Vorwort

»Was wir brauchen, ist nicht ein größeres Finanzwesen, sondern ein besseres.«

– MARTIN WOLF

»Das Potenzial für eine Wachstumsstrategie auf der Grundlage von Improvisation durch die Zentralbanken ist weitgehend ausgeschöpft.«

– LARRY SUMMERS

In den vergangenen Jahren hat sich die Weltwirtschaft auf eine Art und Weise weiterentwickelt, die früher als unwahrscheinlich oder sogar unmöglich gegolten hätte. Dieses Phänomen hält bis heute an, und wie dieses Buch erklären wird, wird es in der vor uns liegenden Zeit noch an Bedeutung gewinnen.

Die weltweite Finanzkrise, die in den Jahren 2008 und 2009 fast jedes Land, jede Regierung und jeden Haushalt weltweit getroffen hat, ist einer frustrierenden »neuen Normalität« gewichen, geprägt von geringem Wachstum, zunehmender Ungleichheit, politischem Versagen und in manchen Fällen gesellschaftlichen Spannungen – und all das trotz massiver Interventionen durch Zentralbanken und transformativer technologischer Innovationen.

Mittlerweile zeigt diese neue Normalität immer stärker Anzeichen von Erschöpfung. Wer darauf achtet, dem werden die Anzeichen für zunehmende Belastungen kaum entgehen. Tatsächlich ist es so, dass der Weg, auf dem sich die Weltwirtschaft derzeit befindet, bald enden dürfte – vielleicht sogar recht plötzlich.

Je näher wir diesem historischen Wendepunkt kommen, desto denkbarer wird früher Undenkbares werden und desto ausgeprägter die Unsicherheit. Das gilt umso mehr, als zunehmend klar wird, dass der anstehende Übergang sich keineswegs glatt und von selbst abspielen wird, sondern auf eine Entscheidung zwischen zwei sehr unterschiedlichen neuen Wegen hinausläuft. Der erste verspricht mehr Wachstum für alle und echte Finanzstabilität. Der zweite würde ganz im Gegenteil zu noch weniger Wachstum, immer wieder auftretenden Rezessionen und zur Rückkehr der finanziellen Instabilität führen.

Zum Glück ist nichts von dem, was nach dem Ende der neuen Normalität kommen wird, vom Schicksal vorgezeichnet. Welchen Weg wir nach der kommenden »T-Kreuzung« einschlagen, können wir durchaus noch beeinflussen, indem wir als Haushalte, Unternehmen oder Regierungen die richtigen Entscheidungen treffen. Doch um besser entscheiden zu können, müssen wir zunächst einmal verstehen, welche Kräfte hier wirken und wie sie sich weiterentwickeln dürften. Und dafür gibt es keine bessere Möglichkeit, als sich mit den wichtigsten Zentralbanken der Welt zu beschäftigen – mit ihrer Vergangenheit, ihrer Gegenwart und ihrer Zukunft.

Denn diese ehemals behäbigen, langweiligen Institutionen haben sich zu den wichtigsten und häufig einzigen politischen Entscheidungsträgern entwickelt. Als das unverantwortliche Eingehen von Finanzrisiken außer Kontrolle geriet, waren sie am Steuer eingeschlafen. Während der weltweiten Finanzkrise aber schalteten sie auf einen aggressiven Interventionsmodus um. Dadurch haben sie die Welt vor einer mehrjährigen Depression bewahrt, die viele Leben zerstört und soziale Unruhen angeheizt hätte.

Als die Zentralbanken bemerkten, dass andere politische Akteure durch Dysfunktionalitäten gelähmt waren, fanden sie experimentelle Möglichkeiten, um die Weltwirtschaft auf einem Wachstumspfad zu halten, wenn auch einem etwas künstlichen. Und das gelang ihnen, obwohl die eigentlichen Motoren des wirtschaftlichen Wohlstands noch nicht wieder startklar gemacht worden waren.

Jetzt wird von diesen geldpolitischen Institutionen erwartet, dass sie weiterhin Wunder bewirken. Doch ihre Fähigkeit, immer wieder neue Kaninchen aus ihren politischen Hüten zu zaubern, wurde bereits massiv ausgereizt und hat ein kaum noch durchhaltbares Ausmaß angenommen.

Die zentrale Rolle in der Politik ist für die Zentralbanken neu und ungewohnt. Jahrzehntelang haben sie außerhalb des Scheinwerferlichts gearbeitet. Lange Zeit machte sich nur ein eher kleiner Kreis von Experten für Währungen und Geldpolitik die Mühe, sich überhaupt mit diesen traditionsbewussten und stolzen Institutionen zu beschäftigen. Die Mehrheit dieser wenigen Beobachter ging dabei davon aus, dass die Zentralbanken mit hochgradig konventionellen Technokraten besetzt sind, die hinter den Kulissen in aller Stille ihre komplexen technischen Instrumente einsetzen.

Die Einrichtung der ersten Zentralbank lässt sich bis ins Schweden des 17. Jahrhunderts zurückverfolgen; im selben Jahrhundert, im Jahr 1694, wurde auch die Bank of England gegründet, die weithin als die Mutter des modernen Zentralbankwesens angesehen wird. Trotz des Niedergangs des britischen Empire gehört die »Alte Lady von der Threadneedle Street«, wie sie liebevoll genannt wird, immer noch zu den einflussreichsten Mitgliedern dieses sehr exklusiven und geheimnisvollen Klubs. Schließlich hat sie die Ausrichtung der meisten anderen Zentralbanken weltweit beeinflusst.

Doch selbst die Macht und die Reichweite der Bank of England verblassen im Vergleich zu zwei anderen Institutionen, die in diesem Buch eine prominente Rolle spielen: die amerikanische Federal Reserve, kurz Fed, als die mächtigste Zentralbank der Welt, und die Europäische Zentralbank (EZB) als die Zentralbank hinter dem Euro – der europäischen Gemeinschaftswährung für derzeit neunzehn Mitgliedsstaaten, bei der es sich um die am weitesten fortgeschrittene Komponente des historischen Integrationsprojekts für die Region handelt.

Diese beiden Institutionen sind viel, viel jünger als die Bank of England.

