„Ich wusste schon immer,
dass Zitrönchen etwas ganz Besonderes ist…“
(Mama / aus Zitrönchen – Braune Rappen jagen Füchse)
Im Norden Englands geboren und aufgewachsen in Berlin, wo sie heute noch lebt. Pferde spielten in ihrem Leben schon von klein auf eine große Rolle. Zusammen mit den eigenen Pferden und ihren beiden Töchtern, die inzwischen schon erwachsen sind, erfuhr sie ein „Pferdeleben“ mit allen Höhen und Tiefen.
In einer großen Schatzkiste hütet sie bis heute spannende Geschichten, die das Leben selbst geschrieben hat.
Ein gutes Pferd hat keine Farbe
Braune Rappen jagen Füchse
Ein klarer Fall von Dickfelligkeit
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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© 2016 Maria Durand - 3. Band
Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7431-0561-4
Während Jo und Mücke noch fest schliefen, färbte sich an einem anderen Ort der Horizont zart rosa.
Es war noch früh, als der alte Mann aus seinem Bett stieg. Er strich sich kurz das krause Haar glatt und schlurfte dann langsam zum Fenster hinüber. Langsam zog er sich die Hose an und beobachtete dabei die Farben, die die aufsteigende Sonne an den Himmel malte.
Wenig später rüttelte er Italo vorsichtig an der Schulter.
„Junge, komm, bitte steh auf. Es ist soweit.“
Italo hielt seine Augen fest geschlossen, obwohl er gar nicht wirklich schlief. In dieser Nacht hatte er kein Auge zugemacht, und jetzt wollte er sie auf keinen Fall wieder aufmachen.
„Ich weiß“, brummelte Italos Onkel Eduardo, „das wird heute kein leichter Tag für dich. Für mich auch nicht.“ Dann atmete er tief ein, legte erneut die Hand auf Italos Schulter und sagte leise: „Aber wir müssen das für ihn tun. Wir sind seine Familie und wir müssen ihn deshalb selber zum Hafen bringen.“ Onkel Eduardo schluckte und fügte dann hinzu: „Italo, das sind wir ihm schuldig.“
Langsam öffnete Italo seine Augen. Ein schreckliches Gefühl machte sich breit. Er versuchte mit aller Macht diesen Kloß im Hals runterzuschlucken und obwohl er noch im Bett lag, glaubte er, dass seine Knie zitterten.
Italo wusste, dass Onkel Eduardo recht hatte, er selbst musste ihn zum Hafen bringen.
Langsam drehte sich Italo zu seinem Onkel herum.
„Ich gehe schon runter und mache dir einen Kakao.“ Onkel Eduardos Stimme klang heiser und obwohl er schon aus dem Zimmer verschwunden war, antwortete Italo: „Ja, ich komme.“
Der Junge war gerade zwölf Jahre alt geworden. Er sah nicht typisch italienisch aus, denn seine Haare waren strohblond, die Haare seiner Schulkameraden waren fast alle dunkelbraun oder schwarz. Italos Augen glänzten in der Sonne wie grüne Edelsteine - nur heute glänzten diese Augen nicht.
Das bemerkte auch Onkel Eduardo, als Italo sich in der Küche an den Tisch setzte. Der alte Mann zog Italo seit seinem neunten Lebensjahr groß, nachdem seine Eltern bei einem tragischen Zugunglück starben.
An dem Tag, als Italo zu seinem Onkel zog, wurde ein kleines schwarzes Hengstfohlen geboren.
Italo war der erste, der es berühren durfte. Onkel Eduardo erzählte diese Geschichte beinahe jeden Tag und dass ein ganz besonderer Zauber in diesem Moment zu spüren war. Deshalb erteilte der Onkel Italo die alleinige Pflegschaft für das Fohlen. Im Laufe der Jahre wuchs der kleine Hengst zu einem prächtigen Pferd heran und wurde Italos bester Freund.
Italo überlegte nicht lang und nannte ihn kurzerhand „Bruschettino“.
Auf die Frage seines Onkels, warum er ihn Bruschettino nenne, antwortete Italo: „Er hat mir gesagt, dass das sein Name ist“, woraufhin Onkel Eduardo damals in schallendes Gelächter ausbrach, doch bis heute fand auch er keinen besseren Namen für dieses Pferd.
