Für
Die Liebe meines Lebens, Steffen:
Weil.
Meine beste Freundin, Janet.
Weil sie immer noch da ist.
Vera, meine großartige Freundin, ohne die es Elay nie gegeben hätte!
Tanja.
Die mein Chaos erträgt.
All die wundervollen Frauen der Wortkunst, die mir um jede Tages- und Nachtzeit mit ihrem Rat zur Seite standen.
Er zitterte, als er aus der Dusche stieg. Das warme Wasser hatte lediglich dafür gesorgt, dass er den Frost des Winters abspülen konnte. Die Kälte in seinem Inneren blieb.
Elay wischte über den beschlagenen Spiegel im Bad seines Elternhauses.
Wie hatte dieser Tag nur so enden können? In einer Verfolgungsjagd gegen seinen jüngsten Bruder?!
Er verstand es einfach nicht.
Was war so schlimm daran, dass Christopher einen Mann liebte?
Ihm selbst waren die sexuellen Vorlieben seiner Geschwister egal, solange sie sich um den Erhalt der Sippe kümmern würden. Was hinter verschlossenen Türen passierte, ging Elay nichts an.
Genau das hatte er schließlich auch vor wenigen Stunden zu seiner Schwester gesagt. Beth war mit ihren sechzehn Jahren im richtigen Alter, um verheiratet zu werden. Ihm widerstrebte diese Tradition genauso wie Chris, aber so war es seit Jahrhunderten gewesen, und das hatte schließlich den Fortbestand seiner Art gesichert. Wer war er, dass er das infrage stellen würde?
Ein Klopfen an der Tür ließ ihn beim Anziehen innehalten.
»Elay? Können wir reden?«
Die zarte Stimme seiner Schwester erklang. Beth sprach immer so leise. Vollkommen untypisch für einen Bärenwandler. Wenn sie sich nicht schnell ein dickeres Fell aneignete, im wahrsten Sinne des Wortes, würde sie in Zukunft ernsthafte Probleme bekommen.
Seufzend schloss er die Tür auf.
Sofort schlug Beth die Augen nieder. Als hätte sie ihn noch nie nackt gesehen!
»Was willst du?«, fragte er schroff.
Er verschränkte die Arme vor der Brust, während er auf ihre Antwort wartete.
»Ist es wahr?«
»Ist was wahr? Drück dich deutlicher aus, Elizabeth.«
»Chris. Hast du –«, sie schluckte und sah ihm direkt in die Augen. »Hast du ihn getötet?«
Sie versuchte ihre Tränen zu unterdrücken, aber Elay konnte sie riechen.
»Ja.«
Betroffen taumelte sie zurück. Prallte mit dem Rücken gegen die Wand. »Du Mörder!«, keuchte sie. Wut flackerte in ihrem Blick auf, als sie wieder näher trat.
Er sah die Ohrfeige kommen, aber er wehrte sich nicht. Das Brennen auf seiner Wange hatte er verdient. Und noch so viel mehr, wenn es nach ihm ging. Aber das durfte er Beth nicht sagen. Besser, sie hielt seine Brüder für Monster und ihn für einen Mörder. So würde ihr der Abschied in ein paar Tagen leichter fallen.
»War sonst noch was?«, fragte er Langeweile vortäuschend. Der Hass in ihren Augen gab ihm recht.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Nichts.«
Als sie den dunklen Flur entlanglief, sah er den braunen Lockenkopf seiner jüngsten Schwester Sofia. Sie lugte um die Ecke und sah ihn mit diesen großen Augen an. Augenscheinlich wartete sie auf Beth.
Verdammt! So hatte er sich das für sie nicht gewünscht. Sofia hätte von all dem nichts mitbekommen sollen!
Beth warf ihm einen vernichtenden Blick zu, als sie nach der Hand ihrer Schwester griff und wortlos in ihrem Zimmer verschwand.
Elay fuhr sich durch die nassen Haare und ging zurück ins Bad, um sich fertig anzuziehen.
Sein Vater war der nächste, der vor der Badezimmertür auf ihn wartete. Nur mit Mühe konnte Elay seine Wut zügeln. Es würde ihm nichts bringen, sich jetzt mit Arik anzulegen. Noch nicht jedenfalls.
»Was kann ich für dich tun, Vater?«
»Du hast das Richtige getan.«
Das bezweifelte Elay stark und deshalb hatte er es auch nicht getan. Er hatte seinen Bruder nicht getötet. Er hatte ihn schwer verwundet. Das Blut hatte überall an seinem Körper geklebt, als er wieder nach Hause gekommen war.
Es war deshalb ein Leichtes gewesen, seiner Familie zu verkaufen, dass er Christopher getötet hatte.
»Danke.« Er zögerte einen Moment. »Kann ich sonst noch etwas für dich tun?«
Es war nicht ungewöhnlich, dass Elay kurz angebunden war, aber etwas in seiner Tonlage musste ihn verraten haben.
Sein Vater sah ihn misstrauisch an, bevor ein anderer Ausdruck in seine Augen trat.
»Du wirst einmal ein guter Anführer sein.«
Ja, weil Brudermord nämlich die Grundvoraussetzung für den Anführerposten war.
Elay nickte stumm und wartete, bis sein Vater ihn allein ließ. Dann erst ging er in sein Zimmer, das direkt neben dem der Mädchen lag. Gegenüber teilten sich Christopher und Lucas ein Zimmer. Hatten sich geteilt, korrigierte er sich in Gedanken.
Die Tür stand offen und sein jüngerer Bruder saß regungslos auf dem Bett. Er war nicht an der Jagd auf Christopher beteiligt gewesen. Hatte sich zurückgehalten mit der Ausrede, auf die Mädchen aufpassen zu wollen. Elay verstand ihn nur zu gut.
