The Burning Sky

The Burning Sky

Der Flammende Himmel

Sherry Thomas

Inhalt

Impressum

Widmung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Epilog

Anmerkungen

Danksagung

Ein Ausschnitt aus: The Perilous Sea

Über die Autorin

Für J,

der so lieb, klug und lustig wie er großartig ist

und der diese Geschichte geliebt hat,

seitdem sie nur ein kleiner Klecks gewesen ist

Prolog

Header

Genau vor Beginn des Sommersemesters im April 1883 ereignete sich ein unbedeutender Vorfall im Eton College, der altehrwürdigen und viel gerühmten Privatschule für Jungen. Ein sechzehnjähriger Schüler namens Archer Fairfax kehrte aus seiner dreimonatigen Abwesenheit zurück, die einem gebrochenen Oberschenkelknochen geschuldet gewesen war, um seine Ausbildung fortzusetzen.

Beinahe jedes Wort im vorangehenden Satz ist falsch. Archer Fairfax hatte keinen Knochenbruch erlitten. Er hatte zuvor noch nie einen Fuß nach Eton gesetzt. Sein Name war nicht Archer Fairfax. Und tatsächlich war er nicht einmal ein Er.

Dies ist die Geschichte eines Mädchens, das Tausende von Jungen zum Narren hielt, eines Jungen, der ein gesamtes Land an der Nase herumführte, eines Bündnisses, welches das Schicksal ganzer Reiche verändern sollte, und der Macht, den größten Tyrannen herauszufordern, den die Welt je gesehen hatte.

Erwartet Magie.

Kapitel Eins

Header

Feuer war einfach.

Tatsächlich gab es nichts Einfacheres.

Man sagte, wenn eine Elementarmagierin die Flammen beschwor, stahl sie sich ein bisschen aus jedem Feuer auf der Welt. Das würde aus Iolanthe Seabourne eine ziemliche Diebin machen, die sich für eine einzige große Glut Millionen von Funken zusammenklaubte.

Die Flamme, die sie zu einer perfekten, zehn Fuß breiten Kugel geformt hatte, hing über dem rauschenden Strom des Flusses Woe. Sie winkte mit den Fingern. Wasserfontänen schossen auf und wölbten sich über dem Feuerball. Einzelne Tröpfchen schimmerten kurz in der Sonne auf, bevor sie in die Flammen fielen und in zischenden Dampf aufgingen.

Meister Haywood, ihr Vormund, hatte es immer geliebt, sie beim Spiel mit dem Feuer zu beobachten. Er war nicht der Einzige, der davon fasziniert gewesen war. Jeder, vom Nachbarn bis zum Klassenkameraden, hatte sich gern vorführen lassen, wie sie kleine Feuerbälle über ihrer Handfläche tanzen ließ, ähnlich wie Iolanthe als Kind klatschend und lachend vor Freude Meister Haywood darum gebeten hatte, seine Ohren wackeln zu lassen.

Meister Haywoods Interesse jedoch war stets um einiges tiefgehender gewesen. Im Gegensatz zu den anderen, die einfach nur unterhalten werden wollten, würde er sie dazu antreiben, feine, komplizierte Muster heraufzubeschwören und ganze Landschaften aus Feuermolekülen zu zeichnen. Und jedes Mal würde er sagen: Meine Güte, ist das aber schön, und den Kopf vor Staunen schütteln – und manchmal mit etwas, das sich beinahe wie Besorgnis anfühlte.

Aber noch bevor sie ihn hätte fragen können, was denn los sei, würde er ihr durchs Haar wuscheln und sie auf ein Eis einladen. Im Laufe von zwei Jahren hatten sie viele, viele Eisbecher zusammen genossen, Lumenbeere für ihn und Pinienmelone für sie, während sie am Fenster von Mrs Hinderstones Süßwarenladen in der University Avenue gesessen hatten, nur fünf Minuten von ihrem Haus auf dem Campus des Konservatoriums für Magische Künste und Wissenschaften entfernt, dem angesehensten Institut für fortgeschrittenes Lernen im ganzen Reich.

Iolanthe hatte seit Jahren kein Pinienmeloneneis mehr gegessen, aber sie konnte immer noch das saure, erfrischende Kitzeln auf der Zunge schmecken.

»Meine Güte, ist das aber schön.«

Iolanthe erschrak. Doch die Stimme gehörte einer Frau – genau genommen Mrs Needles, die drei Tage in der Woche für Meister Haywood hier in Little Grind-on-Woe kochte und putzte, das sich so weit weg vom Konservatorium befand, wie man es sein konnte, ohne die Grenzen des Reiches zu verlassen. Nicht, dass Meister Haywood immer noch genug verdiente, um eine Aushilfe einzustellen, aber ein wenig Haushaltshilfe war Teil seiner Abfindung.