Die Fed wurde erst 1913 ins Leben gerufen, als Reaktion auf Finanzturbulenzen. Heute ist sie die Zentralbank der 50 amerikanischen Bundesstaaten und der US-Außengebiete und operiert mit Vollmachten des US-Kongresses. Ihr Auftrag ist, »ein sicheres, flexibles und stabiles Währungs- und Finanzsystem für die Nation bereitzustellen«.

Die EZB nahm ihren Betrieb im Jahr 1999 auf. In Zusammenarbeit mit nationalen Zentralbanken, die ebenfalls zum Eurosystem gehören, besteht ihr Ziel darin, Preisstabilität zu gewährleisten, die gemeinsame Währung zu sichern und Kreditinstitute (vor allem Banken) zu überwachen.

Bei der Verfolgung ihrer Ziele haben alle Zentralbanken die Befugnis, die Währung und die Geldmenge ihres Gebiets zu steuern, um konkrete makroökonomische Vorgaben zu erreichen – im Allgemeinen handelt es sich dabei um niedrige und stabile Inflation sowie in manchen Fällen auch hohe Beschäftigung und Wirtschaftswachstum. In den vergangenen Jahren hat eine wachsende Zahl von Zentralbanken zudem die Aufgabe bekommen, Teile des Finanzsystems zu überwachen und die Gesamtstabilität des Finanzwesens zu gewährleisten.

Die grundlegendste Aufgabe von Zentralbanken besteht darin, den Preis und die Menge des umlaufenden Geldes zu steuern, entweder direkt (durch Veränderungen des Zinssatzes, den sie von Banken verlangen, und des Kreditvolumens, das die Banken vergeben dürfen) oder indirekt (indem sie Einfluss auf die Risikoneigung im System und die finanziellen Gesamtbedingungen nehmen). Für diese Tätigkeit haben sie im Lauf der Zeit mehr operative Autonomie von ihren Herren in der Politik erhalten.

Die Regierungen wiederum handeln direkt oder im Rahmen eines parlamentarischen Prozesses, um makroökonomische Ziele vorzugeben. Die Zentralbanken können diese Ziele in vielen Fällen mit selbst gewählten Instrumenten verfolgen. Dieser Prozess wird allgemein positiv gesehen, weil er die Zentralbanken von kurzfristigen politischen Abenteuern der Regierungen isoliert, deren Augen immer auch auf die Aussichten für ihre Wiederwahl gerichtet sind. Die damit einhergehende Macht und der Einfluss von Zentralbanken haben sich zuletzt sprunghaft vergrößert.

Nehmen wir als Beispiel die Fed. Wie andere Zentralbanken hat sie eine dramatische Erweiterung ihrer Aufgaben, ihrer Werkzeuge und ihrer Möglichkeiten zur Einflussnahme erfahren – sie wurde von etwas so Einfachem wie dem einzigen Emittenten der amerikanischen Währung zu einer Institution mit komplexen Steuerungs- und Regulierungskompetenzen für das Bankensystem. Konkret ist sie, um aus ihrem eigenen Mission Statement auf ihrer Website (http://www.federalreserve.gov/aboutthefed/mission.htm), zu zitieren, heute verantwortlich für:

Gestaltung der nationalen Geldpolitik durch Einflussnahme auf die monetären und Kreditbedingungen in der Wirtschaft mit dem Ziel höchstmöglicher Beschäftigung, stabiler Preise und moderater Langfristzinsen;

Überwachung und Regulierung von Bankinstituten, um die Sicherheit und Robustheit des nationalen Banken- und Finanzsystems zu gewährleisten und um die Kreditrechte von Verbrauchern zu schützen;

Aufrechterhaltung der Stabilität des Finanzsystems und Bekämpfung von systemischen Risiken, die sich auf den Finanzmärkten ergeben könnten;

Bereitstellung von Finanzdienstleistungen für Einlageninstitute, die US-Regierung und offizielle ausländische Stellen, einschließlich einer bedeutenden Rolle beim Betrieb des nationalen Zahlungssystems.

Ungeachtet dieser bemerkenswerten Ausweitung von Zuständigkeiten, Macht und Einfluss hatte nichts die Zentralbanken auf den dramatischen und beispiellosen Wandel vorbereitet, den sie in den letzten Jahren durchgemacht haben – sowohl während der Finanzkrise als auch in ihrem Nachklang.

Die Zentralbanken wurden aus ihrer geheimnisvollen Anonymität und ihrer hochgradig technischen Ausrichtung herausgerissen und mitten ins Scheinwerferlicht gestellt, denn sie mussten die alleinige Verantwortung für das Schicksal der Weltwirtschaft auf sich nehmen. Weil sie auf einen Notfall nach dem anderen reagieren mussten, ließen sie ihre konventionellen Ansätze ruhen und sind dazu übergegangen, reihenweise geldpolitische Experimente zu entwickeln.

Oft waren sie, was derart traditionsbesessenen Institutionen ausgesprochen schwerfällt, gezwungen, sich spontan neue Vorgehensweisen auszudenken. Mehrfach hatten sie keine andere Wahl, als auf noch nie zuvor eingesetzte politische Instrumente zurückzugreifen. Und weil ihre Erwartung besserer Ergebnisse oft enttäuscht wurde, fühlten (und fühlen) sich viele von ihnen verpflichtet, immer tiefer in ungewisses und unvertrautes politisches Terrain vorzudringen und neue Rollen zu übernehmen.

Für jeden, der an die konventionelle Funktionsweise von Volkswirtschaften und Finanzsystemen gewöhnt ist, bedeutet all das nichts weniger als eine bislang undenkbare Umgestaltung des Zentralbankwesens. Doch damit enden die strukturellen Brüche noch nicht einmal.

Die beschriebenen Veränderungen bei den Zentralbanken sind nur ein Teil einer noch deutlich weiter reichenden Entwicklung, deren Auswirkungen wir alle zu spüren bekommen werden – ebenso wie unsere Kinder und höchstwahrscheinlich auch deren Kinder. Es geht hier um eine Veränderung, die viel größere – und bedeutendere – Entwicklungen in der Weltwirtschaft, in der Funktionsweise von Märkten und in der Finanzlandschaft erkennen lässt. Und die Folgen davon werden nicht auf Ökonomie und Finanzen beschränkt bleiben, sondern auch nationale Politik, regionale und globale Verhandlungen sowie die Geopolitik beeinflussen.