Kaum dass Lucas ihn sah, stand er auf und knallte ihm die Tür vor der Nase zu.
Das war deutlich.
Seine anderen Brüder Sander, Noah und Frederick waren ebenso deutlich in ihrer Meinungsäußerung. Aber eher in die andere Richtung. Sie schienen froh zu sein, dass Christopher nicht mehr am Leben war. Hatten sie ihren Bruder denn so sehr gehasst? Oder lag es nur an den Erzählungen von Nathan, dass Chris schwul sei?
Sie hatten Chris schon immer für verweichlicht gehalten, weil er so viel Zeit mit den Mädchen verbrachte. Hatten sie also schon immer eine Abneigung – er unterbrach sich in Gedanken. All diese Grübelei brachte ihn nicht weiter.
Er musste etwas unternehmen. Sein Vater durfte nicht noch eine Generation Bärenwandler vernichten.
Elay wusste, dass die Zeit gekommen war, sich von seinem Vater zu verabschieden.
Endgültig.
Susan
Verwundert, fast schon geschockt sah sie sich in ihrem neuen Zimmer um. Es war etwa so groß wie das, was sie in der psychiatrischen Klinik bewohnt hatte. Dieses hier hatte sie aber für sich allein.
In den Schrank passten alle ihre Klamotten. Viele waren es nicht mehr. Den Großteil hatte sie nach dem Angriff letzten Herbst weggeworfen und durch zweckmäßigere Kleidung ersetzt.
Die Decken und Kissen auf dem Bett waren weich. Gemütlich. Ganz anders, als sie es bisher gewohnt war.
Sie begutachtete das Bad, das direkt zu ihrem Zimmer gehörte. Klein. Spartanisch. Sauber. Für sie allein.
Susan verstand nicht, warum sie hier war. Warum man sie überhaupt entlassen hatte. Direkt in die Obhut ihrer ehemaligen Kommilitonin Raven.
Seit einem halben Jahr hatte sie nichts mehr von ihr gehört und dann stand sie mit ihrem Freund plötzlich in der imposanten Eingangshalle und behauptete, Susan würde in eine private Anstalt verlegt werden. Sofort.
Nicht ein einziges Mal hatte Susan protestiert oder nachgefragt. Stattdessen hatte sie mitgespielt.
»Bist du okay?«
Die sanfte Stimme erschreckte sie beinahe zu Tode, obwohl Raven leise gesprochen hatte.
Susan drehte sich zu ihrer ehemaligen Freundin um. Das Funkeln in Ravens Augen hatte sie sich sicher nur eingebildet. Raven war doch immer noch die Gleiche. Oder nicht?
Ja, ganz sicher war es nur eine ihrer Einbildungen.
Eine Täuschung, die ihr Verstand entwickelt hatte, um mit dem Schock umzugehen?
Susan blickte direkt an Raven vorbei zu dem großen Mann, der ihre Taschen ins Zimmer getragen hatte. Seine stille Art war ihr unheimlich. Seine enorme Statur Furcht einflößend. Fast schon bedrohlich. Schnell wandte sie den Blick ab.
»Elay, stell ihre Taschen bitte ab und geh dann.«
Dankbar atmete Susan tief durch, als der Mann Ravens Bitte nachkam und das Zimmer verließ.
Fröstelnd rieb sie sich über die Oberarme.
Ihre Freundin ging sofort zu der Heizung und drehte am Thermostat. »Das Zimmer wurde eine Weile nicht genutzt«, entschuldigte sie sich. »Es sollte gleich warm werden.«
Der muffige Geruch von Staub erfüllte die Luft, als die Heizung das erste Mal seit Wochen oder Monaten wieder ansprang.
Raven lächelte aufbauend. Mitfühlend?
»Schon gut. Es … es geht schon.«
In Wahrheit war es sogar sehr viel besser.
Das Irrenhaus – nein, die Heilanstalt, in die man sie eingeliefert hatte –, war nur spärlich beheizt worden. Als würden warme Räume an den Wahnvorstellungen der Patienten etwas ändern. Das Einzige, was sich geändert hatte, war die Tatsache, dass Susan jetzt wusste, dass sie nicht … Was? Verrückt war?
Nach allem, was Raven und Elion ihr erzählt hatten, gehörten die beiden genauso in die Irrenanstalt wie sie!
Sie wich einen Schritt zurück, als die Erinnerung an den Überfall über sie hereinbrach. Raven und ihr Freund als ihre Retter?! Wohl kaum!
»Susan?«
Erschrocken sah sie auf.
»Du bist bei uns wirklich sicher. Hier, siehst du? Du kannst die Tür abschließen, wenn du willst.«
Susan hörte die stumme Bitte, es nicht zu tun, während Raven den antik aussehenden Schlüssel im Schloss drehte. Sie schloss nicht wirklich ab, sie verdeutlichte lediglich die Funktion. Als müsste man Susan erklären, wie man sich einschloss. Das wusste sie nur zu gut.
»Du hast fast den gesamten Flügel für dich. Nur Cain wohnt hier. Chris schläft auch bei ihm«, fügte Raven ungefragt hinzu.
»Chris? Cain? Ich –«, sie unterbrach sich. »Was?«
»Süße, Chris ist schwul«, sagte Raven.
Langsam nickte Susan. Schüttelte den Kopf.
