Tiefenwelt

Tiefenwelt

Theresa Sperling

Inhalt

Impressum

Widmung

Vorwort

Prolog

1. Die Ankunft

2. Nordstadt

3. Tunnel

4. Medikamente

5. Die Wohngruppe

6. Lughs Entscheidung

7. Versorger

8. Nachtmarkt

9. Die Luke

10. Waisenkinder

11. Luise

12. Flor allein

13. Die Wahrheit

14. In der Mauer

15. Die Osthöfe

16. Flor geht

17. Der ultimative Moment

18. Nebo

19. Komplikationen

20. Der Wärter

21. Einsichten

22. Ratten

23. Abschied

24. Der Deal

25. Die Ausbildung

26. Lughs Auftrag

27. Die Mission

28. Das Treffen

29. Die Versammlung

30. Flors letzte Tage

31. Abgekoppelt

32. Zu all den armen Kindern

33. Justins Vater

34. Die erste Sprengung

35. Die Rückkehr

36. Die Entfesselung

37. Die schlimmste Wendung

38. Geheimer Saal

39. Leander

40. Nachricht an die Außenwelt

41. Der Ausstieg

DANKE

Über den Autor

Für Noah, Julian und Simon

Vorwort

Die medizinischen Details der »Tiefenwelt« beruhen – wie mein ganzes Leben – auf einer Mischung aus eigener Erfahrung, Halbwissen und Fantasie. Daraus ergibt sich, finde ich, oft ziemlich viel Wahres.


Theresa Sperling

Header

Prolog

Wird es wehtun?«, fragte Lenyo mit angsterfülltem Blick auf die zwei hauchdünnen Häutchen in der durchsichtigen Schatulle.

Er lag auf einer spiegelglatten Liege mit weißem Papierüberzug. Neben ihm saß Doktor Terid in einem blauen Schwingstuhl. Die großzügig geschwungenen silbernen Armlehnen glänzten im Schein des Neonlichts. In Terids rechter Hand ruhte die Spritze.

»Nein. Es tut nicht weh«, erwiderte dieser ruhig. »Nur der Einstich.«

Zwischen Liege und Stuhl befand sich ein kleiner Rollwagen mit den Instrumenten, die der Doktor brauchte, um Lenyo zu präparieren. Eines der größeren Instrumente sah aus wie ein Schraubenzieher mit schwarzem Gummigriff.

»Und danach?«, fragte Lenyo leise.

»Danach wirst du alles vergessen.«

Lenyo schwieg kurz. »Und was ist mit meiner Familie?«

»Mach dir keine Sorgen. Sie werden alle da sein.«

»Werde ich sie wiedererkennen?«

»Davon gehen wir aus. Ihr seid die Ersten. Erst durch eure Erfahrungen werden wir die Sicherheit haben, dass alles so funktioniert, wie wir es geplant haben.«

Doktor Terid schien sich seiner Sache so sicher und wirkte so zuversichtlich, dass Lenyos Furcht sich etwas löste. Er würde drüben seine Familie wiedertreffen. Ganz bestimmt.

»Was ist, wenn ich sterbe?«, erkundigte Lenyo sich noch einmal, obwohl er die Antwort bereits kannte. Man hatte ihm alles schon bis ins kleinste Detail erklärt.

»Dann ist es vorbei.«

»Endgültig?«

»Endgültig.«

Gut, dachte er. Das ist gut.

»Und danach?«

»Danach wirst du dich an beide Leben erinnern«, erwiderte Terid geduldig. »Zwei Leben, Lenyo.«

»Werde ich ich sein?«

»Du wirst du sein und du bleiben, das verspreche ich dir.« Der Doktor lächelte noch immer ermutigend.

Sie schwiegen einen kurzen Moment und sahen einander an, bis Terid fragte: »Bist du bereit?«

Lenyo richtete sich vorsichtig auf und nickte. Dann drehte er seinen Kopf und versenkte seinen Blick in die makellose weiße Wand neben seiner Liege, um seinen Hals freizulegen: »Ich bin bereit.«

»Gut!«, flüsterte Doktor Terid, setzte die Spritze an und drückte ihm sanft die blaue Flüssigkeit in die Halsschlagader.

1

Header

Die Ankunft

Lenyo stand mitten auf der Straße und atmete schwer. Seine Lunge brannte. Sein Seitenstechen war so stark, dass er sich fast übergeben musste. Es regnete in Strömen und seine Kleidung klebte nass und schwer an seinem zitternden Körper. Aber das war jetzt nicht wichtig, denn nur zwei Schritte vor ihm stürzte das Regenwasser in den unscheinbaren Gully.

Schon hörte er ihre schweren Stiefel auf dem Asphalt, immer lauter und immer näher. Voller Angst drehte er sich um. Es war stockdunkel. Man konnte nur drei, vielleicht vier Meter weit sehen. Noch war niemand in Sichtweite, aber gleich würden sie ihn eingeholt haben. Verzweifelt rüttelte und drehte er an dem Gullydeckel, versuchte ihn mit aller Kraft hochzureißen. Doch er bewegte sich keinen Zentimeter, weder nach oben noch nach unten noch zur Seite noch sonst irgendwohin.

Sie kamen. Ihre Schritte, das Rascheln ihrer Anzüge, sogar ihr Atem dröhnten so laut in seinen Ohren, dass er dachte, sie stünden direkt hinter ihm. In wenigen Augenblicken würden sie nah genug sein und seine graue Silhouette unterscheiden können von der pechschwarzen Straße in dieser pechschwarzen Nacht. Dann würden sie sich auf ihn stürzen mit ihren Schlagstöcken und ihren Stiefeln.