Iolanthe löste den Feuerball auf, der immer noch in der Luft über dem rasenden, weiß schäumenden Fluss schwebte. Es machte ihr nichts aus, für die Kinder ein paar apfelgroße Handvoll Feuer zu jonglieren oder einige Girlanden aus tanzenden Flammen für Little Grinds Sonnwendball zu produzieren, aber es war ihr peinlich, ihre Fähigkeiten in diesem Ausmaß zur Schau zu stellen, mit genug Feuer auf der Hand, um das gesamte Dorf niederzubrennen.

Sofern du nicht im Königlichen Zirkus auftrittst, hatte Meister Haywood ihr stets eingeschärft, überleg es dir zweimal, bevor du deine Kräfte einsetzt. Du willst nicht als Aufschneiderin gelten – oder schlimmer noch, als Freak.

Sie drehte sich um und lächelte die Haushälterin an.

»Danke, Mrs Needles. Ich habe nur für die Hochzeit geübt.«

»Ich hatte keine Ahnung, dass Sie solch eine begabte Elementarmagierin sind, Miss Seabourne«, staunte Mrs Needles.

Im Alten Millennium, als Elementarmagier noch das Schicksal des Reiches bestimmten, hätte niemand auch nur einen zweiten Blick auf Iolanthes mittelmäßige Fähigkeiten verschwendet. Aber dies waren die letzten Tage der Elementarmagie1. Verglichen mit den meisten Elementarmagiern, die kaum genug Feuer für ein Nachtlicht herbeirufen konnten – oder genug Wasser, um sich die Hände zu waschen –, so nahm Iolanthe an, konnte man ihre Kräfte durchaus als überdurchschnittlich bezeichnen.

»Mrs Oakbluff und Rosie – und all ihre neu angeheirateten Verwandten – werden so beeindruckt sein«, fuhr Mrs Needles fort, während sie einen kleinen Picknickkorb absetzte. »Und Meister Haywood natürlich. Hat er Ihre Vorführung schon gesehen?«

»Er hat mir die Idee mit dem großen Feuerball überhaupt erst gegeben«, log Iolanthe. Die Dorfbewohner mochten Meister Haywood als Merixida-Abhängigen ansehen, der seine Schutzbefohlene vernachlässigte, aber sie weigerte sich, ihn als irgendetwas anderes als eine sorgsame, fürsorgliche Vaterfigur darzustellen.

In den sieben Jahren, seit seine Probleme begonnen hatten, hatte sie sich ein gewisses Auftreten zugelegt, eine zweite Persönlichkeit, die sie wie einen Chitinpanzer trug. Die Iolanthe, die der Außenwelt begegnete, war ein Schatz: Ein selbstbewusstes, aufgeschlossenes Mädchen, das darüber hinaus auch noch wunderbar freundlich und hilfsbereit war – selbstverständlich das Ergebnis lebenslanger Wertschätzung. Sie hatte sich so an dieses Verhalten gewöhnt, dass sie sich nicht immer daran erinnerte, was in Wahrheit dahinter steckte. Zumal sie das nicht sonderlich wollte. Warum in Enttäuschung, Verunsicherung und Zorn vor sich hinfaulen, wenn sie stattdessen auf der Oberfläche treiben und so tun konnte, als sei sie ein sonniges, charmantes Mädchen?

»Und wie geht es Ihnen heute, Mrs Needles?«, gab sie die Frage zurück. Wenn man ihnen die Wahl gab, sprachen die meisten Menschen am liebsten über sich selbst. »Und Ihrer Hüfte?«

»So viel besser, seit Sie mir diese gelenkheilende Salbe gegeben haben.«

»Das ist wundervoll, aber Sie haben sie nicht allein mir zu verdanken. Meister Haywood hat mir geholfen, sie herzustellen – er schleicht immer um mich herum, wenn ich einen Kessel vor mir habe.«

Oder möglicherweise hatte er sich auch den ganzen Tag lang in seinem Zimmer eingesperrt und Iolanthes Klopfen und die Serviertabletts voller Essen ignoriert, die sie vor seiner Tür hinterlassen hatte. Aber das brauchte Mrs Needles nicht zu wissen.

Niemand brauchte das zu wissen.

»Oh, er hat Glück, dass er Sie hat, wirklich«, sagte Mrs Needles.

Iolanthes gute Laune schwankte ein wenig – gelang es ihr letzten Endes überhaupt, irgendjemanden zu täuschen? Doch sie blieb vollkommen in ihrer Rolle. »Vielleicht wegen der paar Besorgungen, die ich ab und zu für ihn mache. Aber es gibt viel einfachere Wege, seinen häuslichen Pflichten nachzugehen, als zu dem Zweck einen Elementarmagier großzuziehen.«

Sie lachten darüber, Mrs Needles gutmütig, Iolanthe verbissen.