Sie hatte immer gedacht, dass Chris und Raven irgendwas miteinander am Laufen hatten. Dann hatte sie vor ein paar Wochen Elion kennengelernt und verstanden, dass sie zumindest damit falschlag. Aber dass Chris auf Männer stand, hätte sie dennoch nicht vermutet. Er hatte es offensichtlich gut vor ihnen verborgen.
Raven lachte kurz auf. »Du wirst dich daran gewöhnen. Glaub mir.« Dann sah sie sich ein wenig unsicher um. »Okay. Gut. Also, ich lass dich dann mal allein, damit du auspacken kannst.«
»Danke. Für alles.«
Raven verließ nickend den Raum.
Nur zur Sicherheit probierte Susan den Schlüssel, den Raven ihr gezeigt hatte. Er war schwer und aus Eisen und ließ sich problemlos im Schloss umdrehen.
»Okay, und jetzt? Was mache ich jetzt? Jetzt führe ich Selbstgespräche«, beantwortete sie sich die Frage selber.
»Na super.«
Sie kramte ihren MP3-Player aus der Tasche und suchte ihre Playlist nach einem passenden Lied durch. Das hatte sie sich in der Klinik angewöhnt. Ein Lied auf Dauerschleife und ihr Zeichenblock halfen ihr meist durch die erste Phase der Unruhe. Zumindest, bis sie sich ihre Bilder genauer ansah.
In der großen Zeichenmappe waren zig Albträume auf Papier gebannt. Manche detailliert und ausgearbeitet, andere nur Bruchteile von Erinnerungen.
Nein, Einbildungen.
Die Ärzte nannten es Halluzinationen als Folge des Überfalls letzten Herbst. Susan bekam verschiedene Medikamente. Gruppen- und Einzeltherapie. Doch die Albträume blieben. Die Einbildungen, verbesserte sie sich wieder automatisch.
Also begann sie zu zeichnen, um den Druck loszuwerden. Die Angst. Die Schmerzen.
Das laute Klopfen an ihrer Tür kam unerwartet.
Der Bleistiftstrich misslang und zerstörte fast das gesamte Bild.
Hektisch zog sich Susan die Kopfhörer aus den Ohren und sah sich um.
Das Klopfen wurde lauter.
»Susan! Ich schwöre, wenn du nicht sofort diese verdammte Tür aufmachst –«
Ravens panische Stimme drang zu ihr durch.
»Ich komme schon!«
Sie wollte sich lieber nicht ausmalen, was Raven und ihre Freunde dann tun würden. Die Tür würde es sicher nicht überleben.
»Entschuldige, ich habe euch nicht gehört«, sagte sie, als Raven und Chris ins Zimmer stolperten. Hinter ihnen stand auch dieser große Kerl.
Sein Blick heftete sich sofort auf ihre Unterarme. Susan hatte den Pullover hochgekrempelt, um es bequemer zu haben. Jetzt erst bemerkte sie den Fehler. Schnell zog sie den Stoff bis zu ihren Fingerspitzen. Es war ihr unangenehm, wenn andere die feinen Narben sahen; die Zeichen ihrer Schwäche. Sie hatte nicht ernsthaft versucht sich das Leben zu nehmen, sie wollte nur eine Zeit lang dem Schmerz und dem Wahnsinn entkommen.
»Wir wollten dich zum Mittagessen holen.«
»Falls du möchtest«, fügte Chris vorsichtig hinzu.
»Mittag?«
War sie wirklich schon so lange hier oben? Schnell ging sie zum Schreibtisch und schlug ihre Zeichenmappe zu. Bevor Raven und Chris ihre Bilder sehen konnten. Aber Raven bemerkte sie trotzdem.
»Hast du Hunger?«, fragte sie, anstatt Susan darauf anzusprechen. »Wir können auch nur zu zweit essen? Nicht mit den anderen.«
»Die anderen?«
Allmählich kam sich Susan dumm vor, dass sie ständig nachfragte.
»Ja, ähm, also Freunde und Familie von uns«, erklärte Raven. »Mein Bruder.«
»Bruder? Okay, jetzt reicht es aber«, schalt sie sich selbst. Laut. Schwungvoll wandte Susan sich ab, damit sie die anderen nicht ansehen musste.
Sie fragte schon wieder nach und sie sprach schon wieder mit sich selbst. Mit einem tiefen Atemzug versuchte sie sich zu beruhigen, bevor sie sich wieder umdrehte.
»Ich würde ihn gerne kennenlernen.«
***
Ihr Bruder. Raven hatte tatsächlich einen Bruder. Einen Zwillingsbruder, um genau zu sein.
Nachdem sie vor einem halben Jahr gar keine Familie mehr hatte, schien sie jetzt eine neue gefunden zu haben.
Zane sah Raven tatsächlich ähnlich. Irgendwie. Nur wie eine männliche Version von ihr. Neben ihm stand eine braunhaarige zierliche Frau, deren Händedruck aber erstaunlich fest war.
»Hey, ich bin Sky.«
Sky. Was für ein komischer Name für eine Frau. Andererseits war Cain auch kein herkömmlicher Name. Und der Mann, der dazugehörte, war es bei Gott auch nicht! Er war groß und in dem engen Shirt ließen sich seine Muskeln mehr als nur erahnen. Wahrscheinlich nahm er Anabolika. Kein Mann, den sie kannte, hatte solche Muskeln! Als sie ihm in die Augen sah, zwinkerte er ihr zu, als wäre ihm ihre Musterung überhaupt nicht unangenehm.
Beide wirkten extrem einschüchternd auf sie. Zane hingegen war offen und freundlich.
Es fiel ihr schwer, mit so vielen verschiedenen Eindrücken auf einmal umzugehen.
Angst. Misstrauen. Wut. Freude. Neugier. Panik. Immer wieder Panik.
