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© dieser Ausgabe: Sina Blackwood 2016
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Die Personen und Namen in diesem Buch sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit heute lebenden Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 9783741262685
Hätte Marc geahnt, was hier im Verborgenen lauerte, hätte er das verlockende Angebot mit Sicherheit ausgeschlagen. Nun hing er mit der rechten Hand in etwas fest, was auf den ersten Blick wie ein Spiegel ausgesehen hatte.
Ein antiker Spiegel, dem schweren Rahmen aus Ebenholz nach. Die gläserne Fläche, oder was auch immer es sonst war, hatte eine ovale Form, war etwa zwei Meter hoch und achtzig Zentimeter breit. Ein wolkiger Schleier lag auf dem Glas, was den jungen Mann veranlasst hatte, mit seinem Fensterleder einen Versuch zu unternehmen, einen makellosen Glanz herzustellen. So wie er die Fläche berührte, tauchte seine Hand in selbige ein und hing seitdem fest wie genietet. Das war nun schon eine halbe Stunde her.
In den ersten Minuten kroch Marc Panik an. Dann gewann Neugier die Oberhand. Der Alte musste wohl ein Zauberer aus dem nahe gelegenen Varieté sein. Marc kam einfach nicht dahinter, wie der Trick funktionierte. Er beschloss, in aller Ruhe zu warten, denn irgendwann würde sein Auftraggeber ja wieder auftauchen und ihn aus der misslichen Lage befreien. Marc nutzte die Zeit, um sich den Raum, in dem er eigentlich nur die Fenster putzen sollte, anzusehen.
Er begann mit dem Rahmen des Spiegels, der ihn festhielt. Fast zwanzig Zentimeter breit, über und über mit Blumenranken verziert, aus denen wundersame Geschöpfe heraus sahen. Der Schnitzer war ein Meister gewesen. Seine Figuren wirkten so lebendig, als würden sie jeden Moment aus den Ranken hervor kriechen. Marc erkannte Schmetterlinge mit zarten Flügeln, Marienkäfer, Vögel, Eichhörnchen, Libellen und sogar zierliche Elfen. Das Möbelstück passte zu seinem Besitzer, wie Marc amüsiert feststellte.
Dabei war seine Körperhaltung nicht gerade entspannt. Er stand schon eine kleine Ewigkeit mit erhobenem Arm, konnte sich kaum bewegen und langsam begann der ganze Körper zu schmerzen.
Sein Blick glitt am Rahmen des Spiegels hinunter. In der unteren Hälfte änderte sich das Aussehen der nicht minder kunstvollen Schnitzereien.
Dort tummelten sich Einhörner, Greife, Zwerge, Schlangen, Wölfe, Bären und – Marc versuchte, das untere Ende des Rahmens zu erkennen – etwas, das er nicht identifizieren konnte. Es nahm genau den untersten Punkt ein, war mindestens zehnmal größer dargestellt, als alle anderen Wesen auf dem Rahmen. Marc wurde unbehaglich zumute.
Er spähte, so gut es ging, auf den Ständer des schweren Spiegels. Die Bronze schimmerte matt. Marc zuckte zusammen. Vier riesige, schuppige Klauen, mit scharfen Krallen bildeten den Fuß!
„Ein Drache“, flüsterte der junge Mann tonlos.
Jetzt war er sicher, dass die untere Schnitzerei auch einen Drachen darstellte. Marc umfasste mit der linken Hand seinen rechten Unterarm und zerrte mit ganzer Kraft daran. Weder der Arm noch der Spiegel bewegten sich auch nur einen einzigen Millimeter. Marc hütete sich, der gefährlichen Spiegelfläche mit dem Körper oder gar dem anderen Arm zu nahe zu kommen.
Ein kurzer Blick auf die Uhr. Nun hing er schon über eine Stunde hier fest. Es wurde langsam Zeit, dass der alte Mann erschien. Marc konnte sich Besseres vorstellen, als hier herumzuhängen. Außerdem meldete sich der Hunger. Seine Freunde aus der Uni saßen jetzt sicher bei Luigi, um die Ecke, und schlugen sich die Bäuche mit Pizza voll.
Er hatte die Wahl gehabt, heute bei Luigi zu kellnern oder bei dem Alten die Fenster zu putzen. Der wunderliche Alte hatte ihm fünfhundert versprochen und ihm dreihundert davon gleich vorab in die Hand gedrückt.
Komischer Kauz, hatte sich Marc gedacht, das Geld und den Job genommen. Gut bezahlte Studentenjobs waren rar und dieser Betrag eine Verlockung der besonderen Art.
Der Fremde war mit Marcs Pinnwandzettel, mit dem Putzangebot, in der Pizzeria erschienen. Hausmeister Willy hatte ihm den Tipp gegeben, bei Luigi nach Marc zu fragen. Nun hing Marc hier und wusste sich keinen Rat mehr. Von der Straße drang Verkehrslärm herein. Er hätte um Hilfe rufen können. Blödsinn! Es musste ja nicht gleich die halbe Uni erfahren, dass er sich dämlich angestellt hatte. Marc grinste bei diesem Gedanken.
Sein Blick huschte über die löwenfüßigen Eichenmöbel des alten Mannes. Alles hier schien, aus dem vorigen Jahrhundert zu stammen. Außer dem elektrischen Licht gab es keinerlei moderne Technik. Ungewöhnlich für einen Varieté-Künstler, fiel es Marc ein.
Plötzlich stutzte er. Irgendetwas hatte sich in den letzten Minuten verändert. Nur was? Dann erblasste der junge Mann. Die Figuren vom Spiegel-Rahmen waren verschwunden, als hätten sie nie existiert, gleichzeitig zupfte etwas an den Fingern seiner rechten Hand. Sein Herz begann zu rasen. Was hier passierte, war keinesfalls nur Illusion. Was geschah mit seiner Hand? Ihm fielen die Bären und Wölfe ein.
„Scheiße“, murmelte Marc.
„Ach du Scheiße!“, etwas lauter, als er merkte, wie eine Kraft an seiner unsichtbaren Hand zog und ihn immer näher mit dem Körper an den Spiegel brachte. Der Unterarm verschwand. Marc drückte den Kopf zurück. Angst, ersticken zu müssen, überfiel ihn, wenn sein Gesicht in die milchige Fläche eintauchte. Dann riss ihn eine Kraft von den Beinen.
Ehe er einen klaren Gedanken fassen konnte, tauchte er in die Spiegelfläche ein. Ein heftiger Schmerz durchzuckte seinen Körper. Marc war auf der anderen Seite ungebremst auf den steinernen Fußboden geknallt. Sein erster Blick galt seiner rechten Hand. Sie war noch da, sah aus wie immer und hielt sogar noch das Fensterleder fest. Marc steckte es in die Tasche seiner Jeans.