»Nun, ich habe Ihnen ein kleines Mittagessen mitgebracht, Miss.« Mrs Needles stieß den Picknickkorb in Iolanthes Richtung.

»Danke, Mrs Needles. Und wenn Sie heute früher gehen wollen, um sich für die Hochzeit vorzubereiten, nehmen Sie sich auf alle Fälle so viel Zeit, wie Sie wollen.«

Das würde Mrs Needles aus dem Haus schaffen, bevor Meister Haywood gereizt und orientierungslos aus seinem Merixida-Rausch erwachte.

Mrs Needles schlug eine Hand auf ihr Herz. »Das wäre nett! Ich liebe Hochzeiten und ich will so gut wie möglich aussehen bei all diesen schicken Stadtleuten.«

Rosie Oakbluffs Hochzeit würde in Meadswell stattfinden, der Provinzhauptstadt sechzig Meilen außerhalb. Während der Feier würde Iolanthe den Pfad erstrahlen lassen, auf dem Braut und Bräutigam Arm in Arm zum Altar schreiten würden. Es brachte angeblich Glück, wenn die Beleuchtung durch eine Freundin der Braut bewerkstelligt wurde, anstelle eines bezahlten Elementarmagiers, und niemanden schien es großartig zu stören, dass Iolanthe weniger eine Freundin der Braut war als jemand, der die Mutter der Braut zu bestechen versuchte.

»Wir sehen uns auf der Hochzeit«, sagte sie zu Mrs Needles.

Mrs Needles winkte ihr zu und sprang davon, nur eine kaum spürbare Verzerrung in der Luft zurücklassend, die sich schnell verflüchtigte. Iolanthe warf einen Blick auf ihre Armbanduhr – Viertel vor eins am Nachmittag. Sie war spät dran.

Und nicht nur für die Hochzeit. Sie war mindestens ein halbes Semester hintendran, was ihren akademischen Lesestoff anging. Ihre Aufklärtränke versagten immer noch. Jeder letzte Zauberspruch in Archivarische Magie wehrte sich mit Zähnen und Klauen gegen ihre Versuche, ihn zu bewältigen.

Und die erste Klausurphase, die Voraussetzung für ein höheres Studium war, begann in fünf Wochen.

Elementarmagie war die älteste Magie. Eine direkte, ursprüngliche Verbindung zwischen dem Magier und dem Universum, ohne vermittelnde Worte oder Handlungen zu benötigen. Jahrtausendelang war Subtilmagie eine blasse Nachahmung ihrerseits gewesen, die versuchte und doch niemals schaffte, an die Macht und Erhabenheit der Elementarmagie heranzureichen.

Aber an irgendeinem Punkt hatte sich das Blatt gewendet. Subtilmagie besaß nun die Tiefe und Nachgiebigkeit, sich an jedes Bedürfnis anzupassen, und Elementarmagie war ihre schwerfällige, primitive Cousine, ungeeignet für die Ansprüche des modernen Lebens. Wer brauchte schon flammenschwingende Elementarmagier, wenn Licht, Heizung und Kochtätigkeiten heutzutage allesamt mittels viel ungefährlicherer, sehr viel bequemerer Subtilmagie erledigt werden konnten?

Ohne eine grundständige Ausbildung in Feinmagie hatten Elementarmagier bemitleidenswert wenige Karrieremöglichkeiten: Zirkusse, Gießereien oder Steinbrüche, wovon Iolanthe keines gefiel. Und ohne herausragende Ergebnisse in den Zulassungsprüfungen und den damit einhergehenden Fördergeldern wäre sie niemals fähig, sich eine höhere akademische Ausbildung überhaupt leisten zu können.

Sie warf erneut einen Blick auf ihre Uhr. Sie würde noch einmal den Ablauf für die Pfaderleuchtung durchgehen, dann musste sie das Lichtelixier im Klassenzimmer überprüfen.

Ein Fingerschnipsen brachte eine weitere Feuerkugel hervor, fünf Fuß im Durchmesser. Noch ein Schnipsen und der Durchmesser des Feuerballs verdoppelte sich, eine miniaturhafte Sonne, die vor den steil abfallenden, baumlosen Klippen des gegenüberliegenden Ufers aufging.

Feuer war solch ein Genuss. Macht war solch ein Genuss. Wenn sich Meister Haywood nur ebenso einfach ihrem Willen beugen könnte. Sie verschränkte ihre Finger und riss sie dann auseinander. Der Feuerball teilte sich in sechzehn flammende Pfade auf, welche in einstimmigen Wendungen durch die Luft schossen wie ein Schwarm Fische.

