – und gefährlich. Wenn ihr Träger sterben muss, will ich das sein. Und ich glaube nicht, dass eine Pause mir viel nützen würde. Ich habe für diese Art des Reisens einfach nicht die Kraft, das wissen wir beide.«

»Ihr dürft nicht aufgeben.«

»Ich gebe auch nicht auf, ich vertraue nur dir unseren Schützling an. Ihr werdet es schaffen.«

»Aber ich weiß nicht, was ich tun soll. Ihr habt mich nicht in Euren Plan eingeweiht.«

Arcadius lachte leise. »Nur deshalb nicht, weil er sich ständig ändert. Ich hatte gehofft, die Regenten würden Mercy als Modinas Erbin anerkennen, aber sie haben sich geweigert.«

»Und jetzt was?«

»Jetzt sitzt Modina auf dem Thron und wir haben eine zweite Chance. Versucht also, euch nach Aquesta durchzuschlagen, und bittet sie um eine Audienz.«

»Aber ich weiß doch gar nicht, wie …«

»Das findest du schon heraus. Stelle Mercy der Imperatorin vor, das wäre ein erster Schritt in die richtige Richtung. Du wirst bald die Einzige sein, die die Wahrheit kennt. Ich bürde dir diese Last ja nur ungern auf, aber ich habe keine andere Wahl.«

Miranda schüttelte den Kopf. »Nein, meine Mutter hat sie mir aufgebürdet, nicht Ihr.«

»Eine Beichte auf dem Sterbebett ist eine ernste Sache.« Der Alte nickte. »Aber anschließend konnte sie in Frieden sterben.«

»Glaubt Ihr wirklich? Oder geht ihre Seele noch unter uns um? Manchmal habe ich das Gefühl, als würde sie mich beobachten – und mir nachstellen. Ich bezahle den Preis für ihre Schwäche, ihre Feigheit.«

»Deine Mutter war jung, arm und unwissend. Sie musste den Tod Dutzender Männer mit ansehen und wie eine Mutter mit Kind abgeschlachtet wurde, und sie ist selbst nur mit knapper Not davongekommen. Sie lebte in ständiger Angst, eines Tages würde jemand herausfinden, dass es Zwillinge gab und sie einen davon gerettet hat.«

»Aber was sie getan hat, war falsch und gewissenlos«, entgegnete Miranda bitter. »Und am schlimmsten ist, dass sie die Sünde nicht mit ins Grab genommen hat. Sie musste sie mir anvertrauen, mich dazu verpflichten, ihre Fehler wiedergutzumachen. Sie hätte …«

Mercy blieb plötzlich stehen und zog Miranda am Arm.

»Schatz, wir müssen …« Miranda sah Mercys Gesicht und blieb ebenfalls stehen. Mercy blickte unverwandt in Richtung einer großen steinernen Brücke, zu der die Straße sich absenkte. Der schwache Schein der ersten Morgendämmerung fiel auf ihr Gesicht. Sie hatte Angst.

»Da vorne ist Licht«, sagte Arcadius.

»Ist das …?«, setzte Miranda an.

Er schüttelte den Kopf. »Es handelt sich um ein Lagerfeuer – oder, wie es aussieht, mehrere. Vermutlich andere Flüchtlinge. Wir können zu ihnen stoßen, es würde das Reisen vereinfachen. Wenn ich es richtig sehe, lagern sie am anderen Ufer des Galewyr. Ich hatte keine Ahnung, dass wir schon so weit gekommen sind. Kein Wunder bin ich erschöpft.«

Sie gingen weiter.

»Na also«, sagte Miranda zu dem Mädchen. »Siehst du? Unser Problem hat sich schon gelöst. Vielleicht haben die Flüchtlinge sogar ein Fuhrwerk, auf dem ein alter Mann fahren kann.«

Arcadius lächelte ein wenig gequält. »Immerhin eine schöne Aussicht.«

»Wir werden …«

Das Mädchen drückte Mirandas Hand und blieb erneut stehen. Auf der Straße kamen ihnen Reiter entgegen. Die Pferde schnaubten weiße Wolken und ihre Hufe klapperten in den vereisten Fahrrinnen. Die Reiter waren in dunkle Mäntel gehüllt. Sie hatten Kapuzen auf und Schals um die Köpfe geschlungen, deshalb war von ihren Gesichtern nicht viel zu sehen. Nur eines stand fest – es handelte sich ausschließlich um Männer. Miranda zählte drei. Sie kamen von Süden, aber nicht aus der Richtung der Lagerfeuer. Demnach waren sie keine Flüchtlinge.

»Was glaubt Ihr?«, fragte Miranda. »Wegelagerer?«

Der Professor schüttelte den Kopf.

»Was sollen wir tun?«

»Vielleicht brauchen wir gar nichts zu tun. Wenn wir Glück haben, sind es nur brave Leute, die uns zu Hilfe kommen. Wenn nicht …« Er klopfte grimmig auf seine Tasche. »Dann gehst du zu den Lagerfeuern und bittest dort um ein Nachtlager und Schutz. Anschließend sorgst du dafür, dass Mercy nach Aquesta kommt. Meide die Regenten. Suche möglichst die Imperatorin selbst auf und erzähle ihr Mercys Geschichte. Sag ihr die Wahrheit.«

»Aber wenn …«

Die Reiter waren herangekommen und ritten nun im Schritt.