Steinerner Fußboden? Marc fuhr herum. „Das gibt es doch nicht!“
Der Spiegel hatte frei im Raum auf einem dicken orientalischen Teppich gestanden. Da konnte kein Steinfußboden sein! Hier gab es weder einen Teppich, noch Fenster und erst recht keinen Spiegel.
„Ich glaube, ich werde verrückt.“ Marc fuhr mit der Hand über die Augen. Das Bild blieb das gleiche. Mauern aus grob behauenem Stein, zwei Pechfackeln in ehernen Haltern, neben einer niedrigen Tür aus groben Brettern.
„Wenigstens keine Gummizelle – bin wohl doch nicht in der Klapse“, stellte er einigermaßen beruhigt fest, vorsichtig das Ohr an die Tür legend. Nicht ein einziger Laut war zu hören. Marc drückte langsam die Klinke herunter, spähte dann durch den Türspalt. Genau gegenüber der Tür war eine schmale Öffnung in der Mauer. Er huschte hinaus, um einen Blick durch das winzige Fensterchen zu werfen, und prallte zurück. Alles was er sehen konnte, war ein gähnender, bodenloser Abgrund.
„Ich muss wohl doch schlimmer auf den Kopf gefallen sein. Hoffentlich bleibt das nicht so“, seufzte Marc, setzte sich mit dem Rücken an die Wand und wartete. Er wartete lange, sehr lange. Schließlich raffte er sich auf. „Wer sagt eigentlich, dass ich verrückt bin? Das gehört sicher zum Trick des alten Mannes. Irgendwo wird schon der Ausgang zur Straße sein.“
Marc begab sich auf die Suche. Stufe für Stufe stieg er die steile Wendeltreppe hinunter, die einfach kein Ende nehmen wollte. Bald hörte er auf, die Schritte zu zählen. Hin und wieder streifte sein Blick eines der kleinen Fensterchen. Endlich kam das Ende der Treppe in Sicht, die genau auf eine große Tür zuführte.
Marc legte die Hand auf die Klinke, zögerte aber, sie herunterzudrücken. Was würde ihn wohl draußen erwarten? Vielleicht stürzte er hinter der Schwelle gar in den Abgrund, den er gesehen hatte? Marc lachte auf. Jetzt glaubte er schon an den ganzen Scheiß, den er hier zu sehen bekam.
„Wir haben das Jahr 2008, ich bin in der Wohnung eines alten Mannes und putze Fenster“, murmelte er, um sich selbst zu beruhigen. Der Trick funktionierte nicht. Marc stand definitiv vor einer großen Tür, in einem wahnsinnig hohen Turm und fürchtete sich vor dem, was draußen war.
„Leckt mich doch sonst wo!“, stieß er wütend hervor und öffnete die Tür mit einem kräftigen Ruck. Grelles Sonnenlicht drang herein. Marc musste die Augen zukneifen. Es dauerte einige Sekunden, ehe er wieder sehen konnte. So weit das Auge reichte sanfte Hügel, bewachsen mit saftigem Gras und unzähligen Blumen.
„Jetzt fehlen nur noch Bambi und Klopfer. Rapunzel hat soeben ihren Turm verlassen.“ Kichernd strich Marc mit der Hand über seine Haare. Die Kulisse hätte aber auch durchaus in einen russischen Märchenfilm gepasst. Jedenfalls hätte es ihn nicht erstaunt, wenn jetzt eine Ziege vorbei gekommen wäre, die meckernd nach Wasja oder Aljonuschka gerufen hätte. Marc beschattete die Augen mit einer Hand und schaute sich um. So macht es die Hexe bei Väterchen Frost, fiel ihm grinsend ein. Seine Situation war aber auch wirklich märchenhaft. Neugierig, was wohl als Nächstes käme, ging er einfach geradeaus. Nach ein paar Metern drehte er sich noch einmal um.
„Das … das … das gibt es doch nicht“, stotterte er verwirrt. Der Turm war verschwunden. Einfach so. Marc wandte sich um und trabte weiter.
„Er ist anders als die anderen“, wisperte es vor ihm.
„Er ist stark.“
„Und er sieht gut aus.“
Marc blieb stehen. Da war niemand. Offensichtlich hatte er doch einen Treffer weg, wie er es nannte. Jetzt hörte er schon Stimmen. Vielleicht waren auch Durst und Hunger schuld an seinem Zustand. Marc schaute in die Ferne. An einer Stelle sah das Gras noch saftiger aus. „Vielleicht gibt es dort Wasser“, flüsterte er, sofort seine Marschrichtung ändernd.
„Kluges Köpfchen.“
„Er könnte es schaffen.“
„Ich sag doch, er ist anders“, meldete sich die erste Stimme wieder.
„Und er sieht gut aus.“
„Du wiederholst dich.“
„Na und? Es ist die Wahrheit.“
Marc achtete kaum darauf. Sein Durst trieb ihn vorwärts. Nach einer Viertelstunde erreichte er sein Ziel. Ein leises Murmeln bestätigte seine Vermutung, dass es hier Wasser geben musste. Er folgte dem Gesang des Wassers. Tatsächlich fand er einen schmalen Bach, der sein Silberband durch die Wiese schlängelte. Schnell kniete er sich ans Ufer und schöpfte mit beiden Händen das rettende Nass, welches er mit gierigen Zügen trank.
„Wohl bekomm‘s!“, wisperte es an seinem Ohr.
„Danke“, antwortete Marc nach alter Gewohnheit und schöpfte noch einmal nach.
„Wohlerzogen“, sagte wieder ein Stimmchen.
Marc ließ sich ins Gras sinken. Ich bin völlig fertig, hämmerte es in seinem Gehirn. Fix und fertig. Kein Wunder, dass sich meine Gedanken mit sich selber unterhalten. Er drehte den Kopf zur Seite, um etwas bequemer zu liegen. Ein Binsenstängel kam in sein Blickfeld, auf dem drei große Schmetterlinge saßen. Die fast durchsichtigen schillernden Flügel funkelten bei jeder Bewegung.
Marc stutzte und schaute genauer hin. Vorsichtig setzte er sich auf. Das waren mitnichten Schmetterlinge! Das waren … das waren… ja was war es denn nun? Was dort saß, gab es eigentlich nicht!
„Elfen.“ Rutschte es ihm einfach so heraus.
„Sehr richtig“, antwortete das mittlere dieser Wesen und schwebte auf ihn zu.
„Du bist tatsächlich ein erstaunlich kluges Kerlchen.“ Mit diesen Worten setzte es sich auf sein Hosenbein.
Marc traute sich kaum, noch zu atmen. Er fürchtete, dass die kleinen Wesen dann verschwinden würden. Die beiden anderen Elfen schwebten ebenfalls lautlos auf ihn zu, um auf seinem Hosenbein Platz zu nehmen.