Sie drückte ihre Handflächen aneinander. Die Feuerströme formten sich erneut zu einer perfekten Kugel. Ein Wink ihres Handgelenks ließ den Feuerball hoch in die Lüfte springen und sich um seine eigene Achse drehen, zahllose Funken von sich schleudernd. Ihre Hände drückten nun nach unten, ließen die Feuerkugel halb in den Fluss untertauchen und eine gigantische Wolke zischenden Dampfs aufsteigen – auf der Hochzeit würde es einen großen, spiegelnden Teich geben, und sie plante, ihn vollkommen zu ihrem Nutzen zu verwenden.

»Hör auf«, sagte eine Stimme hinter ihr. »Hör sofort auf damit.«

Sie hielt überrascht inne. Meister Haywood – er war früh auf. Sie löste das Feuer auf und drehte sich um.

Er war einst ein ansehnlicher Mann gewesen, ihr Vormund, golden und stark. Nicht länger. Schlaffes Haar fiel in sein bleiches Gesicht. Tränensäcke hingen unter seinen Augen. Seine dünne Gestalt – manchmal erinnerte er sie an eine Marionette – sah aus, als könne sie bei der kleinsten Anstrengung auseinanderfallen. Es tat niemals nicht weh, ihn so zu sehen, einen Schatten seines ehemaligen Selbst.

Aber ein Teil von ihr konnte nicht anders, als begeistert zu sein, dass er gekommen war, um ihr beim Üben zuzuschauen. Er hatte seit langer Zeit kein großes Interesse mehr an ihr gezeigt. Vielleicht würde sie ihn auch dazu bringen können, ihr mit einigen ihrer Hausaufgaben zu helfen. Er hatte ihr versprochen, sie zu unterrichten, aber sie hatte sich selbst ausbilden müssen, und sie hatte so viele unbeantwortete Fragen.

Aber zuerst: »Guten Nachmittag. Hast du schon gegessen?«

Er hätte auf leeren Magen nicht springen sollen.

»Du kannst auf der Hochzeit nicht auftreten«, sagte er.

Ihre Ohren fühlten sich an wie von Bienen gestochen. Das war es, was er ihr hatte sagen wollen? »Verzeihung?«

»Rosie Oakbluff heiratet in eine Familie von Kollaborateuren ein.«

Gerüchten zufolge hatten die Greymoors von Meadswell während und nach dem Januaraufstand mehr als hundert Rebellen ausgeliefert. Jeder wusste das. »Ja, das tut sie.«

»Es war mir nicht bewusst«, sagte Meister Haywood. Er lehnte sich an einen Felsen, das Gesicht müde und angespannt. »Ich dachte, sie würde einen Greymore heiraten – vom Clan der Künstler. Mrs Needles hat meinen Fehler soeben berichtigt und ich kann die Agenten von Atlantis nicht sehen lassen, wie du die Elemente manipulierst. Sie würden dich fortschicken.«

Sie riss die Augen auf. Wovon sprach er? Hätte sie nicht davon gehört, wenn Atlantis ein besonderes Interesse an Elementarmagiern zeigte? Kein einziger ihr bekannter Elementarmagier hatte jemals Atlantis’ Aufmerksamkeit auf sich gezogen, indem er einfach nur ein Elementarmagier war. »Jeder Zirkus hat ein Dutzend Magier, die können, was ich kann. Warum sollte mir Atlantis Beachtung schenken?«

»Weil du jünger bist und sehr viel mehr Potential hast.«

Vor zweitausend Jahren hätte sie ihn nicht hinterfragt. Streitigkeiten zwischen Ländern waren damals mittels elementarmagischen Kriegen beglichen worden. Gute Elementarmagier wurden hochgeschätzt, und großartige Elementarmagier, nun, diese wurden als menschgewordene Engel angesehen. Aber das war vor zweitausend Jahren.

»Potential wofür?«

»Für Größe.«

Iolanthe biss sich auf die Innenseite ihrer Unterlippe. In ausreichenden Mengen verursachte Merixida Wahnvorstellungen und Paranoia. Aber sie hatte Meister Haywoods hausgemachtes Destillat schon immer heimlich mit Zucker gestreckt. Hatte er irgendwo einen Vorrat, von dem sie nichts wusste? »Ich wäre liebend gern eine große Elementarmagierin, aber es hat in den letzten fünfhundert Jahren nirgendwo auf der Erde auch nur einen einzigen Großen gegeben. Und du vergisst, dass ich keine Luft manipulieren kann – niemand kann ein Großer sein, ohne die Kontrolle über alle vier Elemente zu beherrschen.«

Meister Haywood schüttelte den Kopf. »Das ist nicht wahr.«

»Was ist nicht wahr?«

Er beantwortete ihre Frage nicht, sondern sagte nur: »Du musst auf mich hören. Du wirst in großer Gefahr sein, wenn Atlantis sich deiner Macht bewusst wird.«

Iolanthe hatte sich freiwillig angeboten, den Pfad auf der Hochzeit zu beleuchten. Sie konnte sich nur vorstellen, was die Mutter der Braut, Mrs Oakbluff, sagen würde, wenn Iolanthe plötzlich Stunden vor der Zeremonie verkünden würde, dass sie es sich anders überlegt hatte.

