Die Schulzeitschrift der Wuppertaler Morgenstern Schule erschien bis zum Jahre 2016 jeweils zu „Weihnachten“, „Ostern“, „Johanni“ und „Michaeli“. Da in den Morgenfeiern der Schule zu diesen Festtagen moralische und sinnige Geschichten erzählt wurden, machte es sich der Verfasser zur Aufgabe, über einen Zeitraum von mehreren Jahren entsprechende Kurzgeschichten für verschiedene Altersstufen zu ersinnen und sie den Schülerinnen und Schülern zu erzählen.
Diese Kurzgeschichten wurden in der Schulzeitschrift veröffentlicht und nun, leicht überarbeitet, in diesem Band zusammengefasst.
Freilich sind viele Jahresfeste nicht berücksichtigt – wie etwa Pfingsten, Himmelfahrt usw. Trotzdem wünscht der Verfasser den Leserinnen und Lesern der Morgenstern-Geschichten eine genussvolle Lektüre.
Am Ende jener Straße, die vom großen Wald in die weite Steppe führt, lebte in einem alten, windschiefen Lehmhaus der Bäcker Gregor. Tag für Tag zog er in der Mittagszeit einen mit ofenfrischen Broten beladenen Leiterwagen durch die umliegenden Dörfer und pries lauthals seine Waren an. Gregor bestritt damit sein Auskommen, und die Landbevölkerung hatte stets frisches Brot.
Vor fünf Jahren gab es eine Missernte, und das Getreide wurde so teuer, dass sich nur noch die Reichen Brot leisten konnten. Auch Gregors Kunden fürchteten die Teuerung. Der Bäcker meinte aber:
„Warum soll ich die Preise anheben, wenn ich noch Mehl vom Vorjahr auf Lager habe? Es war so günstig, dass ich nichts verteuern muss.“ Also verkaufte Gregor sein Brot weiterhin auf die erschwingliche Weise, und er wurde deswegen wie ein Heiliger verehrt. Das war dem Bäcker aber nicht recht. Deshalb sagte er jedem, der ihm die Füße küssen wollte:
„Ist man schon heilig, wenn man für sein Brot den gerechten Preis verlangt?!“
Im Lauf der Zeit wurde das Geld aber so knapp, dass sich viele Menschen selbst Gregors Brot nicht mehr leisten konnten. Denen schenkte der Bäcker seine Ware. Er wollte aber nicht zugeben, dass er aus reiner Menschenliebe handelte. Deshalb entgegnete er denen, die ihn loben wollten:
„Lieber füttere ich euch durch, als dass ihr mich am Ende noch bestehlt oder mir gar wegsterbt und in zukünftigen, besseren Zeiten kein Brot mehr kaufen könnt!“
Tatsächlich hasste Gregor nichts mehr, als dass jemand seinetwegen Not litt oder ihn bestahl. Wenn er über Land zog, um sein Brot zu verkaufen oder zu verschenken, verrammelte er sein Backhaus mit Riegeln und Schlössern. Und wehe, wenn sich jemand der Backstube näherte, um auch nur einen Krümel zu naschen! –
Eines Nachts, es war vor Palmsonntag, hatte Gregor aber vergessen, seine Backstube zu verriegeln. Als er sie am folgenden Morgen in aller Herrgottsfrühe betrat, fehlte ein Sack Mehl.
„Der Dieb wird sich, wenn ihm das Stehlen bei mir so leicht von der Hand geht, noch ein zweites Mal blicken lassen“, meinte der Bäcker. Um ihn auf frischer Tat zu ertappen, legte sich Gregor in der Nacht auf die Lauer. Es zeigte sich aber niemand. Und so wachte Gregor auch in den folgenden Nächten.
Erst in der Nacht von Gründonnerstag auf Karfreitag waren um zwei Uhr in der Frühe verdächtige Geräusche zu hören. Gregor nahm einen riesigen Holzlöffel zur Hand, um den Gast gebührend willkommen zu heißen. Tatsächlich trat ein schmächtiges Männlein in die Backstube. Es war einen Kopf kleiner als der Bäcker und so dürr, dass der leiseste Windhauch es hätte fortwehen können. Vorsichtig machte es sich an einem der prall gefüllten Mehlsäcke zu schaffen. Gregor sprang hinzu und packte das Männlein am Kragen.
„Da hab ich dich endlich, du verlogener Dieb!“ Der Bäcker wollte schon mit dem Löffel zuschlagen, da sank das Männlein auf die Knie und bat mit weinerlicher Stimme:
„Um Christi Willen! Lasst Gnade walten, guter Gregor! Ich stehle aus Not und nehme mir nur, was zum Erhalt meines Lebens dient!“ Gregor ließ von dem Mann ab und schrie:
„Verruchter Kerl! Warum riefst du den Namen des Herrn?! Jetzt kann ich dich nicht mehr züchtigen. Dabei hättest du es redlich verdient, du…!“ Während sich Gregors Mundwerk noch in Wutanfällen verlor, taten seine Hände das, was ihm sein Herz befahl: Er füllte einen kleinen Leinensack mit Mehl und drückte ihn dem Eindringling in die rechte Hand.
„Nimm das, verschwinde, und lass dir das Mehl in Zukunft von mir schenken!“ Der arme Mann wollte einwenden, dass er als Dieb dieses Almosen nicht verdient habe. Gregor ließ aber keine Gegenrede zu, drückte ihm noch zwei Brote in die Arme und schob ihn zur Backstube hinaus.
Wieder allein, sagte der Bäcker zu sich selbst:
„Dieser Schmachtlappen wollte zwar Mehl stehlen. Aber einen schweren Sack hätte er niemals vom Fleck bewegt. Wer stellt sich hier denn sonst noch alles ein, um meine Bestände zu plündern?“ Gregor legte sich also auch in der folgenden Nacht auf die Lauer.
Er blieb sogar folgenden Tags dem Ostergottesdienst fern, der traditionell in der Nacht auf Ostersonntag gefeiert wurde. Als die Glocken der kleinen Dorfkirche den Ostermorgen einläuteten, erschien unversehens ein Mann in weißem Gewand vor Gregor. Obwohl es stockfinster war, konnte der Bäcker das Gesicht des Eindringlings deutlich erkennen. Es war voller Güte und Sanftmut. Trotzdem gruselte es den Bäcker, denn er konnte sich nicht erklären, wie der Mann in die Backstube eingedrungen war. „Du hast jemand anderes erwartet?“, fragte der Fremde. Seine Stimme wärmte Gregors Seele.