»Wen haben wir denn hier?«, fragte einer.

Miranda hätte nicht sagen können, wer gesprochen hatte, vermutlich der, der den anderen ein wenig vorausritt. Er betrachtete die Frau, den alten Mann und das Kind eingehend, während die drei wie erstarrt dastanden. Nur das kehlige Schnauben der Pferde war zu hören.

»Ist das nicht ein schöner Zufall?«, sagte der Reiter und stieg ab. »Ausgerechnet Euch von allen Menschen der Welt wollte ich besuchen.«

Er war groß, bewegte sich ein wenig steif und hielt sich dabei die Seite. Von unter seiner Kapuze musterte er die Reisenden mit einem stechenden Blick. Nase und Mund waren mit einem scharlachroten Schal verhüllt.

»Ihr macht einen Morgenspaziergang im Schnee?«, fragte er und kam näher.

»Keineswegs«, erwiderte Arcadius. »Wir sind auf der Flucht.«

»Das glaube ich Euch sofort. Wenn ich auch nur einen Tag länger gewartet hätte, hätte ich Euch also verpasst und Ihr wärt mir entschlüpft. In den Palast zu kommen, war ein törichter Fehler. Ihr habt dabei zu viel verraten. Und wofür? Ihr hättet es besser wissen müssen. Aber das Alter bringt offenbar eine gewisse Ungeduld mit sich.« Er sah Mercy an. »Ist sie das Mädchen?«

»Guy, Sheridan brennt«, sagte Arcadius. »Die Elben haben den Nidwalden überquert. Sie greifen an!«

Guy! Miranda kannte ihn oder wenigstens seinen Ruf. Von Arcadius wusste sie die Namen sämtlicher Inquisitoren der Kirche. Und Luis Guy war seiner Meinung nach der gefährlichste. Alle Inquisitoren waren Fanatiker, ausgewählt aufgrund ihrer strengen Rechtgläubigkeit, aber Guy hatte darüber hinaus noch eine ganz spezielle Mission. Seine Mutter hieß mit Mädchennamen Evone. Sie war eine fromme Frau und hatte Fürst Jarred Seret geheiratet, einen direkten Nachfahren des ersten Fürsten Darius Seret, der von Patriarch Venlin beauftragt worden war, den Erben des Alten Imperiums zu suchen. Hinter dem Erben waren auch noch andere Menschen her, aber Luis Guy war von allen Jägern der besessenste.

»Haltet mich nicht zum Narren. Das ist doch das Mädchen, über das ihr mit Saldur und Ethelred gesprochen habt, das Mädchen, das Ihr zur nächsten Imperatorin heranziehen wolltet. Aus welchem Grund? Warum ausgerechnet sie? Und was habt Ihr jetzt wieder vor? Wolltet Ihr sie tatsächlich an uns vorbeimogeln? Um Euren Fehler wiedergutzumachen?« Guy beugte sich hinunter, um Mercys Gesicht besser sehen zu können. »Komm her, mein Kind.«

»Nein!«, rief Miranda heftig und zog Mercy an sich.

Guy richtete sich langsam auf. »Lass das Kind los«, befahl er.

»Nein.«

»Inquisitor Guy!«, rief Arcadius. »Sie ist nur ein Bauernmädchen, ein Waisenkind, das ich bei mir aufgenommen habe.«

»Ach ja?« Guy zog sein Schwert.

»Nehmt Vernunft an. Ihr wisst doch gar nicht, was Ihr tut.«

»Oh, ich glaube schon. Esrahaddon stand so im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, dass man Euch ganz übersehen hat. Wer wäre auch auf die Idee gekommen, dass Ihr einen Hinweis auf den Erben gebt, und das nicht nur einmal, sondern gleich zweimal?«

»Den Erben? Den Erben Novrons? Seid Ihr verrückt geworden? Ihr glaubt, ich hätte deswegen bei den Regenten vorgesprochen?«

»Etwa nicht?«

»Nein.« Arcadius schüttelte den Kopf und lächelte wie über eine absurde Unterstellung. »Ich hatte nur die Vermutung, sie könnten die Frage der Erbfolge nicht bedacht haben, und wollte dazu beitragen, dass die nächste Herrscherin des Imperiums eine gute Erziehung bekommt.«

»Aber Ihr wolltet unbedingt dieses Mädchen – nur sie. Warum, wenn sie nicht die Erbin ist?«

»Aber das ist doch abwegig. Woher soll ich wissen, wer der Erbe ist? Ob überhaupt noch ein Erbe lebt?«

»Das ist tatsächlich der springende Punkt, das fehlende Puzzleteilchen. Ihr seid der Einzige, der es wissen könnte. Sagt doch, Arcadius Latimer, womit hat Euer Vater seinen Lebensunterhalt verdient?«

»Er war ein Weber, aber ich verstehe nicht, was …«

»Und wie hat der arme Sohn eines Webers aus einem kleinen Dorf es geschafft, Professor für Überlieferung an der Universität von Sheridan zu werden? Euer Vater konnte vermutlich nicht einmal lesen und schreiben, sein Sohn dagegen ist einer der größten Gelehrten der Welt. Wie ist das möglich?«

»Wirklich, Guy, ich hätte nicht gedacht, dass ich jemandem wie Euch erklären muss, was man mit Ehrgeiz und harter Arbeit alles erreichen kann.«

Guy verzog spöttisch die Lippen. »Ihr wart zehn Jahre verschwunden und bei Eurer Rückkehr wusstet Ihr auf einmal viel mehr als bei Eurem Verschwinden.«

»Das phantasiert Ihr Euch zusammen.«

Guy grinste. »Die Kirche lässt an ihrer Universität nicht jeden unterrichten. Wisst Ihr nicht, dass sie Akten über ihre Mitarbeiter anlegt?«

»Doch, natürlich. Ich wusste nur nicht, dass Ihr sie kennt.« Der Alte lächelte.

