Die Autorin

Julia Jawhari, geboren 1972 in Heidelberg, studiert von 1997 bis 1999 an der Hochschule für Bewegungstheater Scuola Teatro Dimitri in der Schweiz. Sie schließt das Studium mit einem Bachelor of Arts ab. Daraufhin arbeitet sie als freie Schauspielerin und als Theaterpädagogin. Ab 2003 studiert sie Psychologie an der Universität Heidelberg und an der Universität Zürich. Im Jahr 2011 beendet sie das Studium mit einem Master of Science. Heute arbeitet Julia Jawhari als Autorin und freie Texterin.

Weitere Informationen unter: www.jujbooks.de

Von Julia Jawhari bereits bei Books on Demand erschienen:

Carlottas Auftrag und Mit dem Narbenherz

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.

© 2016 Julia Jawhari

Illustration: Jujbooks / Julia Jawhari

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7412-1673-2

Inhalt / Inhalt

Für unruhige Jungs und auch Mädchen.

Teil 1: Bandirinwelt in Gefahr

1 Das mit der Schokoladenseite

Ich soll mich von meiner Schokoladenseite zeigen, sagt Mama. Sie hat mich auch gefragt, ob ich verstanden habe, was sie meint. Ich habe ja gesagt. Das ist ein bisschen gelogen, denn eigentlich verstehe ich nicht so ganz, was sie meint. Aber dann war sie zufrieden und ich hatte meine Ruhe. Ich gebe mir Mühe. Ich möchte, dass sie sich freut. Es ist schwierig, wenn man nicht so genau weiß, wie man eigentlich sein soll. Also das mit der Schokoladenseite.

Heute Morgen hat mir Mama vor der Schule einen Kuss gegeben und sie hat wieder gesagt: Heute deine Schokoladenseite. Okay, Spatz? Ich habe mir dann vorgestellt, dass Frau Nowak ein Stück von mir abbeißt, weil ich aus Schokolade bin. Von meinem Arm hat dann ein Stück gefehlt. Und Frau Nowaks Gesicht war ganz verschmiert.

Frau Nowak ist meine Klassenlehrerin. Sie ist nett. Ihr Mund lacht, auch wenn sie gar nicht lachen will. Aber sie schreibt mich eben oft an die Tafel.

Mama möchte mir keine Tabletten geben und ich möchte auch keine nehmen. Der Arzt sagt, dass ich sie brauche. Frau Nowak ist auch dafür. Damit ich ruhiger werde. Mama sagt: Die spinnen doch alle.

Ich muss jetzt immer neben Mamas Fahrrad her zur Schule rennen. Damit ich müde bin, wenn der Unterricht losgeht. Frau Nowak hat sich beklagt, weil ich immer aufstehe und weil ich vor mich hinrede. Ich glaube, ich kann im Gehen besser nachdenken als im Sitzen. Und mir wird schwindelig, wenn ich mich lange nicht bewege. Manchmal habe ich das Gefühl zu zerplatzen. Am liebsten würde ich immer herumlaufen. Das mit dem laut Reden mache ich, weiß nicht warum. Ich schaue auch oft aus dem Fenster, sagt Frau Nowak. Und ich wippe mit dem Stuhl, sagt sie. Aber das ist mir an mir noch nicht aufgefallen.

Ich war schon immer so. Mama sagt, es ist, weil ich ein Junge bin. Jungs sind so, sagt sie. Und es liegt daran, dass ich keinen Papa habe, meint sie.

Ich verstehe nicht, was alle immer von mir wollen. Manchmal habe ich es satt und ich möchte in eine andere Welt. In meiner Welt müsste man so sein, wie ich es bin. In meiner Welt wäre es nicht normal, wenn man immer ruhig ist und sich konzentriert.

Ich habe mir einen Trick ausgedacht. Wenn Frau Nowak etwas erklärt, halte ich für ungefähr zehn Sekunden die Luft an. Dann bin ich ruhig und kann nicht an die Tafel kommen. Steht man dreimal an der Tafel, bekommt man eine Zusatzaufgabe. Mama muss sie unterschreiben. Beim Luft rauslassen muss ich aufpassen, dass Frau Nowak nichts mitbekommt. Sonst komme ich doch wieder an die Tafel. Das ist mir gestern passiert.

Weil ich auch nicht dauernd die Luft anhalten will, mache ich noch etwas Anderes. Ich muss ja nur ruhig sitzen bleiben. Wenn ich ruhig sitze und sonst nichts tue, kann ich nicht an die Tafel kommen. Ich drücke meinen Rücken gegen die Stuhllehne und halte meine Hände vor dem Bauch fest. So kann mein Körper nicht zappeln. Mein Gesicht drehe ich zu Frau Nowak. Denn wenn ich sie nicht anschaue, ruft sie mich immer auf. Dann lasse ich meine Gedanken los. Sie dürfen dann gehen, wohin sie wollen. Ich schaue einfach nur, was passiert. Ich habe viel Fantasie, sagt Mama. Und das ist gut…

2 Selions Kampf / Wie mein Name an die Tafel kommt

Tschaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaak

Schaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaak

Bloooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooong

Poooooooooooooooooooooooooooiiiiiiiiiiiiiiiiiiing

»Du Penner, komm nur her… nimm das… und das und daaaaaaaaas...!«, schrie Selion aus vollem Hals.

Die Schwerter krachten aufeinander, immer wieder, immer heftiger, bis Selion durch die Kraft des Zusammenpralls beinahe nach hinten weggerissen worden wäre. Er konnte sich gerade noch auf den Beinen halten und mit gebremstem Schwung zum nächsten Gegenschlag ausholen. Im selben Augenblick bückte sich sein Gegner mit einer leichten Drehbewegung nach unten weg. Selions gläsernes Schwert traf ins Leere und er taumelte, vom Gewicht der Waffe nach vorne gerissen, zu Boden. Der Andere sprang blitzschnell hinter ihn und hob zu einem allerletzten Hieb an, der Selion das Leben kosten würde.