Vor diesem Hintergrund lohnt es sich, die ungeplante und für sie selbst wie Außenstehende beunruhigende Verwandlung der Zentralbanken von weitgehend unsichtbaren Institutionen zum einzigen geldpolitischen Akteur genauer zu untersuchen. Denn diese Analyse verschafft uns eine einzigartige Perspektive auf die deutlich bedeutenderen Veränderungen, die in unserer Welt vor sich gehen. Sie liefert Informationen über das »Wie«, das »Warum« und das »Und jetzt«, denn sie erklärt:

wie das weltweite Finanzsystem immer stärker seine Fähigkeit verloren hat, die legitimen Wünsche von Hunderten von Millionen Menschen auf mehreren Kontinenten zu erfüllen, beispielsweise in Bezug auf wirtschaftlichen Aufstieg, lohnende Beschäftigung und finanzielle Sicherheit;

warum die Welt solche Wachstumsschwierigkeiten hat, warum Länder immer ungleicher werden und warum so viele Menschen mit dem nicht enden wollenden Gefühl von finanzieller Instabilität und sogar Nöten leben müssen;

warum so viele politische Systeme derart massive Schwierigkeiten damit haben, die schnell veränderlichen Realitäten vor Ort zu verstehen und zu ihnen aufzuschließen – vom Versuch, sie in eine bessere Richtung zu lenken, ganz zu schweigen.

In dieser neuen Welt haben die meisten von uns bereits direkt oder indirekt eine Reihe von ungewöhnlichen, wenn nicht sogar bislang kaum vorstellbaren Veränderungen beobachtet. Doch alles, was wir bis jetzt erlebt haben, ist nur der Anfang.

In den kommenden Jahren dürfte uns die extrem veränderliche Welt, in der wir heute leben, noch weiter aus unserer Komfortzone zwingen und von uns verlangen, angemessen zu reagieren. Und dabei sollten wir nicht einfach darauf warten, dass die Regierungen für Besserung sorgen.

Wenn wir den Charakter der disruptiven Kräfte mit ihren Umkehrpunkten und T-Kreuzungen nicht verstehen, werden wahrscheinlich auch unsere Reaktionen nicht überzeugend ausfallen. Und je öfter dies geschieht, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir die Kontrolle über ein geordnetes wirtschaftliches, finanzielles und politisches Schicksal verlieren – nicht nur für unsere Generation, sondern auch für künftige.

Dieses Buch betrachtet die Welt durch die Brille der Zentralbanken. Der Sinn dahinter ist, die Wahrscheinlichkeit dafür zu erhöhen, dass Sie mit dem, was auf die Weltwirtschaft zukommt, deutlich besser umgehen können. Indem es die Ursachen und Folgen der historischen und unerwarteten Transformation der Zentralbanken analysiert und sie, was noch wichtiger ist, in einen Zusammenhang mit umfassenderen gesellschaftlichen Veränderungen stellt, erklärt dieses Buch in aller Kürze, wie und warum wir an diese entscheidende Weggabelung gekommen sind. Doch es ist kein Geschichtsbuch, und mit Sicherheit handelt es nicht nur von Zentralbanken. Stattdessen enthält es eine Diagnose der Welt, in der wir heute leben, und nimmt vor allem in den Blick, was der globalen Wirtschaft, zu der wir alle gehören, bevorsteht und was wir in dieser Situation tun können. Das Buch erklärt also, was konkret erforderlich ist, um das globale System aus seiner Flaute zu holen, mit welcher Wahrscheinlichkeit es dazu kommen kann und was passieren dürfte, wenn uns das nicht gelingt.

Aus all diesen Gründen und noch ein paar weiteren, die Ihnen klar werden dürften, wenn Sie das Buch lesen, habe ich eine Hoffnung. Sie lautet, dass die Lektüre Ihnen deutlich mehr vermittelt als nur Wissen über die entscheidende Rolle der Zentralbanken und darüber, wie eng sie dadurch mittlerweile mit dem Schicksal der Weltwirtschaft verknüpft sind. Darüber hinaus gebe ich Ihnen einige analytische Modelle an die Hand, die konkrete Maßnahmen ermöglichen und Ihnen dabei helfen sollen, die Wahrscheinlichkeit für bessere Ergebnisse zu erhöhen.

 

 

TEIL I

DAS WARUM, WIE UND WAS DIESES BUCHS

Kapitel 1

Einleitung

»Vor langer Zeit haben Ärzte versucht, die Ursachen von Krankheiten zu erklären, ohne irgendetwas über Keime oder Bakterien zu wissen. Ähnlich versuchen heutige Akademiker, die Funktionsweise von entwickelten Volkswirtschaften zu erklären, ohne dabei den Finanzsektor und die durch ihn entstehenden Risiken zu berücksichtigen.«

– FERDINANDO GIUGLIANO

Die Weltwirtschaft befindet sich in einer entscheidenden Phase. Unsere Liebesbeziehung zur Branche der Finanzdienstleister – oder kurz dem »Finanzwesen« – ist, begleitet von lautstarken Vorwürfen, krachend gescheitert. Das Vertrauen ist verschwunden und die Schuldzuweisungen halten an, sodass es schlicht nicht möglich ist, wieder eine enge und warme Beziehung aufzubauen, und was auch immer als Nächstes kommt, sollte auf keinen Fall so intim und ausschließlich sein wie das Verhältnis, das im Vorfeld der globalen Finanzkrise im Jahr 2008 herrschte. Doch auch eine Trennung ist keine Option. Die Vernetzung und die Abhängigkeiten zwischen den realen Volkswirtschaften und dem Finanzsystem sind zu groß, als dass man jemals wieder wirklich getrennte Wege gehen könnte – also bleibt das Zusammenwirken beider Elemente weiterhin entscheidend für Wachstum, Jobs und finanzielle Stabilität.