»Ich bin Inquisitor, Dummkopf! Ich habe Zutritt zu sämtlichen Archiven der Kirche.«

»Schon, ich hätte nur nicht gedacht, dass mein akademisches Examen jemanden interessieren könnte. In meiner Jugend war ich ein Rebell – und übrigens auch ein gutaussehender junger Mann. Steht das auch in den Akten?«

»Dort steht, Ihr hättet das Grab Yolrics gefunden. Wer war Yolric?«

»Jetzt dachte ich schon, Ihr wüsstet alles.«

»Ich hatte keine Zeit, in Bibliotheken zu stöbern. Schließlich musste ich Euch erwischen.«

»Aber warum? Warum seid Ihr hinter mir her? Und warum das Schwert in Eurer Hand?«

»Weil der Erbe Novrons sterben muss.«

»Das Mädchen ist nicht der Erbe. Wie kommt Ihr drauf? Woher sollte ausgerechnet ich wissen, wer der Erbe ist?«

»Weil Ihr die Lösung dieses Geheimnisses damals mitgebracht habt. Ihr habt entdeckt, wie man den Erben finden kann.«

»Von wegen! Wirklich, Guy, Ihr habt eine blühende Phantasie.«

»Es gibt auch noch andere Berichte. Die Kirche hat Euch zu einer Befragung einbestellt. Man glaubte, Ihr wärt wie dieser andere Professor, Edmund Hall, in Percepliquis gewesen. Und nur wenige Tage nach dieser Befragung kam es in Rehagen zu einem Zwischenfall. Eine schwangere Frau und ihr Mann wurden getötet, eine gewisse Linitha Brown und ihr Mann Naron. Sie und ihr Kind wurden von Seret-Rittern hingerichtet. Ich finde es interessant, dass mein Vorgänger den Erben Novrons nach jahrhundertelanger Suche wenige Tage nach Eurer Befragung durch die Kirche ausfindig machen konnte.« Guy durchbohrte den Professor mit einem Blick. »Habt Ihr einen Handel mit der Kirche gemacht? Eure Freilassung mit gewissen Informationen erkauft? Man hat Euch bestimmt gesagt, man suche den Erben, um ihn zum König krönen zu können. Und als Ihr dann erfahren habt, was die Kirche wirklich wollte, hattet Ihr wohl das Gefühl, missbraucht worden zu sein – Ihr müsst schrecklich unter Eurer Schuld gelitten haben.«

Er machte eine Pause, um Arcadius die Gelegenheit zur Antwort zu geben, aber der Professor schwieg.

»Danach glaubten alle, es gebe keine direkten Nachfahren mehr. Nicht einmal der Patriarch wusste, dass noch ein weiterer Erbe lebte. Dann flieht Esrahaddon aus dem Gefängnis und begibt sich geradewegs zu Degan Gaunt. Nur dass Degan nicht der Erbe ist. Auch ich habe mich lange Zeit zum Narren halten lassen. Stellt Euch meinen Schrecken vor, als er den Bluttest nicht bestand, den er doch zuvor absolviert hatte. Was bestimmt das Ergebnis desselben Tranks war, den Esrahaddon auch bei König Amrath und Arista angewendet hatte und der Bragas Verdacht gegen die Essendons weckte. Rückblickend hätten wir eigentlich draufkommen müssen, dass ein Zauberer des Alten Imperiums nie so dumm sein würde, uns zum wirklichen Erben zu führen. Denn es gibt noch einen anderen Erben, eine Erbin, nicht wahr? Und Ihr habt sie auf dieselbe Weise gefunden wie den ersten Erben.«

Guy betrachtete Mercy. »Wer ist sie? Ein uneheliches Kind? Eine Nichte?« Er trat vor Miranda. »Übergib sie mir.«

»Nein!«, rief der alte Professor.

Einer der Soldaten packte Miranda, der andere entriss ihr das Mädchen.

»Aber lass uns auf Nummer sicher gehen. Ich mache denselben Fehler nicht zweimal.« Mit einer raschen Bewegung schnitt er Mercy über die Hand. Sie schrie auf und Ringelpelz fauchte.

»Das ist völlig unnötig!«, rief Arcadius.

»Passt auf sie auf«, befahl Guy seinen Leuten und ging zu seinem Pferd.

»Ist ja gut«, sagte Miranda zu Mercy. »Du musst jetzt für mich ganz tapfer sein.«

Guy legte sein Schwert behutsam auf den Boden und zog einen kleinen Lederkoffer aus seiner Satteltasche. Ihm entnahm er drei Fläschchen. Er entkorkte das erste, neigte es und klopfte mit dem Finger darauf, bis ein Pulver auf die blutige Schwertspitze fiel.