Nun sollte Italo im Oktober aber eine gute Schule besuchen, schließlich war es sein Traum Tierarzt zu werden, doch dafür brauchte der Onkel mehr Geld. Aus diesem Grund hatte er nun vor einer Woche Bruschettino an einen Pferdehändler verkauft, der ihm einen guten Preis bezahlte, der die Schulkosten mindestens für das erste Jahr decken würde.
Lange hatte der Onkel mit Italo darüber gesprochen, wie wichtig heutzutage eine gute Schulausbildung sei und irgendwie verstand Italo das auch, aber die bevorstehende Trennung von Bruschettino machte ihm schwer zu schaffen.
Er war bestimmt ein guter Pferdepfleger, aber konnte ja nicht einmal reiten.
Der Onkel sagte, dass der Umgang mit einem Hengst schwieriger wird, je älter und stärker er wird und dass Bruschettino talentiert sei und gefördert werden müsse. Für das Herumstehen auf der Wiese sei er einfach zu schade.
Es war nicht so, dass Italo nicht versucht hätte seinen Onkel doch noch umzustimmen, aber schließlich musste auch er einsehen, dass es für Bruschettino bestimmt besser war und so akzeptierte er schließlich die Entscheidung seines Onkels.
Nachdem Italo kurz an seinem Kakao genippt hatte, lief er hinüber zum Stall.
Onkel Eduardo hängte den Pferdetransporter an sein altes Auto.
Italo tätschelte Bruschettino sanft am Hals. Er verhielt sich unruhig und trat von einem Bein aufs andere. Nervös schlug er seinen Schweif hin und her, seine Ohren waren gespitzt und spielten vor und zurück.
Italo war sich sicher, dass Bruschettino genau wusste, dass nichts Gutes bevorstand.
Onkel Eduardo wies Italo an, das Sattelzeug zu holen, woraufhin der Junge zum Sattelschrank lief.
Der Sattel funkelte im matten Licht der Stalllaterne.
Italo hatte ihn immer sehr gut gepflegt und Bruschettino sollte in seiner neuen Heimat gut aussehen. Mit einem schweren Seufzer nahm er nun ein letztes Mal den Sattel aus dem Schrank und brachte ihn zum Transporter.
Bruschettino stand schon auf dem Hänger und Onkel Eduardo kletterte gerade wieder heraus, als das Pferd leise wieherte.
„Schon gut, Bruschettino, schon gut.“ Italo stieg durch die Luke des Transporters ein und unterdrückte die aufsteigenden Tränen. Er versuchte zu lächeln, denn Bruschettino sollte nicht merken, wie traurig er war.
Kurze Zeit später rollte das Gespann die Straße zum Hafengelände hinunter und hielt schließlich vor mehreren Containerreihen an.
„Gehören die Container alle dem Pferdehändler?“, fragte Italo seinen Onkel. Doch der antwortete nicht, auch er hatte Tränen in den Augen.
Als sie ausstiegen, kam ein großer kräftiger Mann auf sie zugeeilt.
Es war inzwischen hell und die Sonne brannte auf der Haut.
Das musste der Pferdehändler sein, sympathisch wirkte er auf Italo nicht, im Gegenteil, eher irgendwie unheimlich und Italo stieg ein Kribbeln im Nacken auf. Schnell ließ er die Rampe des Transporters herunter und kletterte zu Bruschettino in den Transporter.
Onkel Eduardo lief dem Mann entgegen.
„Da sind Sie ja endlich!“, knurrte der Pferdehändler. „Die Container werden bereits verladen. Beeilen Sie sich gefälligst, der Gaul kommt in unseren letzten Container, die anderen sind schon voll. Er hat die Nummer elf.“ Dabei zeigte er auf die letzte Containerreihe.
„Alles andere klären wir in meinem Büro, das befindet sich auf der anderen Seite“, erklärte er unfreundlich, drehte sich um und lief zurück in die Richtung, aus der er gekommen war.
Onkel Eduardo kehrte eilig zum Transporter zurück, als Italo Bruschettino gerade vom Transporter herunterführte.