„Ja, Herr“, antwortete er. Und der Eindringling fuhr fort:
„Ich war allein deswegen zu dir gekommen, weil du mich in der Kirche nicht hattest besuchen wollen.“
„Herr!“, erwiderte Gregor, indem er mit seinen Händen rang, „Ihr hättet Euch deswegen nicht in meine Backstube bemühen müssen! Mein Herz ist immer bei Euch.“
„Das weiß ich, Gregor, und um deinetwillen dringe ich gern in diese Backstube ein!“ Der Besucher strich liebevoll über die aufgestapelten Mehlsäcke,
„Ich habe eine Bitte an dich, Gregor.“ Der Bäcker wischte mit einem Taschentuch den Schweiß von seiner Stirn.
„Herr, lasst mich Eure Bitte erfüllen, und Ihr macht mich damit glücklich!“
Da fasste der Fremde den Bäcker bei den Schultern und sagte:
„Leugne deine guten Taten ebenso wenig, wie du dich ihrer nicht rühmen solltest.“
„Ja, Herr! Ich will es so halten, wie Ihr doch derjenige seid, der mir die Kraft gibt, Gutes zu tun.“ Weil der Fremde schwieg, fasste sich der alte Bäcker ein Herz und fragte:
„Wollt auch Ihr mir einen Wunsch erfüllen?“ Der Fremde nickte. Und Gregor sprach es aus:
„Ich habe das erste Mal in meinem Leben die Osternacht nicht in der Kirche verbracht. Wollt Ihr mit mir das Brot brechen und frisches Quellwasser trinken?“ Der Fremde nickte. Er nahm ein Brot aus dem Regal, und Gregor besorgte in einem Krug das Wasser vom nahegelegenen Quell. Dann segnete der Fremde die Gaben und speiste gemeinsam mit dem Bäcker. Der genoss das Mahl von ganzem Herzen. Ja! Er hatte sich noch nie so wohl gefühlt wie in diesem Augenblick.
Nach der Speisung wollte Gregor dem Fremden danken, der aber war in diesem Augenblick, wie ein flüchtiger Schatten, verschwunden. Gregor meinte zuerst, er habe alles nur geträumt. Doch belegten das angebrochene Brot und der Krug mit dem Wein das Gegenteil. Auch war der gestohlene Mehlsack wieder da – genau an jener Stelle, wo er zuvor gestanden hatte.
Seitdem ließ Gregor den Dank der Armen zu und erlaubte sich selbst, ein guter Mensch zu sein.
Wer könnte ohne Hass
vor einem Mörder stehn,
wer für den Lügenbold
auf heißen Kohlen gehn’,
wer dem, der rafft aus Gier,
sein letztes Hemd verschenken?
Wer könnte selbstlos an
Gedankenlose denken?
Wer dieses ehrlich wagt,
wirkt aus des Lichtes Kraft,
die selbst in größter Not
den wahren Wandel schafft.
Schuster Schmalsteg und seine Frau wünschten sich von ganzem Herzen einen Stammhalter. Als die Schusterfrau aber einem Mädchen das Leben schenkte, wollten sie das Kind nicht behalten und gaben es einer Bärin. Die nahm es mit in ihre Höhle und gab ihm den Namen Anjuschka. Das Mädchen sehnte sich aber nach seinesgleichen, verließ die Höhle und irrte durch den Wald. Schließlich kam es an ein Waldhaus. Dort wohnte zwar niemand, aber es war eine gemütliche Bleibe.
Wenig später gesellten sich ein Bär und ein Wolf zu ihr. Sie schätzten Anjuschkas Fleiß – insbesondere ihre Kochkünste. Der Bär schlief den ganzen Tag auf der Ofenbank und wachte nur einmal im Monat auf, weil sein Magen knurrte. Dann fraß er alle Vorräte weg und legte sich wieder schlafen. Der Wolf ruhte nur tagsüber. Des Nachts fraß er die Töpfe leer und trieb sich anschließend im Wald herum, um Wildschäden anzurichten. Anjuschka fand diese Gesellschaft zwar nicht angenehm, doch dachte sie, dass es allemal besser sei, als hier allein zu hausen.
Es war wieder einmal ein Monat vergangen, seit sich der Bär schlafen gelegt hatte. Der Wolf beobachtete ihn misstrauisch, denn er fürchtete für den Fall, dass der Brummkopf erwachte, von ihm verspeist zu werden. Als der Bär die Augen aufschlug und sah, dass sich der Wolf verdrückt hatte, fraß er alle Vorräte auf und legte sich wieder schlafen.
Der Wolf trieb sich unterdessen im Wald herum und hielt nach billiger Beute Ausschau. Da ließ sich ein tolldreister Buchfink auf seinem Kopf nieder und suchte zwischen den grauen Haaren nach Grassamen.
„Was fällt dir ein, mich zu anzupicken?!“, beschwerte sich der Wolf und schlug mit seinen Vorderpfoten nach dem Vogel. Der wich den Hieben aber geschickt aus und piepste:
„Gefahr, Gefahr, du lebst in größter Gefahr!“ – Der Wolf hielt inne und kratzte mit dem linken Hinterlauf sein rechtes Ohr.
„Von welcher Gefahr ist die Rede?“ – Der Buchfink umflog den Isegrim in weiten Bögen und piepste:
„In drei Tagen kommt die große Flut. Sie reißt alles mit fort, was nicht fliegen kann.“
„Mich auch?“
„Dich auch“, piepste der Buchfink und flatterte auf den höchsten Wipfel.
„Mich auch“, murmelte der Wolf und trottete missvergnügt heim. Ohne Anjuschka eines Blickes zu würdigen, stieß er den Bären mit seiner Schnauze in den speckigen Wanst. Der wachte höchst missgelaunt auf.
„Was schubst du mich?“
„Wir sind in großer Gefahr. In drei Tagen wird unser Waldhaus von der großen Flut fortgerissen. Der Buchfink hat’s mir verraten.“
„Der Buchfink“, wiederholte der Bär nachdenklich und kratzte seine flache Stirn. „Der Buchfink hat noch nie gelogen. Also müssen wir uns ein Floß bauen.“
Der Wolf starrte den Bären fassungslos an und dachte bei sich:
‚Es ist doch nicht zu fassen! Der Kerl verschläft die meiste Zeit. Wenn er aber mal wach ist, führt er das Regiment.‘ Um dem dicken Tanzmeister den Schneid abzukaufen, drängte Isegrim:
„Wir fangen gleich morgen früh damit an. Du brichst im Wald die Stämme, und ich leite Anjuschka an, daraus ein Floß zu binden.“
„Gut!“, meinte der Bär. „Aber jeder von uns bekommt seine eigene Hütte auf dem Floß.“
„Selbstverständlich“, erwiderte Isegrim und legte sich schlafen. Der Bär eiferte ihm unverzüglich nach, und Anjuschka durfte endlich den Abwasch erledigen. Wie sie die sauberen Teller übereinander stapelte, sagte sie zu sich selbst:
„Jeder bekommt auf dem Floß seine Hütte. Es ist doch schön, dass meine Hausgenossen auch an mich denken.“ –
Am folgenden Morgen begann der Bär, die Bäume im Wald zu fällen. Der Wolf leitete Anjuschka an, die Stämme von den Ästen zu befreien und ein Floß daraus zu bauen. Am zweiten Tag waren sie schon so weit, dass zwei Hütten darauf gesetzt werden konnten.