»Ich will gehen«, wimmerte Mercy, doch der Soldat ließ sie nicht los. »Können wir bitte gehen?«

»Interessant«, murmelte Guy und wandte sich dem zweiten Fläschchen zu. Es enthielt eine Flüssigkeit, die zischte, als sie auf das Schwert tropfte.

»Guy!«, rief Arcadius und trat auf ihn zu.

»Sehr interessant«, fuhr Guy fort. Er entkorkte das letzte Fläschchen.

»Nicht, Guy!«, schrie der Alte.

Der Inquisitor ließ einen einzelnen Tropfen auf die Schwertspitze fallen.

Ein Ploppen war zu hören wie von einem Korken, den man aus einer Weinflasche zieht, gefolgt von einem grellen Lichtblitz.

Der Inquisitor richtete sich auf, starrte das Schwert an und begann zu lachen. Das Lachen klang seltsam, geradezu gespenstisch, als würde ein Verrückter singen. »Endlich! Endlich habe ich die Erbin Novrons gefunden. Ich habe die Suche meiner Vorfahren zum Abschluss gebracht.«

»Miranda«, flüsterte Arcadius, »du musst dir dort Hilfe suchen.« Sein Blick wanderte verstohlen zum Lager der Flüchtlinge.

Die Morgendämmerung hatte eingesetzt und Miranda sah Rauchsäulen vom Lager aufsteigen. Hilfe war so verlockend nah, nur ein paar hundert Fuß entfernt.

»Ich habe mein ganzes Leben lang versucht, meinen Fehler wiedergutzumachen«, sagte Arcadius. »Jetzt ist es an dir, zu tun, was getan werden muss.«

Luis Guy nahm das Mädchen und setzte es auf sein Pferd. »Wir bringen die Kleine zum Patriarchen.«

»Und diese beiden?«, fragte einer der Kapuzenmänner.

»Nehmt den Alten auch mit. Die Frau tötet.«

Der Soldat griff nach seinem Schwert und Miranda stockte der Atem.

»Halt!«, rief Arcadius. »Was ist mit dem Horn?« Er wich einige Schritte zurück und hielt seine Umhängetasche mit den Händen umklammert. »Das Horn will der Patriarch doch bestimmt auch, oder?«

Guys Blick wanderte zu der Tasche.

»Ihr habt es?«, fragte er.

Arcadius warf Miranda einen verzweifelten Blick zu, dann drehte er sich um und rannte die Straße entlang.

»Pass du auf das Kind auf«, befahl Guy einem Soldaten. Dann winkte er dem anderen und zu zweit nahmen sie die Verfolgung auf. Arcadius rannte schneller, als Miranda je für möglich gehalten hätte.

Sie sah ihm – ihrem engsten Freund – nach, wie er mit wehendem Mantel den Weg zurücklief, den sie gekommen waren. Unter anderen Umständen hätte sie den Anblick komisch gefunden, aber sie wusste, was in Arcadius’ Tasche steckte. Sie wusste, weshalb er weglief, was es bedeutete und was sie jetzt tun musste.

Sie griff nach dem Dolch unter ihrem Mantel. Sie hatte noch nie jemanden getötet, aber was für eine Wahl hatte sie? Der Mann, der zwischen ihr und Mercy stand, war Soldat, wahrscheinlich sogar ein Seret-Ritter. Er kehrte ihr den Rücken zu und war damit beschäftigt, Guys Pferd festzuhalten, Mercy zu bewachen und dem Waschbären auszuweichen, der fauchend nach ihm schnappte.

Miranda blieben nur wenige Augenblicke, bis Guy und der andere Mann Arcadius eingeholt hätten. Sie wusste, was gleich passieren würde, und hätte am liebsten geweint. Sie hatten es gemeinsam so weit geschafft, hatten so viel geopfert. Jetzt, so dicht vor dem Ziel, angehalten zu werden … am Straßenrand ermordet zu werden … das Wort »tragisch« war viel zu schwach, um die darin liegende Ungerechtigkeit auszudrücken. Aber für Tränen war später noch Zeit. Der Professor rechnete mit ihr und sie würde ihn nicht enttäuschen. Sein letzter Blick hatte alles gesagt. Es ging um alles oder nichts. Wenn sie Mercy zu Modina bringen konnte, wurde vielleicht doch noch alles gut.

Sie zog den Dolch, trat rasch hinter den Soldaten und stieß ihm die Klinge mit aller Kraft in den Rücken. Er trug weder Kettenhemd noch Lederpanzer und die scharfe Klinge drang durch Kleider, Haut und Muskeln hindurch und tief in ihn hinein.

Der Soldat fuhr herum und schlug nach ihr. Er erwischte sie mit dem Handrücken an der Wange und sie taumelte zurück und fiel in den Schnee. Den Dolch hielt sie immer noch in der Hand. Der Griff war vom Blut glitschig.

Mercy klammerte sich schreiend an den Sattel. Der Waschbär hatte das Fell gesträubt und schnatterte aufgeregt.

Miranda stand auf und der Soldat zog sein Schwert. Er war schwer verletzt und sein Hosenbein war blutgetränkt. Taumelnd kam er näher. Miranda versuchte ihm zu entkommen und streckte die Hände nach Mercy und dem Pferd aus, aber der Seret war schneller. Sein Schwert bohrte sich in Hüfthöhe in ihre Seite. Sie spürte, wie es in sie eindrang. Sengende Schmerzen durchfuhren sie und dann war ihr plötzlich ganz kalt. Die Knie gaben unter ihr nach, doch sie konnte sich am Sattel festhalten. Aufgeschreckt durch das Handgemenge und Mercys Geschrei, setzte das Pferd sich in Bewegung und schleifte sie mit.