Regentropfen und Tränen liefen ihm über das Gesicht. Es war vorbei. Lenyo hatte es nicht geschafft. Er hatte den richtigen Gully nicht gefunden oder es hatte den richtigen Gully nie gegeben. Erschöpft sank er in die Knie, machte sich ganz klein, kauerte sich zusammen, schloss die Augen und wartete ergeben auf den ersten Schlag.

Plötzlich schien die Welt um ihn herum in eisiger Stille zu erstarren. Kein Laut war mehr zu hören. Selbst die Regentropfen fielen lautlos auf ihn nieder und zersprangen weich und unnatürlich langsam auf seiner Haut. Er drehte seinen Kopf nur ein unmerkliches Stückchen zur Seite und lauschte angespannt in die Nacht. Wo waren sie? Worauf warteten sie noch? Darauf, dass er die Hände in den Nacken legte und sich ergab? Niemals, dachte Lenyo. Niemals.

In diesem Moment kippte der Gullydeckel unter ihm weg und er fiel in den darunterliegenden Schacht. Er biss die Zähne zusammen, sodass seiner Kehle statt eines gellenden Schreis nur ein dumpfes Stöhnen entfuhr. Instinktiv streckte er seinen Körper durch und riss die Arme hoch, um nicht gegen die Schachtwand zu schmettern. So stürzte er tiefer und tiefer den Schacht hinunter, bis seine Füße endlich hart auf dem Boden aufschlugen und seine Beine unter ihm wegknickten. Dann merkte er nichts mehr


Ein stechender Schmerz im linken Oberarm. Leise Stimmen. Schwarze Dunkelheit. Nichts mehr.


Dumpfes Licht. Übelkeit. Fremde Stimmen von weither. Männerstimmen.


»Das Weichei schläft seit achtzehn Stunden. Dabei ist er genau auf die Matten gefallen. Er dürfte sich eigentlich nicht allzu schwer verletzt haben.«

»Er ist total erschöpft. Wir haben ihm schon drei Infusionen verabreicht. Das müsste reichen, um ihn wieder auf die Beine zu bringen. Er wird bald aufwachen.«

»Hast Du seine Daten schon bekommen?«

»Morina und der Doktor waren schon hier und haben ihn identifiziert. Lenyo Lamint, sechzehn Jahre alt, kommt aus der Nordstadt.«

»Sieht man ihm an. Zerlumpt und ausgehungert. Sie machen es den Leuten da oben immer schwerer.«

»Seine Eltern sind Flor und Lugh Lamint, Arbeiter in den Westwerken. Er hat einen Bruder, Nebo Lamint, Alter vierzehn Jahre. Hack hat seinen Namen oben aus der Verteiler-Datenbank gelöscht.«

»Er ist der Letzte auf der Liste.«

»Ja. Er ist der Letzte. Es geht los.«


Die Stimmen drangen immer klarer und lauter zu ihm vor. Er war schon einige Minuten wieder bei Bewusstsein, aber er traute sich nicht, die Augen zu öffnen, denn er wusste weder, wo er war, noch konnte er die Stimmen der zwei Männer einordnen. Als er aber hörte, dass sie über Morina sprachen, stieg ein Gefühl der Erleichterung und der freudigen Erregung in ihm auf. Ganz langsam, wie ein sanftes Kitzeln, das aus dem Bauch in die Magengrube hochkrabbelt.


Morina!


Er hatte von ihr gehört und gelesen. Ihr Phantombild hing an allen Versammlungsplätzen. Man sprach nur hinter vorgehaltener Hand über sie, damit die Soldisten nicht misstrauisch wurden. Schließlich war Morina die mutmaßliche Anführerin einer höchst gefährlichen Untergrundbewegung. In der Hoffnung, Morina und ihre Anhänger endlich zu finden, zu fassen und zu vernichten, ließ die Regierung regelmäßig Bewohner der Nordstadt verschleppen und auf brutale Weise verhören. Eines Tages würde sie vielleicht jemand hinunterführen in die Kanalisation und ihnen den Eingang zeigen zu Morinas sagenumwobener Welt, der Tiefenwelt. Nun aber hatte Lenyo es erst mal geschafft. Er war angekommen.


Als er seine Augen einen Spalt weit öffnete, sah er eine graue Betondecke über sich. In der Mitte der Decke hing eine Glühbirne, die den Raum in ein fahles Graugelb tauchte.

Er drehte seinen Kopf vorsichtig in die Richtung, aus der er glaubte, die Stimmen vernommen zu haben. Dort, in einer Ecke des Raumes, standen zwei Männer mit dem Rücken zur Krankenliege und beugten sich über ein kleines Licht. Der eine trug einen grauen, langärmligen Anzug, der so ähnlich geschnitten war wie die braunen Arbeiteroveralls der Nordstädter. Der andere trug eine dunkelblaue Cargohose und ein ausgewaschenes Ripp-Shirt.

Lenyo lag auf einer ziemlich wackeligen Krankenhausliege in einem nur notdürftig ausgestatteten Keller oder Bunker, in den kein Tageslicht zu dringen schien. An der einen Wand konnte er ein kleines Waschbecken erkennen. An der anderen Wand stand neben einer schmalen Eisentür ein alter Holztisch, auf dem sich zahlreiche Medikamente und Verbandsmaterialien türmten.

Plötzlich spürte Lenyo eine Mischung aus Angst und Übelkeit in sich aufsteigen. Bevor er eine Entscheidung treffen konnte, was von beidem sich da tatsächlich in ihm breitmachte, setzte er sich ruckartig auf und kotzte. Ein Schwall von eklig schmeckender Flüssigkeit spritzte in hohem Bogen auf das gräulich-weiße Laken, das ihn notdürftig zudeckte. Es war also Übelkeit, stellte er in Gedanken fest.