„Warum nur zwei Hütten?“, fragte Anjuschka.
„Na! Das ist doch wohl klar!“, erwiderte der Wolf. „Eine für mich und eine für den Bären!“
„Und wo bleibe ich?“, wollte Anjuschka wissen. Der Bär schüttelte lachend seinen Kopf.
„Einer muss doch in unserem Waldhaus bleiben und alles schön sauber halten.“ Anjuschka wusste, dass der Bär sie fressen werde, wenn sie ihm widerspräche. Also schwieg sie und zog sich ins Waldhaus zurück. Dort verschloss sie Fenster und Türen und empfahl sich dem lieben Gott. Da bat der Bär sie:
„Ach, liebes Kind! Back uns zum Abschied noch einen guten Vorrat an Pfannkuchen, damit wir in der Flut nicht hungern müssen!“ Anjuschka verbuk alles Mehl zu einem gewaltigen Stapel Pfannkuchen und überreichte ihn dem Bären. Der nahm die Gabe ohne ein Wort des Dankes an und trollte sich.
Am Morgen des dritten Tages öffneten sich die Schleusen des Himmels. Eine gewaltige Flut brach über den Wald herein und riss alles mit sich fort. Anjuschka hockte mit gefalteten Händen in ihrem Haus und meinte:
„Es ist schon besser, vom Wasser fortgerissen, als von Wolf und Bär verschlungen zu werden.“ Als das Kind einen letzten Blick durch das Innere des Häuslein schweifen ließ, sah es vor dem Aschenkasten ein Fass voller Wein. Und auf dem Fass lag ein frisch gebackenes Brot.
„Das könnten meine Hausgenossen vergessen haben“, sagte Anjuschka, klemmte das Brot unter ihren linken Arm, hockte sich auf das Fass und wartete.
Es dauerte nicht lange, da brach die Flut ins Waldhaus ein und riss alles mit sich fort. Anjuschka saß aber auf dem Weinfass und gondelte vergnügt auf den brodelnden Wassermassen herum.
Es dauerte nicht lange, da sah sie das Floß, das sie für ihre Hausgenossen gebaut hatte. Zwischen den beiden Hütten stritten sich Wolf und Bär um den letzten Pfannkuchen. Isegrim hatte sich im Pelz des Tanzmeisters festgebissen, und der Bär zerkratzte seinem Gegner den grauen Frack. In ihrer blinden Wut kugelten sie von der einen Seite des Floßes auf die andere. Und es dauerte nicht lange, da schlug das Floß um und begrub die Streithähne samt Pfannkuchen unter sich.
„Recht so“, zirpte der Buchfink, der sich unbemerkt auf Anjuschkas linker Schulter niedergelassen hatte.
„Recht so“, meinte auch Anjuschka und gab dem Piepmatz einen Krümel vom Brot. Der Buchfink hob sich fort und ließ den Krümel unweit des Weinfasses in die Fluten fallen. ‚Schade‘, dachte Anjuschka, denn sie hätte dem kleinen Vogel diese Speise von Herzen gegönnt. Da sah sie, wie der Krümel auf dem Wasser trieb und zusehends größer wurde. Er weitete sich zu einer Insel aus, an deren Ufer Anjuschka mit ihrem Fässlein strandete.
Sie ging an Land und bemerkte, dass der Boden unter ihren Füßen aus frisch gebackenem Brot bestand. Als sie das Fässlein anstechen und daraus trinken wollte, hatte sich der Wein in kristallklares Wasser verwandelt. Kaum war ein Tropfen davon auf die Erde gefallen, spross frisches Gras und ein Apfelbäumchen mit zahllosen rotwangigen Früchten daraus hervor. So verteilte Anjuschka das Wasser aus dem Fass über die ganze Insel. Und alles, was ihr Herz begehrte, wurde dadurch zu neuem Leben erweckt:
Der Wald mit den Tieren, die munteren Bächlein und die satten Auen, auf denen die Rehe das Gras zupften. Ja selbst ihr Häuslein, mit dem Ofen, der Bank und dem Herd stand wieder vor ihr. Nur an den Bären und den Wolf hatte das Kind nicht gedacht. Die blieben auf dem Grund des großen Wassers liegen. Und das war auch gut so, denn niemand vermisste die beiden Gierlappen.
Stattdessen gesellten sich nach und nach zahllose Menschen zu Anjuschka. Sie erfreuten sich der guten Gaben, die ihnen das Kind aus dem Fass hervorzauberte, und genossen mit ihr gemeinsam all das, was ein offenes Herz hervorzubringen vermag.
Die Blumen sprießen.
Die Mäuse niesen.
Die Läuse klettern
auf Rosenblättern.
Die lieben Meisen
wolln’ sie verspeisen.
Die Hasen eilen
ohne Verweilen
über das Feld.
Schön ist die Welt!
Im Garten locken
zwölf Osterglocken –
mit gelben Blüten.
Ich will sie hüten
und gießen auch
So ist es Brauch!
In Westhofen, einer alten Freiheit am Fuße des Sybergs, lebte einst der griesgrämige Schneider Westrup. Er fluchte viel, spuckte des Öfteren aufs Garn und war habgierig wie ein Hamster. Geiz und Missgunst waren seine besten Freunde. Das bekam sein Lehrling Peter besonders hart zu spüren. Obwohl er ein fleißiger und ehrlicher Junge war, verweigerte Westrup ihm auch nach fünf Jahren Lehrzeit den Gesellenbrief.
Der Junge arbeitete so viel weg, dass davon zwei Gesellen ihr Auskommen gehabt hätten. Peter musste obendrein noch Lehrgeld zahlen. Dafür bekam er drei karge Mahlzeiten am Tag und die Besenkammer als Zimmer – mit einem Strohsack als Bett.
Am Gründonnerstag – zwei Wochen vor Abschluss des fünften Lehrjahres – fragte Peter seinem Meister:
„Wollt Ihr mir nun endlich den Gesellenbrief geben? Ich habe Euch fünf Jahre gedient. Nun muss es einmal gut sein.“ Westrup dachte gar nicht daran. Doch wollte er sich nicht die Blöße geben, ihm den Brief schlichtweg zu verweigern. Stattdessen erklärte er dem Jungen:
„Gern melde ich dich zur Prüfung an. Du bist längst überfällig.“ Peter wollte schon vor dem Meister auf die Knie fallen und ihm die Hände küssen, als der alte Westrup erklärte:
„Ich habe aber eine Bedingung.“
„Und die wäre?“ Der Schneider gab ihm zwei Kupferkannen.