Mit einer gewissen Ehrfurcht wartete Marc darauf, dass die Elfen das Gespräch weiterführen würden.
„Wie nennt man dich?“, fragte die erste Elfe.
„Marc – man nennt mich Marc.“
„Freut mich, dich kennen zu lernen, Marc. Ich bin Scilla, hier links neben mir sitzt Galantha und rechts das ist Hellebora“, antwortete das zarte Wesen.
Marc lächelte. „Blaustern, Schneeglöckchen und Schneerose.“
Die Elfen lachten glockenhell. „Erstaunlich! So nennt man uns in deiner Welt tatsächlich. Was führt dich zu uns?“
Marc wurde ernst. „Das ist eine wirre Geschichte, die ich selber nicht ganz begreife.“ Er erzählte den drei Blumenelfen, was bisher geschehen war.
Scilla wiegte den Kopf. „Nun – der Spiegel kann nicht zwischen guter und böser Absicht unterscheiden.“
„Wie meinst du das?“, fragte Marc erstaunt.
Hellebora seufzte. „Alle, die bisher mit dem Spiegel Kontakt hatten, versuchten, ihn zu stehlen oder ihn gar zu zerstören. Er weiß nicht, dass es Menschen gibt, die es gut mit ihm meinen, also bestraft er alle, indem er sie ins Reich des schwarzen Drachen wirft.“
„Des schwarzen Drachen?“, echote Marc fragend. „Was ist denn das?“
Galantha streichelte mitleidig seine Hand. „Wenn die Nacht kommt, wirst du es vielleicht verstehen.“
„Dann regiert hier das Grauen“, erklärte Scilla. „Zwerge reiten auf dem Rücken von Wölfen und Bären durch die Wälder. Sie versuchen, die magischen Einhörner zu töten.“
„Warum?“, fragte Marc verständnislos.
Scilla winkte ab. „Das ist wohl der uralte Kampf des Bösen gegen das Gute. Manchmal siegt die eine und manchmal die andere Seite.“
„Und was ist mit dem Drachen?“, wollte Marc wissen.
„Das weiß keiner“, murmelte Galantha. „Denn von dort ist noch niemand wieder zurückgekehrt.“
Marc dachte eine Weile nach. „Vielleicht ist dort der Ausgang aus eurer Welt. Das würde zumindest erklären, weshalb keiner mehr zurückkam.“
„So eine verrückte Idee!“ Scilla schüttelte missbilligend den Kopf.
„Und wenn er Recht hat?“, fragte Galantha zaghaft und fing sich einen strengen Blick von Scilla ein.
Hellebora lachte. „Du kannst ihn ja dorthin begleiten und uns anschließend erzählen, was du gesehen hast.“
„In welche Richtung muss ich gehen?“ Marc stellte die Frage mit fester Stimme.
Galantha zog etwas aus ihrem Gewand. Sie legte es ihm in die Hand.
„Ein winziger Kompass.“ Marc betrachtete ihn vorsichtig. In die silberne Fläche, auf der sich die Nadel bewegte, war ein Drache eingraviert.
„Wenn die Nadel auf den Kopf des Drachen zeigt, bist du auf dem richtigen Weg“, erklärte die Elfe. „Das ist das Letzte, was wir für dich tun können. Wenn die Nacht kommt, endet unsere Macht. Dann liegt es ganz dir, ob du dem Bösen widerstehen kannst oder nicht.“
Die Elfen flogen auf und verschwanden irgendwo in der Ferne.
Marc sah ihnen lange nach.
„Wir können ihn doch nicht mitten in der Wildnis allein lassen.“ Galantha war außer sich.
„Was willst du? Das ist ein Mensch, er gehört nicht hierher“, erwiderte Scilla.
„Eben. Wir sollen ihm helfen, den Ausgang zu finden“, konterte Galantha.
„Warum?“, fragte Hellebora gelangweilt.
„Weil – weil – weil er nichts Böses getan hat!“, rief Galantha. „Er ist durch ein Missverständnis hier!“
„Könnte es sein, dass du dich in den Fremden verguckt hast?“, mutmaßte Hellebora.
„Ja.“ Galantha zuckte zusammen, als sie merkte, was sie soeben gesagt hatte. „Nein, nein“, versuchte sie erfolglos, klarzustellen.
Scilla und Hellebora begannen zu kichern. „Wie kann man nur so naiv sein, sich ausgerechnet in einen Menschen zu vergaffen?“
„Der kann weder zaubern noch fliegen“, lästerte Hellebora.
„Und wenn die Nacht kommt, wird er die Zwerge um Gnade anwinseln“, setzte Scilla hinzu.
Galantha wurde blass. „Ihr seid herzlos. Er hat nicht gewinselt, als er im Spiegel festhing und er ist nicht verzweifelt, als der Turm verschwand. Er hat auch nicht nach uns geschlagen, wie die anderen und trotzdem wollt ihr ihn im Stich lassen? Schämt euch!“
Galantha funkelte ihre Gefährtinnen wütend an, drehte sich um und flog, die untergehende Sonne im Rücken, zurück zu der Stelle, wo sie Marc verlassen hatten.
„Galantha!!!“, rief ihr Hellebora hinterher.
Die Elfe Schneeglöckchen drehte sich nicht einmal um.
„Lass sie.“ Scilla schaute der Davoneilenden nach. „Wenn die Nacht anbricht, kommt sie von ganz allein wieder. Dann merkt sie nämlich, dass sie den Menschen nicht beschützen kann.“
Ein Luftzug streifte Marcs Nacken. Er fasste hinter sich, um sein Haar zu ordnen.
„Au!“, wimmerte ein Stimmchen an seinem Ohr.
Marc zog erschreckt die Hand zurück. Zwischen seinen Fingern hing ein zappelndes Etwas.
„Galantha?!“ Ungläubig bestaunte er das zarte Wesen, das auf seiner Handfläche lag und sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Arm hielt.
„Tut mit leid. Ich konnte nicht ahnen, dass du auf meinem Kragen landen wolltest“, sagte er schuldbewusst.
„Geschieht mir recht“, winkte die Elfe ab. „Ich hatte vergessen, dass man sich Menschen nicht von hinten nähern darf.“
Marc lachte. „Hunden auch nicht.“
„Was??“, fragte Galantha verstört. „Warum Hunden??“
„Die beißen, wenn man von hinten kommt“, erklärte Marc mit todernstem Gesicht.
„Bin ich froh, dass du kein Hund bist“, erwiderte die Elfe, immer noch ihren Arm haltend, dabei sah sie Marc amüsiert an.
Marc musste die Hand sehr nah vor die Augen halten, um in der einsetzenden Finsternis die Elfe überhaupt noch erkennen zu können. „Welcher Wind hat dich zu mir zurück geweht?“
„Ich möchte dir helfen, das Tor in deine Welt zu finden“, flüsterte Galantha, während die sich an seinem Finger festklammerte.