Die Zentralbanken haben erkannt, wie wichtig der Aufbau einer besseren Arbeitsbeziehung zwischen globaler Wirtschaft und dem globalen Finanzwesen für aktuelle ebenso wie für künftige Generationen ist. Seit der weltweiten Finanzkrise machen sie Überstunden, um die dafür nötige Zeit zu erkaufen. Sie haben eine Reihe von geldpolitischen Programmen mit beispiellosen experimentellen Maßnahmen begonnen – und sind dabei enorme Risiken eingegangen.

Es steht extrem viel auf dem Spiel, und bislang ist nicht klar, auf welches konkrete Ergebnis wir zusteuern. Denn allein aus eigener Kraft sind die Zentralbanken nicht in der Lage, das gewünschte gute Ergebnis herbeizuführen, bestehend aus der wichtigen und sehr schwierigen Kombination aus hohem und inklusivem Wachstum, reichlich gut bezahlten Jobs, geringer und stabiler Inflation sowie echter und gut verankerter Finanzstabilität. Regierungen und Politiker müssten sich konstruktiver an den Bemühungen der Zentralbanken beteiligen. Und auch wir als Einzelpersonen haben über unsere Bereitschaft und unser Handeln großen Einfluss darauf, was bei dem kollektiven Bemühen um die Überwindung des von der gescheiterten Liebesbeziehung hinterlassenen Schadens letztlich herauskommt.

Teile der Weltwirtschaft, angeführt von den USA, erholen sich und finden zurück zu ihrer alten Form. Andere aber, etwa Europa oder Japan, sind weiterhin schwach und noch weit davon entfernt, entschlossen über den Berg zu kommen. Bei wieder anderen besteht die unmittelbare Gefahr eines Abrutschens in eine schreckliche Entwicklung, zum Beispiel in Griechenland und Venezuela. Gleichzeitig produziert der noch immer nicht vollständig wiederhergestellte Finanzsektor weiterhin eine Anomalie nach der anderen, und zwar nicht nur in obskuren technischen Bereichen. Stattdessen sind die Probleme eindeutig relevant für Sie selbst – ob Sie ein Anleger sind, der nach relativ sicheren Renditen für seine Ersparnisse sucht, ein kleines Unternehmen, das Kapital benötigt, oder eine Familie, die ihr finanzielles Schicksal wieder in die eigene Hand nehmen und sich ein dauerhaftes Gefühl von langfristiger Stabilität und Sicherheit verschaffen möchte.

Es gab – und das ist noch gar nicht so lange her – eine Zeit, da zahlten Regierungen Ihnen Zinsen, um Sie davon zu überzeugen, die Anleihen zu kaufen, mit denen sie ihren Ausgabenüberschuss finanzieren. Schließlich ist es doch nur angemessen, dass man belohnt wird, wenn man mit seinem Geld Risiken eingeht. Heute aber wird ein hohes Volumen an Staatsanleihen in Europa zu negativen Nominalrenditen gehandelt. Anleger bezahlen die Regierungen also dafür, dass sie ihnen Geld leihen dürfen.

Es gab – und auch das ist noch nicht so lange her – eine Zeit, in der Banken um Ihre Einlagen konkurrierten. Mit Sach- oder Barprämien versuchten die Institute, Geld von Ihnen zu bekommen. Auch das hat sich geändert. Eine zunehmende Zahl von Banken in Europa und jetzt auch in den USA bemüht sich heute aktiv darum, möglichst keine Einlagen mehr entgegennehmen zu müssen.

Es gab eine Zeit, in der die Gesellschaft darauf vertraute, dass das Bankensystem verfügbare Kreditmittel produktiven Verwendungen zuführt, und gleichermaßen auf das Geschick von Regierungen und Zentralbanken bei der Regulierung und Aufsicht setzen. Damit ist es vorbei, seit das unverantwortliche Eingehen von Risiken durch die Banken, in Kombination mit einer laxen Aufsicht, die Weltwirtschaft an den Rand einer großen Depression getrieben hat. Dieses Vertrauen wiederherzustellen, wird viel Zeit in Anspruch nehmen. In der Zwischenzeit werden reihenweise alternative Kreditplattformen gegründet, in den USA etwa Lending Club oder Payoff, die versuchen, eine bessere Verbindung zwischen marginalisierten Kreditnehmern und Gläubigern zu schaffen.

Und es gab eine Zeit, in der das politische System seine Zentralbanken feierte, ihre technische Kompetenz respektierte und ihnen eine enorme operative Autonomie anvertraute. Heute ist davon wenig übrig. Auf beiden Seiten des Atlantiks gibt es immer wieder politische Versuche, die einflussreichen Institutionen einer stärkeren Kontrolle und Prüfung zu unterwerfen.

All das verweist auf ein tiefer liegendes und bedeutenderes Phänomen. Der aktuelle Zustand der Weltwirtschaft und des Finanzsystems mag manchen an der Oberfläche stabil erscheinen, doch er wird immer schwieriger zu erhalten. Hinter der Fassade der ungewöhnlichen Ruhe in den vergangenen Jahren, die seit 2008/2009 nur durch relativ seltene Ausbrüche von Instabilität unterbrochen wurde, nehmen die Spannungen zu, und die Wirksamkeit der Zentralbankpolitik wird auf die Probe gestellt. Dies geht so weit, dass ernsthafte Zweifel an der Dauerhaftigkeit des aktuellen Entwicklungspfads für die Weltwirtschaft bestehen.

Das sind gute und schlechte Nachrichten zugleich.

Die gute Nachricht liegt darin, dass wir dadurch die Chance bekommen, eine frustrierend lange Zeit wirtschaftlicher Mittelmäßigkeit und künstlicher Preisverzerrungen an den Finanzmärkten hinter uns zu lassen. Diese Periode ist von einer Weltwirtschaft dominiert worden, die deutlich unter ihrem Potenzial bleibt, sodass nicht genügend Jobs entstehen, politische Dysfunktionalität begünstigt wird, geopolitische Spannungen zunehmen und Ungleichheiten sich noch verstärken.