Ihre Taschenuhr pochte. »Entschuldige mich. Ich muss das Licht­elixier aus dem Kessel nehmen.«

Sie hatte sich auch bereit erklärt, sich um die Hochzeitsbeleuchtung zu kümmern. Silbernes Lichtelixier war der letzte Schrei, aber ein Lichtelixier, das ein reines silbernes Licht ohne jeden Blaustich von sich gab, war sowohl schwierig als auch zeitaufwendig herzustellen – und sobald es gereift war, leuchtete es für genau sieben Stunden. Das gesamte Vorhaben war durchzogen von der Gefahr des Scheiterns.

Iolanthe hatte mit fünf Chargen begonnen, und nur eine davon hatte den Konservierungsvorgang überlebt. Aber das Risiko war es wert. Die Oakbluffs wollten ihrer viel vermögenderen Schwiegerfamilie zeigen, dass sie dazu imstande waren, eine beeindruckend elegante Hochzeit auf die Beine zu stellen, und eine gelungene Charge Licht­elixier war der halbe Weg zu diesem Ziel.

Iolanthe sprang und hoffte, dass Meister Haywood ihr nicht folgen würde.

Es waren Frühlingsferien; das Klassenzimmer war frei von Schülern und deren üblicher Unordnung. Die Ausrüstung für den praktischen Unterricht befand sich am anderen Ende, unterhalb eines Portraits des Prinzen. Sie deckte den größten Kessel auf und rührte in seinem Inhalt. Das Elixier klebte am Spatel, dicht und trüb wie ein Himmel kurz vor dem Regen. Perfekt. Drei Stunden Kühlung und es sollte zu schimmern beginnen.

»Hast du irgendetwas von dem gehört, was ich gesagt habe?«,  ertönte Meister Haywoods Stimme erneut hinter ihr.

Er klang nicht wütend, nur erschöpft. Ihrem Herz gab es einen Stich, als sie den Krug aus Sterling auspackte, den Mrs Oakbluff ihr für das Lichtelixier gegeben hatte. Sie wusste nicht weshalb, aber sie hatte immer einen bohrenden Verdacht verspürt, dass sie auf irgendeine Weise für seinen Zustand verantwortlich war – ein Verdacht, der tiefer ging als die bloße Schuld, sich nicht so um ihn kümmern zu können, wie sie es gewollt hätte. »Du solltest etwas essen. Deine Kopfschmerzen werden schlimmer, wenn du nicht rechtzeitig isst.«

»Ich will nichts zu essen. Ich will, dass du mir zuhörst.«

Er klang dieser Tage nur selten bevormundend – sie konnte sich nicht einmal an das letzte Mal erinnern. Sie drehte sich um. »Ich höre zu. Aber bitte vergiss nicht, dass eine derart außergewöhnliche Behauptung wie die deine – dass Atlantis mir gefährlich werden wird, weil ich so etwas Alltägliches tue wie einen Hochzeitspfad zu beleuchten – außergewöhnliche Beweise erfordert.«

Er hatte sie selbst in das Konzept eingeführt, dass außergewöhnliche Behauptungen außergewöhnliche Beweise benötigten. Sie war wie ein Schwamm gewesen, hatte jedes seiner Worte aufgesaugt, außer sich vor Freude und Stolz, einer Tochter dieses wortgewandten, gebildeten Mannes so nahe wie nur möglich zu kommen.

Das war, bevor seine Fehltritte und Lügen ihn Posten um Posten gekostet hatten und der brillante Gelehrte, der einst zu Höherem bestimmt gewesen war, jetzt ein Dorfschulmeister war – und noch dazu einer, der Gefahr lief, gefeuert zu werden.

Er schüttelte den Kopf. »Ich brauche keine Beweise. Alles, was ich tun muss, ist, dir meine Erlaubnis zu entziehen, nach Meadswell zur Hochzeit zu gehen.«

Der einzige Grund, warum sie überhaupt nach Meadswell ging, war, seine Anstellung zu retten. Es kursierten Gerüchte, dass einige Eltern, die genug von seiner Achtlosigkeit gegenüber ihren Kindern hatten, Mrs Oakbluff, die örtliche Standesbeamtin, zu seiner Entlassung drängten. Iolanthe hoffte, dass eine spektakuläre Pfaderleuchtung – das silberne Lichtelixier nicht zu vergessen – Mrs Oakbluff überzeugen mochte, ihre Entscheidung zu Meister Haywoods Gunsten ausfallen zu lassen.