„Damit musst du nach Syburg gehen und mir aus dem Petersbrunnen in der einen Kanne frischen Wasser und in der anderen Kanne Wein besorgen. Gelingt dir das nicht, musst du drei weitere Jahre als Lehrling dienen.“
Peter dachte bei sich: ‚Der Brunnen trägt zwar meinen Namen, aber er wird trotzdem nicht das Gewünschte liefern! Das könnte doch nur der Teufel zustande bringen!’
Weil Westrup ihm aber keine Wahl ließ, klemmte Peter die Kannen unter seine Arme und machte sich auf den Weg. Nachdem er eine gute Stunde bergauf gewandert war, sah er das Dorf Syburg mit der alten Dorfkirche vor sich liegen. Er lief schnurstracks auf das ehrwürdige Gotteshaus zu und fragte den Pfarrer, wo sich der Petersbrunnen befinde. Der runzelte seine Stirn.
„Der Brunnen liegt im Wald hinter der alten Burgruine. Sei aber vorsichtig, man sagt nämlich, dass dort der Teufel hause.“ Peter winkte ab.
„Ich bin bei Meister Westrup in Diensten. Da kann mich auch der Teufel nicht schrecken.“ Er lief in den Wald hinter der Burgruine und suchte den Brunnen, konnte ihn aber nicht finden. Schließlich dämmerte es, und der arme Peter hätte beileibe nicht mehr nach Westhofen zurückgefunden.
Nun war es ausgerechnet die Nacht, da der Herr einstmals im Garten Gethsemane gebetet hatte, bevor er am Karfreitag gekreuzigt wurde. Und diese Nacht war im Syburger Wald so finster, als hätten sich alle Gestirne hinter den Wolken verkrochen.
So musste sich der arme Peter von Baum zu Baum tasten, um irgendwo einen bemoosten Schlafplatz zu finden. Nach einiger Zeit stieß er auf ein Mäuerchen aus Sandstein.
„Oh!“, rief er höchst erfreut, „ich bin in die Nähe eines Hauses gelangt. Es ist mit einer Mauer umfriedet! Nichts wie hinübergesprungen und wacker den Eingang gesucht!“ Munter hüpfte Peter über das Mäuerchen. Es war aber der Rand jenes Brunnens, den er gesucht hatte.
Wohl wunderte sich der Junge, dass er hinter der Mauer keinen festen Boden unter den Füßen fand, sondern sehr tief fiel, doch landete er wohlbehalten auf dem schlammigen Grund des Brunnens. Der war nämlich schon seit Jahren trocken gefallen. Nachdem Peter eingehend geprüft hatte, ob seine Knochen heil geblieben waren, meinte er:
„Sie werden mich morgen in der Frrühe hier finden und wieder herausziehen.“ Wenig später schlief er ein.
Am nächsten Morgen – es war der Karfreitag – wurde der Schneiderlehrling durch einen verirrten Sonnenstrahl geweckt. Nun wollte er aus dem Brunnen Wasser und Wein schöpfen. Der gab aber nichts her.
„Ist mir auch recht“, murmelte Peter vor sich hin. „Wäre der Brunnen voller Wasser gewesen, hätte ich wohl leicht darin ertrinken können.“ –
Nun wartete er darauf, dass sich eine menschliche Stimme hören ließ. Es war aber den lieben langen Tag nur das zaghafte Pfeifen der Vögel, das Grunzen der Wildschweine und das Bellen der Rehböcke zu hören.
Peter dachte an die Leiden Christi. Und er sagte:
„Oh Herr! Du starbst an diesem Tag den Kreuzestod. Ich aber werde hier in diesem Loch jämmerlich verdursten. Gelobt sei deine Weisheit.“ Da quoll aus dem morschen Gemäuer des Brunnenschachtes ein feines Rinnsal. Peter stillte seinen Durst und füllte anschließend eine der beiden Kannen mit dem Wasser. Nun verging eine weitere Nacht und auch der Karsamstag, ohne dass sich eine Menschenseele zum Brunnen verirrt hätte.
Es kam die Osternacht. Peter hockte traurig und verstockt im Brunnenschacht und brütete dumpf vor sich hin. Er hörte das Osternachtgeläute der Kirche und den Gesang der Gläubigen, die den Gottesdienst besuchten. Peter stellte sich vor, wie sich die ganze Gemeinde vor der Syburger Kirche versammelte und den Teufel austrieb.
„Der könnte mir jetzt auch keinen Schrecken mehr einjagen“, knurrte der Schneiderlehrling. – Da machte es „Schwupp“. Und der Leibhaftige stand vor ihm. Er verbreitete ein fahles Licht, roch gewaltig nach Schwefel und wedelte anmutig mit seinem Ochsenschwanz.
„Stets zu Diensten, junger Mann“, meinte er und verbeugte sich vor dem Schneiderlehrling. Der atmete erleichtert auf.
„Du hast dir viel Zeit gelassen, Beelzebub! Wie du siehst, ist die eine Kanne schon mit dem Wasser des Herrn gefüllt. Du könntest mir in die andere Kanne reinen Wein einschenken.“ Der Teufel grinste breit.
„Nichts leichter als das!“ Er schnippte mit dem Zeigefinger am Daumen entlang, und aus der Wand des Brunnenschachtes quoll Wein in die leere Kanne.
„Du weißt, was dich mein Dienst kostet?“
„Du willst meine Seele haben, aber...“ – So schnell hatte Peter nicht sprechen können, wie der Beelzebub ihn am Kragen gepackt und in die Luft gehoben hatte. Hui! Da flogen die beiden zum Brunnenschacht hinaus und über den Syburger Wald hinweg auf die Dorfkirche zu. Peter hielt die Kupferkannen krampfhaft fest und sammelte seine Gedanken: ‚Wenn ich jetzt nicht den Absprung schaffe, schleppt mich der Stinker noch in sein höllisches Reich.’
Der Teufel ist aber in der Kunst des Gedankenlesens ein großer Meister. Deshalb hatte er schnell erraten, was in dem armen Schneiderlehrling vor sich ging:
„Hüte dich, Bürschchen, etwas Ungehöriges zu tun. Ich werfe dich unweigerlich ab, und du stürzt in die Tiefe.“ Peter wusste nun gar nicht mehr, was er hätte tun können, um der Hölle zu entrinnen. In seiner Not begann er das „Vater unser“ zu beten – laut und deutlich. Der Teufel kann alles ertragen, aber nicht die heiligen Worte an den himmlischen Vater.
„Muss das sein?!“, schrie er den Schneiderlehrling an.