„Einfach so? Ohne Hintergedanken?“, fragte Marc.
„Wie meinst du das?“ Galantha schaute ihn aus großen unschuldigen Augen an.
„Hat Scilla nicht was von Wölfen und Bären erzählt? Vielleicht soll ich als Abendbrot für die netten Tierchen enden?“ Marc zog die Augenbrauen zusammen.
Die Elfe schüttelte ganz langsam den Kopf. „Ich weiß nicht, ob ich dir wirklich etwas nütze, aber glaube mir, ohne mich bist du wirklich verloren.“
„Was verlangst du für deine Hilfe?“, wollte der junge Mann wissen.
Galantha hob den Kopf. „Dass du es schaffst, wieder in deine Welt zurückzukehren und dass du ab und zu an mich denkst, wenn du wieder zu Hause bist.“
Marc lächelte. „Komm, versuchen wir beide, diese Nacht zu überstehen.“
„Was hast du vor?“, fragte Galantha.
„Ich will den Wald erreichen und die Nacht auf einem Baum verbringen. Da kommen zumindest die Wölfe nicht hinauf“, entgegnete Marc zuversichtlich.
Unangefochten überquerten sie die Wiese, erreichten den Waldrand und fanden sogar einen Baum, den Marc mit etwas Mühe erklimmen konnte.
„Ich konnte noch nie gut klettern“, sagte er entschuldigend, als sie es sich auf dem dicksten Ast gemütlich machten.
„Dafür war es doch ganz gut“, lobte die Elfe.
Marc lächelte dankbar.
Das blasse Licht des Mondes ließ Galanthas Gestalt geheimnisvoll schimmern.
„Wie geht es deinem Arm?“, fragte Marc.
„Morgen wird alles wieder in Ordnung sein“, flüsterte Galantha. „Viel schlimmer ist, dass ich furchtbar friere.“
Nachdenklich betrachtete Marc die zierliche Gestalt, die ein Bustier und ein Art Lendenschurz trug. Etwas wenig für die nächtlichen Temperaturen.
„Komm her.“ Er fasste sie vorsichtig mit zwei Fingern um die Taille, öffnete zwei Knöpfe seines Hemdes und ließ die Elfe langsam an seine Brust gleiten. „Du bist ja schon halb erstarrt“, stellte er besorgt fest, als der eiskalte winzige Körper seine warme Haut berührte.
„Das tut gut“, murmelte Galantha, kuschelte sich an und schlief auf der Stelle ein.
Marc lächelte still in sich hinein. Erst fraß ihn ein Spiegel und nun hatte ihm das Schicksal eine Kuschel-Elfe geschickt. Morgen früh würde er in seinem Bett aufwachen, feststellen, dass alles nur ein wirrer Traum war, in die Uni gehen und mittags seinen Freunden eine Pizza bei Luigi spendieren. Dann übermannte ihn der Schlaf.
Etwas drückte an Marcs Ohr. Das konnte nur der Rand des Nachtschränkchens sein. Marc fasste danach. Seit wann hatte das Möbelstück eine Rinde? Er riss die Augen auf. Die Wirklichkeit kehrte brutal wieder. Er saß auf einem Baum. Noch immer. Unter seinem Hemd bewegte sich etwas. Ein kleines, verschlafenes Gesichtchen tauchte auf. Galantha.
„Guten Morgen. Hast du gut geschlafen?“, fragte er fröhlich.
Die Elfe schlüpfte aus seinem Hemd. „Wundervoll“, seufzte sie. „Weich, warm und sicher. Und du? Blöde Frage“, murmelte sie einen Augenblick später. „Wie solltest du auf einem Ast wohl geschlafen haben?“
„Wir leben noch. Das ist wohl die Hauptsache“, schmunzelte Marc.
„Und das soll auch so bleiben. Du bist ein guter Mensch. Ich mag dich.“ Galantha gaukelte wie ein kleiner Schmetterling vor ihm in der Luft, trieb auf ihn zu und küsste ihn. „Ich darf dir heute einen kleinen Wunsch erfüllen“, sagte sie dann bedeutungsvoll. „Überlege gut. Die Wirkung hält nur vierundzwanzig Stunden.“
„Oh je.“ Marc seufzte, als er endlich von dem Baum herunter gestiegen war. „Meinen größten Wunsch kannst du mir nicht erfüllen, weil du den Weg ja selber nicht kennst“, stellte er schulterzuckend fest. Dann ging ein Strahlen über sein Gesicht. „Ich wünsche mir, dass du so groß wirst, wie ich bin.“
Galantha lachte silberhell. „So soll es sein.“
Sie drehte sich einmal um ihre Achse, und begann zu wachsen. Marc staunte nicht schlecht. Was sich seinem Auge bot, war nicht von schlechten Eltern. Da saß alles an der richtigen Stelle. Der Augenaufschlag unter den langen dunklen Wimpern hervor, trieb ihm einen wohligen Schauer über den Rücken.
„Habe ich jetzt auch einen Wunsch frei?“, fragte sie lachend, als er sie anstarrte, wie ein Kind einen hohen Kirschbaum voller süßer Früchte.
Marc nickte mit strahlenden Augen.
„Küss mich“, bat Galantha.
Nichts lieber, als das. Marc nahm sie liebevoll in die Arme und erfüllte ihren Wunsch. Seine Hände huschten streichelnd über ihre nackte Haut zwischen den beiden Stoffbahnen. Erstaunt stellte er fest, dass ihre schillernden Flügel auch in dieser Größe äußerst filigran aussahen.
Galantha löste sich seufzend von ihm. Sie wirkte etwas verstört. „Ich wusste nicht, dass ihr Menschen so zärtlich sein könnt.“
„Und ich habe nicht geahnt, dass ihr Elfen so anschmiegsam seid“, gab Marc lächelnd zurück.
„Du bereust deinen Wunsch?“, fragte Galantha zaghaft.
„Ganz im Gegenteil.“
Sie schaute ihn prüfend an. „Warum hast du dir gerade das gewünscht?“
„Ganz einfach, so ist das Risiko nicht so groß, dass ich dich versehentlich verletzte, wie es gestern geschehen ist. Außerdem finde ich es schöner, meinem Gesprächspartner in die Augen sehen zu können“, erklärte Marc.
Galantha schwieg beeindruckt. So hatte noch keiner der Menschen reagiert, die der Spiegel hierher gebracht hatte.