»Links von dir steht ein Eimer«, hörte er den Mann im schwarzen Overall sagen. Dieser hatte sich zu ihm umgedreht und betrachtete ihn mit hochgezogenen Augenbrauen und verschränkten Armen. Er war ziemlich groß, muskulös und kahl rasiert. Seine Statur erweckte einen fast beängstigenden Eindruck, der nur durch seine feinen Gesichtszüge abgemildert wurde.

»Du hast eine Gehirnerschütterung. Normalerweise landen die Leute relativ weich auf unseren Matten, aber du hast dir deine Knie ordentlich gegen die Stirn gerammt.«

Lenyo tastete mit den Händen seine Stirn ab. Er hatte zwei dicke Beulen auf Höhe der Augenbrauen, starke Kopfschmerzen und ihm war immer noch schlecht. Er verzog das Gesicht und krümmte sich leicht nach vorne.

»Kotz in den Eimer, wir haben nicht genug Laken!«, rief ihm der Mann zu und drehte sich schnell wieder zurück zu dem kleinen Licht, um den nächsten Kotzschwall nicht mit ansehen zu müssen. Lenyo übergab sich in den Eimer, legte sich wieder hin und fragte sich, woher das ganze Zeug aus seinem Magen eigentlich kam.

Er kramte in seinem Gedächtnis, aber er war derart geschwächt, dass nur Fetzen der Erinnerung vor seinem inneren Auge auftauchten: zugige Räume in verlassenen Wohnhäusern. Die Angst entdeckt zu werden. Drei Tage lang. Sind es drei Tage gewesen? Trockenes Brot zwischen seinen Zähnen, etwas Büchsenwurst auf seiner Zunge. Möglichst wenige Schlucke geklärtes Wasser aus einer zerbeulten Plastikflasche. Brennender Durst. Seine Hände, die Wasser aus Pfützen und Regentonnen schöpfen. Das ungeklärte Wasser stinkt nach Urin und verwesenden Rattenkadavern, hinterlässt einen widerlichen Geschmack im Mund bis in die Speiseröhre hinunter.

Der Mann in der blauen Cargohose trat an die Krankenliege, raffte mit geübten Handgriffen das vollgekotzte Tuch zusammen, legte es neben die Tür und breitete ein neues Tuch über ihm aus.

Nun konnte Lenyo sehen, was es mit dem kleinen Licht hinten in der Ecke auf sich hatte: Es war der leuchtende Bildschirm eines Smarttop7A, das schlagartig Lenyos Gedächtnis aktivierte. Das Smarttop7A war ein sogenannter »Allrounder« und das letzte Modell, das auf den Markt gekommen war, bevor die elektronische Welt zusammenbrach. Weil alle Datenspeicher innerhalb von wenigen Tagen sofort mit den übelsten Viren, Würmern und Trojanern verseucht waren, war die neue Produktion von Computern, Smartphones und allen anderen größeren und kleineren Speichermedien schon vor Jahren für völlig sinnlos befunden und eingestellt worden. Es gab also nur noch eine winzige Anzahl funktionstüchtiger elektronischer Geräte in der Stadt und Lenyo hatte genau zwei davon gesehen: den riesigen alten Computer am Verteiler und das winzige Handy, das irgendwie am Ohr von Herrn Ramstedt, Fabrik-Chef der Westwerke, befestigt war. Alle anderen Geräte kannte er nur aus alten Computerzeitschriften, die er so liebevoll behandelte, als seien sie das Smarttop7A höchstpersönlich, und die er mit seinen Freunden tauschte.

Der Mann, der gerade Lenyos Kotze weggeräumt hatte, tätschelte ihm kurz zur Begrüßung den Arm: »Ich heiße Kristian. Das Ding, das du gerade so verliebt anstarrst, ist ein Allrounder und das«, er deutete auf den kahlköpfigen Mann, »ist Nathan. Er tut nur so cool. In Wirklichkeit ist der Allrounder viel cooler als er. Nathan sitzt nämlich schon seit deiner Ankunft hier und wartet sehnsüchtig darauf, dass du aufwachst.«

Nathan zeigte keinerlei Reaktion. Er drehte sich weder um noch schnaubte er verächtlich, sondern ließ Kristians kleinen Seitenhieb einfach an sich abprallen, was dafür sprach, dass er tatsächlich ziemlich cool war. Kristian war nur etwas kleiner als Nathan und wirkte trotz seiner breiten Schultern nicht ganz so kräftig. Lenyo schätzte ihn auch etwas jünger als Nathan, vielleicht Mitte zwanzig. Er hatte kurze, blonde Haare und verschmitzte blaue Augen, mit denen er Lenyo ruhig und vertrauenserweckend zuzwinkerte: »Du kannst bald wieder aufstehen. Wenn du fit bist, zeige ich dir unseren Wohnraum und stelle dich der Wohngruppe vor.«

Lenyo versuchte möglichst freundlich zurückzulächeln, aber seine Mundwinkel zitterten und sie nach oben zu ziehen, fühlte sich ungefähr so an, wie mit der Gesichtsmuskulatur fünfzig Kilo schwere Wangen­knochen in die Schläfen zu hieven. Er brachte keinen Ton heraus.