Hinter ihnen ging der Soldat in die Knie. Zwischen seinen Lippen erschien blutiger Schaum.

Miranda wollte sich zum Sattel hinaufziehen, konnte die Beine aber nicht mehr bewegen. Schlaff hingen sie hinunter und auch die Kraft in ihren Armen nahm rapide ab. »Nimm die Zügel, Mercy, und halte dich gut fest.«

Guy und der andere Mann hatten Arcadius auf der Straße inzwischen eingeholt. Guy, der stehen geblieben war, als das Mädchen zu schreien begonnen hatte, traf etwas später bei ihm ein. Der Soldat drückte den Alten nach unten in den Schnee.

»Mercy«, sagte Miranda, »du musst ohne mich reiten. Reite in diese Richtung, zu den Lagerfeuern. Bitte die Leute um Hilfe. Los.«

Mit ihrer letzten Kraft schlug sie dem Pferd auf die Flanke. Das Tier setzte sich erschrocken in Trab. Der Sattel wurde Miranda aus den Händen gerissen und sie fiel wieder in den Schnee. Auf dem Rücken liegend, lauschte sie auf die sich entfernenden Hufschläge.

»Knie dich …«, hörte sie Guy rufen, aber zu spät. Arcadius hatte die Tasche geöffnet.

Sogar aus mehreren hundert Fuß Entfernung spürte Miranda, wie die Erde unter der Explosion erbebte. Im nächsten Augenblick stieg eine weiße Wolke zum Morgenhimmel auf und eine heftige Bö blies ihr den Schnee schmerzhaft ins Gesicht. Arcadius und der Mann, der ihn in den Schnee gedrückt hatte, waren sofort tot. Guy wurde umgerissen, die restlichen Pferde stoben auseinander.

Die Wolke legte sich wieder und Miranda blickte zum heller werdenden Himmel auf. Ihr war nicht mehr kalt. Die Schmerzen in ihrer Seite hatten nachgelassen und sie spürte auch in Beinen und Händen nichts mehr. Ein Luftzug strich ihr über die Wange und sie bemerkte, dass ihre Beine und Hüften und ihre Kleider blutgetränkt waren. Auf der Zunge hatte sie einen metallischen Geschmack. Das Atmen fiel ihr schwer, als müsste sie ersticken.

Guy lebte noch. Sie hörte, wie er Arcadius verwünschte und nach den Pferden rief wie nach ungehorsamen Hunden. Dann knirschte Schnee, knarrte Leder und entfernten sich Hufe im Galopp.

Sie war allein, umgeben nur von der Stille des kalten Wintermorgens.

Alles war so ruhig, so friedlich.

»Maribor, erhöre mich«, betete sie laut zum Himmel hinauf. »Vater Novrons und Schöpfer der Menschen.« Sie holte ein letztes Mal Luft. »Nimm dich deiner einzigen Tochter an.«

Alenda Lanaklin kroch aus ihrem Zelt. Es war ein kalter Morgen und sie fror, obwohl sie ihr dickstes Wollkleid und darüber noch zwei Felle trug. Die Sonne ging gerade auf – ein milchig kalter Schein an dem von einer dicken Wolkensuppe bedeckten Winterhimmel. Seit über einer Woche war der Himmel jetzt schon grau und trübe und Alenda fragte sich allmählich, ob sie die Sonne überhaupt je wieder zu Gesicht bekommen würde.

Sie stand auf dem festgetrampelten Schnee und ließ den Blick über mehrere Dutzend Zelte wandern, die sie im Schutz der Kiefern aufgeschlagen hatten. In rußgeschwärzten Gruben im Schnee brannten Lagerfeuer, von denen graue Rauchfahnen aufstiegen, die der Wind einmal in die eine und dann in die andere Richtung wehte. Dazwischen eilten Gestalten mit Kapuzen hin und her, die so dick vermummt waren, dass man Männer und Frauen nicht unterscheiden konnte. Eine Unterscheidung, die sich freilich fast erübrigte – es waren kaum Männer anwesend. Überwiegend Frauen bevölkerten das Lager, außerdem Kinder und alte Menschen. Mit gesenkten Köpfen suchten sie sich einen Weg durch den Schnee.

Bei Tageslicht wirkte alles so anders, so still und ruhig. Die vorangegangene Nacht war ein Albtraum gewesen, erfüllt von Flammen und Geschrei. In Panik waren sie auf der nach Westen führenden Straße geflohen. Sie hatten nur einmal kurz haltgemacht, um die Anwesenden durchzuzählen. Alenda war so erschöpft gewesen, dass sie sich an den Aufbau des Lagers kaum noch erinnerte.

»Guten Morgen, Herrin«, begrüßte Emily sie von unter einer Decke, die sie sich um den Mantel gewickelt hatte. Alendas Zofe klang nicht so munter wie gewöhnlich. Sie war sonst am Morgen immer zu Scherzen aufgelegt. Doch jetzt war ihr Gesicht ernst und verhalten. Ihre geröteten Hände zitterten vor Kälte und ihre Zähne klapperten.

