Dieses Buch widme ich meinen beiden großartigen, starken Kindern Samuel und Ronja.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© Katja Kaminski, 2. Auflage 2016

Illustration und Gestaltung: Anita Zinauer

Satz aus Henny Penny, © 2012, Brownfox

und Minion Pro

Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7412-3346-3

Inhalt

Mina und der Apfelkuchenheugeruch

Zart und warm blinzelte an diesem Morgen die Sonne durch Minas Fenster und kündigte die Sommerferien an. So sehr hatte sich Mina auf den Ferienbeginn gefreut, würde sie doch Oma und Opa auf ihrem Bauernhof besuchen, und ganze zwei Wochen bei ihnen verweilen dürfen.

Voller Vorfreude sprang Mina aus dem Bett, rannte die Treppen hinunter und begrüßte überschwänglich ihre Mutter, die bereits das Frühstück zubereitete.

„Guten Morgen, Mina“, sagte Mama und strich ihr übers Haar, „na, freust du dich schon auf Oma und Opa?“ Mina nickte eifrig. Sie war schon sehr lange nicht mehr auf dem Bauernhof gewesen, aber immer wieder erzählte Opa am Telefon von den neuen Tierkindern auf dem Hof und Mina konnte es kaum erwarten, sie endlich zu sehen. Mama musste in den Ferien arbeiten und wollte Mina nicht so lange allein daheim lassen. Der nahende Abschied von Mama machte Mina auch ein wenig traurig, aber schließlich war sie jetzt schon neun Jahre alt und ganz schön mutig!

Nach dem Frühstück ging es auch schon los. Minas Sachen hatten sie bereits gestern gepackt, und so saßen Mina und Mama Peps ganz schnell im Auto. Jetzt lagen zwei Stunden Autofahrt vor ihnen. Die Zeit der Reise schien sich wie Kaugummi zu ziehen, ganz zäh und laaaang. Mina gähnte. Könnte sie doch nur ein bisschen die Zeit vordrehen!

„Du wirst sicher wieder viel erleben“, sagte Peps und lächelte Mina an. Mina erwiderte das Lächeln und dachte über die vielen Arbeiten auf dem Bauernhof nach. Beim letzten Besuch durfte sie Opa bei der Kartoffelernte und dem Stallausmisten helfen und bestaunte die Tiere des Hofes. Da waren die beiden Kühe und Mattheo, der Hofhund. Und dann gab es noch Frau Braun mit ihrer Hühnerschar und Frau Rosarot.

Frau Rosarot war ein riesengroßes Schwein. Mina war sich sicher, dass es das wohl größte Schwein der Welt sein müsste.

Opa hatte vor einigen Wochen am Telefon davon erzählt, dass Frau Rosarot Kinder bekommen hatte. Ob sie jetzt wohl schon groß wären?

Während Mina so nachdachte, fielen ihr die Augen zu und bald schlief sie tief und fest.

Bis Mama Peps ihr übers Gesicht streichelte und „Miiiinaaaa, wir sind dahaha!“ sagte. Schnell riss Mina die Augen auf, öffnete die Autotüre und rannte direkt in die Arme ihrer Großeltern. Oma und Opa hatten immer diesen ganz besonderen Geruch an sich. Sie rochen nach Stall und Heu, aber auch nach Apfelkuchen. Da war sie also nun, eine glückliche Mina in offenen Armen, den warmen Sonnenstrahlen auf den weiten Feldern neben sich und diesem Apfelkuchenheugeruch. Es war ein wunderschöner Tag. Die Vögel zwitscherten, leise rauschte der zarte Wind durch das satte Grün der Blätter und Mattheo, der Hofhund, lag zufrieden in der Sonne. „Na kommt, ihr beiden!“, sagte Oma, „ich hab uns einen Kuchen gebacken!“ und ging allen voran ins alte Bauernhaus. Es gab Apfelkuchen mit Zimtsahne. Wie immer! Mina wusste gar nicht, ob Oma überhaupt anderen Kuchen backen konnte. Aber das musste sie auch gar nicht. Oma konnte andere Sachen gut. Geschichten vorlesen, der Mina das Kochen beibringen und nach Apfelkuchen riechen. Hastig schlang Mina ihren Kuchen hinunter. Sie wollte doch gleich in den Stall, um die Tiere des Hofes zu begrüßen. „Mina,“ sagte Opa, „wieso beeilst du dich denn so?“

„Die Tiere warten auf mich!“, nuschelte Mina mit vollem Mund und rannte schnell nach draußen.

Mattheo begleitete Mina mit wichtiger Miene. Mattheo war genauso alt wie Mina. Mittlerweile war er ruhig geworden, aber sie waren nach wie vor gute Freunde.