„Wenn du auf meine Gesellschaft Wert legst, musst du es dir regelmäßig anhören.“ Da fluchte der Beelzebub aufs Hässlichste, lockerte seinen Griff und ließ den armen Schneiderlehrling samt Kupferkannen in die Tiefe stürzen. Peter landete aber im Wipfel einer Eiche – mitten im Syburger Pfarrgarten.
„So lass ich mir einen Ausflug mit dem Teufel gefallen“, meinte der Junge und nickte ein, weil es immer noch stockfinstere Nacht war.
Am Ostermorgen ging der Pfarrer in seinem Garten spazieren und wunderte sich, dass im Wipfel der dicksten Eiche ein Schneiderlehrling schlief und zwei Kupferkannen in seinen Armen hielt.
„Wartest du da oben auf den Beginn der Morgenandacht?“ Peter schlug seine Augen auf.
„Wenn du mir mit einer Leiter herunterhilfst, will ich wohl gern deiner Einladung folgen.“ Der Pfarrer holte die lange Leiter, und Peter konnte heruntersteigen. Unten angelangt, meinte er:
„Ich habe es mir doch anders überlegt und werde die Frühandacht in Westhofen beehren.“ Ehe der Pfarrer dagegen hätte etwas einwenden können, war der Schneiderlehrling verschwunden.
Wenig später bekam der kniepige Schneidermeister Westrup Wein und Wasser.
„Ist es denn wirklich aus dem Syburger Brunnen?“ Peter ließ sich auf keine Diskussionen ein. Und Westrup gab klein bei.
Da bei ihm kein Lehrling mehr arbeiten wollte, behielt er Peter als Gesellen. Später erbte der Junge die Schneiderei und verwandelte sie in eine Goldgrube. Selbst aus Syburg kamen die Leute und ließen ihre Kleider bei ihm schneidern. Jeder Kunde war in Peters Schneiderstube willkommen. Nur Leute mit Jägerhut, stechenden Augen und Hörnern auf dem Kopf wurden nicht bedient.
Gott gab ihn einst in unsere Hände:
den eigenen Sohn. Er musste sterben
zur großen Weltenzeitenwende,
damit von ihm wir Geist erwerben.
Damals, als man noch auf Pferden ritt und die Kühe den Pflug zogen, lebte auf der großen Heide ein Schäfer namens Hans. Als Junge hatte er mit drei Schafen begonnen. Ein halbes Menschenleben später hütete er die größte Herde weit und breit. Jeder kannte den Schäfer und kaufte bei ihm Wolle, Felle, Fleisch und Käse.
In einem der Dörfer, durch die Hans regelmäßig zog, lebte ein Knecht namens Johannes. Der war als Prahlhans bekannt; denn alle Tage pries er sich als den stärksten, schönsten und fleißigsten Knecht auf der Heide. Dabei galt er als der faulste, schwächste und hässlichste Kerl im ganzen Land.
Je mehr ihn die Leute wegen seiner Aufschneiderei verachteten, desto lauter prahlte er. Johannes stand bei einem gutmütigen Bauern in Diensten. Bei ihm genoss er das Gnadenbrot, weil er keine vernünftige Arbeit mehr zustande brachte.
Als Johannes eines guten Tages aus dem Geldsack seines Bauern ein paar Goldtaler stahl und damit die Gäste in der Dorfschänke frei hielt, warf der Bauer ihn auf die Straße. Johannes schimpfte auf seinen ehemaligen Herrn und bezeichnete ihn als den größten Spitzbuben auf Erden. Das erzürnte den Bauern, und er schrie:
„Man sollte dir ein Schild umhängen, auf dem ‚Dieb und Betrüger’ geschrieben steht!“ Das war aber nicht nötig; denn jeder wusste, was Johannes getan hatte. Und niemand wollte ihn mehr zu sich nehmen.
Nun musste sich der ausgestoßene Knecht seinen Lebensunterhalt zusammenbetteln und alle Tage in Gottes freier Natur schlafen. Es ergab sich aber, dass Hans, der Hirte, mit seiner Herde durch jenes Dorf zog, in dem Johannes hauste. Der Dieb schloss sich dem Schäfer einfach an und zog mit ihm gemeinsam weiter.
Der gutmütige Hans ließ sich das anfangs gefallen; doch störten ihn die Geschwätzigkeit des ungebetenen Begleiters und dessen Prahlereien so sehr, dass er ihm nach einer Woche den Laufpass gab. Prahlhans zog sich zwar zurück, hegte in seinem Herzen aber einen furchtbaren Groll gegen den guten Schäfer.
„Das werde ich ihm heimzahlen – mich, den besten Schafhirten auf der weiten Heide, einfach fortzujagen wie einen tollwütigen Hund.“ In der nächsten Nacht schlich er sich an die Herde des Hirten heran und stahl ihm die drei besten Schafe. Die Hütehunde hatten nicht angeschlagen, weil sie den Prahlhans als Wegbegleiter ihres Herrn kannten.
Prahlhans war aber so einfältig, dass er am folgenden Tag mit seiner kleinen Herde neben der des Hirten über die Heide zog.
Die gestohlenen Tiere strebten zwar in ihre alte Herde zurück, doch trieb Prahlhans sie mit einem dicken Stecken immer wieder in seinen Umkreis.
Verwundert beobachtete Hans, der Hirte, das Treiben, und bei der nächsten Rast ging er auf seinem Nachbarn zu.
„Verzeih, Johannes! Aber deine Schafe sehen dreien aus meiner Herde verblüffend ähnlich – zumal ich diese Tiere seit der letzten Nacht vermisse.“ Prahlhans baute sich vor dem Hirten so mächtig auf, wie es sein schmächtiger Körper zuließ.
„Mein Herr, Ihr werdet doch wohl nicht behaupten wollen, dass diese Schafe gestohlen sind!?“
Hans, der Hirte, bemerkte, dass dem Dieb auf diese Weise nicht beizukommen war. Deshalb nickte er wortlos und zog sich zurück. In der folgenden Nacht stahl Prahlhans wieder drei Schafe. Und am folgenden Morgen hatte er die Stirn, erneut neben der Herde des guten Hirten über die Heide zu ziehen.
In den darauf folgenden Tagen wiederholten sich die dreisten Diebstähle, so dass Prahlhans allmählich eine stattliche Anzahl Schafe zusammenbekam. Immer noch zog er neben der Herde des gutmütigen Hirten über die Heide – so, als wolle er ihm beweisen, dass er mit seiner diebischen Art am Ende besser dastehe.
Eines Tages gelangten die beiden Herden mit ihren ungleichen Hirten in ein Dorf, wo der Schulte gerade Gerichtstag abhielt.
Hans, der Hirte, nahm die Gelegenheit wahr, den diebischen Prahlhans wegen seines Betrugs anzuzeigen. Der Schulte zitierte die beiden Hirten mitsamt ihren Herden vor seinen Stuhl.