Mit zittriger Stimme fragte Italo: „Wo müssen wir hin?“
Der Onkel zeigte auf das Ende der Containerreihe vor der sie standen und antwortete leise: „Soll der letzte sein, die anderen sind wohl alle voll. Wir sind wohl spät dran. Bring Bruschettino schon mal hin, ich kläre das mit dem Geld und komme gleich mit dem Sattel nach.“
Italo führte das Pferd zum letzten Container in der Reihe, auf die der Onkel gezeigt hatte. Mit einer Hand öffnete er die schwere Tür des Containers, die ein lautes Knarren von sich gab, so dass Bruschettino zurückwich. Italo strich dem Hengst über den Hals, bis er ruhig stand. Vorsichtig schaute Italo durch die Tür in den Container hinein. Fast glaubte er, dass er Gespenster sehen würde, doch rasch erkannte er, dass im Container ein Gegenstand mit einem weißen Bettlaken abgedeckt war.
„Wo sollst du denn da noch hin?“, fragte Italo Bruschettino, der inzwischen mit genauso großen Augen in den Container blickte.
„Das geht so nicht“, sagte Italo entschlossen, band Bruschettino an einem Haken am Container an, schob den Gegenstand an die hintere Wand des Containers und befestigte ihn mit Schnüren, die auf dem Boden lagen. Dann lief er ein paar Mal zum Transporter zurück und holte das Stroh und Heu, das sie für die Fahrt mitgenommen hatten und breitete es im Container aus. Nun stand er vor Bruschettino, strich ihm über die Stirn und führte ihn in den Container.
Der kleine Hengst versetzte dem Jungen einen sanften Nasenstupser.
Italo schluckte den Kloß in seinem Hals herunter, der immer größer zu werden schien. Sanft klopfte er Bruschettino an der Schulter und sagte leise: „Ich hoffe, dass du nicht so lange hier drin bleiben musst, es sind sicher nur ein paar Stunden.“ Langsam strich er über Bruschettinos Nase, die sich so weich und flauschig anfühlte.
„Und dass du dich in deiner neuen Heimat auch ja anständig benimmst. Mach keine Dummheiten, klar?“ Italo vergrub seinen Kopf in Bruschettinos Mähne: „Ich weiß, du machst keine Dummheiten. Du bist der Allerbeste. Vergiss mich nicht…“, dann rollten ein paar Tränen und Bruschettino schnaubte leise, als hätte er jedes Wort verstanden.
In diesem Moment hörte Italo Onkel Eduardo rufen, trat aus dem Container heraus und rief: „Hier, wir sind hier.“ Sein Blick fiel auf das Plastikfensterchen an der Containerwand. In dem Plastikfenster steckte ein kleines Stück Papier, auf dem stand:
117
Maries
Antiquitäten
Die Buchstaben waren kaum noch zu erkennen, die Sonne hatte das Blatt völlig ausgeblichen.
Italo kam eine Idee. „Das ist bestimmt schon alt und ich brauch ja bloß ein kleines Stück. Außerdem befindet sich ein Pferd im Container und keine Antiquitäten“, sagte sich Italo und zog das Papier vorsichtig aus dem Fenster. Mit einem Ruck riss er einen Streifen ab. Den anderen Teil steckte er wieder zurück in das Fenster. Aus seiner Jackentasche zog er einen Stift und schrieb in großen Buchstaben „BRUSCHETTINO“ auf den Schnipsel und darunter seine Adresse.
„Das kann ja kein Mensch lesen“, stellte Italo fest, als Onkel Eduardo um die Ecke bog und schnaufend mit dem Sattel auf dem Arm auf ihn zu kam.
„Hilf mir mal, ich habe hier noch eine Tasche für den Sattel bekommen“, prustete der Onkel und japste nach Luft.
Rasch faltete Italo den kleinen Papierstreifen zusammen und ließ ihn in der Satteltasche verschwinden.
Zusammen verstauten sie Bruschettinos Sattel und den Führstrick in der Tasche.
„Was soll denn der Kram dahinten?“, fragte Onkel Eduardo entsetzt, als er in den Container blickte. „Das ist ja gefährlich, so können wir das nicht lassen.“
Dann schaute er sich um und zog Italo am Arm.
„Hilf mir mal schnell“, forderte der Onkel Italo auf und hob ein schweres Brett vom Boden auf.
„Das müsste gehen“, sagte Onkel Eduardo, „Bruschettino soll nicht gleich verletzt in seinem neuen Zuhause ankommen.“
Nachdem Italo und Onkel Eduardo das Brett in kürzester Zeit als Trennwand in den Container eingesetzt hatten, fragte Italo: „Durch die Klappe dort bekommt er Luft und auch ein wenig Licht, aber woher bekommt er Wasser?“
„Das werden die ihm schon bringen, er ist bestimmt nicht das einzige Pferd auf dem Schiff und lange ist er bestimmt auch nicht unterwegs“, erwiderte Onkel Eduardo und dann wurde es ruhig.
Onkel Eduardo klopfte Bruschettino kurz am Hals und trat als Erster aus dem Container heraus. Sein Blick fiel auf das Plastikfenster. „Ach die elf, richtig, die elf hatte er gesagt“, murmelte er, doch dann las er: „Mari Antiqui“, und schüttelte den Kopf. „Merkwürdiger Name, das hört sich französisch an, dann geht er also nach Frankreich.“
Der Onkel schaute noch einmal durch die Tür in den Container und nickte Italo zu, der verstand, dass es jetzt Zeit wurde, sich zu verabschieden.
Italo zitterte. Sein Blick huschte kurz auf die Satteltasche bevor er sagte: „Wir werden uns wiedersehen, das glaube ich ganz fest. Ich denke an dich…“, er schluckte, „jeden Tag.“
Dann drückte er Bruschettino ganz fest und Bruschettino schnaubte leise, als Italo den Container verließ. Draußen rollten ihm dicke Tränen über die Wangen, er konnte beim Schließen der Tür kaum den Türgriff erkennen. Onkel Eduardo half ihm.
Eilig liefen sie zum Wagen und ohne sich noch einmal umzudrehen stiegen sie ein und fuhren davon.
Jo zog die linke Augenbraue hoch und sah Luis fragend an. „Was bedeutet eigentlich Corazón? Ist das Spanisch?“
„Richtig, das ist Spanisch“, bestätigte Luis, der gerade das Stroh in Corazóns Box aufschüttelte. „Corazón bedeutet Herz“, dann sah er hoch, setzte ein breites Grinsen auf und fügte hinzu: „Corazón ist mein Herz.“
„Oooh, wie romantisch“, schwärmte Esra, die vor der Box stand. Sie formte hastig ihre Haare zu einem neuen Zopf, nachdem sie ihre Reitkappe abgesetzt hatte.
„Achtung, gleich bekommt sie Schnappatmung“, hallte es über die Stallgasse und Jo und Luis begannen zu lachen.
„Inchi!“, rief Esra zurück. „Dass dir Romantik nicht mit in die Wiege gelegt wurde, weiß wohl jeder!“
In diesem Moment schaute Samantha um die Ecke: „Wie ich höre, ist alles beim Alten?“
Bevor irgendeiner antworten konnte, drängelte sich Goethe an Samantha vorbei und stapfte schnurstracks auf die Futterkammer zu.
„Oh ja“, lachte Esra, „wie ich sehe, hat sich bei euch beiden auch nichts verändert.“
Doch zum Erstaunen der anderen, die inzwischen alle aus ihren Boxen heraus auf die Stallgasse getreten waren, huschte Samantha eilig an Goethe vorbei und stellte sich ihm gerade noch rechtzeitig in den Weg.
Jo flüsterte Luis zu: „Ohren zuhalten, jetzt gibt´s eine Wüstenhagensche Standpauke“, jedoch anders als erwartet, schimpfte Samantha nicht wie ein Rohrspatz, sondern verschränkte die Arme gelassen vor der Brust und schaute auffordernd in das Gesicht ihres Pferdes.
Goethe blieb stehen und Jo stellte fest, dass er nicht einmal verwundert aussah, im Gegensatz zu Luis und Esra, deren Münder weit offen standen.
Samantha rührte sich nicht, bis Goethe den Kopf senkte und kurz schmatzte. Dann ergriff sie den Führstrick und führte ihn in seine Box.
Ein lauter Beifall schallte über die Stallgasse und Samantha trat strahlend aus der Box.
„Wo hast du das denn gelernt?“, wollte Inchi wissen, die die Szene von der anderen Seite der Stallgasse aus beobachtet hatte.
„Wo habe ich was gelernt?“, fragte Samantha scheinheilig zurück und tat so, als wäre nichts Spektakuläres passiert.
„Seit wann hast du Goethe so gut im Griff?“, fragte Jo begeistert, denn Goethe war, wenn es ums Fressen ging, ganz und gar nicht leicht zu händeln. Am liebsten stürmte er in die Futterkammer und plünderte die Futtertonnen.