Über die Komponenten für eine dauerhafte Abhilfe besteht unter Ökonomen bereits ungewöhnliche Einigkeit. Spannende Innovationen und der Einsatz von großen Geldsummen, die derzeit geparkt oder defensiv investiert sind, würden ihnen zusätzlichen Schub verleihen. Unsere Politiker müssten nichts weiter tun, als ihren nationalen, regionalen und globalen Verantwortlichkeiten gerecht zu werden – indem sie umfassendere nationale Programme verfolgen, sich regional stärker absprechen und die globale politische Zusammenarbeit verbessern; der Privatsektor wiederum müsste darauf reagieren, dass ihm das Umfeld mehr Möglichkeiten bietet, und unter anderem mehr von seinen angesammelten Barreserven für produktive Aktivitäten einsetzen.

Die schlechte Nachricht: Politiker haben sich in den letzten Jahren als nicht eben gut darin erwiesen, umfassende Lösungen anzugehen, und je größer ihre Schwierigkeiten in der Innenpolitik sind, desto schwieriger wird es auch für die grenzüberschreitende Koordination und Kooperation. Auf sich allein gestellt, ist der gesamte Privatsektor nicht in der Lage, die entscheidenden Durchbrüche herbeizuführen, die für ein Ingangkommen der Wirtschaft erforderlich wären. Denn die vereinzelten Bereiche von Exzellenz, die in Richtung einer echten Transformation wirken, dürften nicht so weitgehende Auswirkungen haben, wie sie könnten und sollten. Manche von ihnen könnten durch das problematische Geschehen um sie herum sogar in ihr Gegenteil verkehrt werden.

Wenn uns keine Wende zum Besseren gelingt, laufen wir Gefahr, mehrere Generationen Wirtschaftswachstum zu verlieren. Dies würde nicht nur teils alarmierend hohe Jugendarbeitslosigkeit, finanzielle Instabilität und ein echtes Gefühl der Unsicherheit bedeuten, sondern zusätzlich das Potenzial für zukünftiges Wachstum verringern. Politische Polarisierung, Dysfunktionalität und Pattsituationen würden zunehmen, ebenso wie geopolitische Spannungen, Ungleichheiten und Entfremdung, und von alldem wären Millionen von jungen und alten Menschen auf der ganzen Welt betroffen.

Die Gemeinschaft der Zentralbanken hat auffallend hart daran gearbeitet, den Lauf der Dinge in Richtung des erfolgreichen Ergebnisses zu verschieben. Im Alleingang und in Kooperationen haben sie Zeit erkauft, damit der Privatsektor sich erholen und die Politik zur Besinnung kommen kann. Schon zuvor hatten die Zentralbanken entschlossen gehandelt, um dazu beizutragen, dass der Welt etwas erspart bleibt, was auf eine unglaublich schädliche Depression von mehreren Jahren Dauer hinausgelaufen wäre.

Wir sollten also dankbar sein und die Zentralbanken für ihr Engagement loben. Gleichzeitig müssen wir aber zur Kenntnis nehmen, dass ihre Effektivität schwindet. Das ist nicht einmal überraschend, da sie nun einmal nur die ihnen zur Verfügung stehenden Instrumente nutzen können. Am besten sieht man die Weltwirtschaft von heute auf dem Weg zu einer T-Kreuzung, einer Weggabelung: Die Straße, auf der wir uns derzeit bewegen, wird von hyperaktiven Zentralbanken gebaut und erhalten, doch sie wird in spätestens drei Jahren enden und auf zwei andere Straßen stoßen, die völlig unterschiedliche Bedeutungen haben und zu unterschiedlichen Zielen führen.

Eine dieser möglichen Straßen verspricht eine Rückkehr zu hohem und inklusivem Wachstum, das neue Jobs bringt, die Gefahr finanzieller Instabilität verringert und exzessiver Ungleichheit entgegenwirkt. Dieser Weg würde auch eine Verringerung politischer Spannungen und ein besser funktionierendes Staatswesen bedeuten. Und er würde Anlass zu der Hoffnung geben, dass einige der geopolitischen Bedrohungen für die Welt entschärft werden können.

Die andere Straße führt zu noch weniger Wachstum, anhaltend hoher Arbeitslosigkeit und weiter zunehmender Ungleichheit. Sie würde mit neuerlicher weltweiter Finanzinstabilität einhergehen, politischen Extremismus anheizen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt ebenso erodieren lassen wie die Integrität.

Im aktuellen Stadium ist die Wahrscheinlichkeit für diese beiden sehr unterschiedlichen Ergebnisse ungefähr gleich hoch. Der öffentliche wie der private Sektor haben das Potenzial, darüber zu bestimmen, welche der beiden Straßen wir letztlich wählen. Und nur wenn wir die jüngste, ziemlich ungewöhnliche Phase der Wirtschafts- und Finanzgeschichte besser verstehen, können wir die Wahrscheinlichkeiten zugunsten der Wahl des richtigen Wegs an der kommenden entscheidenden Kreuzung beeinflussen.

Wir können – und müssen – alles tun, was in unserer Macht steht, um den Weg in Richtung des Besseren einzuschlagen. Denn nur so können wir das ungenutzte Potenzial von unglaublich vielen Menschen auf der ganzen Welt, vor allem von unterbeschäftigten und arbeitslosen jungen Leuten, freisetzen. Nicht ist heute wichtiger als das.

Kapitel 2

Das »einzige Spiel der Stadt«

»Manchmal sind es die Menschen, unter denen sich niemand etwas vorstellen kann, die Dinge tun, die sich niemand vorstellen kann.«

THE IMITATION GAME (FILM)

»In den letzten Jahren war die Geldpolitik das wichtigste und häufig das einzige Werkzeug zur Unterstützung des Wachstums in den reichen Ländern der Welt.«

THE ECONOMIST

An einem recht angenehmen Tag im November 2014 begrüßte Christian Noyer, der angesehene damalige Gouverneur der französischen Zentralbank, in Paris die Teilnehmer eines internationalen Symposiums der Banque de France unter dem Titel »Central Banking: The Way Forward?«. Alles, was in der Welt der Zentralbanken Rang und Namen hat, kam zusammen, lauschte Noyers Rede und beteiligte sich an der renommierten Konferenz; 2014 fand sie im Westin-Hotel statt und nicht wie sonst im schmuckvolleren Saal der Banque de France, der gerade renoviert wurde.