»Guten Morgen, Emily?« Alenda sah sich noch einmal um. »Was soll an diesem Morgen gut sein?«

»Ihr müsst frühstücken. Etwas Warmes wird Euch guttun.«

»Mein Vater und meine Brüder sind tot«, erwiderte Alenda. »Die Welt geht unter. Wie kann ein Frühstück dagegen helfen?«

»Ich weiß es nicht, Herrin, aber wir müssen es versuchen. Euer Vater wollte es so – dass Ihr überlebt, meine ich. Deshalb ist er doch zurückgeblieben.«

In einiger Entfernung im Norden ertönte ein Knall wie ein Donnerschlag mit langsam verrinnendem Echo. Alle blickten mit panischen Gesichtern über die schneebedeckten Wiesen. War dies das Ende?

In der Mitte des Lagers begegnete Alenda Belinda Pickering, ihrer Tochter Lenare, dem alten Julian, dem Erzkämmerer von Melengar, und Graf Valin, dem einzigen Beschützer der Flüchtlinge. Der ältere Ritter hatte sie durch das Chaos der vergangenen Nacht geführt – sie, die Überreste des königlichen Hofes, die in Melengar geblieben waren. König Alric war bereits in Aquesta. Er hatte dort in dem kurzen Bürgerkrieg mitgekämpft und seine Schwester Arista vor der Hinrichtung gerettet. Zu ihm flohen sie jetzt.

»Wir wissen es nicht, aber es wäre töricht, noch länger zu bleiben«, sagte der Graf gerade.

Belinda nickte. »Das ist auch meine Meinung.«

Graf Valin wandte sich an einen Jungen. »Weck die anderen. Wir brechen sofort das Lager ab.«

Alenda wandte sich an ihre Zofe. »Emily, lauf zurück und pack unsere Sachen.«

»Zu Befehl, Herrin.« Emily knickste und eilte zu ihrem Zelt.

»Was war das für ein Knall?«, fragte Alenda Lenare, doch Lenare sah sie nur verängstigt an und zuckte die Schultern.

Lenare Pickering war wie immer bildhübsch anzusehen, eine strahlende Erscheinung trotz der Schrecken der Nacht, der Flucht und der primitiven Bedingungen im Lager. Zwar wirkte sie in ihrem hastig übergeworfenen Mantel, aus dessen Kapuze ihre blonden Haare hervorquollen, ein wenig zerzaust, doch tat das ihrer Schönheit keinen Abbruch, so wie ein Baby im Schlaf nicht weniger vollkommen erscheint. Sie hatte das von ihrer Mutter geerbt. So wie die Männer der Pickerings als Schwertkämpfer berühmt waren, waren die Frauen es für ihr Aussehen. Lenares Mutter Belinda war eine legendäre Erscheinung gewesen.

Doch schien das alles keine Rolle mehr zu spielen. Was noch am Tag zuvor unverrückbar gegolten hatte, schien jetzt durch eine schier unüberbrückbare Kluft entfernt und für alle Zeiten verloren, auch wenn es manchmal den Anschein hatte, als versuchte Lenare diese Kluft zu überbrücken. Alenda hatte sie oft dabei beobachtet, wie sie zum nördlichen Horizont starrte und nach Geistern Ausschau hielt, in ihrem Blick eine Mischung aus Verzweiflung und Reue.

Das legendäre Schwert ihres Vaters hatte Lenare bei sich. Der Graf hatte es ihr gegeben, mit der Bitte, es ihrem Bruder Mauvin zu überbringen. Anschließend hatte er alle Mitglieder seiner Familie geküsst und war zur Front zurückgekehrt, wo Alendas Vater und Brüder mit dem Rest der Armee warteten. Seit damals hatte Lenare das Schwert nicht aus der Hand gegeben. Sie hatte es in eine schwarze Wolldecke gewickelt und diese mit einem Seidenband verschnürt. Auf der Flucht hatte sie das längliche Paket an die Brust gedrückt und sich damit manchmal auch die Tränen weggewischt.

»Wenn wir uns beeilen, könnten wir es bis Sonnenuntergang nach Colnora schaffen«, erklärte Graf Valin. »Vorausgesetzt, das Wetter bessert sich.« Grimmig blickte er zum Himmel auf, als sei dieser ihr schlimmster Feind.

»Baron Julian«, sagte Belinda, »die königlichen Kleinodien … Zepter und Siegel …«

»Sind in Sicherheit, Herrin«, antwortete der alte Kämmerer. »Sie befinden sich auf einem Wagen. Es ist alles da, nur das Land wurde uns genommen.« Der Alte blickte in die Richtung des seltsamen Knalls, der vom Ufer des Galewyr und der Brücke gekommen war, die sie in der Nacht überquert hatten.

»Wird man uns in Colnora helfen?«, fragte Belinda. »Wir haben nicht mehr viel Proviant.«

»Wenn man dort weiß, dass König Alric geholfen hat, die Imperatorin zu befreien, dann ganz bestimmt«, sagte Graf Valin. »Und selbst wenn nicht, Colnora ist eine Handelsstadt und Kaufleute leben vom Profit, nicht von ritterlichen Tugenden.«

»Ich habe einigen Schmuck«, erklärte Belinda. »Notfalls könnt Ihr den verkaufen …« Sie brach ab, denn sie hatte bemerkt, dass Julian immer noch zur Brücke blickte.