„Noch vor einem Monat hätte er dich umgerannt und seine Nase in die Futtereimer gesteckt“, bemerkte Luis und fragte dann: „Hast du das im Lehrgang gelernt?“
„Ach ja richtig“, warf Esra ein, „wie war der Unterricht?“
„Hast du das Reitabzeichen bestanden?“, wollte Luis wissen, woraufhin Inchi antwortete: „Natürlich hat sie es bestanden. Goethe springt wie Gummi.“
Nun schauten alle gespannt in Samanthas Gesicht.
Samantha lehnte lässig am Türrahmen von Goethes Box und grinste von einem Ohr zum anderen.
„Warum sagst du denn nichts?“, fragte Jo ungeduldig.
„Wie denn? Ihr lasst mich ja nicht“, lachte Samantha. Goethe schenkte der schnatternden Versammlung vor seiner Box nicht die geringste Aufmerksamkeit, sondern steckte seine Nase tief ins Heu.
„Nun erzähl schon“, mahnte Inchi, „hast du bestanden?“
Samantha grinste erneut über das ganze Gesicht und das reichte den anderen als Antwort aus.
Freudig gratulierten sie Samantha und Luis klopfte auch Goethe anerkennend den Hals, woraufhin er entspannt ins Heu schnaubte.
„Und das mit der Futterkammer“, hakte Esra noch einmal nach, „haben sie dir das dort auch gezeigt?“
Samantha nickte. „Oh ja, gleich am ersten Tag, nachdem Goethe deren Futterkammer überfallen hatte.“
Die anderen lachten und hörten gespannt zu, wie Samantha vom Reitabzeichenlehrgang berichtete.
Doch Samantha verstummte plötzlich, als Mücke mit Kimba auf der Stallgasse auftauchte. Sie schob sich an den anderen vorbei und stellte sich Mücke in den Weg.
„Meine Güte, was hast du denn mit Kimba gemacht?“, brach es aus ihr heraus.
Mücke konnte sich nicht so wie die anderen über Samanthas Rückkehr freuen und das schien auch Samantha sofort zu bemerken.
„Was ist mit dem?“, fragte Samantha und klang tatsächlich ein wenig besorgt. „Und warum ziehst du so ein Gesicht?“
Jo stellte fest, dass Samantha nicht nur besorgt klang, sondern auch tatsächlich besorgt aussah, was man nur sehr selten bei ihr sah.
„Irgendwas stimmt mit Kimba nicht“, erwiderte Mücke. „Es ist weder warm, noch kalt und auch die Nächte sind noch nicht so kalt. Wir haben gerade erst Anfang Oktober und Kimba bekommt schon ein Winterfell, als würde er sich auf einen Grönlandtrip vorbereiten.“
Samantha stand nun vor Kimba und griff mit spitzen Fingern in sein verschwitztes, klebriges Fell.
„Igitt, wie ekelig ist das denn? Der ist ja klatschnass!“, rief sie laut und nun erkannte Jo doch ein wenig die alte Samantha wieder.
„Bei diesem Fell schwitzt er natürlich schon, bevor die Stunde angefangen hat“, warf Esra ein und stellte sich beschützend an Mückes Seite.
„Dann muss Seba ihn scheren!“, beschwerte sich Samantha laut, woraufhin sich nun auch Jo einmischte:
„Das haben wir versucht, vor zwei Tagen. Seba war mit der Schermaschine noch nicht mal an ihm dran, da hat er schon um sich getreten.“
Samantha atmete tief ein, was ein sicheres Zeichen dafür war, dass sie ganz bestimmt etwas sehr Wichtiges sagen wollte, doch Luis kam ihr zuvor: „Samantha, wir kümmern uns darum. Der Tierarzt kommt diese Woche vorbei und schaut ihn sich an.“
Das schien Samantha nicht wirklich zu besänftigen. Erneut holte sie tief Luft, doch in diesem Moment erschien ihr Vater auf der Stallgasse.
„Piiiizzaaaa, Señoritas? Champignons für Inchi, ohne Zwiebeln für Esra, Salami für Mücke, Mozzarella für Jo….“, dann überlegte er kurz und fuhr fort: „und extra scharf für Luis.“ Herr Wüstenhagen trug einen Stapel Pizzakartons vor sich her.
Goethe, der den Pizzageruch anscheinend schon wahrgenommen hatte, hob den Kopf und wieherte Samanthas Vater schrill entgegen.