Kristian hielt Lenyo einen Becher mit etwas Wasser und zwei weiße Tabletten unter die Nase: »Nimm die, dann kannst du schlafen und danach geht es dir besser.«

Folgsam schluckte er die Medikamente. Das Wasser rann kühl seine trockene Kehle hinunter, während sein Kehlkopf sich so schmerzhaft in seine Luftröhre drückte, als hätte Lenyo sich beide Knie in den Hals gerammt. Während der Raum in dunklen Nebelschwaden verschwamm, hörte er Kristians Stimme dumpf an sein Ohr dringen: »Gut, dass du da bist! Wir haben lange auf dich gewartet!«

Wie war das möglich? Lenyo hatte so lange damit gehadert, seine Familie im Stich zu lassen für ein neues Leben in einer Welt, die vielleicht gar nicht existierte. Und er hatte mit niemandem über seine Fluchtpläne gesprochen. Wie also hätten sie hier unten auch nur ahnen können, dass er tatsächlich beschließen würde zu kommen, dass er sie finden würde, dass er die Flucht überleben würde? Seine Fragen wurden zu zähen Tropfen, die sich langsam im schwarzen Nichts eines traumlosen Schlafes auflösten.


Es mussten viele Stunden vergangen sein, bevor Lenyo erneut erwachte. Vorsichtig nahm er das mit kühlem Wasser getränkte Tuch ab, das jemand auf seine geschwollene Stirn gelegt hatte. Seine Kopfschmerzen hatten sich zu einem dumpfen Schmerz am Hinterkopf zusammengezogen. Auch die Übelkeit hatte so weit nachgelassen, dass Lenyo sich vorsichtig aufsetzen konnte, ohne sich gleich wieder zu übergeben.

Nathan lehnte mit verschränkten Armen an der Wand neben dem Allrounder und nickte ihm mit ernster Miene zu. Kristian stand schon vor der kleinen Eisentür und winkte Lenyo nun mit einer Handbewegung zu sich heran. Langsam drehte Lenyo sich zu ihm und ließ seine Beine von der Liege baumeln. Erst jetzt bemerkte er, dass man ihm frische Kleidung angezogen hatte. Er trug eine Jeans mit leichtem Schlag und ein relativ enges T-Shirt. Vorsichtig rutschte er von der Liege und schwankte einige Schritte in Kristians Richtung. Sofort wurde ihm so schwindlig, dass er abrupt stehen bleiben musste. Er riss die Arme nach vorne, um nicht zuerst mit dem Gesicht, sondern mit seinen Händen auf dem erschreckend schnell näher kommenden Boden aufzuschlagen.

Schnell eilte Kristian ihm entgegen, fing ihn auf und griff ihm geschickt unter die linke Armbeuge, um ihn zu stützen und Schritt für Schritt zur Eisentür zu führen. Dann ließ er ihn vorsichtig los, legte eine Hand auf den kleinen Türgriff und fragte leise: »Geht’s?«

Lenyo fühlte in sich hinein: Ihm war zwar noch ein bisschen mulmig, aber er konnte sich alleine aufrecht halten. Schließlich nickte er Kristian zu.

Bevor Kristian die schwere Tür öffnete, hielt er seinen Zeigefinger vor den Mund und sah Lenyo streng an. »In den ersten Gängen müssen wir leise sein, wir befinden uns noch recht dicht unter der Oberfläche.«

»Ich denke, da musst du dir keine Sorgen machen, Kristian.« Nathan grinste. »Unser neuer Mitbewohner scheint ohnehin nicht besonders gesprächig zu sein.«

Lenyo dachte an die letzten Stunden zurück und rechnete kurz nach. Besonders viel geredet hatte er noch nie, er beobachtete lieber, was um ihn herum geschah, und hörte zu, was die anderen zu sagen hatten. Insgesamt betrachtet, hatte er jedoch seit seiner Ankunft in der Tiefenwelt noch kein einziges Wort von sich gegeben. Er seufzte leise. Mit dieser sprachlichen Glanzleistung hatte er bei seinen zukünftigen Mitbewohnern sicherlich nicht gerade Eindruck gemacht.

»Bis später dann«, lenkte Nathan ein, der offensichtlich bemerkt hatte, dass er mit seiner kleinen Bemerkung Lenyos wunden Punkt getroffen hatte.

»Ja. Bis dann«, erwiderte Lenyo und starrte auf das dunkelgraue Eisen der Tür. Er wusste, was sich hinter dieser Tür verbarg: die Tiefenwelt.

2

Header

Nordstadt

Flor steckte den Draht ins Schloss und ruckelte so lange damit herum, bis die Tür nachgab und sich leicht quietschend öffnete. Instinktiv lauschte sie in die Wohnung hinein. Ihr Blick glitt suchend durch den spärlich eingerichteten Raum.

Auf dem hölzernen Esstisch standen noch die drei Frühstücksteller und die Kaffeetassen. Die undichten Fenster waren ordentlich mit transparenter Folie verhängt, als Schutz vor dem Dauerregen im April, vor dem Herbstwind, der so oft durch die Hinterhöfe der Nordstadt fegte, und vor dem grauen Schnee, der im Winter noch ab und zu fiel.

Ununterbrochen tropfte Wasser aus dem Wasserhahn in den großen Topf, den sie heute Morgen in die rostige Spüle gestellt hatte. Er war fast vollgelaufen. Sie konnten sich damit waschen und mit dem Gaskocher etwas zu essen kochen.

Die etwas verzogene Holztür zum Hinterzimmer war halb geöffnet und gab den Blick auf Nebo frei, der auf zwei übereinander gestapelten Matratzen lag und gedankenverloren an die Decke blickte. Ihr letztes Kind war zu Hause und unversehrt. Nebo war eigentlich eine wahre Frohnatur. Anders als Lenyo, in dessen düstere, undurchdringliche Gedankenwelt die Erfahrungen der Nordstadt tief hineinzusinken schienen, hatte Nebo sich nie einen Gedanken zu viel gemacht. Er hatte die Dinge genommen, wie sie eben kamen, und es irgendwie immer geschafft, diesem ärmlichen Leben eine fast naive Freude abzugewinnen. Doch seit sein Bruder verschwunden war, war er in sich gekehrt und still. So als hätte Nebo seine Freude einfach abgestreift wie eine zu klein gewordene Haut.