»Susan?«
Sie zuckte zusammen, als hätte man sie geschlagen.
Automatisch wich sie einen Schritt zurück. Prallte schmerzhaft mit dem Schulterblatt gegen den Türrahmen.
»Ich«, sie schluckte schwer. Ihr Blick glitt unruhig durch den Raum. »Ich habe keinen Hunger.«
Sie war kurz davor, aus dem Raum zu rennen, als Raven nach ihrer Hand griff und nickte.
»Okay.«
Bevor Susan reagieren konnte, hatte Raven sie aus dem Esszimmer geführt.
»Komm, wir gehen hoch.«
Raven diktierte ihr nicht den Weg, aber Susan ging dennoch die Treppen hoch. Trotz der weiten Gänge und vielen Türen fand sie den Weg zurück in ihr Zimmer.
»Darf ich mit reinkommen?«
Susan zögerte.
Wollte sie dieses Zimmer teilen? Ein Zimmer, das eigentlich nicht ihr gehörte? Raven hatte jedes Recht hereinzukommen. Und welches Recht hatte Susan, Nein zu sagen?
Also trat sie beiseite und ließ Raven eintreten.
Sie hörte Raven tief durchatmen, als sie die Tür hinter sich schloss.
»Als ich hier ankam, ging es mir nicht anders.«
»Was meinst du?«, fragte Susan, ohne aufzusehen. Sie strich über ihre neueste Zeichnung.
»Darf ich?« Ohne auf ihre Antwort zu warten, setzte sich Raven auf den Sessel neben dem Bett.
Ihre Freundin knetete ihre Hände, vermied jeden Blickkontakt. Holte tief Luft. Als sie weitersprach, zitterte ihre Stimme. »In dieser Nacht –«
»Nein«, unterbrach Susan sie und drehte sich um. Dabei fegte sie unabsichtlich ihre Zeichnungen vom Schreibtisch. Die Blätter landeten auf dem Boden.
Sie ignorierte Ravens besorgten Blick und sammelte hektisch die Zeichnungen wieder ein. »Ich werde nie wieder darüber reden.«
»Das kann ich dummerweise auch verstehen«, murmelte Raven und seufzte dann. »Bist du trotzdem bereit mir zuzuhören?«
Hatte Susan denn eine Wahl?
Sie lehnte sich gegen den Schreibtisch, vermied aber weiterhin jeden Blickwechsel mit Raven. Stattdessen betrachtete sie das verschlungene Muster auf dem Teppich zu ihren Füßen.
»Elion fand mich im Wald, nachdem ich mich am Hafen geprügelt hatte. Nachdem –«, sie stockte und Susan wusste, was sie sagen wollte, aber nicht aussprach.
»Ich war verletzt«, fuhr sie fort. »Und Elion hat mich hierhergebracht, damit meine Wunden versorgt werden konnten.«
»Warum nicht in ein Krankenhaus?«
Susan war damals ins Krankenhaus gebracht worden. Von Chris.
Mit Schrecken erinnerte sie sich an die darauffolgende Prozedur. Die mitleidigen Blicke, das verlegene Schweigen. Die Untersuchungen. Die Fragen.
»Elion wusste, dass ich anders war. Dass ich anders bin«, korrigierte sich Raven und unterbrach Susans Erinnerungen.
Raven hatte das auf dem Weg vom Sanatorium auch schon gesagt, aber Susan hatte nicht wirklich nachgefragt. Vielleicht weil sie unter Medikamenten gestanden war. Vielleicht auch weil sie Angst vor der Antwort hatte.
Was wenn das, was sie damals gesehen hatte, doch der Wahrheit entsprach und ihre ehemals so gute Freundin ein Monster war? Mit langen Krallen, die mühelos die Haut eines Menschen durchbohrten? Mit verzerrter Fratze und glühenden Augen.
»Ich wusste es bis zu diesem Abend nicht. Ich meine«, Raven lachte unsicher, »wer glaubt denn schon, dass er irgend so ein Wesen aus Kindermärchen ist? Und dazu noch eines, das nicht sehr gut beschrieben wird«, fügte sie hinzu.
»Raven, bitte. Ich bin müde und würde mich gerne ausruhen.«
Und eine Kopfschmerztablette nehmen. Besser wären gleich zwei.
»Verdammt«, fluchte sie und ging zu ihrer Tasche, obwohl sie wusste, dass die Suche erfolglos sein würde. Als sie mit Raven aus der Klinik gegangen war, hatte sie keine Medikamente mitbekommen.
»Was ist los?«
»Meine Tabletten! Ich habe keine –«, sie holte tief Luft. Spürte, wie sich die Unruhe durch ihre Venen arbeitete, den Herzschlag beschleunigte. Die Atmung durcheinanderbrachte.
»Susan? Susan, sag was!« Ravens sanfte Berührung verstärkte die herannahende Panikattacke nur.
»Was ist los?«
Erschrocken sah Susan auf und blickte direkt in Elions Gesicht. Wie hatte er wissen können, dass etwas nicht stimmte?
Sie riss sich von Raven los und wich zurück. Mit dem kleinen Zeh blieb sie am Bettpfosten hängen und der Schmerz erlaubte ihr für einen Moment, tief Luft zu holen. Die Situation am Rand zu erfassen.
Keine Monster. Keine Bedrohung. Höchstens durch die Entzugserscheinungen der Tabletten, die man ihr in der Klapse eingeflößt hatte. Und sie war eigentlich nicht scharf darauf, das auszuprobieren!
»Was ist passiert?«, fragte Elion und stellte sich neben Raven. Gut, denn sie würde seine Nähe gerade nicht ertragen.