„Ja, das ist klar, dass Goethe sich als erstes meldet“, lachte er. Luis und die Mädchen stürmten Samanthas Vater freudig entgegen und verschwanden schließlich mit ihm durch die Stalltür. Alle, bis auf Mücke.
Mücke führte Kimba langsam in seine Box. Er durfte vor ein paar Wochen in Trudes Box umziehen und stand nun direkt neben Zitrönchen. Trude wurde vorübergehend wegen Husten in eine Außenbox einquartiert.
Zitrönchen schaute durch die Gitterstäbe, als Mücke mit Kimba die Box betrat und wieherte leise.
„Ja, guck ihn dir an“, sagte Mücke traurig. „Das ist doch nicht normal, oder?“
Und als ob Zitrönchen Mückes Worte genau verstanden hätte, schüttelte er seinen Kopf und schnaubte durch die Gitterstäbe.
Kimba stand mit gesenktem Kopf in der Box. Während Mücke ihm die Trense abnahm und ihn absattelte, bewegte er sich keinen Zentimeter. Er sah nicht einmal hoch, als Mücke mit einer riesigen Schubkarre, beladen mit Stroh, zurückkam. Und Kimba bewegte sich auch nicht, als Mücke anfing ihn mit Stroh abzureiben.
Sie sah, dass Kimba schnell atmete, schneller als die anderen. Besorgt schaute sie zu Zitrönchen hinüber, der immer noch durch die Gitterstäbe schaute.
„Vielleicht muss er erst was trinken?“, fragte Mücke und Zitrönchen schlug den Kopf nach oben, was für Mücke ein klares Ja war. Sie drückte auf den Knopf in der Tränke und lies das kleine Becken bis oben hin voll laufen, doch Kimba rührte sich nicht.
„Ich komme gleich wieder“, sagte Mücke und verließ die Box. Als sie mit einem Eimer Wasser zurückkam, wieherte Zitrönchen leise. Sie stellte den Eimer direkt unter Kimbas Nase und tatsächlich, Kimba begann zu trinken. Er trank und trank, bis der Eimer leer war.
Mücke hielt den leeren Eimer in den Händen und schaute erstaunt zu Zitrönchen herüber. „Alles ausgetrunken“, sagte sie und klang dabei ein wenig überrascht. „Warum geht er denn nicht an seine Tränke, wenn er so einen Durst hat?“, fragte Mücke und schaute zu Zitrönchen hinüber, als ob sie eine Antwort von ihm erwartete.
Doch Zitrönchen schien sichtbar beruhigt und wendete sich seinem Heu zu, woraufhin auch Mücke sich ein wenig entspannte.
„Ich rubbel dich jetzt erst einmal trocken und dann bringe ich dir noch einen Eimer“, erklärte Mücke entschlossen. Dann griff sie erneut ins Stroh und rieb damit kräftig über Kimbas Fell.
„Madame, Ihre Pizza wird kalt“, hörte Mücke nach ein paar Minuten hinter sich. Rasch drehte sie sich um und schaute in das freundliche Gesicht von Herrn Wüstenhagen.
Der stand im Türrahmen von Kimbas Box und schaute Mücke fragend an. „Kommst du nicht? Deine Oma und deine Mutter sind auch da und die anderen haben ihre Pizza gleich aufgegessen.“
„Ich komme gleich“, erwiderte Mücke freundlich. Sie mochte Herrn Wüstenhagen. Seit der Zirkusgeschichte hatte er, so wie Oma es immer sagte, einen dicken Stein bei ihr im Brett. „Aber ich muss erst Kimba trocken reiben.“
„Oha, der ist ja wirklich ganz schön verschwitzt“, antwortete Herr Wüstenhagen, „gut, dann komm, wenn du fertig bist. Ich halte deine Pizza solange im Ofen warm.“
Mücke nickte ihm zu, woraufhin Herr Wüstenhagen sich umdrehte und zurück zu den anderen lief.
Erneut griff sie ins Stroh und rieb weiter durch Kimbas dickes Fell.
Mücke bemerkte, dass Zitrönchen aufhörte zu kauen und seinen Kopf hob.
Kimba hob seinen Kopf nicht, aber Mücke stellte fest, dass er seine Ohren spitzte.
Dann drang ein lautes Wiehern aus Zitrönchens Box.