Die anderen folgten seinem Blick und endlich hob auch Alenda den Kopf. Ein Reiter näherte sich ihnen.

»Ist das …?«, begann Lenare.

»Ein Kind«, stellte Belinda fest.

Jetzt sah auch Alenda, dass sie recht hatte. Ein Mädchen galoppierte auf sie zu. Es klammerte sich verzweifelt an den Rücken des schweißgetränkten Pferdes. Der Wind hatte ihm die Kapuze vom Kopf geweht, so dass man seine langen, schwarzen Haare und rosigen Wangen sah. Es mochte sechs Jahre alt sein, und so, wie es sich an das Pferd klammerte, klammerte sich ein Waschbär an das Mädchen. Die beiden waren ein seltsames Paar, so ganz allein auf der Straße, doch Alenda rief sich ins Gedächtnis, dass nichts mehr »normal« war. Wenn sie als Nächstes einen Bären sah, der einen Hut mit Feder trug und auf einem Hühnchen ritt, war das womöglich auch schon normal.

Das Pferd galoppierte ins Lager und Graf Valin packte es an den Zügeln und zwang es anzuhalten.

»Wie geht es dir, mein Kind?«, fragte Belinda.

»Am Sattel klebt Blut«, sagte Graf Valin.

»Bist du verletzt? Wo sind deine Eltern?«

Das Mädchen zitterte und schloss kurz die Augen, schwieg aber. Mit seinen kleinen Fäusten hielt es weiter die Zügel umklammert.

Belinda berührte seine Wangen. »Eiskalt«, sagte sie. »Helft mir, es vom Pferd herunterzuholen.«

»Wie heißt du?«, fragte Alenda.

Das Mädchen blieb stumm. Nachdem man ihm das Pferd genommen hatte, begann es den Waschbären zu streicheln.

»Da kommt noch ein Reiter«, rief Graf Valin.

Alenda blickte auf. Ein Mann überquerte die Brücke und ritt in ihre Richtung.

Im Lager angekommen, warf er seine Kapuze zurück. Lange, schwarze Haare kamen zum Vorschein, eine helle Haut und stechende Augen. Er trug einen schmalen Schnurrbart und einen kurzen, zu einer Spitze zulaufenden Bart. Finster ließ er den Blick wandern, bis er das Mädchen entdeckte.

»Da!«, rief er. »Gebt mir das Kind sofort heraus.«

Das Mädchen schrie angstvoll auf und schüttelte den Kopf.

»Nein!«, erwiderte Belinda und schob es zu Alenda.

»Aber wenn das Kind ihm gehört …«, sagte Graf Valin.

»Es gehört ihm nicht«, erklärte Belinda scharf.

»Ich bin Inquisitor der Nyphronkirche«, rief der Mann so laut, dass alle es hören konnten. »Die Kirche erhebt Anspruch auf dieses Kind. Ihr werdet es mir daher augenblicklich aushändigen. Wer sich mir widersetzt, muss sterben.«

»Ich kenne Euch, Luis Guy«, rief Belinda empört. »Und ich werde Euch keine weiteren Kinder ausliefern, damit Ihr sie ermorden könnt.«

Der Inquisitor musterte sie. »Gräfin Pickering?« Er sah sich mit neuem Interesse um. »Wo ist Euer Mann? Wo ist Euer flüchtiger Sohn?«

»Ich bin nicht flüchtig«, erwiderte Denek und trat vor. Belindas Jüngster war kurz zuvor dreizehn geworden, ein hoch aufgeschossener, schlaksiger Junge. Er kam ganz nach seinen älteren Brüdern.

»Er meint Mauvin«, erklärte Belinda. »Dieser Mann hat Fanen ermordet.«

»Ich wiederhole meine Frage«, sagte Guy ungeduldig. »Wo ist Euer Mann?«

»Er ist tot und an Mauvin kommt Ihr nicht ran.«

Der Blick des Inquisitors wanderte über die anderen Anwesenden und blieb an Graf Valin hängen. »Und jetzt habt Ihr keinen starken Arm mehr, der Euch schützt. Gebt mir das Kind.«

»Nein.«

Guy stieg ab und trat vor Graf Valin. »Gebt das Kind heraus oder ich hole es mir.«

Der alte Ritter sah Belinda an, deren Miene ablehnend blieb. »Meine Herrin wünscht das nicht und ich werde notfalls für sie kämpfen.« Er zog sein Schwert. »Geht jetzt.«

Guy zog ebenfalls das Schwert und griff an. Stahl klirrte auf Stahl. Im nächsten Augenblick hielt Graf Valin sich die blutende Seite und sein Schwertarm sank herunter. Mit einem Kopfschütteln schlug der Inquisitor die Klinge weg und stieß dem Grafen sein Schwert in den Hals.

Mit zornig funkelnden Augen ging er auf das Mädchen zu. Doch da trat Belinda zwischen sie.

»Ich töte Frauen nur ungern«, sagte Guy. »Aber ich lasse mir das Mädchen von niemandem wegnehmen.«

»Wozu braucht Ihr sie?«

»Ich werde sie töten, wie Ihr gesagt habt. Ich bringe sie zum Patriarchen und dann muss sie von meiner Hand sterben.«

»Niemals.«

»Ihr könnt mich nicht aufhalten. Seht Euch um. Ihr habt nur Frauen und Kinder, niemanden, der für Euch kämpfen könnte. Gebt mir das Mädchen!«

»Mutter?«, sagte Lenare leise. »Er hat recht. Es ist sonst niemand da. Bitte.«

»Lasst mich kämpfen, Mutter«, bat Denek.