In dem recht intimen Umfeld trafen sich viele Zentralbankchefs sowohl aus Industrienationen als auch aus Entwicklungsländern. Janet Yellen als Präsidentin der U. S. Federal Reserve war ebenso anwesend wie mehrere Präsidenten der regionalen Fed-Banken in den USA. Ebenfalls vor Ort waren Mark Carney, Chef der Bank of England, und Raghuram Rajan von der indischen Zentralbank sowie weitere Gouverneure aus Afrika, Asien-Pazifik, Lateinamerika und dem Nahen Osten.

Die beeindruckende Ansammlung von Offiziellen wurde ergänzt durch führende Akademiker, Vordenker und Experten für Geldpolitik. Auch Vertreter großer Finanzfirmen des Privatsektors waren zugegen, ebenso wie Journalisten (die aufgrund von Platzmangel allerdings zumeist auf den Balkonen saßen, die den beinahe überlaufenden Raum überragten).

In seiner Eröffnungsrede gab Noyer eine Vorschau auf die heiß erwarteten Podiumsdiskussionen des Tages und formulierte dabei gleich das, was viele der Anwesenden gleichzeitig als Stärke und Schwäche des modernen Zentralbankwesens ansahen. Zentralbanken würden als das »einzige Spiel der Stadt« betrachtet, konstatierte er und stellte die Frage, »ob die hohen Erwartungen, die in sie gesetzt werden, irgendwann in der Zukunft nach hinten losgehen« könnten.1

Was die Teilnehmer zu dieser Zeit noch nicht wissen konnten: Nur ein paar Wochen später sollte die Welt der Zentralbanken tatsächlich erschüttert werden, und zwar nicht durch das Handeln ihrer großen Institutionen, sondern durch das unerwartet abrupte und überraschende Verhalten von kleineren Notenbanken. Dabei hatten die ihre Marke und ihren Ruf bis dahin viele Jahre über sorgfältig so gepflegt, dass sie für Stabilität und Berechenbarkeit standen.

Innerhalb weniger Wochen sollte die Schweizerische Nationalbank plötzlich ein entscheidendes Element ihres Wechselkurssystems aufgeben, und zwar auf eine Weise, die sich als unglaublich disruptiv für die Märkte erwies; auch Singapur sollte sein Wechselkurssystem verändern, und Dänemark sollte erklären, dass es auf die Emission von weiteren Staatsanleihen verzichten würde.

Die Wochen darauf brachten zudem einen Einbruch der Renditen von Staatsanleihen, mit negativen Zinsen bei deutschen Bundesanleihen mit bis zu neun Jahren Laufzeit und einer Rendite von nur 5 Basispunkten (also 0,05 Prozent) bei den als Referenz dienenden zehnjährigen Bundesanleihen. Eilends kauften Anleger reichlich neu emittierte Anleihen direkt von einigen europäischen Regierungen und waren bereit, dafür sogar selbst Zinsen zu bezahlen (statt zu bekommen). Gleichzeitig begannen große Banken damit, Einlagenkunden aktiv davon abzuhalten, Geld bei ihnen einzuzahlen.

Dies waren nur einige der bis dahin undenkbaren Entwicklungen. Die Zinsstruktur der Schweiz reichte noch weiter in den negativen Bereich als die von Deutschland, weil ihre Zentralbank hart darum kämpfte, den Schweizer Franken zu schwächen, der lange als unbestreitbar harte Währung gegolten hatte. Sogar die Zinsen von »riskanteren« europäischen Staatsanleihen, etwa von Italien oder Spanien, fielen auf ultraniedrige Rekordtiefs. Für Griechenland als einen weiteren »Peripheriestaat« Europas bestand parallel dazu die Gefahr einer wirtschaftlichen Implosion und einer Zahlungsunfähigkeit gegenüber dem Internationalen Währungsfonds, einem der wenigen »bevorzugten Gläubiger« weltweit (tatsächlich blieb Griechenland letztlich einen kurzen Zeitraum über Zahlungen an den IWF schuldig).

Ebenfalls bis dahin undenkbar war gewesen, dass sich die Schwedische Zentralbank bald Dänemark und der Schweiz anschließen und ebenfalls eine Politik der negativen Zinsen einführen würde. Es gebe »kein Geschichtsbuch, in dem man so etwas nachschlagen kann«, kommentierte damals ein Beobachter; es sei »wie rückwärtsfahren zu lernen«.2

Die Welt der modernen Zentralbanken und des weltweiten Finanzwesens entwickelte sich also auf bis dahin undenkbare Weise. Mittlerweile hatte sie ein neues Stadium von noch offensichtlicherer Künstlichkeit und Verzerrung erreicht. Und das tat sie auf eine Weise, die mich gleichzeitig faszinierte und in tiefe Sorge versetzte.

Vor dem Hintergrund meiner ökonomischen Ausbildung und meiner beruflichen Erfahrung im öffentlichen wie im privaten Sektor hatte ich eine große Bewunderung für die Zentralbanken entwickelt und wusste ihren Beitrag zum wirtschaftlichen Wohlergehen sehr zu schätzen. Ich hatte keine Zweifel an ihrer entscheidenden Bedeutung für jedes gut funktionierende Finanzökosystem, insbesondere in einer auf Marktkräften beruhenden Volkswirtschaft.

Über die Jahre hatte ich zudem eine recht ausgeprägte Zuneigung zu diesen mysteriösen und häufig falsch verstandenen Institutionen für wirtschaftliche und finanzielle Solidität entwickelt. Immerhin war ihre geschickte Steuerung von Preis und Menge des Geldes in einer Volkswirtschaft der Schlüssel zur Kontrolle von Inflation, zur Förderung von Wirtschaftswachstum und zur Verhinderung von Finanzkrisen. Und ich hatte reichlich Respekt für die ausgesprochen talentierten Technokraten, die sich ganz ihren wichtigen Aufgaben in den Zentralbanken widmeten (und für das Positive, das sie bewirkten, oft keinerlei Anerkennung bekamen).