»Ich weiß es nicht. Sie sagte, dass sie keine Tabletten hätte und –«
Mit einer Handbewegung unterbrach Elion seine Freundin und kam dann doch auf Susan zu.
Wenn Susan noch weiter zurückweichen würde, läge sie auf dem Bett in einer denkbar angreifbaren Position. Also blieb sie stehen. Sie zitterte und schwitzte. Aber sie blieb stehen.
»Du hast Medikamente bekommen?«
Sie nickte schwach.
»Weißt du, was das für welche waren? Kennst du die Namen?«
»Ähm, ja. Nein. Ich meine, von ein paar schon.«
Susan achtete nicht auf Ravens entsetzten Gesichtsausdruck, als sie die drei Medikamente aufzählte, die sie kannte.
Etwas gegen die Depressionen und die Halluzinationen. Etwas zum Schlafen. Ein Vitaminpräparat, weil sie so viel abgenommen hatte, und gleichzeitig etwas, das ihren Appetit wieder anregen sollte.
»Es ist klar, dass du das nicht alles einfach absetzen kannst. Und wir haben keinen Arzt mehr hier, der das überwachen könnte, aber Elion kann dir helfen.«
So wie Raven es sagte, würde Susan die Lösung sicher nicht gefallen.
»Ich rufe im Sanatorium an und verlange deinen Medikamentenplan. Vielleicht kann ich für den Moment einen Ersatz beschaffen«, meinte Raven.
Susan entging der strafende Blick nicht, den Elion Raven zuwarf. Als wäre er auch nicht von ihrer Idee begeistert. Was auch immer das sein sollte. Und woher wusste er überhaupt, was Raven dachte?!
»O bitte, als müsste sie diesen ganzen Mist überhaupt nehmen!« Raven verdrehte die Augen und sah sie dann herausfordernd an. »Du weißt, dass du keine Halluzinationen hast, richtig? Du weißt, dass du nicht verrückt bist.«
»Raven«, mahnte Elion leise und griff nach der Hand seiner Freundin. »Es reicht jetzt.«
Aber für Susan war die Zeit der Entscheidung gekommen.
Sie konnte weiterhin verrückt sein oder akzeptieren, dass ihre Einbildungen der Wahrheit entsprachen. Sie könnte annehmen, dass auch ihre Freundin verrückt war, wenn sie sich für ein Fabelwesen hielt. Aber das erklärte nicht, was Susan auf den Straßen gesehen hatte. Oder zu sehen geglaubt hatte.
Sie blickte auf ihre Zeichnungen. Erinnerungsfetzen an jene Nacht. Einblicke auf Menschen, die zwei Gesichter hatten. So wie die einzige freundliche Krankenschwester in der Klinik. Manchmal hatte Susan geglaubt, dass ihre Haut blau schimmerte, es aber auf das Licht geschoben. Oder ihre Halluzinationen. Schließlich hatten Menschen keine blaue Haut, wenn sie sich dem Wasser näherten. Und sie bekamen dann auch keine Kiemen oder Schwimmhäute.
»Susan?«
»Ich will nicht verrückt sein«, gestand sie schluchzend. »Ich will das nicht mehr sehen!«
Sie ließ sich auf ihr Bett fallen und raufte sich die Haare.
»Es macht mich wahnsinnig! Überall sehe ich diese Dinge! Ich weiß nicht mehr, was real ist. Bitte, sag mir, dass ich nicht verrückt bin, Raven!«
»Nein, Liebes! Bei den Göttern, du bist nicht verrückt!«
Raven kniete vor ihr und löste ihre verkrampften Hände.
»Du bist nicht verrückt, Susan. Ich weiß, dass es viel sein kann, so etwas zu erfahren und zu erleben. Aber du bist nicht länger allein! Ich helfe dir da durch. Hörst du mich?«
Durch den Tränenschleier sah Susan ihre Freundin an. Die Freundin, die sich vor ihren Augen in ein halbes Ungeheuer verwandelt hatte und die sie jetzt anflehte ihr zu vertrauen. Zu glauben.
Langsam nickte Susan.
Elay
Nachdenklich starrte Elay aus dem Fenster des kleinen Büros. Draußen hatte die Dämmerung eingesetzt und es schneite schon wieder. Doch im Moment hatte er kein Auge für den winterlichen Garten. Er grübelte über das nach, was Raven ihm und den anderen gerade gesagt hatte.
Sein Bruder saß im Sessel und wirkte ähnlich angespannt wie Elion, der auf der Schreibtischkante lehnte und Raven musterte. Die junge Frau sah müde und erschöpft aus, saß aber dennoch aufrecht in dem breiten Lederstuhl hinter dem Schreibtisch.
»Es ist nicht unüblich, dass Menschen nach so einem Vorfall Dinge sehen«, meinte Elay nach ein paar Minuten, in denen niemand etwas gesagt hatte.
»Dinge sehen?«, wiederholte Raven ungläubig. »Sie hat nicht einfach nur Dinge gesehen. Ich habe vorhin einen Blick auf ihre Zeichnungen werfen können. Das waren abstrakte Gebilde, irgendwo zwischen Verwandlung und Mensch. Wenn sie das die ganze Zeit gesehen hat, wundert es mich nicht, dass sie in der Irrenanstalt war.«
»Ich dachte, es war ein Sanatorium«, meinte Elay gelangweilt.