Wenn selbst ein abgelegenes Dorf mit dem dringenden Bedürfnis nach einem Dorfschulmeister ihn nicht behalten wollte, wer dann?

»Du vergisst«, sagte sie, »dass die Gesetze klar besagen, dass ein Mündel die Erlaubnis seines Vormundes, sich frei zu bewegen, nicht länger braucht, sobald es sechzehn wird.«

Sie hätte ihn schon vor sechs Monaten verlassen können.

Er zog einen Flachmann aus der Tasche und nahm einen Schluck. Der widerlich süße Geruch von Merixida stieg ihr in die Nase. Sie gab vor, es nicht zu bemerken, obwohl sie ihm die Flasche am liebsten aus der Hand gerissen und aus dem Fenster geworfen hätte.

Aber sie waren nicht länger die Art von Familie, deren Mitglieder sich offen aneinander austobten. Stattdessen waren sie Fremde, die sich nach einer Reihe merkwürdiger Regeln richteten: Keine Anspielungen auf seine Sucht, keine Erwähnungen der Vergangenheit und keine Pläne für irgendeine Art von Zukunft.

»Dann wirst du mir einfach vertrauen müssen«, sagte er, seine Stimme schwer. »Wir müssen dich sicher verwahren. Wir müssen dich von den Augen und Ohren Atlantis’ fernhalten. Wirst du mir vertrauen, Iola? Bitte.«

Sie wollte es. Nach all seinen Lügen – Nein, das ist kein Spielbetrug. Nein, das ist kein Plagiarismus. Nein, das sind keine Bestechungsgelder – wollte sie ihm immer noch vertrauen, wie sie es einst getan hatte, bedingungslos, vollkommen.

»Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich kann nicht.«

Sie hatte zuvor noch nie offen eingestanden, dass sie nur auf sich selbst vertrauen konnte.

Er fuhr zurück und starrte sie an. Suchte er nach dem Kind, das ihn so haltlos geliebt hatte? Das ihm bis ans Ende der Welt gefolgt wäre? Dieses Mädchen war immer noch da, wollte sie ihm sagen. Wenn er sich nur zusammenreißen würde, hätte sie ihn gerne zur Abwechslung einmal auf sich aufpassen lassen.

Er senkte den Kopf. »Vergib mir, Iolanthe.«

Das war nicht die Antwort, die sie erwartet hatte. Ihr Atem ging schneller. Wollte er sich wirklich für alles entschuldigen, das dazu geführt hatte, dass sie ihr Vertrauen in ihn verloren hatte?

Er bewegte sich ganz plötzlich, marschierte auf den Kessel zu, während er den Deckel seines Flachmanns aufschraubte.

»Was hast du –«

Er goss sämtliches in der Flasche verbliebenes Merixida in das Lichtelixier, an dem sie sich zwei Wochen lang abgeplagt hatte. Dann drehte er sich um und zog eine stumme, Mund und Nase aufsperrende Iolanthe in seine Arme und drückte sie fest. »Ich habe geschworen, dich sicher zu verwahren, und das werde ich.«

Als sie begriff, was er getan hatte, lief er bereits aus dem Klassenzimmer. »Ich werde Mrs Oakbluff informieren, dass du die Pfaderleuchtung heute Abend nicht ausüben werden kannst, weil du dich zu sehr schämst, dass dein Lichtelixier misslungen ist.«


Iolanthe starrte auf das ruinierte Elixier, eine flache, schimmelgrüne Pfütze ohne irgendeine Spur von Zähflüssigkeit. Silbernes Lichtelixier hatte sie Mrs Oakbluff versprochen, aber silbernes Lichtelixier konnte man weder für Liebe noch für Geld in allerletzter Minute herstellen.

Verzweiflung überflutete sie, eine bittere Woge. Warum versuchte sie es so sehr? Warum bemühte sie sich, seinen Posten zu retten, wenn es niemanden sonst interessierte, am allerwenigsten ihn selbst?

Aber sie war zu sehr daran gewöhnt, ihr Selbstmitleid beiseitezuschieben und sich um die Nachwirkungen von Meister Haywoods Handeln zu kümmern. Sie war bereits am Bücherregal, zog Titel heraus, die ihr vielleicht helfen würden. Des Trankmischers Novize behandelte keine Licht­elixiere. Die rasche Lösung: Ein Handbuch der Trankmischerfehler im Klassenraum bot nur Anleitung zu Lichtelixieren, die einen fauligen Geruch von sich gaben, sich verfestigten oder nicht aufhören wollten zu zischen.

In ihrer Verzweiflung wandte sie sich dem Vollkommenen Trank zu.