Flor zog die Schuhe aus. Sofort kroch die Kälte des Betonbodens durch ihre Socken hindurch in ihre Füße. Sie nahm sich das Handtuch, das neben der Spüle lag, rubbelte ihre dichten, dunkelbraunen Haare trocken und murmelte: »Hoffentlich hört dieser verfluchte Aprilregen bald auf.«

Heute war Montag und sie war noch länger außer Haus gewesen als an anderen Tagen, da sie nach ihrer üblichen 10-Stunden-Schicht in den Westwerken jeden Abend durch die Nordstadt streifte, um nach Lenyo zu suchen und den Nordstädtern auf kleinen handgeschriebenen Zetteln die Personenbeschreibung ihres Sohnes zuzustecken.

Heute war sie nach der Suche noch zum Verteiler gegangen, um die Wochenration für die Familie abzuholen. Geld gab es nicht mehr. Man bekam für jeden vollen Tag Arbeit vier Essensmarken, für jede volle Woche Arbeit fünf Gebrauchsmarken dazu. Davon konnte man die Familie ganz gut ernähren. Manchmal hatten sie sonntags sogar richtiges Fleisch. Wenn aber einer der Erwachsenen krank wurde und nicht arbeiten gehen konnte, dann wurde das Essen knapp.

»Nebo!«, rief Flor genervt, während sie die Tassen vom Tisch räumte. »Du könntest wenigstens den Frühstückstisch abräumen, wenn du nach Hause kommst. Ich war den ganzen Tag unterwegs und zum Dank darf ich dir abends erst mal hinterherräumen! Ist das Fenster auf? Ich erfriere ja!«

»Nein, ist es nicht«, raunzte Nebo zurück. »Außerdem ist die Schule auch anstrengend.«

Dabei unterschlug er, dass er weder heute noch gestern in die Schule gefahren war, sondern stattdessen mit seinem Freund Marek vergeblich den ganzen Tag nach Lenyo gesucht hatte. Ihr Lehrer Doktor Terid hatte vorgestern sowieso angekündigt, dass er ein paar Tage wegmüsse. Nebo und Marek hatten sich allerdings gefragt, was für jemanden, der dank einer unüberwindbar hohen Mauer in einer Stadt eingesperrt lebte, ›ein paar Tage weg sein‹ überhaupt bedeuten sollte. Und vor allem, wie ein sechzehnjähriger Junge aus so einer Stadt verschwinden konnte. Lenyo musste etwas Schlimmes zugestoßen sein. Unweigerlich erinnerte Nebo sich an den Tag, an dem sein Bruder verschwunden war:


Nebo war mit Höllenkopfschmerzen aufgewacht und hatte sich gleich nach dem Aufstehen ins Waschbecken übergeben. Die Wohnung der Lamints war ihm trist und seltsam fremd vorgekommen, aber nachdem er ein Glas Wasser getrunken und die Fensterfolie beiseitegeschoben hatte, um hinauszusehen, kam er auf einen Schlag zu sich: Es war einfach nur einer dieser öden grauen Tage in dieser öden grauen Stadt. Kein Tag, um wirklich in die Schule zu gehen. Dennoch hatte er sich mit dem kleinen Marek und Lenyo auf den Weg gemacht.

»Wozu müssen wir dieses ganze Zeug überhaupt lernen?«, fragte Marek genervt, während er versuchte, mit seinem klapprigen Fahrrad den Schlaglöchern auszuweichen.

»Wir können froh sein, dass uns überhaupt jemand unterrichtet!«, wies Lenyo ihn streng zurecht und klang dabei wie seine eigene Mutter.

Eine richtige Schule gab es in der Nordstadt nämlich nicht mehr. Ältere oder kranke Leute, die nicht mehr in den Westwerken arbeiten konnten, erklärten sich dazu bereit, die Kinder gegen ein paar Essensmarken zu unterrichten. Aber sie hatten viele Jahre lang körperlich harte und geistig völlig stumpfe Arbeit in der Fabrik geleistet und das meiste aus ihrer eigenen Schulzeit bereits vergessen. Deshalb unterrichteten sie eigentlich nur Lesen, Schreiben und Rechnen. Doktor Terid aber war anders. Er war nicht nur sehr nett, er war vor allem klug in einer Weise, wie nur sehr wenige Menschen klug waren, die Nebo und Lenyo kannten. Terids Geschichten von anderen Zeiten und anderen Städten waren mit Sicherheit nicht wahr, sie hatten nichts zu tun mit dem richtigen Leben, aber sie hatten immer eins gemeinsam: Den Menschen dieser fremden Orte und dieser fernen Jahrhunderte ging es besser als den Nordstädtern. Viel besser. Sie weckten in Nebo das Gefühl, er säße auf dem Dach eines Hauses und die Mauern, die ihn sein ganzes Leben lang in der Nordstadt eingeschlossen hatten, fielen vor seinen Augen langsam in sich zusammen.

»Ich mag Terids alte Geschichten«, gab Nebo zu.

Doch sein Freund schüttelte den Kopf: »Mein Vater sagt immer, die Vergangenheit und die Toten lässt man hinter der Mauer ruhen.«

Nebo wagte einen zweiten Versuch: »Wenn wir mal Vorarbeiter werden wollen, müssen wir mehr wissen als die anderen.« Er ließ seinen Vorderreifen in die Luft schnellen und sprang mit seinem Fahrrad auf die Bordsteinkante.

»Was denn wissen?«, fragte Marek skeptisch.

»Zum Beispiel wie man einen Stromausfall behebt«, behauptete Nebo.

»Es gibt keinen Strom mehr.«

»Natürlich, in den Fabriken, du Trottel!«, verteidigte Nebo seine Theorie und fuhr auf seinem Hinterreifen bis zum nächsten großen Schlagloch.

»Es gibt keinen Stromausfall in den Fabriken«, gab Marek zu bedenken. Und damit hatte er recht.

»Doch, eines Tages, wenn Morinas Leute aus der Tiefenwelt kommen und alles in die Luft sprengen«, schnauzte Lenyo die beiden unerwartet harsch an.

»Es gibt keine Tiefenweltler!«, erwiderten Nebo und Marek wie aus einem Munde.

»Was wisst ihr denn schon, ihr Nervbolzen!«, rief Lenyo. Er bremste so scharf ab, dass Marek fast in ihn hineingefahren wäre. Dann trat er in die Pedale. Vor Schreck krachte Marek mit seinem Vorderreifen in eines der mit Regenwasser und Urin gefüllten Schlaglöcher. Auch Nebo bremste und drehte sich lachend zu Marek um, der sich das stinkende Pfützenwasser mit dem Ärmel aus dem Gesicht wischte.

»Das ist echt kein guter Tag heute«, fluchte Marek.

Nebo grinste: »Nein, kein guter Tag, um in die Schule zu gehen. Aber ein echt guter Tag, um ein paar Häuser zu smashen!«

Sie zwinkerten sich verschmitzt zu und warteten, bis Lenyo außer Sichtweite war. Dann bogen sie in die nächste sichere Seitenstraße ein. Vor einem der verfallenen Häuser blieben sie stehen. Die Fensterscheiben waren alle kaputt. Vor dem Haus war lange nicht gefegt worden und es standen keine überfüllten Mülleimer vor der Tür. Hier wohnte also niemand mehr. Sie nickten einander zu, dann öffneten sie vorsichtig die Tür und riefen: »Hallo?«

Ihre Stimmen hallten hohl durch das leer stehende Haus.

»Ist da jemand?« Keine Antwort.

Auf leisen Sohlen schlichen sie die Treppe hinauf in den zweiten Stock. Man durchkämmte Häuser von oben nach unten, um nicht in Schwierigkeiten zu geraten. Es war wie mit den Läusen. Wenn man das Läusemittel oben in den Haaransatz einmassierte, seilten sich die Läuse an den Haaren ab und ergriffen die Flucht. Die drei kleinen Wohnungen ganz oben waren leer, die Luft stand feucht und modrig in den Räumen, der Boden war mit Rattenkot übersät.

»Okay, es kann losgehen!«, jubelte Marek, nachdem sie sich versichert hatten, dass auch der erste Stock und das Erdgeschoss ungefährlich waren. Er schnappte sich einen kaputten dreibeinigen Stuhl, der mitten im Raum lag, und schmetterte ihn mit voller Wucht auf den Boden, sodass die Holzteile in alle Richtungen flogen. Flink griff Marek zwei der Stuhlbeine und trommelte damit einen schnellen Rhythmus auf den Boden. Es war so eine Art Ritual, der Häuser-Smasher-Eröffnungssong. Eine Mischung aus dem, was sie gehört hatten, als es noch Radio gab, und dem, was sie im Laufe vieler Häuser-Smash-Aktionen noch dazuerfunden hatten. Mit heller Stimme sang Marek los. Nebo griff sich die anderen beiden Stuhlbeine und schlug damit in dem von Marek vorgegebenen Tempo auf die Fensterbank. Kreischend stimmte er in den Gesang mit ein. Als sie den Rhythmus richtig hochgepuscht hatten, fing Nebo an, mit der Stuhllehne alles zu zertrümmern, was sich in dem Raum befand. Er schlug Löcher in die Wände, in den morschen Holzboden und ganz zum Schluss in die Fenster, die klirrend zerbarsten. Erst als das Zimmer restlos zertrümmert war, warfen sie die Reste des Stuhls in die Ecke und rannten ins Treppenhaus.

Dort gab Nebo kleine Parcours vor und Marek versuchte ihm zu folgen. Nebo war ein viel besserer Traceur. Er konnte sehr weit springen und gezielt landen. Kraftvoll stieß er sich von der Mauer ab und drehte sich in der Luft. Außerdem trainierte er schon seit Langem einige spektakuläre Hängefiguren. Nachdem sie sich einmal durch das Treppenhaus ganz nach oben gearbeitet hatten, brach Marek plötzlich ab und lauschte in die Stille des Hauses hinein. Er hatte einen geradezu beängstigenden Instinkt dafür entwickelt, wann es Zeit war, abzuhauen.

Die Jungs nahmen den kürzesten Weg nach unten, indem sie sich durch das Treppengeländer durchfallen ließen und sich immer wieder mit kleinen Hangelbewegungen abfingen. Dann rannten sie hinaus auf die Straße und schwangen sich auf ihre Fahrräder. Am Ende der Straße sahen sie schon die ersten Soldisten um die Ecke rennen, also traten sie in die Pedale, was das Zeug hielt. Die Soldisten waren schneller da, als es einem lieb war, wenn es brenzlig wurde, aber wenn man sie brauchte, kamen sie viel zu spät oder gar nicht.

Nebo spürte, wie das Adrenalin in rasender Geschwindigkeit durch seinen Körper schoss. Er begann gerade, den Kick zu genießen, als ein Soldist vor ihm aus einem Hauseingang trat. Instinktiv riss Nebo das Lenkrad herum und bremste. Der Hinterreifen hob ab, das Fahrrad strauchelte kurz und katapultierte Nebo in hohem Bogen auf die Straße. Er schlug hart auf, schlitterte noch ein kleines Stück über die Straße und wurde unter seinem hinterherfliegenden Fahrrad begraben. Jeder Zentimeter seines Körpers brannte vor Schmerz, aber Nebo blieb der Schmerzensschrei im Hals stecken, denn der Soldist stand nur noch etwa dreißig Meter von ihm entfernt auf der Straße und grinste ihn hämisch an.

Entsetzt sah Nebo sich nach Marek um, der in einem Affentempo auf ihn zugeschossen kam. Marek hätte einfach weiterfahren können, sein Weg war frei. Aber stattdessen riss er Nebos Fahrrad hoch, nickte ihm zu und trat mit zusammengebissenem Kiefer und stur geradeaus gerichtetem Blick in die Pedale. Mit der linken Hand versuchte er, das demolierte Fahrrad im Gleichgewicht zu halten und mitzuziehen. Nebo hatte sofort verstanden, rappelte sich auf, rannte Marek hinterher und sprang auf sein Fahrrad. Hinter sich hörten sie die schweren Stiefel der Männer, die ihnen im Sprint folgten und sie in nur wenigen Sekunden einholen würden.

»Schneller«, schrie Marek verzweifelt.

»Geht nicht!«, brachte Nebo hervor und hielt sich krampfhaft mit den Händen an seinem Lenkrad fest, um das Gleichgewicht zu halten, denn sein Vorderreifen hatte sich durch den Sturz zu einer abartigen Acht verbogen. Dabei versuchte Nebo, sich so leicht wie möglich zu machen, wenn er hart in einem Schlagloch aufsetzte. Beim Aufprall auf dem Boden des Loches presste er mit geschlossenen Augen die Lippen zusammen, damit ihm nichts von dem stinkenden Wasser aus den abgestandenen Pfützen in Mund und Nase spritzte.

Plötzlich hallte ein lauter Pfiff durch die Straße, Nebo warf einen kurzen Blick zurück und sah, wie ihre Verfolger abrupt stehen blieben. Doch Marek fuhr weiter wie ein gehetzter Hund durch die Schlaglöcher und schrammte waghalsig an den spitzen Pflastersteinen entlang.

Erst als sie am Ende der Straße um die Ecke bogen, wagte Nebo erneut einen Blick zurück: Die Straße war leer, niemand rannte, niemand stand, niemand lag erschlagen auf dem Boden. Es war, als wäre nichts passiert – gar nichts.

Sie überlegten später lange, ob die Soldisten einfach zufällig in der Nähe patrouilliert und die lärmenden Randalierer gehört hatten, oder ob die Soldisten sie schon längere Zeit beschattet und ihnen nun eine fiese Falle gestellt hatten. Marek dachte eher an eine Falle, weil er die Vorstellung prinzipiell spannender fand, Nebo jedoch beschlich an diesem Tag das Gefühl, dass die Soldisten einfach überall waren. Sie waren die von jedermann gefürchteten Bewacher der Stadt. Sie waren die, von denen niemand mehr wusste, ob sie gut waren oder böse, ob sie da waren, um einen zu beschützen oder zu bekämpfen.

Wie auch immer, Nebo und Marek waren gerade noch einmal davongekommen, aber Lenyo kehrte an diesem Tag nicht mehr nach Hause zurück. Die Lamints warteten bis tief in die Nacht, doch Lenyo blieb spurlos verschwunden und keiner wusste, was mit ihm geschehen war. Wahrscheinlich war er auf dem Rückweg von der Schule noch einmal in eine Straßenfalle geraten und niemand war ihm zur Hilfe geeilt. Wäre Nebo an diesem Tag mit seinem Bruder in die Schule gefahren, hätte er ihm vielleicht helfen können. Oder er säße irgendwo zusammen mit ihm in einer der dunklen Gefängniszellen der Soldisten. Oder er läge erschlagen neben ihm im Keller einer verlassenen Nordstädter Wohnbaracke, irgendwo in der unvorstellbaren Dunkelheit des Todes.


Lautes Geschrei ließ Nebo aus seinen Erinnerungen hochschrecken. Es kam aus der Wohnung unter ihnen. Man hörte Glas klirren, dann polterte etwas laut gegen die Wand.

Nebo und Flor eilten zur Tür, öffneten sie einen Spaltbreit und lauschten in den dunklen Flur. Eine tiefe Männerstimme brüllte. Irgendetwas donnerte gegen die Tür. Dann schrie eine Frau schrill auf: »Du bringst mich um! Hör auf! Du bringst mich um!«

Flor und Nebo hasteten die Treppe hinunter und Flor klopfte laut an die Tür der Nachbarn: »Mach auf, Rina!« Drinnen herrschte plötzlich Totenstille. Als Flor noch einmal etwas eindringlicher an die Tür klopfte, öffnete diese sich schließlich langsam.

Das etwas aufgedunsene, fahle Gesicht der Nachbarin erschien im Türspalt. Ihre blonden Haare hingen heute glatt und strähnig über ihre Schläfen und Ohren. Normalerweise zwirbelte sie über Nacht ihre Haare und steckte sie fest, damit sie tagsüber in großen, unregelmäßigen Locken von ihrem Kopf abstanden und nicht in ihr Gesicht fielen.

Direkt neben der Tür stand eine ganze Sammlung leerer Schnapsflaschen. Rinas Mann hatte wieder getrunken. Das kannte man schon. Oft genug pöbelte Kovu lallend aus dem Fenster in den Hof hinunter oder von unten die Treppe hinauf. Oder die beiden stritten lauthals miteinander, bis Kovu schließlich wie heute damit begann, die halbe Wohnungseinrichtung zu zertrümmern. Wenn die Auseinandersetzungen besonders laut wurden, gingen Rina und ihr Mann am nächsten Tag nicht zur Arbeit. Dann hörte man den ganzen Tag keinen einzigen Laut aus ihrer Wohnung. Früher hatte man sich noch Sorgen gemacht, weil man dachte, dass etwas Schlimmes passiert sein könnte, dass Kovu nicht nur die Einrichtung zerschlagen hatte oder dass die Soldisten die beiden abgeholt und in eines der Gefängnisse in der Mauer gesteckt hatten. Irgendwann waren diese Tage der Stille normal geworden, man dachte sich nichts mehr dabei und wenn es zu dämmern begann, hörte man es unten wieder leise rappeln.

»Wo ist Kovu?«, fragte Flor misstrauisch.

»Im Hinterzimmer«, antwortete Rina leise und deutete ängstlich auf ihre blutende Hand.

»Komm mit hoch.« Flor zog die Nachbarin am Arm nach draußen, während sie sich mit einem Blick in die Wohnung vergewisserte, dass Kovu ihnen nicht folgte.

Oben in der Küche verarztete Flor Rinas Hand mit einer desinfizierenden Salbe. Der Geruch der Salbe vermischte sich mit Rinas Alkoholfahne zu einer beißenden Mischung.

»Was war denn los?«, fragte Flor, während sie Rina vorsichtig einen Verband anlegte.

Rina rang nach Worten: »Sie hatten heute keine Butter mehr am Verteiler, dabei war ich schon am späten Nachmittag da.«

Oft wurde ihr das Essen knapp, entweder weil Kovu nicht regelmäßig arbeiten ging oder weil er in den unsicheren Straßen bei irgendwelchen zwielichtigen Nordstädtern seine Essensmarken gegen Alkohol eintauschte. Daher stand Rina des Öfteren vor den Türen der Nachbarn und bat um etwas Essen. Doch nur noch wenige Nordstädter waren bereit, mit Lebensmitteln, ein bisschen Zahnpasta, einer halb leeren Gaskartusche, einem Stück Seife oder einer Decke auszuhelfen. Meistens wurde getauscht, selten geliehen, geschenkt bekam man nichts mehr.

»Als ich dort war, gab es noch genügend Päckchen und das war vor einer halben Stunde«, erwiderte Flor deshalb etwas unwirsch.

Nebo fragte sich, warum sie der Nachbarin auch noch das letzte bisschen Würde nehmen musste. Rina wusste doch sowieso, dass jeder im Haus ihre Lügen durchschaute.

»Da hast du wirklich Glück gehabt. Heute Nachmittag hatten sie keine mehr.« Rina sah auf ihre verbundene Hand. »Vielleicht haben sie später noch einmal Nachschub geholt.«

Unwahrscheinlich, dachte Nebo, während er langsam zum Schrank ging und Rina aus dem Hintergrund zunickte.

»Das Brot war auch schon vergriffen.« Rinas raue Stimme begann zu zittern. »Kovu wird immer so furchtbar sauer, wenn nicht genug zu essen im Haus ist.«

Nebo schmierte einen großen Löffel Butter auf einen kleinen Teller und legte zwei Brotscheiben daneben.

»Du weißt, dass Lugh krank ist. Er braucht etwas mehr zu essen als sonst, um wieder gesund zu werden.« Flors Tonfall war nun ebenso flehend wie Rinas. Sie hasste es, Bitten abzuschlagen, und meistens siegte ihr Mitleid über ihre Vernunft.

»Nur dieses eine Mal noch. Bitte. Kovu ist auch krank. Er kann im Moment nicht zur Arbeit.« Rina starrte noch immer auf den Boden. Ihre Scham war so groß, dass sie Flor nicht mehr in die Augen sehen konnte. Sie wusste, dass diese sich maßlos über die ständigen Ausflüchte ärgerte, letztendlich aber nachgeben würde.

»Solange er noch die Kraft hat, dich zu verprügeln, kann er auch arbeiten gehen«, fauchte Flor ungehalten.

Da trat Nebo in die Tür und hielt Rina den Teller hin. Flor sah ihn mit einer Mischung aus strafendem Kopfschütteln und verständnisvollem Seufzen an.

Ohne vom Boden aufzusehen, nahm Rina den Teller entgegen.

»Danke, Nebo.« Ihre Stimme klang immer noch heiser. »Wenn wir dir mal helfen können, sag Bescheid. Du bist ein guter Junge.«

Dieser Moment würde nie kommen, das wusste er natürlich. Wobei hätten die arme Rina und ihr saufender, prügelnder Nichtsnutz von Mann ihm bitte helfen können?

»Danke. Es war bestimmt das letzte Mal, Flor«, wiederholte Rina, dann drehte sie sich schnell um und stieg die Treppe hinunter.

»Ist schon gut«, murmelte Flor ihr hinterher und schloss die Tür.

Lange sah sie Nebo nachdenklich an und er machte sich auf eine gehörige Strafpredigt gefasst. Wie er das nur tun könne? Ob er vergessen habe, wie krank sein Vater sei? Ob er vergessen habe, dass sie selbst kaum genug zu essen hatten? Man könne außerdem nie wissen, wie es mit der Nahrungsmittelproduktion weitergehe. Wer weiß, ob es morgen überhaupt noch genug Essen für alle gebe! Und so weiter und so fort.

Stattdessen nahm Flor ihn einfach in den Arm und streichelte seinen Kopf.

»Du hast ja recht«, sagte sie. »Wir sind noch nicht so tief gesunken, dass wir unseren Nachbarn nicht mehr helfen.«