Er verstand diese ganze Aufregung nicht. Raven hätte nur dafür Sorge tragen müssen, ihrer Freundin zu erklären, dass alles nur Einbildung war. Da sie das Ganze ja auch ausgelöst hatte, wenn er das richtig verstand. Raven hatte sich in einem frühen und impulsiven Stadium ihrer Verwandlung befunden, als sie Susan vor diesem Mann gerettet hatte. Sie war also dafür verantwortlich, dass ihre Freundin einen Blick hinter die menschliche Fassade der Wesen hatte werfen können. Wenn auch nur für einen kurzen Moment und zu einem Zeitpunkt, in dem Susan unter Drogen gestanden hatte, aber offensichtlich hatte genau diese Kombination dafür gesorgt, dass Susan seitdem mehr wahrnehmen konnte.
Fragend sah Elay zu Christopher. Chris, wie er jetzt genannt werden wollte. Sein Bruder hätte das definitiv wissen müssen. Er war in dieser Welt aufgewachsen. Schon kleinen Kindern bläute man diese Warnung ein: Verwandle dich niemals vor Menschen! Das gefährdete nicht nur das Wissen um die Existenz der Wesen, sondern eben auch die Menschen selbst. Einige kamen nicht mit der Wahrheit zurecht und wurden verrückt. Da es aber nicht immer unumgänglich war, gerade wenn man seine Verwandlung noch nicht komplett beherrschte, gab es eine einfache Lösung für diese Art des Problems.
»Elay, ich warne dich. Ich bin nicht gerade gut gelaunt!«, warf Raven ein. Offensichtlich war sie mit seinem Ton nicht einverstanden gewesen, dabei hatte er lediglich die Wahrheit gesagt.
Skeptisch hob er eine Augenbraue.
Diese zierliche Frau wollte ihm drohen? Sie war außerdem schwanger. Eine schwangere … – verdammt. Raven war eine Drachenwandlerin. Ihre Drohung sollte er also etwas ernster nehmen.
»Es ist ganz einfach.« Elay zuckte mit der Schulter. »Du musst ihr nur erklären, dass das alles Einbildung ist. Eine Manifestation ihrer eigenen Ängste und –«
»Nein!« Raven wirbelte auf dem Stuhl herum und sah gehetzt aus. »Nein, so etwas werde ich ihr nie sagen.«
Ihr Blick glitt zu Elion, der sie sanft ansah. Verdammte Liebe. Wirklich, es war geradezu abartig, diese zwei hier zu beobachten.
»Baby, ich weiß, dass du dich an die Sache mit Tiberius erinnerst. Aber du warst ein Kind.«
»Ja und hätte man mir damals die Wahrheit erzählt, wäre es gar nicht so weit gekommen! Also nein, ich werde nicht so tun, als hätte Susan sich das nur eingebildet.«
Elay hatte keine Ahnung, was Raven meinte, aber sie schien fest entschlossen zu sein.
»Gut, wie geht es dann weiter?«, fragte Elay mittlerweile ernsthaft interessiert.
Wieso war ihm das plötzlich so wichtig? Vor wenigen Minuten noch war er dafür gewesen, Susan zu belügen, und jetzt?
»Ich habe ihr geholfen zu schlafen«, unterbrach Elion Elays Gedanken. »Für die nächsten vierundzwanzig Stunden sollten sich die Entzugserscheinungen nicht bemerkbar machen. Aber es ist klar, dass ich das nicht für immer machen kann. Sie braucht die Medikamente, damit wir sie vorsichtig auf Entzug setzen können, oder wir schwächen sie noch mehr.«
Wollte Elay wirklich wissen, wie Elion es geschafft hatte, Susan ohne Medikamente zum Schlafen zu kriegen? Soweit er wusste, hatte der Halbengel keine medizinischen Kenntnisse. Im Gegensatz zu ihm.
»Habt ihr hier eine Krankenstation?«
»Warum?« Elion sah ihn skeptisch an.
»Nachdem Chris – ich meine, bevor ich meinen Vater«, er brach ab und fuhr sich durch die Haare. Räusperte sich. Holte tief Luft. »Ich habe Medizin studiert.«
»Du bist Arzt?«, fragte Christopher – Chris überrascht. »Wann? Wieso? Ich meine – okay.« Sein Bruder gab sich sichtlich Mühe, diese Neuigkeit gelassen aufzunehmen.
»Ich habe noch nie wirklich praktiziert, aber ja: Ich bin Arzt.«
Er sah zu Elion, der nach anfänglichem Zögern nickte.
»Komm mit. Ich zeig dir alles.«
Natürlich war die verdammte Krankenstation unterirdisch! Hätte er sich ja gleich denken können, nachdem er sich nicht erinnern konnte, dass Christopher ihm etwas in der Art bei der Führung heute Morgen gezeigt hatte.
Aber im Keller? Also wirklich! Er war ein Geschöpf des Waldes, der Natur! Er hasste es, sich unter die Erde zu begeben. Dadurch fühlte er sich eingeengt, als würde er keine Luft mehr bekommen.
Trotzdem sah er sich aufmerksam in den drei Behandlungsräumen um, die erstaunlich gut eingerichtet waren. Ein schneller Blick in die Medikamentenschränke bestätigte seine Vermutung. Egal wer hier früher gearbeitet hatte, er verstand etwas von seinem Handwerk.
»Wenn du mir den Medikamentenplan besorgst, kann ich Susan helfen.«
»Wirklich?« Raven sah ihn hoffnungsvoll an. Aber eine gewisse Portion Skepsis schwang in ihrer Stimme dennoch mit.
»Wirklich. So wie du es verlangst.«
Elay hatte zwar überhaupt keine Intention, nach Ravens Anweisungen zu handeln, aber diese Menschenfrau Susan brauchte seine Hilfe. Egal auf welche Art und Weise, er würde ihr helfen.