Selion war mit der Nase im feuchten Laub gelandet und blieb dort regungslos liegen. Die Waffe seiner Ahnen und Urahnen in der Faust, wartete er auf sein Ende.

*

Finn, was habe ich gerade gesagt? Könntest du das bitte wiederholen? fragt Frau Nowak. Sie schreibt meinen Namen an die Tafel, weil ich ihr nicht antworte. Ich habe nicht mitbekommen, was sie sagt. Jetzt steht mein Name schon zweimal dort. Einmal, weil ich nach dem Luftanhalten ausgeatmet habe und einmal, weil ich ihr nicht antworte. Wenn man an der Tafel steht, bleibt das die ganze Woche dort. Nächste Woche zählt neu. Oder wenn man schon eine Zusatzaufgabe bekommen hat, dann wird auch neu gezählt. Jonas bekommt es in der großen Pause mal fett ab, weil er mich auslacht. Dabei steht er auch oft an der Tafel. Aber er muss wenigstens nicht alleine sitzen. Vielleicht komme ich auch deshalb so oft an die Tafel. Mein Tisch steht direkt vor Frau Nowaks Pult. Sie hat mich immer im Blick.

Frau Nowak kündigt uns einen Mathetest für nächste Woche an. Ich mag Mathe. Einmal habe ich ausgerechnet, dass Mama mir in meinem Leben schon 3285mal Gute Nacht gesagt hat. Ich bin neun Jahre alt und jedes Jahr macht sie das 365mal. Ich habe die Nächte nicht abgezogen, in denen ich bei Oma war oder woanders. Aber eben ungefähr. In den Mathearbeiten bin ich nicht so gut. Ich weiß nicht, woran das liegt. Ich kann gut rechnen. Beim Einkaufen zähle ich immer die Preise zusammen. Meistens rechne ich richtig und kann Mama noch vor der Kassiererin sagen, was sie bezahlen muss.

Bei Klassenarbeiten wird es in meinem Kopf schummrig und ich kann nicht mehr klar denken. Ich finde es unheimlich, wenn alle ruhig dasitzen und keiner mehr spricht. Frau Nowak läuft dann zwischen unseren Tischen herum, macht ein ernstes Gesicht - nur ihr Mund lacht - und wenn jemand etwas sagen möchte, hält sie zischend ihren Finger an die Lippen.

Wenn ich diese Woche noch einmal an die Tafel komme, muss ich zwanzigmal den gleichen Satz schreiben. Das letzte Mal war es Ich muss mich an die Unterrichtsregeln halten. Nach dem zehnten Schreiben, kam mir der Satz komisch vor. Als wäre er in einer Geheimsprache geschrieben, die ich nicht verstehe.

3 Der heilige Eid / Frau Nowaks Bild mit dem Scheinwerfer

»Kutrulu wam, theo at mortalo quardum«, rief Selions Angreifer.

Selion wagte nicht, sich zu rühren. Er vermutete, dass der Feind sein Schwert, zum bevorstehenden Stoß bereit, direkt auf ihn gerichtet hielt. Er würde seine lederne Rüstung durchstoßen und sein Herz mit der stählernen Waffe durchbohren. Oder er würde ihm den Kopf mit einer einzigen Bewegung vom Körper trennen. Am liebsten hätte Selion seine Arme schützend über seinen Kopf gelegt. Aber er traute sich nicht, auch nur die kleinste Bewegung zu machen. Vor drei Pautinkreisen (Pautinkreise sind in der realen Welt Tage) war er 13 Pautinwenden alt geworden (Pautinwenden sind ähnlich wie Jahre in der realen Welt: ein Pautinmond ist ein Monat, eine Pautinwende hat zehn Pautinmonde, daher sind 13 Pautinwenden ungefähr 11 Jahre). Sein Gegner war kaum älter. Seit Selion sich erinnern konnte, waren die Utoolus die Feinde der Korelins. Als er gerade mal eine und eine halbe Pautinwende (ungefähr 15 Monate in der realen Welt) alt gewesen war, hatte ihm sein Großvater bereits eingeschärft, keinem Utoolu jemals über den Weg zu trauen. Als er drei Pautinwenden und sechs Pautinmonde (ungefähr 3 Jahre in der realen Welt) alt gewesen war, hatte der Großvater ihn eines Nachts aus dem Schlaf gerissen und zum Ufer des Calambas (der größte Fluss in der Bandirinwelt) gebracht. Dort hatte er ihm die Rituale der Feinde gezeigt. Selion hatte mit eigenen Augen gesehen, wie die Utoolus einen feindlichen Krieger bei lebendigem Leib verspeist hatten. Niemals würde er vergessen, wie sie schmatzend das helle Fleisch aus dem Körper des Mannes gebissen hatten. Sein Großvater hatte ihm damals den heiligen Eid seiner Väter abgenommen. Wie er würde Selion sein Leben lang gegen die Utoolus kämpfen, bis kein einziger mehr auf dem Erdboden (der Erdboden der Bandirinwelt) existierte.

*

Mist. Jetzt ist es wieder passiert. Ich stehe dreimal an der Tafel: Finn Finn Finn

Frau Nowak hat eine gerade Handschrift. Meine wird nie so sein. Ich soll Arzt werden, sagt sie immer, die schreiben so. Ich will nicht Arzt werden. Dann schon eher Wissenschaftler. Manchmal übe ich meine Unterschrift. F.F. für Finn Faber.

Am Unterricht soll ich konzentriert teilnehmen