Meister Haywood liebte Der Vollkommene Trank. Sie hatte keine Ahnung warum – es war der angeberischste Türstopper der Welt. Im Abschnitt über Lichtelixiere war der Text nach den Einleitungsparagraphen in Keilschrift geschrieben.

Sie blätterte weiterhin die Seiten um, hoffte auf etwas in Latein, das sie gut lesen konnte, oder Griechisch, das sie mit einem Lexikon bezwingen konnte, wenn sie musste. Aber die einzigen Absätze, die nicht in Keilschrift geschrieben waren, standen in Hieroglyphen.

Dann plötzlich, am Rand eine handgeschriebene Notiz, die sie lesen konnte: Es gibt kein Lichtelixier, egal wie verdorben, das nicht vom Blitzschlag erneuert werden kann.

Sie blinzelte – und warf rasch den Kopf zurück: sie hatte keine Ahnung gehabt, dass Tränen in ihren Augen waren. Und was für eine Art Ratschlag war das? Irgendein Elixier in einem Unwetter zu platzieren, würde dem Trank unwiderruflichen Schaden zufügen und jegliche Hoffnung zerstören, ihn wieder herzurichten.

Es sei denn … es sei denn, der Verfasser der Notiz hatte etwas anderes gemeint, einen beschworenen Blitzschlag.

Helgira die Gnadenlose hatte den Blitzen befohlen.

Aber Helgira war eine Figur aus Legenden. Iolanthe hatte alle vier Bände und zwölfhundert Seiten von Das Leben und Wirken der großen Elementarmagier gelesen. Kein wirklicher Elementarmagier, nicht einmal einer der großen, hatte jemals den Blitz gemeistert.

Es gibt kein Lichtelixier, egal wie verdorben, das nicht vom Blitzschlag erneuert werden kann.

Der Verfasser dieser Worte hatte sicherlich keinen Zweifel daran gehabt, dass es machbar war. Die Schnörkel und Windungen der kunstvollen Handschrift schäumten über vor lauter schwungvoller Selbstsicherheit. Als sie aufschaute, bekundete der Prinz in seinem Portrait jedoch nichts als Verachtung für ihre wilde Idee.

Einen Moment lang kaute sie auf der Innenseite ihrer Backe herum. Dann streifte sie sich ein Paar dicke Handschuhe über und schnappte sich den Kessel.

Was hatte sie zu verlieren?


Der Prinz war im Begriff, Dornröschen zu küssen.

Er war zerfleddert und verschwitzt und blutete immer noch aus der Wunde an seinem Arm. Sie, seine Belohnung für seinen Kampf gegen die Drachen, die ihr Schloss bewachten, war makellos und wunderschön – wenn auch in nichtssagender Weise.

Er ging auf sie zu, seine Stiefel knöcheltief im Staub versinkend. Überall auf dem Dachboden, im grauen Licht, das durch den Schmutz auf den Fensterscheiben sickerte, hingen Spinnweben so dick wie Theatervorhänge.

Er war derjenige, der die Details in dem Raum gesetzt hatte. Es war ihm, als er dreizehn war, wichtig gewesen, dass das Innere des Dachbodens die Vernachlässigung eines Jahrhunderts genaustens wiedergab. Aber jetzt, drei Jahre später, wünschte er sich, er hätte Dornröschen stattdessen einen besseren Text gegeben.

Wenn er nur wüsste, was er von einem Mädchen hören wollte. Oder umgekehrt.

Er kniete sich neben ihrem Bett nieder.

»Eure Hoheit«, hallte die Stimme seines Dieners von den Steinwänden wider. »Ihr batet, um diese Zeit geweckt zu werden.«

Wie gedacht, hatte er sich zu lange mit den Drachen aufgehalten. Er seufzte. »Und wenn sie nicht gestorben sind.«

Der Prinz glaubte nicht an das Glücklich-bis-ans-Ende-ihrer-Tage, aber es war das Lösungswort, um die Feuerprobe zu verlassen.

Das Märchen verblasste – Dornröschen, Dachboden, Staub und Spinnweben. Er schloss seine Augen vor dem Nichts. Als er sie wieder öffnete, war er zurück in seinem eigenen Gemach, ausgestreckt auf dem Bett liegend, mit seiner Hand auf einem sehr alten Buch mit Kindergeschichten.

Sein Kopf war schwummrig. Sein rechter Arm pochte, wo der Schwanz des Wyvern ihn aufgeschlitzt hatte. Aber das Gefühl von Schmerz war nur sein Verstand, der ihm Streiche spielte. Die Feuerprobe übertrug sich nicht auf das echte Leben.