Zum Glück fand der Gerichtstag auf dem großen Tanzplatz des Dorfes statt, so dass alle – die Schafe und das neugierige Publikum – genügend Platz fanden. Anfangs konnte sich der Schulte kein Gehör verschaffen, weil die Schafe unablässig blökten. Schließlich rief er mit fester Stimme:
„Was hat dieser Lärm zu bedeuten?! Habt ihr euren Schafen nicht beigebracht, wie man sein Maul hält?!“ Prahlhans ergriff natürlich als erster das Wort:
„Schafe sind immer laut“, behauptete er aufs Geratewohl. Doch Hans, der Hirte, schlug vor:
„Ich werde dafür sorgen, dass Ruhe einkehrt. Befehlt bitte dem Prahlhans, dass er von seiner Herde zurücktritt. Dann wird es schon still werden.“ Der Schulte stutzte. ‚Warum sollte denn gerade dadurch Ruhe einkehren, wenn eine der beiden Herden ihren Hirte verlöre?’ Um des lieben Friedens willen befahl er aber dem Prahlhans, sich von seinen Schafen zu entfernen.
Kaum war das geschehen, drängten sich die Tiere beider Herden um Hans und beruhigten sich, noch bevor der Schulte bis zehn gezählt hatte. Der fragte den guten Hirten:
„Was will mir das sagen?“ – Hans erwiderte.
„Die Tiere gehörten ursprünglich in eine Herde. Der Prahlhans hat mir einen Teil davon gestohlen. Weil die Schafe in mir ihren wirklichen Hirten wiedergefunden haben, sind sie zur Ruhe gekommen.“ Der Schulte nickte.
„Das ist der deutliche Beweis für die Schuld des anderen Hirten!“ Er wies auf den Prahlhans und befahl:
„Nehmt ihn fest!“ Das war aber gar nicht mehr nötig; denn der Büttel hatte den Prahlhans schon beim Wickel genommen, als der sich davonschleichen wollte.
Der Schulte wollte den Betrüger nun ins Gefängnis werfen lassen. Da trat aber Hans, der Hirte, vor den Richterstuhl. Er hob seine Rechte wie zu einem Schwur.
„Wenn Ihr mir noch ein Wort gestattet, euer Gnaden...“ Der Schulte ließ es zu. Und Hans, der Hirte, trug sein Anliegen vor:
„Überlasst mir bitte den Schuldigen, damit er die Sühne für seinen Betrug in meinen Diensten ableistet.“ – Der Schulte fand den Vorschlag des Hirten zwar ungewöhnlich.
Den Übeltäter wegzugeben, war aber allemal besser, als ihn auf Kosten der Gemeinde im Kerker durchfüttern zu müssen.
„Steht Ihr mir dafür gerade, dass dieser Nichtsnutz nie wieder seinen Schabernack in unserem Dorf treiben wird?“
„Dafür stehe ich mit meiner ganzen Schafherde ein”, gelobte Hans, der Hirte. Und er verließ mit dem Prahlhans und seiner Schafherde das Dorf.
„Warum hast du mich vor dem Kerker gerettet?“, fragte Prahlhans.
„Ich habe mein Leben lang kein Schaf verloren gegeben. Mit den Menschen halte ich es genauso. Der Herrgott hat dich in meine Obhut gegeben. Deshalb bin ich nun dein Hirte.“ Das machte einen gewaltigen Eindruck auf den Prahlhans. Er war von Stund an der tüchtigste Hütejunge, den sich Hans, der Hirte, vorstellen konnte. Prahlhans nannte seinen Meister seitdem nur noch ‚Hans, mein Hirte’.
Osterglocken
Leben locken
aus der Erde.
Neues werde.
Was man für alltäglich hält,
ist Erlösung unsrer Welt.
Öffne die Sinne,
dein Wesen verspinne
mit unserer Erde,
damit die Glocken
dich schocken.
Mensch, werde!
In der weiten Steppe vor der alten, ehrwürdigen Stadt lebte einstmals der alte Einsiedler Nicolai. Er hatte zwischen zwei dornenüberwucherten Hügeln einen kleinen Paradiesgarten angelegt und erntete dort die herrlichsten Früchte. Da der Weg zu Nicolais Garten beschwerlich war, suchten ihn die Bewohner der Stadt nur selten auf. Wer sich aber überwand und nach harten Weg dort einkehrte, wurde reich belohnt – mit saftigen Früchten, köstlichen Speisen und guten Worten.
Nach einer alten Gewohnheit pilgerten einmal im Jahr – und zwar zu Frühlingsbeginn – alle Bewohner der Stadt zur Einsiedelei, um mit Nicolai das Liebesmahl zu feiern. Zu diesem Mahl brachte jeder das mit, was er aus seinen Vorräten erübrigen konnte. Die Reichen lieferten gebratene Hähnchen, saftige Früchte, Rehrücken, Hasenkeulen, die feinsten Weine und andere Leckereien. Die Armen opferten eine Handvoll frisches Brunnenwasser oder ein wenig Maismehl.
Dann kostete der Arme von den feinen Speisen der Reichen.
Und der Reiche erlebte, wie es dem Armen schmeckte. Nicolai gab das gedörrte Obst aus dem Paradiesgarten und seinen Segen dazu. Die Reichen waren froh, dass sie etwas Gutes tun konnten, und die Armen freuten sich darüber, wenigstens an diesem Tage auf höchst angenehme Weise satt zu werden.
In jede gute Gewohnheit kann sich aber im Laufe der Zeit etwas Ungutes einschleichen. Und so dachte mancher Reiche, er müsse zum Liebesmahl nicht gar so viel von seinen kostbaren Speisen beisteuern. Wenn er unter denen, die da reichlich auftischten, mit seinen Vorräten zurückhalte, werde es nicht auffallen. Und er könne wie all die Jahre zuvor mitspeisen, ohne im Geringsten Anstoß zu erregen.
Das ging auch so lange gut, wie nur wenige Reiche so dachten.
Der alte Nicolai spürte den Betrug zwar, doch vermutete er, dass die Betreffenden schon ihre Gründe für eine derart verwerfliche Knauserigkeit hatten. Und er verlor kein Wort darüber.
Eines guten Tages aber dachten alle Reichen das Gleiche – und zwar das falsche Gleiche. Deshalb steuerten auch sie – wie die Armen – entweder ein Krüglein mit frischem Quellwasser oder ein Säcklein mit Maismehl bei.
Nikolai erwartete wie all die Jahre zuvor die Gäste in seiner Hütte. Er begrüßte jeden mit Handschlag und inniger Umarmung und bat ihn, seine Gaben auf jenen großen Teppich zu legen, den er auf dem Lehmboden seiner Behausung ausgebreitet hatte. Wie staunten die Gäste, als am Ende nur Krüglein mit frischen Quellwasser und Säcklein mit Maismehl auf dem Teppich standen.