»Ich bin dir wirklich dankbar, Elay«, sagte sie.
Weinte sie etwa? Scheiße, damit konnte er nicht umgehen.
»Ignorier mich einfach.« Sie lachte nervös und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Das sind die Hormone.«
»Sicherlich«, antwortete er ausweichend.
Weinende Frauen hatte er noch nie ertragen können. Es war ihm dann immer ein Bedürfnis, sie zu trösten. So war es ihm zumindest mit seinen Schwestern ergangen. Und er hatte es immer erfolgreich abwenden können, sich um die beiden zu kümmern. Schließlich hatten sie Christopher gehabt.
Zeit für einen Themenwechsel.
»Ich nehme an, hier unten verwahrt ihr auch Nathan?«
Schlagartig wurde Raven ernst. Seine Wortwahl war ihr sicherlich nicht entgangen.
»Warum willst du das wissen?«
»Interesse.«
»Sicherlich«, ahmte sie seinen Ton perfekt nach. Sie verschränkte sogar die Arme vor der Brust und imitierte seinen Stand.
»Ich will mich bei ihm bedanken.«
»Werden wir ausrichten. Persönliche Danksagungen sind nicht notwendig«, sagte Chris und wich seinem Blick aus.
»Er hat dich fast getötet.«
»Wenn ich mich richtig erinnere, war er nicht persönlich beteiligt. Im Gegensatz zu dir!«
Ja, daran erinnerte er sich ziemlich gut. Elay war sich aber auch sicher, wenn er nicht so schnell und gut gewesen wäre, hätte ihn einer seiner Brüder erwischt. Und Christopher wäre jetzt wirklich tot.
»Ohne ihn wäre ich jetzt nicht hier.«
»Diesen Fehler haben wir bereits korrigiert.«
Wie bitte? Fehler? Danke auch.
»Er meint den Schutzzauber um die Akademie«, erklärte Raven auf seinen verwirrten Gesichtsausdruck hin. »Wir haben ein paar Familienmitglieder, die nun wirklich unerwünscht sind.«
»Will mir das mal jemand erklären?«
»Da du eh nicht lange bleiben wirst, gibt es dafür keinen Grund«, meinte Raven nonchalant und schlug ihm im Vorbeigehen auf die Schulter. Elion folgte ihr mit einem süffisanten Grinsen.
»Hallo? Ich werde mich doch wohl um-«, er brach ab, als er merkte, dass ihm außer Christopher – Chris verdammt! – niemand mehr zuhören würde.
»Nimm’s nicht so schwer. Sie hat ein kleines«, er hielt Zeigefinger und Daumen zusammen, »Vertrauensproblem.«
Elay verstand den Sarkasmus. Aber er wollte nicht weiter darauf eingehen.
»Also werde ich nur für diese Menschenfrau gebraucht und dann fahre ich wieder nach Hause? Allein?«
»So sieht’s wohl aus.« Christopher schob seine Hände in die Hosentaschen.
»Und du wirst mich auch nicht zu Nathan lassen? Ich hätte ihm wirklich einiges zu sagen.« Elay war frustriert und wütend. Er würde alles geben, wenn er nur fünf Minuten mit diesem Hurensohn haben könnte! Wahrscheinlich würden zwei reichen. Er würde es schnell machen.
Aber Christopher schüttelte den Kopf.
»Wir haben strikte Regeln. Und die aus gutem Grund.«
Sein Bruder klang, als hätte er die gleichen Gedanken gehabt.
»Die Magie, die ihn daran hindert abzuhauen, ist die gleiche, die uns daran hindert, ihn ungerechtfertigt zu verletzen.«
»Es wäre ja nicht ungerechtfertigt«, meinte Elay leise und seufzte, als Christopher ihn warnend ansah. »Okay, okay. Ich hab verstanden.«
Trotzdem warf er einen sehnsuchtsvollen Blick auf die abgedunkelten Türen, die hinter der Krankenstation lagen. Ganz sicher wurde Nathan dort festgehalten.
»Elay, ich warne dich nur einmal«, unterbrach Christopher seinen Gedankengang. »Wenn du etwas tust, das gegen Ravens oder meine Anordnungen verstößt, werden wir dich der Akademie verweisen.«
»Sie bedeutet dir viel, oder?«, fragte er, die Drohung wohlweislich ignorierend. Aber sein Bruder hatte offenbar beschlossen ihn ebenfalls zu ignorieren.
Als sie aus dem Aufzug traten, saß der weiße Wolf vor ihnen, den Elay schon mehrfach gesehen hatte. Aber nie aus der Nähe. Normalerweise hielt sich der Wolf immer bei Raven auf, aber die Drachenwandlerin war nicht zu sehen.
Die Lefzen zu einem fiesen Grinsen verzogen, knurrte das Tier ihn an.
Instinktiv trat er einen Schritt zurück und prallte gegen die Rückwand des Fahrstuhls. Er wollte Christopher festhalten, der seinen Arm aber nur genervt abschüttelte.
»Bei den Göttern, ich weiß gar nicht, warum ihr alle Angst vor ihr habt!« Er strich dem Wolf unbekümmert über den Kopf. »Als wärst du der große böse Wolf aus dem Märchenbuch.«
»Das da«, Elay zeigte auf Cleofe, »ist ein großer Wolf.«
»Sie ist noch nicht mal ausgewachsen.«
Als ob ihn das beruhigen würde. Das Tier war jetzt schon so groß wie eine Dänische Dogge. Mindestens!