Rasch drehte Mücke sich um, so dass sie nun durch die geöffnete Boxentür hindurch auf die Stallgasse blicken konnte.
So wie Zitrönchen wieherte, konnten das nur Jo oder Oma sein, dachte Mücke und tatsächlich erkannte sie kurz darauf Oma im Licht der Stallgasse.
Oma hielt ein Stück Pizza in der Hand und als sie an Goethes Box vorbeilief, wieherte er so laut, dass alle anderen Pferde miteinstimmten.
Nur Kimba wieherte nicht. Jedoch als Oma in die Box schaute, hob er den Kopf und sah Oma mit müden Augen an.
Oma sagte kein Wort. Sie trat zu Mücke in die Box und strich mit ihren Fingern durch Kimbas Fell. Sie lief ein paarmal um ihn herum und zog immer wieder ein paar Strähnen seines Fells glatt. Dann schaute sie Mücke an.
„Das ist nicht normal“, sagte sie leise und Mücke nickte besorgt. „Seit wann ist der so?“, fragte Oma und biss ein Stück von ihrer Pizza ab.
„Noch nicht lange“, erwiderte Mücke, „aber das Fell wächst viel schneller als bei den anderen.“
Oma nickte und kaute nachdenklich ihre Pizza.
„Er hat gerade einen ganzen Eimer leer getrunken. An die Tränke wollte er nicht“, berichtete Mücke und nun trat Zitrönchen aufgeregt in seiner Box hin und her, was ein sicheres Zeichen dafür war, dass nun auch Jo im Anmarsch war.
Waren es die Möhren, die Jo in ihren Händen hielt oder war es Jo selbst, die Zitrönchen von einem Bein aufs andere treten ließ?
Vielleicht eine Mischung aus beidem, dachte Mücke und ein Lächeln huschte für einen kurzen Moment über ihr Gesicht.
„Mücke“, Jo hatte den besonderen Große-Schwester-Ton in ihrer Stimme, „wann kommst …“, doch dann verstummte sie kurz und sah entsetzt auf Kimba.
„Der ist ja immer noch so nass wie vorhin“, stellte Jo fest, trat zu Kimba, Mücke und Oma in die Box und hielt Kimba eine Möhre unter die Nase.
Zitrönchen lief nun kleine Kreise in seiner Box und wieherte leise.
„Du bekommst ja auch eine“, erklärte Jo und steckte Zitrönchen eine Möhre zu, woraufhin er sofort Ruhe gab.
„Ich habe schon gesagt, dass das nicht normal ist“, erklärte Oma und betrachtete nach wie vor nachdenklich das kleine weiße Pony.
„Er ist ja nun auch nicht mehr der Jüngste“, gab Jo zu bedenken. „Wie alt ist Kimba jetzt?“
„Sechzehn, siebzehn, vielleicht schon über zwanzig, wer weiß das schon genau?“, ertönte eine tiefe Stimme von der Stallgasse.
Als Seba die Box betrat und sein Blick auf Kimba fiel, runzelte er die Stirn.
„Als er zu mir kam, war er sieben, offiziell sieben, aber vielleicht war er auch älter oder jünger. Bei einem Pferd ohne Papiere weiß man das nie so genau“, murmelte er und nun fuhr auch er mit den Fingern durch Kimbas Fell.
„Das ist nicht gut. Das ist gar nicht gut“, bemerkte er und Oma fügte hinzu: „Herr Alvarez-Sanchez, bitte nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich glaube, bei Kimba ist etwas nicht in Ordnung.“
„Da gebe ich Ihnen recht“, gab Seba zu. „Ich habe versucht ihn zu scheren, aber ich brauche nur die Schermaschine in die Hand zu nehmen und er führt sich auf wie ein dreijähriger Junghengst.“
„Hmmmm“, Oma machte ein sehr besorgtes Gesicht, doch bevor sie etwas sagen konnte, fuhr Seba fort.
„Der Doktor kommt morgen, ich habe schon mit ihm telefoniert. Aber wir müssen uns auch mit dem Gedanken befassen, dass irgendwann die Zeit gekommen ist.“
Mückes Augen füllten sich binnen der nächsten Sekunden mit Tränen, doch sie bemühte sich ein Überlaufen zu verhindern.
Jo hielt sich nach Sebas letztem Satz erschrocken die Hand auf ihren Magen.