Im Stall angekommen, begrüßte Mina die beiden Kühe. Pünktchen und Schnäuzchen hießen sie. Mina hatte damals, als Opa sie auf den Hof geholt hatte, beim Aussuchen der Namen helfen dürfen. Mina streichelte jetzt die großen Köpfe und fütterte ihren Freundinnen etwas Gras aus ihrer kleinen Hand. Doch dann musste sie weiter, schließlich gab es ja noch Familie Rosarot, die sicher begrüßt werden wollte. Und da sah sie Frau Rosarot auch schon. Leise grunzend kam sie auf Mina zu und ließ sich den Kopf streicheln. „Aber Frau Rosarot,“ rief Mina, „wo sind denn deine Kinder?“

Mina suchte und suchte, doch sie fand sie einfach nicht. Und auch das Kalb, von dem Opa neulich noch erzählt hatte, war nicht auffindbar. Wenigstens Frau Braun stolzierte gackernd mit ihrer Hühnerbande über den Hof und ließ sich von all der Aufregung nicht beeindrucken.

Eine sehr verwirrte Mina trottete mit Mattheo ins Bauernhaus und fragte: „Opa, wo sind die Ferkel von Frau Rosarot? Und das Kind von Schnäuzchen, von dem du mir neulich noch erzählt hast?!“ Opa schluckte. Mina sah das ganz genau. Opa sagte nichts, gar nichts. Oma stand auf und räumte das schmutzige Geschirr in die Küche. Mama Peps warf Opa einen scharfen Blick zu und fragte: „Wieso antwortest du ihr nicht?“ Dann ging sie wortlos in die Küche zur Oma.

Jetzt endlich tat Opa etwas. Er räusperte sich und sagte laut: „Weißt du, die Ferkel waren ja jetzt schon groß genug. Ebenso wie das Kalb!“ Mina schüttelte den Kopf. Sie verstand nicht, was er mit „groß genug“ sagen wollte. „Hä?“, rief sie und sah ihren Opa verständnislos an. Opa erklärte: „Naja, Pünktchen und Schnäuzchen bekommen Kälber. Immer wieder. Die Kälber brauchen wir, weil uns die Kühe sonst keine Milch geben können. Und wenn die Kälber größer werden, verkaufe ich sie. Sie kommen dann auf einen anderen Hof und werden gemästet.“

Jetzt schaute Mina noch verständnisloser. „Wie“, fragte sie, „wieso müssen die Kühe dir denn die Milch geben? Die Milch trinkt doch das Kind! Und warum verkaufst du die Kälber? Würdest du mich auch verkaufen? Was heißt „gemästet“? Und wo sind die Kinder von Frau Rosarot?“

Die Fragen in Minas Kopf schienen sich förmlich zu überschlagen.

Opa räusperte sich abermals und antwortete: „Mina, die Milch schenkt die Kuh dem Menschen. Das Kalb kommt von der Mutter weg, weil es sonst ja alles wegtrinken würde. Und wenn das Kalb groß genug ist, dann ... dann ... auf jeden Fall mussten auch die Ferkel weg. Sie nahmen hier viel Platz ein und wohnen jetzt gar nicht weit von hier entfernt.“

Wieder schüttelte Mina den Kopf. Die Tiere des Hofes waren doch ihre Freunde. Wie konnte Opa denn Freunde verkaufen – einfach nur für Geld?

„Aber“, sagte Mina, und die Traurigkeit stand ihr dabei ins Gesicht geschrieben, „wie soll das Kalb euch denn alles wegtrinken? Das würde ja heißen, die Milch gehöre dir. Aber das tut sie doch gar nicht, weil das Kalb das Baby ist. Also gehört die Milch dem Baby und du klaust sie. Und dann klaust du dem Schnäuzchen auch noch ihr Kind und verkaufst es einfach!“ Mina sah jetzt sehr, sehr wütend aus. Ihr Kopf war ganz rot und ihre Augen brannten. Eigentlich musste sie jetzt weinen, aber sie kämpfte mit aller Kraft dagegen an.

„Was passiert jetzt mit Schnäuzchens Baby, wo ist es? Und wo sind die Kinder von Frau Rosarot?“, fragte sie.

„Mina,“ sagte Opa sanft und legte seine Hand auf ihre, „Tiere sind nicht nur zum Liebhaben da. Der Mensch lebt auch von ihnen. Wir trinken Milch, essen Eier und Fleisch, wir nutzen Wolle, Leder und Seide. All das liefern uns die Tiere. Aber dafür muss man sich manchmal eben auch von ihnen verabschieden.“ Jetzt platzten die Tränen aus Minas Augen heraus und sie konnte Opa nicht mehr sehen. Gar nicht mehr! Vielleicht sogar nie wieder.

Mina rannte aus dem Haus und versteckte sich im Stall. Schnäuzchen lag im Stroh und kaute ruhig vor sich hin. Mina lehnte sich an ihren großen Bauch und schluchzte leise. „Ach, wenn ich das gewusst hätte ...“, wimmerte sie und fühlte sich so schuldig. Schließlich wusste sie doch auch, dass sie vorhin noch Omas Kuchen mit der leckeren Zimtsahne gegessen hatte. Und sie wusste, dass Oma ihren Kuchenteig immer mit Milch anrührte und auch die Sahne selbst herstellte. Jetzt ging ihr so viel durch den Kopf. Musste Schnäuzchens Baby für den blöden Kuchen verkauft werden? Es würde seine Mama doch sicher vermissen. Wenn Peps nicht da war, vermisste Mina sie ja auch immer. Und Peps vermisste Mina. Also vermisste Schnäuzchen jetzt sicher auch ihr Kalb und war sehr traurig.

Auch Minas Traurigkeit war schwer wie ein Felsbrocken. Ganz, ganz schwer fühlte sie sich. Und so schuldig. Sie musste dem Schnäuzchen doch jetzt Trost spenden!

Auf einmal hörte sie Schritte im Stall. Sie hielt die Luft an und drückte sich fest an Schnäuzchens Bauch. Doch es brachte nichts, Oma fand sie sofort.

„Ach Mina“, sagte Oma ruhig und lieb, wie sie immer war, „manche Dinge im Leben kommen einfach, wie sie kommen. Und auch, wenn sie einen mal traurig machen, so kann man sie doch nicht ändern.“

Jetzt spürte Mina wieder diese Wut. „Doch!“, sagte sie laut und bestimmt, „man KANN es ändern! Ihr müsst keine Milch und Kälbchen von Schnäuzchen klauen. Und ihr müsst Frau Rosarots Kinder nicht verkaufen. Ihr müsst keine Eier von der Frau Braun und ihren Freundinnen essen. Ihr WOLLT es!“ Mina wusste das ganz genau. Schließlich aß Mama Peps schon ganz lange nichts mehr, was von Tieren kam! Morgens goss Mama sich immer Hafermilch in den Kaffee und die schmeckte der Mina ganz lecker. Wurst und Käse aß sie auch nicht, dafür andere leckere Dinge. Und sie kaufte auch nie Schuhe oder Taschen aus Leder, Jacken mit Pelzkrägen oder Seife mit Honig. Mina hatte das manchmal komisch gefunden, aber jetzt wusste sie plötzlich, was Peps ihr hatte sagen wollen, als sie neulich zu ihr sprach: „Ich mag nicht über den Tieren stehen. Ich will neben ihnen herlaufen, als Freundin. Ich will sie beschützen, weil Menschen manchmal grausam sind.“ Als Peps ihr das erzählt hatte, hatte Mina gerade rausgehen und Fußball spielen wollen. Also hatte sie gar nicht weiter nachgefragt. Jetzt ärgerte sie sich darüber. Und sie ärgerte sich, weil sie wusste, dass Oma und Opa der Peps nie einen Kuchen ohne Milch, Eier und Sahne anboten. Es machte sie wütend, dass man ihr keine Wahl ließ. Entweder aß sie den doofen Kuchen, für den Kälbchen verkauft und Milch geklaut wurde, oder sie bekam eben gar nichts.

Wieder schossen ihr die Tränen in die Augen. Oma stand bei ihr. Mina hatte gar nicht bemerkt, dass sie ihren Arm um sie gelegt hatte, um ihr Trost zu spenden. Sie vergrub sie ihr Gesicht tief in Omas Strickjacke. Da war er wieder – der Duft des Apfelkuchens. Jetzt fand Mina das gar nicht mehr lecker.

„Oma,“ schluchzte Mina, „bitte erfüll mir meinen größten Wunsch!“

Oma legte den Kopf schief, zwinkerte und wartete gespannt. „Ich will,“ fuhr Mina fort, „dass wir Schnäuzchens Kalb und die Kinder von Frau Rosarot zurückholen! Du darfst einem Baby keine Milch klauen. Und du darfst auch keine Kinder verkaufen. Mama kann auch Kuchen backen. Ganz ohne zu klauen. Du hast selbst gesagt, dass ihr euer Geld mit dem Gemüseanbau verdient. Bitte, bitte, lasst meine Freunde hier leben und holt die Kinder zurück.“

Oma sah ganz komisch aus. Jetzt erst fiel Mina auf, dass Oma auch traurig aussehen konnte. Oma seufzte und auf einmal blitzte auch in ihren Augen etwas auf. Sanft streichelte sie Schnäuzchens Kopf und sagte „Entschuldigung, Schnäuzchen!“ Als sie weiterreden wollte, war da wieder dieses laute, bekannte Räuspern. Oma und Mina drehten sich um. Opa und Mama Peps waren längst in den Stall gekommen und hatten alles mitgehört. Peps lächelte, umarmte Mina und sagte: „Du bist großartig! Du hast einiges verstanden, was viele Erwachsene nie verstehen werden.