»Sobald sie merkt, dass du ihr oder Raven nichts tust, beruhigt sie sich. Kommst du jetzt oder was?«
Christopher hatte aufgehört den Wolf zu streicheln und sah ihn herausfordernd an. Elay folgte ihm. Er wollte gerade etwas sagen, als Raven und Zane zu ihnen in die Halle traten und zur Eingangstür sahen. Er konnte ihre Aufregung riechen.
»Was ist los?«
Er sah zu Christopher, aber auch der wirkte verwirrt.
Die schweren Flügeltüren öffneten sich und ein junger Mann trat ein, als gehörte ihm die Welt. Er schüttelte sich den Schnee aus den braunen Haaren und stampfte mit den Stiefeln auf, um auch von dort den Schnee zu entfernen. Offenbar hatte es noch nicht aufgehört zu schneien.
»Scheiße, wirklich? Liam?«
Das Lachen in Christophers Stimme war echt. Und Elay konnte sich nicht erinnern, wann er seinen Bruder das letzte Mal so gelöst gehört hatte. Wahrscheinlich noch nie.
»Wie er leibt und lebt«, antwortete der Mann und warf seine Tasche achtlos auf den Boden. »Tut gut euch zu sehen.«
Er trat auf Zane und Raven zu, umarmte sie fest. Dann kam er selbstsicher auf Christopher zu und zog ihn ebenfalls in seine Arme.
Elay lehnte sich währenddessen an das Geländer der Treppe und beobachtete die Situation aus der Entfernung.
»Liam, schön, dass du wieder da bist.«
Überrascht sah Elay auf. Auf dem Treppenabsatz neben ihm stand Elion. Ganz der Leiter der Akademie.
Er hatte ihn nicht kommen gehört.
»Liam, das ist mein Bruder Elay.«
Was? O ja, richtig. Das war er.
Er ging zu Christopher und Liam. Höflich streckte er die Hand aus, aber Liam rührte sich nicht. Offenbar kannte er die Familiengeschichte bereits. Und da Elay nicht besonders gut darin wegkam, konnte er sogar verstehen, dass Liam sich einfach abwandte.
Liam sah zu Elion, machte aber keine Anstalten, ihn ebenfalls so freudig zu begrüßen wie die anderen.
»Das mit George tut mir leid«, sagte Liam.
Elion nickte nur.
Wer war George? Sicherlich jemand, der Elion nahegestanden hatte, gemessen an dessen Reaktion. Sein Gesicht verzog sich und für einen Moment konnte Elay den Schmerz in seinen Augen sehen, aber er hatte sich schnell wieder im Griff.
»Also, wo sind die Neuen, von denen du mir erzählt hast?«, fragte Liam Christopher und beanspruchte wieder Elays Aufmerksamkeit.
»Das wären dann wohl wir.«
Sky und Cain traten aus dem kleinen Salon neben der Halle. Es folgte eine Vorstellungsrunde, als würde man in die erste Klasse kommen. Und über allen thronte Elion. Mit verschränkten Armen beobachtete er das Schauspiel mit mildem Interesse.
»Liam, wir haben Gäste bei uns im Sanctuary«, merkte der an, als Liam seine Tasche nahm. Es war offensichtlich, dass er damit Elay und Susan meinte. Wieso es allerdings so wichtig war, dass Elion es explizit erwähnte, wusste Elay nicht. Wahrscheinlich nur, um Susans Privatsphäre zu sichern. Elay hatte schließlich schon bemerkt, dass die junge Frau auf männliche Nähe empfindlich reagierte.
»Geht klar.« Ohne weitere Worte ging Liam die Treppe nach oben. »Tut gut dich zu sehen«, sagte er leise, als er an Elion vorbeikam. Wieder nickte Elion nur, legte Liam aber vorher eine Hand auf die Schulter.
Chris
»Was genau meinte Elion damit, als er von den anderen Besuchern im Sanctuary gesprochen hat?«, fragte Cain auf dem Weg zurück in ihr Zimmer.
»Das heißt, dass die Gästezimmer im Sanctuary sozusagen für alle Sperrzone sind, die nicht autorisiert sind es zu betreten. Es ist eine Regel, die verhindern soll, dass die Schüler unsere Gäste verschrecken. In diesem Fall soll es verhindern, dass Susan mit mehr Leuten als notwendig konfrontiert wird.«
»Du kennst sie schon länger?«
Chris nickte. »Als Raven noch studierte, haben wir oft zusammen gegessen, gefeiert oder einfach abgehangen.«
»Wirst du mir irgendwann noch erzählen, was genau damals vorgefallen ist?«
»Wir waren auf Susans Geburtstagsparty im Club. Jemand hatte ihr was in den Drink getan, um sie gefügig zu machen. Als Raven dazustieß, beschleunigte das ihre bevorstehende Verwandlung. Sie verletzte den Mann schwer. Susan hat wohl einiges davon gesehen. Also, wie es passiert ist«, fügte er hinzu. »Elion und ich wären fast zu spät gekommen. Was aber auch nichts mehr daran änderte, dass der Kerl später im Krankenhaus starb.«
Er schloss die Tür zu ihrem Zimmer auf und blickte nachdenklich in den Flur. Dort hinten, weit weg von den beiden neuen Drachenwandlern und ihnen, lag Susan. Dank Elions Heilkräften in einem tiefen Schlaf.
Er erinnerte sich daran, wie Raven damals vor ihnen weggerannt war. Aus Scham. Angst. Fast konnte er die Wut schmecken, die er gefühlt hatte, als er Susan in die Notaufnahme brachte, damit Elion sich auf die Suche nach Raven machen konnte. Die Wut auf den Mann, der seiner Freundin das angetan hatte. Die Wut auf sich selbst, weil er Raven aus den Augen gelassen hatte.