Marc fasste nach ihrer Hand. „Komm. Wir müssen Wasser und wenigstens ein paar essbare Früchte finden. Ich habe seit gestern früh nichts mehr gegessen. Mit ist schon ganz schlecht.“
Auch jetzt reagierte Marc anders, als Galantha erwartet hatte. Er schaute auf den Kompass. „Suchen wir in dieser Richtung.“
Galantha lief neben Marc her. Nach ein paar Metern gab sie auf. „Ich schaffe es nicht. Meine Füße schmerzen.“ Sie bewegte ihre Flügel und schwebte einige Zentimeter über dem Boden an seiner Seite. „Da! Beerensträucher!“, jubelte sie plötzlich.
Sie half ihm beim Pflücken.
„Isst du keine Beeren?“, fragte Marc.
„Ich lebe vom Nektar aus den Blüten“, entgegnete sie.
„Das dürfte heute schwer werden“, meinte Marc, während er eifrig den Früchten zusprach.
„Oh. Daran habe ich nicht gedacht“, sagte Galantha niedergeschlagen.
„Probier doch einfach“, ermutigte sie Marc.
Die Elfe nickte. „Gar nicht so übel“, stellte sie nach der ersten Kostprobe fest. „Etwas sauer, aber durchaus schmackhaft.“
Auf der Suche nach Wasser durchquerten sie langsam das kleine Wäldchen. Ständig blieb die Elfe mit ihren Flügeln an Bäumen und Sträuchern hängen.
„Lass mich zurück. Ich bin doch nur eine Last für dich“, seufzte sie niedergeschlagen.
„Vergiss, was du gerade gesagt hast.“ Marc legte ihr einen Finger auf den Mund, nahm sie auf die Arme, um sie sicher zwischen den Bäumen hindurch zu tragen. Dabei stellte er fest, dass sie erstaunlich leicht war.
„Ich habe verlangt, dass du so groß wirst, also bin ich auch verantwortlich, dass dir dadurch kein Leid geschieht. Wir beide werden es schon schaffen.“
Galantha legte ihren Kopf an seine Wange. Sie träumte mit offenen Augen.
„Schau an, da drüben ist ja endlich ein Bach“, sagte Marc erfreut.
Am Ufer setzte er Galantha vorsichtig ab. Neugierig schaute sie zu, wie er Wasser schöpfte und aus der Hand trank.
„Hast du keinen Durst?“, fragte er erstaunt.
„Habe ich. Ich traue mich nur nicht so nah an das Wasser. Es ist gefährlich“, entgegnete sie.
„Der Bach?“, Marc sah sie erstaunt an. Ganz offensichtlich war es für Galantha schwer, sich an die neue Größe zu gewöhnen. Schnell rollte er ein großes Blatt zusammen, schöpfte es voll und reichte es ihr. Dankbar nahm die Elfe die Gabe an.
„Wie weit ist es eigentlich bis zur Höhle des Drachen?“, fragte er plötzlich.
„Morgen Abend werden wir die Berge erreichen“, antwortete Galantha ausweichend, ohne ihn anzusehen.
Marc nahm ihr Gesicht in beide Hände. „Du weinst?“
„Kannst du nicht für immer hierbleiben?“ Galantha wischte die Tränen weg.
Marc schüttelte den Kopf.
„Dann wartet deine Liebste zu Hause auf dich?“, fragte die Elfe leise.
„Nein. Es gibt keine Liebste, nur viele gute Freunde und Verpflichtungen, die ich zu erfüllen habe“, gab Marc zurück. „Vergiss nicht, dass ich nur ein Mensch bin. Ich kann weder mit dir über die Wiesen fliegen, noch zaubern.“
Galantha fuhr entsetzt zurück.
„Habe ich etwas Falsches gesagt?“, fragte Marc.
„Hellebora hat die gleichen Worte gebraucht, als sie mich von dir fernhalten wollte“, murmelte sie verstört.
Marc lächelte wieder. „Es scheint ihr aber, nicht gelungen zu sein. Warum kommst du nicht mit in meine Welt?“
Galantha schaute betreten zu Boden. „Dort gehöre ich einfach nicht hin“, sagte sie so leise, dass er sie kaum verstand.
„Willst du es nicht einmal versuchen?“, fragte Marc. „Wenn es dir bei mir nicht gefällt, führe ich dich zu dem alten Mann. Sein Spiegel bringt dich bestimmt wieder hierher.“
Die Elfe legte ihm beide Hände auf die Schultern. „Aurëus sollte niemals erfahren, dass du das Geheimnis seines Spiegels kennst. Er würde sicher sehr wütend werden.“
„Du kennst den alten Mann?“ Marc war erstaunt.
„Ja natürlich. Jeder hier kennt den weisen Zauberer Aurëus“, entgegnete sie.
„Ach, sieh an“, sagte Marc sarkastisch. „Aber niemand von euch weiß angeblich wo das Tor in meine Welt ist. Sonderbar.“
„Warum bist du auf einmal so böse? Wir wissen wirklich nicht, wo das Portal in andere Gefilde ist. Aurëus gibt niemals seine Geheimnisse preis“, verteidigte sich die Elfe. „Er lebt irgendwo zwischen den Dimensionen, kommt und geht, wann und wie es ihm gefällt. Das ist schon seit Anbeginn der Zeit so.“
Marc nahm Galantha in die Arme. „Ich wollte dich nicht kränken. Tut mir leid.“
Galantha schmiegt sich verzeihend an. „Wir sollten weiterziehen“, hauchte sie ihm ins Ohr. „Hier ist Zwergenland. Wenn wir vor Anbruch der Dunkelheit den nächsten Wald nicht erreichen, sind wir sicher verloren.“
„Ich bin verloren“, präzisierte Marc. „Ich verlange nicht, dass du bei mir bleibst, wenn es gefährlich wird.“
„Immer noch böse?“, fragte Galantha traurig.
„Nein. Realist“, antwortete er.
„Realist? In unserer Welt?“ Die Elfe begann herzhaft zu lachen. „Wer sagt dir, dass das, was du hier gerade siehst, wirklich eine blumenübersäte Wiese ist? Der Turm ist einfach hinter dir verschwunden und der vermeintliche Spiegel war auch keiner.“
Marc holte tief Luft. Galantha machte sich auf bittere Vorwürfe gefasst, als er grinsend sagte: „Schon gut, ich gebe mich geschlagen.“ Der Unsinn seiner Worte vom Realismus, ausgerechnet in der Welt der Elfen, war kaum zu überhören gewesen.
In den nächsten beiden Stunden schwebte Galantha an seiner Seite, strahlte mit der Sonne um die Wette und beantwortete, so gut es ging, seine Fragen über ihre Welt.
„Woher weißt du eigentlich so viel über uns?“, fragte sie nach einer Weile erstaunt.
„Aus Büchern“, erklärte Marc.
„Zauberbüchern?“ Galantha sah ihn neugierig an.
„Märchenbüchern!“, lachte Marc.
Die Elfe wurde ernst. „Die Menschen, die sie geschrieben haben, waren bestimmt einmal hier. Das Tor, welches sie zu euch zurückgebracht hat, muss es einfach geben und ich bin sicher, dass wir es finden werden.“
„Wirst du auch ein Buch schreiben, wenn du wieder zu Hause bist?“, fragte sie nach einer Weile.
Marc schüttelte den Kopf. „Ganz bestimmt nicht. Was ich mit dir hier erlebe, geht nur uns beide etwas an.“
„Danke“ Galantha hauchte ihm einen Kuss auf die Wange.
„Allerdings werde ich oft von dir träumen“, erklärte Marc. „Von deinem langen Haar, das so rot und so seidig ist, wie das Fell eines Eichhörnchens, von deiner fast milchweiß schimmernden zarten Haut, die ich ohne Unterbrechung streicheln möchte und von deinen Augen, die so unergründlich tief und grün wie Bergseen sind. Bei jedem Schmetterling, der mir in meiner Welt begegnen wird, werde ich mich an deine glitzernden Flügel erinnern.“
Galantha seufzte hingerissen. „So etwas Wundervolles hat noch niemand zu mir gesagt.“
Marc sah sie ungläubig an. „Nicht?“
„Mm – mm“, Galantha schüttelte den Kopf.
„Verstehe ich nicht“, murmelte Marc. „Das musst du mir wohl erklären.“
Die Elfe überlegte. „Du kannst nicht besonders gut klettern, was in deiner Welt sicher völlig egal ist. Ich kann nicht besonders gut zaubern, was in meiner Welt ein böser Makel ist. Kein Elf, der etwas auf sich hält, lässt sich freiwillig mit so einer Versagerin ein.“
„Und wenn er dich wirklich liebt?“
„Versuche gar nicht erst, mich zu trösten. Man hält sich von mir fern, als hätte ich eine ansteckende Krankheit“, flüsterte Galantha traurig.
„Und da komme ich daher, pfeife auf alle Zauberkraft und wecke Begehrlichkeiten, die ich nicht erfüllen kann“, sinnierte Marc.
„Ich fürchte, das stimmt.“ Galantha ließ den Kopf hängen.
Plötzlich zuckte sie zusammen, schaute sich wie gehetzt um.
„Was ist passiert?“, flüsterte Marc.
„Zu spät“, jammerte die Elfe. „Die Zwerge sind schon unterwegs.“
Die Sonne war tatsächlich schon fast untergegangen. Ein schauerliches Jaulen erklang in der Ferne.
„Flieg weg! Rette dich!“, rief Marc. „Schnell!“
„Nicht ohne dich“, sagte die Elfe mit fester Stimme.
Der junge Mann gewahrte ein Funkeln in der Ferne. „Was ist das da hinten?“
„Ein sumpfiger See mit vielen Inseln“, antwortete Galantha.
„Beeilen wir uns! Vielleicht können wir dort unsere Spuren verwischen.“ Marc fasste ihre Hand und rannte los.
Hinter ihnen war deutlich das Hecheln mehrerer Wölfe zu hören. Etwas zischte an ihnen vorbei. Es blitzte und krachte. Ohne Vorwarnung zog es Marc den Boden unter den Füßen weg. Eis! Überall Eis. Er stürzte, riss Galantha mit und schlitterte mit ihr rasend schnell auf die Wasserfläche zu.
Kurz vor dem Ufer ließ er ihre Hand los. Galantha flatterte wild mit den Flügeln. Voller Entsetzen musste sie mit ansehen, wie Marc in Wasser rollte, unterging und nicht wieder auftauchte.
Einer der Zwerge schoss einen zweiten Eispfeil ab. Er traf auf die leicht gekräuselte Oberfläche des Sees, die sich augenblicklich mit einer Eisschicht überzog. Galantha schrie auf. Im fahlen Mondlicht bot sie ein gutes Ziel.
Der dritte Pfeil traf ihre Flügel. Wie ein Stein fiel sie dem See entgegen, das Eis brach und die Elfe Schneeglöckchen versank in den eisigen Fluten.
„Die haben genug“, kicherte der erste Zwerg schadenfroh. „Ein Mensch und eine nutzlose Elfe weniger.“
Ohne sich noch einmal umzusehen, verschwanden die Wolfsreiter in der Dunkelheit.
Marc hatte die Luft angehalten und sich mit den Händen kurz unterhalb der Wasseroberfläche am Ufer entlang gezogen. Ihm war auch nicht entgangen, was mit Galantha geschehen war. In dem Augenblick, als sie fiel, war er bereits auf dem Weg zu ihr. Im dunklen Wasser bekam er einen ihrer Flügel zu fassen.
Wenige Sekunden später zog er sie auf einer kleinen Insel an Land. Einen Moment lang glaubte er, eine Tote vor sich zu haben, so bleich und steif lag die Elfe vor ihm. Marc begann jämmerlich zu frieren. Die Eispfeile hatten die Luft ungewöhnlich abgekühlt und die nasse Kleidung tat das Übrige.
Er folgte der Stimme der Vernunft, als er sich mühsam aus der nassen Jeans schälte, die unangenehm am Körper klebte. Dann widmete er sich Galantha, die noch immer reglos, mit geschlossen Augen am Boden lag.
„Es geht leider nicht anders“, flüsterte er, als er auch ihr die nassen Kleider abstreifte. So gut es ging, presste er mit beiden Händen das Wasser aus ihrem Haar. Dann begann er, ihren Körper zu massieren, um den Kreislauf anzuregen. „Ich habe zwar keine Ahnung, ob Elfen so etwas haben, aber schaden kann es ja nicht, wenn sich die Haut etwas erwärmt“, brummte er, um sich Mut zu machen. Die Behandlung zeigte einen Erfolg. Galantha schlug die Augen auf.
„Es ist so furchtbar kalt“, hauchte sie mit zitternden Lippen und Marc schien es, als ob ihr Körper durchsichtig würde. So vergehen Elfen, schoss es ihm durch den Kopf. Das durfte nicht sein!
„Galantha! Bleib bei mir!“ Marc legte sich zu ihr, um sie mit seinem Körper zu wärmen.
„Erfüllst du mir einen letzten Wunsch?“, flüsterte Schneeglöckchen.
Marc nickte. Seine Kehle war wie zugeschnürt.
„Schenke mir ein wenig Zeit, wie es Menschen mit ihrer Liebsten machen“, wisperte die Elfe kaum hörbar.
Marcs Augen füllten sich mit Tränen. Ob er es wahrhaben wollte oder nicht – Galantha war ihm in den wenigen Stunden, die sie sich kannten, so lieb und vertraut geworden, als wären sie schon ewig gemeinsam durch das Elfenland gezogen.
Marc beugte sich über die kaum noch sichtbare Gestalt, seine heißen Lippen berührten die eiskalte Haut der zierlichen Elfe. Bald vergaß er alles um sich herum, die Gefahren am Ufer, die Kälte und auch, dass er einer Sterbenden den letzten Wunsch erfüllte. Seine streichelnden Hände huschten über den schlanken Körper, wobei sie Spuren ihrer Wärme hinterließen.
Wie lange er so versunken war, wusste Marc nicht zu sagen, als ihm Galantha plötzlich wohlig aufseufzend die Arme um den Nacken legte und: „Ich liebe dich“, flüsterte.
Die ersten Sonnenstrahlen weckten Marc, der vorsichtig die Augen öffnete, überaus erfreut feststellte, dass Galantha noch da war und zudem eng an seinen Körper gekuschelt lag. Andächtig betrachtete er diesen fast zerbrechlich wirkenden Körper, der um ein Haar die Nacht nicht überstanden hätte.
Sie schlug die Augen auf. „Woran denkst du?“
„Daran, dass ich gern dort beginnen würde, wo wir heute Nacht aufgehört haben“, antwortete er lächelnd.
„Du vergisst, dass die Zeit gleich um ist“, erwiderte die Elfe milde, mit einem leichten Anflug von Röte.
„Welche Zeit?“, fragte Marc verständnislos.
„Die, in der ich deine Größe haben darf“, erklärte Galantha, während sie ihren Lendenschurz anlegte und in ihr knappes Oberteil schlüpfte.
Kaum hatte sie den letzten Handgriff getan, schwebte sie bereits wie ein großer Schmetterling in der Luft. Marc hob hilflos die Hände. Um seine Enttäuschung zu verbergen, wandte er sich seiner Kleidung zu, die noch immer zum Trocknen auf einem Strauch hing. Die Boxershorts, die Socken und das Hemd waren trocken, die Jeans und die Schuhe noch genau so nass wie am Abend zuvor. Er faltete die Wäsche zusammen, stellte die Schuhe obenauf, dann hielt er das Paket hoch über seinen Kopf, während er bis zum Hals im Wasser versank, als er mit Galantha die Insel verließ. Am Ufer zog er wenigstens die Shorts an und streifte das Hemd über. Dann betrachtete er bekümmert seine Hose.
Die Elfe setzte sich auf seine Schulter. „Du, Marc, habe ich dir eigentlich schon gesagt, dass du zwei Wünsche frei hast?“, wisperte sie.
„Gleich zwei Wünsche?“ Er wandte ihr sein Gesicht zu. „Wirklich?“
Galantha nickte.
Marc überlegte nicht lange. „Dann werde bitte wieder groß“, lautete sein erster Wunsch.
Die Elfe drehte sich um ihre Achse. Bevor sie dazu kam, auch nur ein Wort zu sagen, zog Marc sie in seine Arme und küsste sie, als wolle er sie nie wieder loslassen.
„Wie lautet dein zweiter Wunsch?“, fragte sie etwas später, als sie wieder zu Atem gekommen war.
„Warum eigentlich zwei Wünsche?“, antwortete Marc mit einer Gegenfrage.
„Weil du ein Leben gerettet hast, selbst wenn es ein völlig nutzloses ist“, erklärte Galantha.
Marc fasste sie am Handgelenk. „Für diesen Satz müsste ich dir eigentlich den Hintern versohlen.“
„Bitte was??“ Die Elfe schaute ihn mit großen Augen an. „Was ist das?“
„Ich müsste dich über das Knie legen und dir mit der Hand ein paar kräftige Schläge auf die nackte Kehrseite geben“, erklärte er lachend.
Galantha zog die Augenbrauen zusammen. „Das tut sicher weh.“
„Ja na klar! Das ist ja der Sinn der Aktion. Vielleicht vergeht es dir dann, solchen Unsinn zu reden. Von wegen nutzloses Leben und so.“ Marc ließ sie wieder los.
Die Elfe schaute zu Boden. „Würdest du mich wirklich schlagen?“
„Unsinn. Weder dich noch andere. Ich pflege meine Kontrahenten, mit Worten zu besiegen.“ Er streichelte ihre Wange.
„Und wenn dich jemand mit einer Waffe bedroht?“, fragte Galantha.
„Dann würde ich mich sicher dagegen wehren – oder davonlaufen – käme ganz auf die Waffe an“, sagte Marc, während er noch einmal seine Jeans untersuchte. „Einen kleinen Wärmeoder Trockenzauber hast du nicht zufällig parat?“
Galantha senkte schuldbewusst den Blick. „Ich kann mir ja nicht einmal selber helfen.“
„Was hältst du davon, wenn wir es gemeinsam versuchen?“, schlug der junge Mann vor.
„Wie?“, fragte die Elfe und hob die Schultern.
Marc zog die Mundwinkel herunter. „Na zum Beispiel: Ich nehme deine Hände – oder noch besser – wir setzen uns gegenüber, schieben die Schuhe in die Mitte, dann nehme ich deine Hände und wir stellen uns vor, dass sie Wärme ausstrahlen.“
„Etwa so?“, die Elfe ließ sich im Lotossitz nieder.
„Warum nicht?“ Marc holte die Schuhe, setzte sich ebenfalls auf den Boden, um seine Handflächen an die von Schneeglöckchen zu legen. „Kannst du die Wärme meiner Hände spüren?“, fragte er.
„Ja“, hauchte die Elfe.
„Dann befiel der Wärme sich zu verdoppeln und in meine Schuhe zu kriechen.“
„Es geht nicht“, jammerte Galantha. „Ich kann es einfach nicht.“
„Schließe die Augen“, riet Marc. „Kannst du dich an die Wärme erinnern, die du in der vergangenen Nacht gefühlt hast?“
Augenblicklich flammte ein Feuerring um die Schuhe auf. Blitzschnell riss Marc sie aus den Flammen. „Jetzt übertreibst du aber“, rief er erschrocken.
Galantha war aufgesprungen, sie starrte in die Flammen. Kaum merklich schüttelte sie den Kopf. „Es war eine heiße Nacht. Ich habe nur getan, was du verlangt hast. Ich konnte ja nicht ahnen, dass es funktioniert.“
Er nahm sie in die Arme. „Du kannst alles, wenn du es wirklich willst. Erinnere dich noch einmal an unsere Nacht und wünsche dir, dass diese Wärme bei uns beiden bleibt, so weit, wie deine wundervollen, zarten Flügel reichen.“
Langsam begann die Luft zu flimmern, dabei umschloss sie die umschlungenen Gestalten wie eine große Glocke. Zufällig bemerkte Marc, dass das Gras um sie herum zu welken begann. Galantha lächelte glücklich. Ob wegen des gelungenen Zaubers oder wegen der innigen Umarmung wusste sie selber nicht so genau.