„Ja! Ihr Lieben“, sagte Nicolai, „nun sind wir alle miteinander arm und werden als Arme unser Liebesmahl halten.“ Indem er auf seinen Garten wies, fügte er hinzu:
„Auch ich bin in diesem Jahr arm; denn meine Früchte sind noch nicht reif und die Vorräte an gedörrtem Obst sind aufgezehrt, so dass wir auch darauf verzichten müssen.“
Die Gäste schwiegen bedrückt – die Reichen aus Scham, die Armen vor Enttäuschung; denn sie hatten sich schon seit Monaten auf dieses Mahl gefreut, war es doch die einzige Abwechslung in ihrem eintönigen Speiseplan. Schon erhoben sich die ersten Gäste von ihren Sitzen, um den Heimweg anzutreten. Die einen ärgerten sich über die Knausrigkeit der Reichen, die anderen über ihre eigene Dummheit. Nicolai verabschiedete sie als gute Freunde und freute sich, dass doch noch einige geblieben waren. Zu denen sagte er:
„Dann will ich aus euren Geschenken ein schönes Mahl zubereiten.“ Der Einsiedler fachte im Herd das Feuer an, setzte einen riesigen Topf auf und goss das Wasser aus den Krüglein hinein. Als es zu brodeln begann, schüttete er das Maismehl dazu und rührte das Ganze mit einem langen Holzlöffel um. Die Gäste beobachteten den Alten bei seiner Arbeit und schwiegen.
Als der Brei gar war, schlug der alte Nicolai das Kreuz über dem Topf und verteilte die Speise in kleinen Tonschüsselchen. Jeder bekam etwas ab. Bevor aber der erste zu speisen begann, bat Nicolai seine Gäste:
„Schließt eure Augen und stellt euch jene Speise vor, die ihr auf dem heutigen Liebesmahl gern gegessen hättet.“
Die Gäste dachten nichts anderes, als dass es ein einfältiges Spiel sei. Mancher hätte gern etwas Spöttisches dazu bemerkt. Aus Liebe zu dem guten Nicolai schlossen sie aber die Augen und stellten sich ihre Lieblingsspeise vor.
„So wünsche ich euch denn einen gesegneten Appetit“, erklärte der Einsiedler seinen Gästen und eröffnete damit das Mahl. Nun tunkten alle recht lustlos ihre Finger in die Näpfchen und kosteten von dem Maisbrei. Wie aber wunderten sie sich, als sie tatsächlich ihre Lieblingsspeise schmeckten!
Der eine hatte Fasan, der andere kandierte Früchte, der nächste eine Hasenkeule und all jene Beilagen auf der Zunge, die er sich dazu gewünscht hatte. Jeder schwelgte in seinen Gaumenfreuden, und keiner fühlte sich zurückgestellt oder beschämt.
Alle waren so inniglich mit ihren Speisen beschäftigt, dass nur der junge Grischka fragte:
„Was hast du denn geschmeckt, guter Nicolai?“ Der alte Einsiedler rieb seinen langen Bart und erwiderte:
„Ich schmeckte den Leib des Herrn und sein Blut.“
„Soll das heißen, dass du dir nichts anderes gewünscht hast, als eine Oblate und einen Schluck Wein?“
„Eine Oblate und einen Schluck klaren Wassers“, verbesserte der Einsiedler den jungen Grischka, denn Wein hatte er schon seit Jahren nicht mehr genossen.
Da fühlten sich alle Gäste zutiefst beschämt. Niemand hatte an den Herrn gedacht. Sie waren alle nur auf ihre Gaumenfreuden erpicht gewesen. Da meinte der alte Nicolai:
„Nun ziert euch nicht so! Ihr habt alle vom Leib des Herrn genossen; denn er hat eure Leckereien genauso zubereitet wie meine Oblate und mein Wasser.“ Da beruhigten sich die Gäste wieder. Und es endete alles in Freude und Heiterkeit.
Jene aber, die zu früh gegangen waren, hofften, dass sich dieses Ereignis wiederholen werde. Es kam aber nicht mehr dazu.
Denn für die folgenden Liebesmahle spendeten die Reichen wieder ihre besten Speisen. Keiner wollte sich ein zweites Mal die Blöße geben, als geizig oder missgünstig zu gelten.
Der Mensch ist nur ein winzig’ Korn
Im übergroßen Weltenall.
Indes! Gott ist als Mensch geborn’,
um zu verhindern unsern Fall.
Wer Raum für ihn in seiner Seele schafft,
spürt seine Auferstehungskraft.
Die Welt, sie atmet sich jetzt aus.
Weit sprießt das grüne Blätterhaus.
Das nimmt sich unseres Odems an,
damit es daraus wirken kann
die Luft, die wir mit Dank erleben,
um Wohnung unserem Geist zu geben.
Paulys Brot war so beliebt, dass die Kunden schon um sechs Uhr in der Frühe seine kleine, altmodische Bäckerei stürmten. Wenn Meister Pauly sie fragte, warum sie sein Brot mochten, antworteten sie:
„Es schmeckt so gut, als wenn du mit dem Teufel im Bunde stündest.“ Das war nicht ernst gemeint, denn bei einem teuflischen Bäckermeister hätte wohl niemand um Brot angestanden.
Qualität hat aber seinen Preis. Schon um Mitternacht musste Meister Pauly an seinem alten Steinofen stehen und das Feuer anfachen. In den folgenden vier Stunden bereitete er die Teige für Brot und Kuchen vor. Nebenbei heizte er in regelmäßigen Abständen seinen Ofen mit Holz nach.
Um vier Uhr wurde die Glut aus dem Ofen entfernt und eine Lage mit Butterkuchen eingeschossen. Fünf Minuten später war der Kuchen fertig. Dann folgten die Brötchen. Die waren nach 10 Minuten braun gebrannt. Wenig später kamen die Weizenbrote an die Reihe. Sie brauchten eine halbe Stunde.
Danach konnten die Roggenbrote in aller Ruhe garen, bevor das Schwarzbrot die Restwärme verzehrte.
Mittags war der Ofen ausgeräumt, und Meister Pauly konnte sich aufs Ohr legen, während seine Frau im Laden den Verkauf regelte. Am Abend wachte der Bäcker auf, um sich nach einer gemütlichen Vesper auf die Arbeit in der Backstube zu freuen.
So hätte es bis zum seligen Erdenabschied des Meisters weitergehen können, wenn sich nicht eines guten Morgens ein merkwürdiger Fremder im kleinen Ladenlokal der Bäckerei eingefunden hätte. Seine Erscheinung war so gruselig, dass sich kein weiterer Kunde dazu gesellte.