»Nein, du bist noch zu jung. Deine Schwester hat recht. Es kommt sonst niemand in Frage.« Die Gräfin nickte ihrer Tochter zu.

»Es freut mich, dass hier wenigstens eine Person …« Guy brach ab. Lenare war vorgetreten. Sie schlüpfte aus ihrem Mantel und packte das Bündel auf, das sie in den Händen hielt. Das Schwert ihres Vaters kam zum Vorschein. Sie zog es aus der Scheide und hob es an. Die Klinge fing das dunstige Licht des Wintertages ein und begann zu funkeln.

Verwirrt sah Guy Lenare an. »Was soll das?«

»Ihr habt meinen Bruder getötet«, sagte Lenare.

Guy sah Belinda an. »Das ist nicht Euer Ernst.«

»Aber nur dieses eine Mal«, sagte Belinda zu ihrer Tochter.

»Ihr lasst zu, dass Eure Tochter für dieses Kind stirbt? Wenn es sein muss, werde ich alle Eure Kinder töten.«

Die Anwesenden traten zurück und bildeten einen Kreis um Inquisitor Guy und Lenare. Alenda hatte die Augen entsetzt aufgerissen. Eine heftige Bö ließ die Leinwand der Zelte flattern und wehte Lenares goldene Haare nach hinten. Wie sie da in ihren weißen Reisekleidern und mit dem Schwert in der Hand im Schnee stand, sah sie aus wie eine der Legende entsprungene Feenkönigin oder Göttin – eine Gestalt von überirdischer Schönheit.

Wütend stürzte Luis Guy sich auf sie, doch sie schlug seine Klinge mit einer überraschend schnellen, anmutigen Bewegung zur Seite. Das Schwert ihres Vaters gab dabei einen singenden Ton von sich.

»Ihr kämpft nicht zum ersten Mal mit einem Schwert«, sagte Guy überrascht.

»Ich bin eine Pickering.«

Er schlug wieder zu und sie parierte seinen Schlag. Auch beim nächsten Mal. Dann schlug sie zu und brachte Guy einen Schnitt auf der Wange bei.

»Lenare«, sagte ihre Mutter streng. »Du sollst nicht mit ihm spielen.«

Guy hielt inne und hob die Hand an sein blutendes Gesicht.

»Er hat Fanen getötet, Mutter«, sagte Lenare kalt. »Dafür sollte er leiden. An ihm sollte ein Exempel statuiert werden.«

»Nein«, erwiderte Belinda, »das ist nicht unser Stil. Dein Vater würde es nicht gutheißen, du weißt das. Also bring es zu Ende.«

»Was soll das?«, fragte Guy empört, doch er klang nicht mehr ganz so zuversichtlich. »Ihr seid eine Frau.«

»Wie gesagt – ich bin eine Pickering und Ihr habt meinen Bruder getötet.«

Guy hob sein Schwert.

Doch da war Lenare bereits vorgetreten und hatte zugestoßen. Die schmale Klinge bohrte sich in das Herz des Inquisitors. Lenare hatte sie wieder herausgezogen, bevor Guy seinen Schlag zu Ende führen konnte.

Mit dem Gesicht voraus fiel Luis Guy in den blutgetränkten Schnee. Er war tot.

2 

Albträume

Arista wachte schreiend auf. Sie zitterte am ganzen Leib und war einer Panik nahe – Nachwehen eines Traums, an den sie sich nicht mehr erinnern konnte. Sie setzte sich auf und hob die linke Hand an die Brust. Ihr Herz schlug so heftig und schnell, als wollte es ihr aus der Brust springen. Angestrengt versuchte sie sich an den Traum zu erinnern, aber es fielen ihr nur Bruchstücke ein, Ausschnitte ohne ersichtlichen Zusammenhang. Nur das Bild Esrahaddons sah sie deutlich vor sich. Seine Stimme war dagegen so fern und leise, dass sie nicht hören konnte, was er sagte.

Das dünne Leinennachthemd klebte schweißnass an ihrer Haut. Das Laken hatte sie offenbar im Schlaf von der Matratze gerissen und auf den Boden geworfen. Die mit einem Muster aus Frühlingsblumen bestickte Decke lag zusammengeknüllt fast am anderen Ende des Zimmers. Esrahaddons Umhang dagegen lag ordentlich zusammengefaltet neben ihr auf dem Bett und leuchtete in einem schwachen Blau. Es sah aus, als hätte eine Zofe ihn ihr für die Morgengarderobe herausgelegt. Arista berührte ihn.

Wie kommt er auf das Bett? Arista blickte zum Schrank. Sie erinnerte sich daran, die Tür geschlossen zu haben, doch jetzt stand sie offen. Ein kalter Schauer überlief sie. Sie war allein.

Ein leises Klopfen an der Tür schreckte sie auf.

»Arista?«, fragte Alrics Stimme auf der anderen Seite.

Sie legte sich den Umhang des Zauberers um die Schultern. Augenblicklich war ihr wärmer und sie fühlte sich weniger hilflos. »Herein«, rief sie.