„Perfekt“, lobte Marc. „Alles trocken und Spaß hat dir offensichtlich auch gemacht.“
„Vergiss deinen zweiten Wunsch nicht“, mahnte die Elfe. „Bis zur Mittagsstunde musst du ihn aussprechen.“
„Ich wünsche mir, dass dein Zauber ab sofort immer genau das macht, was er soll“, sagte Marc schnell.
Galantha bekam große Augen. „Willst du dir nicht lieber etwas für dich wünschen? Ich bin nur eine Elfe, der es nicht einmal zusteht, solche Gaben zu erlangen.“
„Es ist mein größter Wunsch. Wie soll ich denn in Zukunft ruhig schlafen, wenn ich immer in Sorge um dich bin?“ Marc schaute ihr tief in die Augen.
Die Elfe seufzte. „Dein Wunsch wird dir erfüllt.“
„Warum fällt es dir so schwer, mein Geschenk anzunehmen?“, fragte er leise.
„Weil der zweite Wunsch eine dauerhafte Erfüllung erfährt, was ich dir aber nicht sagen durfte. Hättest du dir Reichtum und Glück gewünscht, dann hättest du ein Leben lang ausgesorgt“, flüsterte Galantha.
Marc winkte ab. „Wenn ich mein Studium abgeschlossen habe, bekomme ich vielleicht einen Job, von dem ich zufrieden leben kann. Und Glück? Wie definiert man das eigentlich?“
„Verstehe ich nicht. Alle Menschen, die hierher gekommen sind, wollten immer nur Reichtum, Glück oder ewiges Leben haben“, stellte die Elfe kopfschüttelnd fest.
„Ich bin eben anders“, schmunzelte Marc.
„Das ist nicht zu übersehen“, entgegnete Galantha. „Ich habe nur die Befürchtung, dass uns noch großer Ärger bevorsteht.“
„Der Zeit wegen?“, fragte Marc mit einem Blick auf die Sonne. „Ich dachte, sie hätte für euch Elfen keine Bedeutung.“
„Hat sie auch nicht“ Galantha nahm seine Hand. „Ich habe nur schreckliche Angst davor heute Nacht wieder den Zwergen zu begegnen.“
„Ich bin auch nicht wild darauf, das Schicksal noch einmal herauszufordern“, pflichtete ihr Marc bei. „Wir sollten uns sputen. Sag mal, wie stehen eigentlich Elfen und Einhörner zueinander?“
„Freundschaftlich. Aber warum fragst du?“
„Würden sie es auf sich nehmen, uns zum Berg zu bringen?“, forschte Marc vorsichtig.
„Diese Bitte musst du ihnen schon selber vortragen.“ Galantha richtete sich auf und stieß einen trillernden Ruf aus.
Einen Lidschlag später war das Trommeln galoppierender Hufe zu vernehmen. Zwei wundervolle Tiere mit silberweißem Fell, stoppten genau vor ihnen ihren rasenden Lauf. „Du hast uns gerufen?“
„Mein Begleiter möchte euch eine Frage stellen“, antwortete die Elfe.
Die Einhörner schauten Marc neugierig an. Erst jetzt fiel ihnen Galanthas ungewöhnliche Körpergröße auf. Irgendetwas Bedeutsames musste geschehen sein.
„Ich höre“, sagte der Hengst.
„Wäre es möglich, dass ihr uns hinüber zum Drachenberg bringt? Ich bitte euch sehr. Ich bin nur ein Mensch und kann Galantha nicht vor den Zwergen beschützen.“
Der Hengst ging einmal um Marc und Galantha herum. „Du bist ein bescheidener und noch dazu ziemlich ungewöhnlicher Mensch und deine kleine Elfe wird es erst in ein paar Tagen wirklich begreifen, welches Glück sie hatte, dir begegnet zu sein. Steigt auf.“
Marc sprang auf den Rücken des freundlichen Einhorns, Galantha schwebte hinüber zu seiner Stute.
„Haltet euch an unseren Mähnen fest“, riet der Hengst und trabte an. Nach ein paar Metern schien es, als flögen sie dahin, ohne mit den Hufen den Boden zu berühren. Der rasende Lauf endete am Fuße des schwarzen Berges, in dessen oberem Drittel der finstere Eingang zur Drachenhöhle gähnte.
„Ab hier müsst ihr selber sehen, wie ihr weiter kommt“, sprach das Einhorn. „Wenigstens seid ihr hier sicher vor den Wesen der Nacht, sie meiden den Berg des Drachen. Viel Glück!“ Die beiden verschwanden schnell in der Ferne.
„Wenn ich dich doch tragen könnte“, seufzte Galantha, als sie den steilen Hang hinaufschaute.
„Ohne Fleiß kein Preis. Du kannst ja oben auf mich warten“, schmunzelte Marc. Nach den ersten Metern verging ihm das Lachen. Die Felswand strebte fast senkrecht vor ihm auf. Galantha flog über ihm und wies ihm den besten Weg.
„Ohne deine Hilfe würde ich ganz schön alt aussehen“, gab Marc nach der Hälfte der Strecke zu. „Ich war noch nie gut im Klettern.“
„Genau diese Worte habe ich noch deutlich im Ohr“, erklärte die Elfe.
Marc zog sich vorsichtig an einem Felsvorsprung hoch. Plötzlich brach der Stein, auf den er soeben seinen Fuß gesetzt hatte. Marc sackte weg. Galantha gelang es, seine Hand zu fassen. Aus Leibeskräften hielt sie fest. „Ich kann dich nicht mehr halten.“ Tränen liefen über ihre Wangen. „Ich wünschte, dieser verfluchte Berg hätte eine Leiter!“
Ein lautes Knirschen ließ sie erschreckt innehalten. Unter Marcs Fuß und über seinem Kopf, so weit das Auge reichte, schoben sich in regelmäßigen Abständen kleine Felsplatten aus dem Gestein.
„Du bist gerettet!“, jubelte Galantha.
„Vorerst. Vielen Dank für deine Hilfe“ Marc machte sich mit neuer Kraft auf den Weg nach oben.
„War ich das wirklich?“, fragte die Elfe ungläubig.
„Siehst du sonst noch jemanden?“, schmunzelte Marc.
Nach zwei unendlich langen Stunden rollte er sich auf das Plateau vorm Eingang zur Höhle. Erschöpft schloss er die Augen.
„Marc!“ Galantha beugte sich besorgt über ihn.
„Keine Panik. Die Kletterei war nur etwas anstrengend“, stöhnte er, sich mühsam erhebend.
„Der Drache ist fort“, sagte die Elfe leise, nachdem sie in die Höhle gelauscht hatte.
„Sonst hätte er mich schon von der Wand gepflückt“, erklärte Marc. „Suchen wir das Portal!“
Gemeinsam huschten sie in die Grotte.