Wegen alldem war ich zugleich zunehmend besorgt über die politischen Lasten geworden, die man den Zentralbanken aufbürdete, unter anderem wegen deren Auswirkungen auf ihre zukünftige Glaubwürdigkeit, Effektivität und Reputation. Ihre operativen Aussichten wurden jeden Tag unklarer. Seit der globalen Finanzkrise bemühten sich die Zentralbanken durchgängig darum, Marktvolatilität zu unterdrücken und ein Paradigma von »liquiditätsgestütztem Wachstum« zu etablieren – Wirtschaftswachstum soll also auf der Grundlage von Booms an den Finanzmärkten entstehen, die ihrerseits durch außergewöhnliche Liquiditätsinjektionen (statt fundamentaler Faktoren) ausgelöst werden. Doch der Übergang zu »echtem Wachstum« und einer geordneten Normalisierung der Geldpolitik gelang ihnen nicht schnell genug. Unterdessen begann eine zunehmende Zahl von Politikern, sich mit Möglichkeiten zu beschäftigen, die operative Autonomie der Zentralbanken zu beschneiden – obwohl diese Autonomie unerlässlich für deren Effektivität ist.

Seit dem Beginn der Finanzkrise im Jahr 2008 hatten sich die Zentralbanken – nicht aus eigenem Antrieb, sondern aus Notwendigkeit – immer tiefer in das unbekannte und schwierige Terrain der »unkonventionellen Geldpolitik« vorgewagt. Sie führten Untergrenzen für Zinsen ein, griffen massiv in das Funktionieren von Märkten ein und betrieben umfangreiche Programme, bei denen sie sich mit dem Aufkauf von Wertpapieren am Markt gegenseitig überboten. Und als Krönung von alldem bemühten sie sich aggressiv darum, die Erwartungen und Portfolioentscheidungen von Anlegern zu manipulieren.

Weil all das so fernab des Gewohnten lag, verfügten weder die Zentralbanker noch sonst irgendjemand über erprobte Regelbücher und historische Präzedenzfälle, an denen sie sich hätten orientieren können. Was gebraucht wurde, waren deshalb mutige geldpolitische Experimente in Echtzeit, und das über einen ungewöhnlich langen Zeitraum.

Für mich wurde durch all diese Faktoren bald offensichtlich, dass ich bei der Pariser Konferenz nicht der Einzige war, der sich Sorgen machte. Viele von uns verspürten ein gewisses Unbehagen darüber, zu was die Zentralbanken getrieben worden waren, und viele von uns fragten sich, was als Nächstes kommen könnte.

Klar zu erkennen war diese Gefühlslage auch anhand der Tatsache, dass die Organisatoren der Veranstaltung ein Fragezeichen an das Ende ihres Titels gestellt hatten: »Central Banking: The Way Forward?« Tatsächlich war es richtig, auf diese Weise die Unsicherheiten auf einem der wichtigsten Gebiete für Weltwirtschaft, Märkte und politische Steuerung herauszustellen. Denn wie viele Teilnehmer erkannten, reichte die Bedeutung davon weit über wirtschaftliche und finanzielle Fragen hinaus: Es ging auch um höchst bedeutende institutionelle, politische, geopolitische und gesellschaftliche Fragen.

Wie mir einer der Zentralbanker sagte, fühlte er sich »moralisch und ethisch« verpflichtet, immer mehr Verantwortung zu übernehmen. Damit reagierten er und seinesgleichen auf Realitäten vor Ort, denen sich, wenn überhaupt, nur wenige der eigentlich dafür zuständigen politisch Verantwortlichen stellen konnten und wollten – ungeachtet der Tatsache, dass sie über Werkzeuge verfügt hätten, die sich viel besser dafür eigneten, die vor ihnen liegenden Herausforderungen anzugehen. Irgendwie aber hing die Welt jetzt stattdessen nur noch von den Zentralbanken ab, die unter allen Institutionen über die denkbar begrenzteste Instrumentensammlung für den Umgang mit den anstehenden Aufgaben verfügte.

Immer wieder stellten sie ab der Finanzkrise 2007/2008 fest, dass sie viel mehr tun mussten, als sie erwartet hatten, und zwar deutlich länger, als sie es je für möglich gehalten hätten. Ihr Kopf sagte ihnen immer lauter, dass sie mit den Experimenten aufhören und mit einer »Normalisierung« ihrer Geldpolitik beginnen sollten. Doch ihre Herzen drängten sie dazu, immer noch mehr zu tun und in ihrer Trickkiste nach weiteren Neuerungen zu suchen.

Niemand, den ich kenne, hatte die Länge und Tiefe dieses politischen Dilemmas wirklich vorhergesehen.

Vom ersten Tag der Finanzkrise an war die Hoffnung gewesen, dass unsere mutigen und reaktionsfreudigen Zentralbanken mit Erfolg die Voraussetzungen dafür schaffen würden, den Staffelstab bald an hohes Wachstum, solide Stellenschaffung, Preisstabilität und Robustheit des Finanzsystems weiterreichen zu können – entweder direkt oder, was wahrscheinlicher war, indem sie genug Zeit erkauften, damit sich der Privatsektor erholen konnte und die Regierungen wieder so handeln könnten, dass sie ihrer Verantwortung für die Wirtschaftssteuerung gerecht würden. Wenn dann Wirtschaftswachstum und Stellenzuwächse wieder in Gang gekommen wären, wäre die Welt mittelfristig in der Lage gewesen, aus ihren Schuldenproblemen herauszuwachsen, sodass keine ungeordnete Entschuldung, keine verheerende Sparpolitik, keine Zahlungsausfälle bei Schulden und dergleichen nötig gewesen wären.

Man muss den Zentralbanken zugutehalten, dass sie schon früh erkannten, dass ihr Vorgehen nicht ohne Risiken und Unsicherheiten war. Bei der alljährlichen Konferenz in Jackson Hole im US-Bundesstaat Wyoming hatte der damalige Fed-Vorsitzende Ben Bernanke diesen Punkt im Jahr 2010 vor einer prominenten und exklusiven Versammlung von Zentralbankern und ihren privilegierten Gästen relativ explizit erwähnt. Seine Rede markierte einen Wendepunkt für die US-Geldpolitik – sie wechselte vom Ziel einer Normalisierung der Finanzmärkte (was Zentralbanker recht gut beherrschen) zur Übernahme der enormen Verantwortung dafür, hohes Wirtschaftswachstum, viele neue Jobs, niedrige und stabile Inflation sowie allgemeine Finanzstabilität zu erreichen. Wie Bernanke erklärte, bringt der Einsatz von unkonventioneller Geldpolitik nicht nur »Vorteile«, sondern auch »Kosten und Risiken« mit sich.3 Und je länger eine solche Politik fortgesetzt werde, desto größer sei die Wahrscheinlichkeit, dass die Kosten und Risiken anfangen, die Vorteile zu überwiegen.