„Grüß Gott!“, rief die Bäckersfrau beherzt. Weil der Fremde bei diesen frommen Worten heftig zusammenzuckte und nichts erwiderte, fragte sie:
„Was wünschen Sie?“ Der Kunde zog seinen dunkelgrünen Lodenmantel fest zusammen.
„Ich hätte gern alles, was Ihr Mann an diesem Tag aus dem Backofen birgt.“ Frau Pauly runzelte ihre Stirn.
„Hatten Sie denn etwas vorbestellt?“ „Nein. Ich kaufe alles auf, jetzt und hier. Ich zahle dafür jeden Preis.“
„Moment mal“, erwiderte Frau Pauly. „Da muss ich in die Backstube gehen und meinen Mann fragen, ob das überhaupt geht.“
„Tun Sie das!“ Der Kunde lehnte seinen rechten Ellenbogen gegen die Glasfront der Theke und wartete. Frau Pauly eilte in die Backstube und berichtete ihrem Mann vom Angebot des Fremden. Der Meister schüttelte seinen Kopf.
„Kommt nicht in die Tüte!“
„Er zahlt aber einen guten Preis. Das sollten wir uns nicht entgehen lassen.“ Meister Pauly schüttelte heftig seinen Kopf.
„Unsere Kunden gehen vor. Die halten uns seit Jahrzehnten die Treue. So etwas ist mit keinem Geld der Welt aufzuwiegen.“
„Na gut. Und wie soll ich den Fremden abspeisen?“
„Sag ihm, dass ich eher über die Glut aus meinem Ofen laufe, als dass ich ihm unsere Backwaren verkaufe.“ Frau Pauly eilte in das Ladenlokal und erklärte dem Fremden:
„Mein Mann läuft lieber durch die Glut, die er heute Morgen aus seinem Backofen gezogen hat, als dass er Ihnen die Ware überlässt – für welchen Preis auch immer.“
„Das geht in Ordnung“, erwiderte der Fremde, „dann soll er die Glut auf dem Boden ausbreiten und einmal längs darüber laufen.“
„Gut! Ich sag’s meinem Mann.“ In der Backstube angekommen, erklärte sie dem Meister:
„Du, Männe, der Fremde meint, das mit dem Über-die-Glut-Laufen ginge in Ordnung.“ Bäcker Pauly war für einen Augenblick ratlos. Dann aber blitzte es in seinen Augen auf, und er entgegnete:
„Bitte den Fremden in die Backstube. Er soll sehen, wie ich über die Glut laufe.“ Frau Pauly eilte kopfschüttelnd zurück in das Ladenlokal.
„Kommen Sie mal mit. Mein Mann läuft Ihnen was vor.“ Der Fremde folgte ihr in die Backstube. Der Bäcker beäugte den seltsamen Kunden eingehend und meinte:
„So hab ich ihn mir vorgestellt.“ Dann schüttete er die heiße Glut, die er in einer großen Blechtonne aufbewahrt hatte, auf den Boden der Backstube. Eine Höllenhitze stieg auf, so dass die Bäckersfrau drei Schritte zurückwich. Der Fremde aber schien sich daran zu ergötzen. Er rückte sogar einen Schritt vor, um den Duft und die Hitze in sich aufzunehmen. Der Bäckermeister stieg in zwei Eimer, die zur Hälfte mit Sand gefüllt waren und grinste den Fremden an.
„Was soll das werden?“, fragte der.
„Das sind meine Schuhe!“ Pauly zog die Eimer an den Henkeln hoch, so dass die Füße darin einen festen Stand hatten. Dann lief er gemütlich über die Glut. Der Fremde rief wutentbrannt:
„So war das aber nicht gemeint!“ Der Bäcker zog die Schultern hoch.
„Wie du das gemeint hast, kann ich mir schon vorstellen. Ich habe es aber so gemacht, wie es mir behagt.“ Mit diesen Worten packte der Bäckermeister den Fremden am Kragen und warf ihn hinaus. Der aber rief:
„Solange du lebst, Pauly, hast du Ruhe vor mir. Sobald du aber stirbst, ist mir deine Seele sicher! Wenn die Zeit gekommen ist, hole ich dich hier in der Backstube ab.“
Meister Pauly dachte zwar: ‚Bis dahin fließt noch viel Wasser den Rhein hinunter’, aber mit den Jahren, die auf das denkwürdige Ereignis folgten, wurde es ihm immer mulmiger zumute. Als er schließlich alt und wackelig geworden war, erklärte er eines guten Tages seiner Frau:
„Ich spüre, dass meine Zeit abgelaufen ist. Nun muss ich mich, wohl oder übel, dem Teufel stellen.“
„Tu das. Je schneller du Gewissheit darüber bekommst, ob du mit ihm in der Hölle braten musst oder nicht, desto besser geht es dir.“
Nun hatte Meister Pauly in seiner Backstube eine große Holzkiste. In die schüttete er immer so viel Mehl, wie er zum Brotbacken brauchte. Am besagten Mittag war die Kiste nur noch halb voll, und der Bäcker hatte genug Platz, um sich darin zu verstecken. Seine Frau schlug den Deckel über ihm zu und wartete auf den Teufel. Wenige Stunden später stellte der sich in der Backstube ein und fragte:
„Na, Meisterin, wo ist dein Mann?“
„Wo soll er schon sein? Er liegt im Bett und versucht, seine Seele auszuhauchen.“ Der Herr im grünen Lodenmantel schüttelte lachend seinen Kopf.
„Nein, Frau Pauly! Er liegt woanders. Das rieche ich. Und er wird heute noch an meiner Seite zur Hölle fahren. Ich hole ihn mir – gleich wo er sich versteckt hat.“
„Gut“, erwiderte die Meisterin und wies auf die Mehlkiste. „Er liegt schon im Sarg und freut sich auf die Reise mit dir.“
„Dann pack ich mir doch das gute Stück und nehme es gleich mit!“ Der Grünfrack klemmte die Mehlkiste unter seinen Arm und verschwand damit durch das Kellerloch.
Als er in der Hölle angekommen war, wurde er von seinen Kindern, Geschwistern, Onkeln und Tanten mit großem „Hallo“ gefeiert; denn eine Mehlkiste als Sarg hatten sie noch nie gesehen.
„Schlag auf!“, befahl einer der Oberteufel, und der Grünfrack öffnete den Deckel. Heraus stieg der reichlich mit Mehl bestäubte Bäcker Pauly.
„Gott zum Gruße!“, rief er mit so lauter Stimme, dass alle Teufel einen Schritt zurückwichen.
„Was bist du denn für einer?“, fragte die Großmutter des Teufels, und beäugte den Fremden mit ihren glühenden Augen.
Der Bäcker schlug den Mehlstaub aus seinen Kleidern und erklärte dem höllischen Publikum: