Wir werden ungefragt ins Dasein gestellt.
Gib Antwort:
Was machst Du aus Dir und Deiner Welt?
1
Es ging ihm nicht darum, die Verhältnisse zu bessern, den Menschen zu helfen oder ein Ideal zu verwirklichen. Es ging ihm darum zu brillieren, Beachtung zu finden, wirkungsvoll in Erscheinung zu treten. Er war ein bekannter Strafverteidiger in einer Millionenstadt. Er verteidigte nach den Möglichkeiten des Gesetzes, verstand es aber, den Wortlaut und den Sinn des Gesetzes nach eigenem Gusto zu interpretieren. Sein Erfolgsmaßstab war die gefühlte Selbstbestätigung. Die zu erlangen war in seinem Beruf schwierig. Die Gerichte folgten seinen mit Verve vorgetragenen Argumenten nur selten, wiesen häufig seine Beweisanträge zurück oder erklärten sie für unzulässig. So hatte er fortwährend existentiellen Frust zu ertragen. Er reagierte auf die Versagungen auf formalrechtlicher Ebene mit der Taktik der Prozessverschleppung. Im vertraulich-persönlichem Gespräch fand er nur selten anerkennenswerte Worte für Richter und Staatsanwälte. In seinem Stolz verletzt, charakterisierte er sie so, wie er selbst war: rechthaberisch. Er reflektierte nicht, dass er nicht Recht oder Unrecht, Wahrheit oder Unwahrheit, Schuld oder Sühne vertrat, sondern sein narzisstisches Ich. Im Zorn verstieg er sich zu unbedachten Äußerungen. Seine Kontrahenten würden die Würde seiner Mandanten missachten oder hätten erkennbar Vorurteile gegen sie. Sein forsches Auftreten vor Gericht machten ihn bei Straftätern bekannt und bei seinen Mandanten beliebt. Als Anwalt agierte er in der jeweiligen Sache nicht aus innerer Überzeugung. Er identifizierte sich mühelos mit Beschuldigten und Verurteilten. Das fiel ihm leicht, denn er hatte keine verinnerlichte und verfestigte Überzeugung. So ließ er sich leiten, managte sich selbst, war erfolgreich und verfehlte doch seine Bestimmung.
2
Staatsanwalt Agon mochte etwa fünfundvierzig Jahre alt sein. Hochgewachsen und schlank, war an ihm alles feingliedrig. Der Korpus, die Hände, die schmale Kopfform. Er trug eine Brille, seine Augen blickten freundlich und lebhaft. Die Augenfältchen verrieten, dass er gern lachte. Seine leise und beruhigende Sprechweise, seine verhaltene Mimik und Gestik charakterisierten ihn vom ersten Eindruck her als offen, zugänglich und besonnen. Ihm gegenüber saß ein junger Mann. Der Staatsanwalt wollte ihn persönlich vernehmen, zum einen, weil der Beschuldigte Sohn eines renommierten Strafverteidigers, zum anderen, weil die Sache von besonderem öffentlichen Interesse war. Herr Agon eröffnete das Gespräch mit der vorgeschriebenen Belehrung. Jeder Beschuldigte habe das Recht zu schweigen und brauche weder zur Sache noch zu anderen Themen aussagen.
„Sie heißen Johannes F. Und wurden am 05.08.1994 in Göttingen geboren?“
„Nein.“
„Was ist daran falsch?“
„Ich heiße Muhamed Abuiada.“
„Ihr Pass weist Sie als Johannes F. aus.“
„Das war ich in der Vergangenheit. Im Irak bin ich zum Islam konvertiert und habe als neuen Vornamen Muhamed und als Familiennamen Abuiada angenommen. Muhamed als Ausdruck meiner Bereitschaft zur Nachfolge des Propheten und Abuiada als Ausdruck meiner Verehrung zu meinem damaligen Hodscha und Kommandeur. Abuiada bedeutet Vater des Apothekers. Ich bitte Sie, mich mit Muhamed anzusprechen.“
„Muhamed, Sie sind in Göttingen zur Welt gekommen, darf ich etwas über Ihre Familie erfahren?“ „Ja, mein Vater ist Anwalt, meine Mutter ist Hausfrau. Ich habe noch zwei jüngere Geschwister, einen Bruder und eine Schwester. Unsere Erziehung war ganz auf Leistung abgestellt. Wir hatten auch nur Freunde aus der besseren Gesellschaft. Wir wurden modisch gekleidet und trugen nur Designerklamotten. Die Ferien verbrachten wir sommers auf Mallorca, in den Emiraten, an der Nordsee oder sonst wo, winters fuhren wir in die Alpen zum Ski fahren. An den Wochenenden bereisten wir Berlin, Paris, London oder Rom. Das war Livestyle und verschaffte Ansehen. Tatsächlich waren wir gejagt, gehetzt und gestresst. Als Kind betrachtete ich bei den Großeltern oft die Bronze eines Buddha. Es ist ein Ruhe-und Besinnungsbild, dass Friede und Gelassenheit den Menschen verspricht, wenn sie in sich selber wohnen und frei von Wünschen sind. Das kannten wir nicht. Nach jedem erfüllten Wunsch meldeten wir neue Wünsche an.“
Der Staatsanwalt wandte ein. “Es klingt vorwurfsvoll, was Sie sagen. Ihre Eltern haben Ihnen ein sorgloses und abwechslungsreiches Leben geboten. Ausdruck ihrer Liebe. Irgendwie doch beneidenswert.“
„Das mag sein. Auf jeden Fall war ich froh, als ich nach dem Abitur das Elternhaus verlassen konnte und in Freiburg mein Studium antrat. Ich bezog dort ein Zimmer in der Kronenstraße, nur wenige Gehminuten von der Uni entfernt. Ich schrieb mich für Geschichte und Arabistik ein und fand endlich Zeit zum Lesen und zum Nachdenken. Im Rahmen des studium generale hörte ich Vorlesungen aus allen Gebieten der Wissenschaft. Mein Gesichtskreis erweiterte sich. Ich beteiligte mich an Diskussionen in wissenschaftlichen, politischen und religiösen Seminaren und Zirkeln. Mir wurde mit Erschrecken bewusst, dass wir in einem christlich geprägten Land leben und uns darauf berufen, aber keine Christen sind. Wir glauben nicht mehr an einen Gott. Gott ist tot. Er gilt als erdachte Symbolfigur. Es habe nie einen Gott gegeben, der uns den Odem des Lebens eingehaucht, die zehn Gebote aufgeschrieben und die Auferstehung nach dem Tode versprochen habe. Mit dem Abgesang Gottes sind Glaubensinhalte und letzte Werte hinfällig geworden. Nichts ist mehr heilig, unantastbar und zeitlos gültig. Der Schwur ist brüchig, die Wahrheit ist relativ, das werdende und das sterbende Leben ist frei verfügbar geworden. Es werden von den scheinbar legitimierten Herrschenden Gesetze erlassen, an die sie sich selbst nicht halten und je nach Interessenlage, Nützlichkeit oder Mehrheitsmeinung modifiziert, verworfen oder inhaltlich neu geschrieben werden. Die Medien werden manipuliert. Ich habe erkannt, dass wir in einer absterbenden Gesellschaft leben, weil uns der Zukunftsglaube abhanden gekommen ist und uns Geistigkeit und Zukunftsvisionen fehlen. Wir leben auf Kosten anderer im materiellen Überfluss und vergessen, dass der Mensch nicht nur vom Brot allein lebt. Wir diskutieren nicht über zukünftige Sozialordnungen, über das Endschicksal von Mensch und Welt und über die letzten Dinge, sondern einfältig über Urlaub, Auto, Mode, Fernsehen und seine Stars. Man will den Tod nicht wahr haben, schaut weg und sieht nicht den gefräßigen Schlund, der alles Geistige verschlingt. Man stürzt sich in die Lustbarkeit und betet zu den Götzen des Erfolgs, der Macht und des Geldes, beschwört das Bewusstsein als Funktion der Materie, eilt dem Tod voran mit Euthanasie oder lässt sich als Höhepunkt der Dummheit für die Ewigkeit vereisen. Es ist parfümierte Fäulnis ohne humanes Ziel und Überlebenswahrheit. Deshalb das Aufbegehren junger Menschen. Sie wollen eine bessere Welt.
Eines Tages nahm ich in der Institutsbibliothek den Koran zur Hand, schlug ihn auf und war beeindruckt von seinem Inhalt und seiner Sprache. Die Sprache ist in Teilen gewalttätig und erotisch, poetisch und spirituell. Sie malt mit kräftigen Farben geheimnisvolle Bilder in die Seelen der Menschen. Wer des Arabischen mächtig ist, wird durch ihre sprachliche Rhythmik, Lautmalerei und Melodik in Bann geschlagen und fasziniert allein dadurch. Mir schien, dass hier die Einheit von Mensch, Geist und Welt beschworen wird. Ich setzte mich intensiver mit dem Islam auseinander, vervollkommnte meine arabischen Sprachkenntnisse und beschloss, zu den Erbauern des Islamischen Staates zu reisen, um mich zu überzeugen, ob es den Gotteskriegern gelingt, ihre Utopie von Gerechtigkeit, Frieden und Brüderlichkeit in eine staatliche Ordnung zeitgemäß zu gießen. Ich möchte es anders ausdrücken. Ich wollte die Gesellschaft sehen, wo Gott zu Hause ist.
Ich hatte viel Schlimmes von den Dschihadisten gelesen und gehört und doch zog mich diese Welt an, wie früher als Kind das Dunkle, Bedrohliche und Unbekannte und später das Anzügliche, Ordinäre und Sexuelle. Mich erfassten wie in der Kindheit Zagen, Zögern und Furcht und konnte es doch nicht lassen, das Wagnis in einer Mischung von Angst und Lust, Neugier und Beklommenheit einzugehen in der unbedachten Überzeugung, jederzeit allen Gefahren entfliehen und mich retten zu können. Dem Phantom vom schwarzen Mann aus meiner Kindheit fühlte ich mich gewachsen.“
Der Staatsanwalt hakte ein. “Muhamed, ich möchte jetzt auf eventuelle strafbare Handlungen Ihrerseits zu sprechen kommen. Nochmals, Sie brauchen nichts zu sagen, was Sie belasten könnte. Denn alles, was Sie mir berichten, könnte gegen Sie verwendet werden. Wie wollen Sie es halten?“
„Ich habe nichts zu verschweigen. Ich werde die Wahrheit auch nicht verbiegen. Es war so. Vor etwa achtzehn Monaten flog ich nach Istanbul und reiste mit dem Zug nach Ocharca. Das ist eine kurdische Kleinstadt an der Grenze zum Irak. Ich hatte mir einen Bart wachsen lassen, trug ein Kappi und dunkle Kleidung. Die nötigste Habe hatte ich in einen Rucksack verstaut. In Ocharca übernachtete ich in einer kleinen Herberge bei einer türkischen Familie. Sie wiesen mir den Weg zur Grenze, die ich nach einem längeren Fußmarsch erreichte. Im Grenzhäuschen wurde ich von den türkischen Grenzsoldaten mit Gelächter begrüßt. “Schon wieder so ein Verrückter, der sich erschießen lassen will.“Sie beschrieben mir aber, wo ich vermutlich die Gotteskrieger antreffen könnte. Beim Abschied forderten sie mich auf, im Kampf möglichst viele Kurden zu töten, so nähme ich ihnen Arbeit ab.
Ich betrat irakisches Hoheitsgebiet, marschierte tags und nachts, wie es meine Kräfte zuließen und hoffte, auf befriedetes Land des Gottesstaates alsbald zu stoßen. Am dritten Tag kam ich in ein verlassenes Dorf. Einige Häuser waren ausgebrannt oder zerstört. Ich beschloss, in einem offen stehenden Haus zu übernachten. Mitten im Schlaf wurde ich von lautem Lärm geweckt. Noch während ich unschlüssig um mich blickte, forderte mich eine Stimme barsch auf aufzustehen und die Hände zu erheben. Vermummte Gestalten umzingelten mich, tasteten mich ab und führten mich wortlos in ihrer Mitte an das Ende des Dorfes in eine kleine Moschee. Ich hatte keine Zweifel, dass mich Gotteskrieger aufgespürt hatten. Ich wurde von zwei Kriegern in eine Ecke des Gotteshauses gebracht und dort von ihnen bewacht. In der Mitte der Moschee sassen fünf Männer in einem Kreis und diskutierten. Ich konnte nicht hören, was sie besprachen. Kurz vor Sonnenaufgang führte man mich zu ihnen. Der Anführer fragte mich nach Namen, Herkunft und Zweck meiner Reise. Ich antwortete ihm auf Arabisch. Meine Antworten befriedigten ihn nicht. Er lächelte ungläubig und teilte mir mit, dass ich zum Tode verurteilt worden sei. Der Kriegsrat sei nach Rücksprache mit dem Oberkommando zur Überzeugung gelangt, dass ich als Spion in das Kriegsgebiet eingedrungen sei, um Größe, Bewaffnung und Bewegung der islamischen Befreiungsarmee auszukundschaften. Ich sei ihnen nicht von der deutschen Rekrutierungszentrale als Kämpfer gemeldet worden. In Kriegszeiten stehe überall auf Spionage die Todesstrafe. Man zerrte mich vor eine Mauer der Moschee, sechs Krieger postierten sich mir gegenüber in einem Abstand von etwa acht Metern. Mir wurden die Augen verbunden, ich konnte mich aber in die Himmelsrichtung nach Mekka drehen und rief verzweifelt mit sich überschlagender Stimme in der Art eines Muezzin den Text einer Sure, der mir gerade einfiel:“Im Namen Allahs, des Allbarmherzigen. Alles, was im Himmel und auf Erden ist, preist Allah. Sein ist das Reich und ihm gebührt Lob, denn er ist aller Dinge mächtig. Er ist es, der euch erschaffen hat, und wenn einige von euch ungläubig, andere gläubig sind, so sieht Allah all euer Tun. Er hat Himmel und Erde in Wahrheit erschaffen, er hat euch gebildet und euch eure schöne Gestalt gegeben und zu ihm kehrt ihr zurück….“
Die Kämpfer blickten überrascht zum Kommandeur, der zugleich ihr Hodscha war. Der verkündete mit lauter Stimme:“Er ist kein Spion, er ist kein Ungläubiger, er ist ein Bruder, ein Soldat Allahs, der die Wahrheit sucht..“In diesem Moment erwachte der Tag mit seinen ersten Sonnenstrahlen. Wir sanken alle zum Gebet auf die Erde nieder und ich dankte Gott aus ganzem Herzen für meine Rettung. Der Hodscha hielt nach dem Gebet eine kurze Ansprache, danach umarmten und küssten mich alle Kämpfer als einen der ihren. Die Kampfeinheit, zu der ich zufällig gestoßen war, bestand aus vierundzwanzig Mann und dem Kommandeur. Sie verfügte über acht Jeeps mit aufmontierten Maschinengewehren. Jeder Krieger war mit einer Kalaschnikow ausgerüstet. Einige Jeeps waren mit Landminen und Handgranaten beladen. Es handelte sich um eine motorisierte Sondereinheit, die über Funk mit dem islamischen Militärrat verbunden war und von dort ihre Einsatzbefehle erhielt. Ihre Aufgabe bestand darin, die verstreuten Dörfer im Nordirak zu befrieden, das heißt, die Schiiten zu bekehren, die Ungläubigen zu vertreiben und bei Widerstand zu töten. Friede und Sicherheit sollten durch strenge Anwendung des Schariats erreicht werden. Ich selbst wurde an Waffen und für den Nahkampf ausgebildet. Die Dorfbewohner dieses Landstrichs, meist friedfertige und unbewaffnete Bauern, waren unserer schwer bewaffneten Truppe hilflos ausgeliefert. Sie fügten sich widerstandslos den Anordnungen und konvertierten zum Sunnitentum. Wo es Teile der irakischen Armee gab, liefen die Soldaten scharenweise mit ihrer Ausrüstung zu den Gotteskriegern über. Es war ein Kinderspiel, große Landstriche zu erobern und dem Islamischen Staat einzugliedern. Nur die Kurden leisteten Widerstand und hatten dafür zu büßen. Vom Äußeren sah unsere Einheit wie ein Haufen entlaufener Sträflinge aus. Wir waren nicht einheitlich uniformiert, jeder Krieger bemühte sich, möglichst wild und Schrecken erregend in Erscheinung zu treten.
Unser Kommandeur, so spürte ich, mochte mich. Er setzte mich als Fahrer seines Jeeps ein und erreichte beim Militärrat, dass ich nicht der islamischen Fremdenlegion zugeteilt wurde. In seinem Wesen unterschied er sich von den anderen Gotteskriegern. Ich sah ihn nie einen Menschen töten. In Kurdengebieten ermöglichte er den Kurden die Flucht mit der Begründung aus der fünften Sure, wer Gnade übt, den werde Allah reich belohnen. Und Blut vergießen, das scheue der Gläubige. Der Hodscha und ich unterhielten uns oft bei den Fahrten durch das karge Land. Wir fassten Vertrauen zueinander. Er befragte mich immer wieder, was mich zu den Dschihadisten getrieben habe. Er schien das nicht verstehen zu können. Ich brachte ihm meine Entscheidung mit Bildern nahe:„Ich stand in Deutschland an einer Kreuzung mit vielen Schildern. Sie wiesen in verschiedene Richtungen, aber auf allen stand geschrieben, wo du nicht bist, da wohnt das Glück. Ich verstand nicht und fragte nach. Man sagte mir, laufe nur, egal wohin du gehst, der Weg ist das Ziel. Solche Antwort war mir zu oberflächlich. Dahinter verbirgt sich unter dem Schein des Wissens Unwissenheit. Bei euch, den Gläubigen, hoffe ich Erkenntnis zu finden.“
Der Hodscha belehrte mich:“Johann, jede Kunst hat seine eigene Wahrheit. Der Mensch trägt von klein auf ein Bild in sich, was er sein möchte, ohne sich dessen unbedingt bewusst zu sein. In jeder Altersstufe malt er sich ungelenk, verwirft sich und strebt mit zunehmender Reife, Unruhe und Ungeduld an, das Große, das Gute, das Wahre zu sein und zu vollbringen. Aber er tappt im Dunkeln und sieht wie ein Blinder das Nächstliegende nicht. Wie ein Narr lehnt er mit Leidenschaft das Gewachsene ab und sieht als Hemmnis an, wozu er erzogen worden ist. Er leidet unter sich und seiner Welt, macht sich mutig und kampfbereit, alle Geheimnisse zu entschlüsseln und die Welt ideal zu gestalten. Er wähnt sich in der Nacht und vertraut dem kommenden Tag. Johann, es ist das Recht deines Alters, den verborgenen Schatz aufspüren und heben zu wollen. Mich beruhigt, dass du nicht in unser Land gekommen bist, um zu morden und zu schänden. Viele Europäer fallen ein, um ihre sadistischen Triebe ausleben zu können. Zeiten des Krieges sind immer Hochzeiten für Perverse. Allah wird sie bestrafen, er wird sie in die Hölle ewiger Qualen verdammen. Du aber mache dir bewusst, du bist jung, du bist ein Idealist und verlierst dich in Illusionen. Gerechtigkeit und Wahrheit sind gedankliche Abstraktionen, die in der Wirklichkeit es in Vollkommenheit nicht gibt. Niemand darf sich im Besitz der reinen Wahrheit wähnen. Unwissenheit und Verblendung hindern unser Ringen, wie Gerechtigkeit konkret zu verwirklichen ist. Stelle dich der Wirklichkeit und lass ab von deinem Wunschdenken.“
Bei anderer Gelegenheit offenbarte er mir seine Situation mit ungeschützter Freimütigkeit.„Ich bin von Beruf Ingenieur und habe auf den Ölfeldern von Bai Hassan gearbeitet. Die Horden des selbsternannten Kalifen überfielen uns und nahmen mich, meine Frau und meine vier Kinder gefangen. Um nicht getötet zu werden, erklärte ich mich bereit, dem IS als Soldat zu dienen. So rettete ich mein Leben und das Leben meiner Frau und meiner Kinder.“Von nun an sah ich meinen Kommandeur mit anderen Augen. Ich wurde gewahr, dass dieser gebildete, humorvolle und scheinbar lebensbejahende Mann sich fassadierte. Eines nachts schlief ich im Nachbarzelt neben ihm. Ich hörte ihn schreien. Ich ergriff meine Waffe und stürmte in sein Zelt. Er kämpfte offenbar im Schlaf. Er stieß unverständliche Worte aus und schlug und trat um sich. Ich rüttelte ihn wach und fragte, was los sei. Er murmelte:“Es ist der Tod. Er kommt zu mir leibhaftig. “Ohne auf ihn weiter einzudringen, entfernte ich mich.
Nach der Einnahme eines Dorfes saßen wir auf einem Brunnenrand. Wir rauchten und beobachteten, wie die Bewohner ihren Kotau vor dem stellvertretenden Kommandeur machten und Treue und Gehorsam dem Gottesstaat gelobten. Ohne erkennbaren Anlass vertraute mir mein Kommandeur an: “Im Traum steige ich Stufe um Stufe in einem mir unbekannten Hause tiefer in das finstere und Atem erschwerende Gewölbe. Ich sehe, wie gesichtslose Kraken meine Frau ergreifen und dann meine Kinder. Sie würgen sie und mir ist, als würgten sie mich. Ich ringe nach Luft und kämpfe um mein Leben. Ich kämpfe für sie. Auch hier. Mein lieber Johann, wir befinden uns im abgründigsten Dunkel der Welt. Das Leben hier ist tödliche Nacht und lebensfeindliche und unbegrenzte Wüste, in der jeder Sinn, jede Hoffnung, jedes Ziel verdorrt. Weißt du, es gibt in meinem Leben keine Spanne, in der ich nicht dem Tode begegnet wäre. Er ist wie mein Schatten ständig gegenwärtig und verantwortlich für meine Spiritualität.
Schon als Kind, als mein Vater von den Schergen Saddam Husseins zu Tode gefoltert wurde und meine Mutter sich das Leben nahm, habe ich begriffen, dass sich unser Dasein auf einem riesigen Altar abspielt, auf dem die Unschuldigen geopfert werden, immer wieder, ohne Maß und ohne Unterbrechung. Die Menschen sind dabei die Gehilfen ihrer Schlächter. Sie sind glücklich, wenn ihnen das Paradies schon im Diesseits versprochen wird und sind verzweifelt, wenn sie im letzten Augenblick erkennen, dass sie selbst ihren Henker gemästet haben, der sie zur Hinrichtung führt. Johann, verschwinde von hier, sobald du Gelegenheit dazu hast. Bei den Islamisten wartet der Tod auf dich. Wenn du deine Schuldigkeit getan hast und du ihnen nicht mehr nützlich bist, werden sie dich erschießen. Sie wollen nicht, dass du in deinem Land bezeugst, dass sie nicht Gottes Kinder sind, sondern des Teufels Werkzeug.“
“Herr Staatsanwalt, Sie können sich denken, wie irritiert ich von den Worten dieses Mannes war. Damals konnte ich ihm nicht glauben. Meine Meinung änderte sich, als ich ihn in einer Ruhepause fragte, warum er bei Kämpfen in vorderster Linie stehe und sein Leben aufs Spiel setze. Seine Antwort erschütterte mich:“Ich liebe meine Frau und meine Kinder über alles. Wenn ich von den Ungläubigen getötet werde, bin ich für die Islamisten ein Märtyrer. Sie brauchen meine Familie nicht mehr als Geiseln, sie kommt frei und wird überleben. Fliehe ich, sind sie des Todes.“Ich zögerte:“Sie suchen den Opfertod?“ Er antwortete ausweichend und doch eindeutig:“Es ist menschlich zu trauern und sich zu freuen, es ist menschlich, zu hoffen und Menschen zu lieben. Das Stärkste sind aber nicht unsere vergänglichen Gefühle, das Stärkste ist der über uns hinausweisende Glaube an die Macht der Liebe. Die Liebe der Menschen zueinander ist unabdingbar und der einzige Weg, um der Liebe Gottes teilhaftig zu werden. Dieser Glaube ist das Beste, was wir weitergeben können. Es ist vielleicht der Sinn unseres Hierseins. Freilich, Erkenntnis und Wahrheit können nicht gelehrt werden, jeder findet sie nur in sich und durch sich selbst. Die Wirklichkeit göttlicher Einheit ist nur durch persönliche und unmittelbare Erfahrung zu begreifen.“Ich wandte mich ihm zu und sah, dass seine Hände sich zu Fäusten ballten und er ein Zittern seines Körpers nicht unterdrücken konnte. Seine Augen hatten sich verdunkelt. Ich ahnte, welche Kämpfe er in sich austrug. Innerlich bewegt bat ich den Hodscha, mich zu adoptieren und mir seinen Namen zu schenken. Er ergriff mein Handgelenk und streifte mir einen Armreif über, der aus fünf schwarzen Elefantenhaaren geflochten ist und mit vier Goldklammern zusammen gehalten wird. Sehen Sie, Herr Staatsanwalt, ich trage den Schmuck auch jetzt. Mein Adoptivvater äußerte bei der Übergabe des Geschenks, Elefantenhaare seien Glücksbringer. Glück sei für mich lebenserhaltender als Wasser. Nun wissen Sie, wie ich zu dem Namen Abuiada gekommen bin.“
Muhamed wischte sich verschämt Tränen aus den Augen. Staatsanwalt Agon betrachtete nachdenklich dieses noch kindliche, überreife Gesicht seines Gegenüber und glaubte, dessen Wesen in seiner Naivität und Suche nach Erkenntnis und Wahrheit zu verstehen. Es erinnerte ihn an seine eigene Studentenzeit. Insgeheim wünschte er, dass Muhamed seine Aussage nun beenden würde und suggerierte:“Das ist also die Geschichte Ihrer Irrfahrt. Ich werde einen entsprechenden Aktenvermerk anfertigen.“
„Nein, Herr Staatsanwalt, es ist erst der Anfang. Entschuldigen Sie, dass ich mich nicht kürzer gefasst habe. Jetzt will ich es versuchen. Damals wurde mir mit Erschrecken bewusst, dass ich ein Teil des Unrechts und der Unmenschlichkeit bin. Dennoch kämpfte ich weiter, ließ Mord, Folter und Vertreibung zu, befolgte alle Befehle aus Furcht und hasste mich dafür. Es war die Furcht, mein Leben zu verlieren. Es war mir mehr wert als mein Gewissen. Ich fürchtete, im Kampf zu fallen, ich fürchtete, erschossen zu werden, wenn ich nicht kämpfe, ich fürchtete, hingerichtet zu werden, wenn ich desertiere. Mir war klar, dass ich mich selbst in diese Notlage gebracht und mich aus freien Stücken in diese Verbrecherbande eingereiht hatte. Aus zeitlicher und örtlicher Ferne predigt sich Moral ganz leicht. Da ist man oberschlau. Man bedenkt nicht, dass von jeder Situation eine stille und unsichtbare Kraft ausgeht, die unbewusst und unwiderstehlich unsere Wahrnehmung, unser Denken und unser Fühlen mit sich reißt, dem wir uns nicht entziehen können. In der Realität will jeder überleben, wendet sich ab vom tatsächlichen Geschehen, ohne sich selbst zu hinterfragen. Ich stellte mich meiner Schuld und sah doch keinen anderen Ausweg, als weiter mitzumachen. Nach unseren Gesprächen fühlte ich mich meinem Kommandeur innerlich verbunden. Ich verehre ihn noch heute.
Als wir einige Tage später uns einem kurdischem Dorf näherten, wurden wir von dort beschossen. Frauen und Kinder des Dorfes waren geflohen, einige wehrfähige Männer verteidigten ihr Hab und Gut. Wir eroberten den Ort und nahmen sieben Kurden gefangen. Sie wurden verhört, dabei geschlagen und gefoltert, verrieten aber nicht, wohin die anderen Dorfbewohner geflüchtet waren. Ich wurde zum ersten Male in die Todesmühle der Islamisten hineingezogen. Die Gefangenen mussten sich vor eine Hausmauer stellen, zehn Kämpfer wurden bestimmt, sie zu erschießen. Ich gehörte dazu. Vor der Exekution weinte ein Fünfzehnjähriger kläglich und bat um sein Leben. Ein Gefangener verfluchte uns im Namen Allahs, acht Gefangene starben aufrecht und tapfer. Ich konnte mein Körperbeben nicht unterdrücken. Erst nachträglich erinnerte ich mich, dass ich das Vaterunser auf Deutsch gesprochen und gefleht hatte, Gott möge mir meine Schuld vergeben. Ich fühlte mich schuldig, weil ich willfährig und ohne Widerspruch dem Befehl gefolgt war und keinen Versuch unternommen hatte, das Leben der Männer zu retten. Vor der Erschießung war uns befohlen worden, die Kalaschnikows auf Dauerfeuer einzustellen. Nach dem Schießkommando schoss ich in die Luft. Ich nahm noch die Salven wahr, sah, wie die Körper der Männer gegen die Wand geschleudert wurden. Dann musste ich mich übergeben. Meine Mitkämpfer lachten, mein Adoptivvater kam zu mir, legte seinen Arm um mich, geleitete mich abseits und ermahnte mich, im Falle nochmaliger Erschießungen nur wenig über die Köpfe oder neben die Körper der Verurteilten zu zielen, wenn ich nicht selbst exekutiert werden wolle. Meine Befehlsverweigerung sei zu offensichtlich gewesen.
Je tiefer wir in das Kurdengebiet eindrangen, umso heftiger wurden die Kämpfe. Wir gerieten in Hinterhalte, wurden in Stellungskämpfe verwickelt, erlitten Verluste, die ersetzt werden mussten. Eines Tages wurde unsere Einheit in eine Kleinstadt befohlen. Eine Erklärung dafür erhielten wir nicht. Auf dem Marktplatz mussten wir uns mit anderen Einheiten im Karree aufstellen. Die islamische Fahne wurde aufgezogen, die Gewehre wurden präsentiert, ein Kamerateam filmte die Inszenierung. Ein an den Händen gefesselter Europäer wurde in das Karree geführt, eine mir unbekannte Autorität las ein Schriftstück vor. Der Europäer musste sich niederknien und das Haupt senken. Hinter ihm stand ein Gotteskrieger, er hielt ein Richtschwert demonstrativ in die Höhe. Ein Muezzin verkündete über ein Megaphon Sure 4, Vers92: “Wenn sie euch nicht in Frieden lassen und keinen Frieden euch bieten, sondern ihre Hände gegen euch erheben, dann ergreift sie und tötet sie, wo ihr sie auch findet. Wir geben euch vollkommene Gewalt über sie.“Wie aus einem Munde schallte über den Platz und gen Himmel:“Im Namen Allahs, des Allerbarmherzigen. Lob und Preis Allah, dem Herrn aller Welt, dem gnädigen Allerbarmer, der am Tag des Gerichts herrscht. Dir allein wollen wir dienen und zu dir allein flehen um Beistand. Du führe uns den rechten Weg, den Weg derer, die deiner Gnade sich erfreuen und nicht den Pfad jener, über die du zürnest oder die in die Irre gehen.“Die Worte waren noch nicht verhallt, da schlug der Henker mit aller Kraft zu. Es machte „pitsch“, der Kopf des Europäers löste sich von seinem Körper und rollte einen halben Schritt über die Erde. Ein Blutstrahl schoss aus dem Rumpf des Enthaupteten, das Blut breitete sich träge über das Pflaster aus. Sein Körper kippte vornüber, ein Arm ruderte wie Hilfe suchend in der Luft. Der Blutfluss ließ nach und mir schien, als ob die starr geöffneten Augen des Getöteten mich anstierten und sein aufgerissener Mund noch etwas sagen wollte. Ich vernahm das wild jauchzende Gegröle der Gotteskrieger, dann wurde mir schwarz vor Augen und ich verlor das Bewusstsein. Nach diesem Ereignis schienen sich die Dschihadisten in wilde Bestien verwandelt zu haben. Eroberungen von Ortschaften wurden zu Tötungsorgien. Ob Mann, Frau oder Kind, ob Christ, Jude oder Jeside, keiner wurde wie zuvor befragt, ob sie bereit seien, den rechten Glauben anzunehmen, für den IS zu sterben und das Kalifat anzuerkennen. Sie wurden alle hingemetzelt. In mir festigte sich der Entschluss, bei nächstbester Gelegenheit dieser Hölle zu entfliehen.
Die meisten Islamisten sind tief religiös und leidenschaftlich beseelt von den Versprechen aus uralter Zeit. Sie töten im Glauben an den Koran, sie sind hypnotisiert von einem trügerischen Hoffnungsbild. Der Mann, der im Kampf gegen Ungläubige fällt, findet sofort Eingang ins Paradies, ohne auf das Jüngste Gericht warten zu müssen. Er wird dort begraben, wo er sein Leben verloren hat. Seinem Körper bleibt das Reinigungsritual in einer Moschee erspart, denn als Märtyrer ist er bereits gereinigt. Er kommt sogleich in ein glückliches Jenseits mit allen Lustbarkeiten des Lebens.