Diese Befürchtungen bezogen sich nicht nur auf die Möglichkeit, dass unkonventionelle Maßnahmen nicht das gewünschte politische Ergebnis bringen könnten – dass die Volkswirtschaft also nicht das nötige Tempo zum »Abheben« oder »Entkommen« aus der Flaute erreichen würde. Es gab noch eine ganze Reihe weiterer Sorgen, manche berechtigt, manche deutlich weniger.

Würden sich lang anhaltende Experimente der Zentralbanken und ihre Bereitschaft, sogar noch weiter zu gehen, als negativer Anreiz für Politiker und andere Institutionen der Wirtschaftspolitik erweisen, ihrer eigenen Verantwortung gerecht zu werden? Würden die künstlichen Preise für Finanzwerte – immer wieder angetrieben von Liquidität der Zentralbanken und der allgemeinen Erwartung, dass diese Institutionen auf ewig die besten Freunde der Märkte bleiben würden – zu exzessiver Risikobereitschaft und noch mehr Fehlallokation von Ressourcen führen, die sich irgendwann rächen und dem Wachstum und der Stabilität schaden würden? Würde es früher oder später zu einem starken Anstieg der Inflation kommen? Würden die Zentralbanken gezwungen sein, ihre immer weiter wachsenden Bilanzen zu verschlanken und dabei Werte zu zerstören und die Finanzmärkte zu destabilisieren? Würde unterdrückte Volatilität weichen und Platz machen für schädliche »volatile Volatilität«?4

Dies waren nur einige der vielen Fragen. Den Kern bildete ein grundlegendes Thema: Wie sehr liefen die Zentralbanken Gefahr, von einem wichtigen Teil der Lösung zu einem erheblichen Teil des Problems zu werden? Würden sie nicht etwa einen allmählichen Schuldenabbau im Rahmen einer wachsenden Weltwirtschaft einleiten, sondern letztlich nur das Feld für noch mehr Schuldenmachen bereiten, durch das westliche Volkswirtschaften nur noch tiefer in die ökonomische Malaise geraten würden? In diesem Fall wäre mit immer neuer finanzieller Instabilität zu rechnen gewesen, die das wirtschaftliche Wohlergehen von Ländern im Rest der Welt beeinträchtigt hätte, unter anderem in Schwellenländern mit an sich guter Wirtschaftspolitik.

Derartige Sorgen waren nicht einmal auf wirtschaftliche und finanzielle Themen beschränkt. Sie betrafen auch wichtige politische und gesellschaftliche Aspekte.

Die in Jackson Hole anwesenden Europäer brauchten keine Erinnerung daran, wie wirtschaftliche Schwäche politischen Extremismus und das Entstehen von nicht traditionellen Parteien links wie rechts begünstigt. Trotzdem hätten ihnen die Amerikaner einiges über ihre schädlichen Auswirkungen auf überparteiliche Politik und politische Kompromissbereitschaft zu erzählen gehabt, denn bei ihnen war wenige Jahre zuvor die Tea-Party-Bewegung entstanden, und ein Wiedererstarken von gegen das Establishment auftretenden Präsidentschaftskandidaten stand kurz bevor.

Teilnehmer aus Afrika und dem Nahen Osten wiederum mussten nicht an die disruptive und gewalttätige Rolle von nicht staatlichen Akteuren – ob im Irak, in Syrien oder in Nigeria, um nur einige zu nennen – erinnert werden, und auch nicht daran, dass der Westen zu schwach war, um eine angemessene Reaktion darauf auszuarbeiten, zu beeinflussen und zu koordinieren, und erst recht, um friedlichere Ergebnisse zu erreichen. Auch das Anschwellen der Flüchtlingsströme sollte nicht mehr lange auf sich warten lassen.

Und niemand im Saal musste an die schockierende Zunahme der Ungleichheit innerhalb von Ländern erinnert werden. Vor dem Hintergrund einer immer stärkeren Diskrepanz zwischen grassierender Armut und unglaublichem Reichtum trug diese Entwicklung zu einer allmählichen Aushöhlung der Mittelschicht bei.

Die Teilnehmer der Pariser Konferenz wussten also sehr gut, dass viel von den Zentralbanken in ihrer entscheidenden, einzigartigen und experimentellen politischen Rolle abhing – nicht nur für sie selbst, sondern auch für aktuelle und künftige Generationen in der Bevölkerung. Die Situation war beispiellos. Und die Zentralbanken hatten sich nicht etwa sorgfältig geplant dort hineinbegeben, sondern waren in ihre, wenn Sie so wollen, geldpolitische Wette mehr oder weniger hineingestolpert.


1 Christian Noyer, »Central Banking: The Way Forward?«, Eröffnungsrede zum International Symposium of the Banque de France, 7. November 2014, https://www.banque-france.fr/uploads/tx_bdfgrandesdates/Allocution-ouverture-Noyer-Symposium-7112014-EN.pdf

2 Richard Milne, »Denmark Highlights Naked Truth About Negative Lending«, Financial Times, 8. April 2015, http://www.ft.com/intl/cms/s/0/7f4e2f4c-dde3-11e4-9d29-00144feab7de.html

3 Ben S. Bernanke, »The Economic Outlook and Monetary Policy«, Rede auf dem Federal Reserve Bank of Kansas City Symposium in Jackson Hole, Wyoming, Board of Governors of the Federal Reserve Bank, 27. August 2010, http://www.federalreserve.gov/newsevents/speech/bernanke20100827a.htm

4 Diesem Ausdruck, der einer »hochrangigen Citigroup-Führungskraft« zugeschrieben wird, bin ich zum ersten Mal begegnet in Landon Thomas, Jr. und Neil Gough, »Swiss Move Prompts Fears of Sustained Market Tumult«, New York Times, 16. Januar 2015, http://dealbook.nytimes.com/2015/01/16/currency-traders-rattled-in-wake-of-swiss-central-bank-move