Er setzte sich auf. Sein Kanarienvogel zwitscherte in seinem goldenen Käfig. Er stieß sich vom Bett ab und strich mit den Fingern über die Gitterstäbe des Gefängnisses des Vogels. Als er hinaus auf den Balkon trat, blickte er zu der prachtvollen vergoldeten Uhr in der Ecke des Raumes: Vierzehn Minuten nach zwei, der genaue Zeitpunkt, der in den Visionen seiner Mutter erwähnt wurde – und deshalb immer der Zeitpunkt, an dem er aus seinem scheinbaren Schlummer erweckt zu werden bat.

In der echten Welt, seiner Heimat, auf einem hohen Felssporn des Labyrinthengebirges erbaut, stand das bekannteste Schloss aller magischen Reiche. Viel großartiger und schöner als alles, was jemals von Dornröschen bewohnt worden war. Der Balkon bot eine prächtige Aussicht: Wasserfälle so schlank wie Seidenbänder, Tausende von Metern herabstürzend, blaue Gebirgsausläufer, mit Hunderten von schneegesättigten Seen getupft, die fruchtbaren Ebenen, die seinem Reich als Brotkorb dienten.

Aber er nahm die Aussicht kaum wahr. Der Balkon machte ihn nervös, denn es war hier, oder zumindest war es so vorhergesagt, wo sein Schicksal ihn ereilen würde. Der Anfang des Endes, denn seine prophezeite Rolle war die eines Mentors, eines Sprungbretts – derjenige, der nicht bis zum Ende des Vorhabens überleben würde.

Hinter ihm versammelten sich seine Bediensteten, die Füße schlurfend, die seidenen Übergewänder raschelnd.

»Hättet Ihr gerne einige Erfrischungen, Sire?«, sagte Giltbrace, der Erste Diener, seine Stimme ölig.

»Nein. Bereitet euch auf meinen Aufbruch vor.«

»Wir dachten, Eure Hoheit bräche morgen Abend auf.«

»Ich habe mich umentschieden.« Die Hälfte seiner Bediensteten wurde von Atlantis bezahlt. Er bereitete ihnen Unannehmlichkeiten, wo immer er nur konnte, und änderte seine Meinung ohne Unterlass. Es war notwendig, dass sie ihn als eine launenhafte Kreatur glaubten, die sich nur um sich selbst kümmerte. »Geht.«

Die Diener zogen sich zum Rand des Balkons zurück, doch sie beobachteten ihn weiterhin. Außerhalb seines Schlafgemachs und Badezimmers wurde der Prinz beinahe immer beobachtet.

Er suchte den Horizont ab, erwartete – und fürchtete – jenes noch zu geschehende Ereignis, das bereits den gesamten Verlauf seines Lebens bestimmte.


Iolanthe entschied sich für die Spitze von Sunset Cliff, eine Felswand, mehrere Meilen östlich von Little Grind-on-Woe.

Sie und Meister Haywood waren seit acht Monaten im Dorf, beinahe ein gesamtes akademisches Jahr, und dennoch raubte ihr die zerklüftete Landschaft der Midsouth-Mark – tiefe Schluchten, steil abfallende Hänge und flinke blaue Sturzbäche – immer noch den Atem. Meilenweit war das Dorf der einzige Außenposten der Zivilisation gegen einen ungezähmten Schwung wilder Natur.

Oberhalb von Sunset Cliff, auf dem höchsten Punkt der Umgebung, hatten die Dorfbewohner einen Fahnenmast aufgerichtet, der die Flagge der Domäne zur Schau stellte. Das saphirblaue Banner flatterte im Wind, der silberne Phönix in seiner Mitte strahlte unter der Sonne.

Als Iolanthe sich hinkniete, stieß ihr Knie gegen etwas Hartes und Kaltes. Das Gras um den Fuß des Fahnenmastes herum offenbarte, wenn es beiseitegeschoben wurde, eine kleine bronzene Gedenktafel, die in den Boden eingelassen war und die Inschrift DUM SPIRO, SPERO trug.

»Solange ich atme, hoffe ich«, murmelte sie die Übersetzung vor sich hin. Dann bemerkte sie das Datum auf der Tafel, den 3. April 1021. Der Tag von Baronin Sorrens Hinrichtung und Baron Wintervales Verbannung – Ereignisse, die das Ende des Januaraufstands bezeichneten, dem ersten und einzigen Mal, dass die Bewohner der Domäne die Waffen gegen Atlantis’ unumstrittene Herrschaft erhoben hatten.

Das Hissen der Flagge war an sich nichts besonders Außergewöhnliches – zumindest das hatte Atlantis noch nicht verboten. Aber die Tafel, die der Rebellion gedachte, war ein Akt des Widerstandes hier in dieser kaum bekannten Ecke der Domäne.

Zur Zeit des Aufstands war sie sechs gewesen. Meister Haywood hatte sie geschnappt und sich der Massenwanderung angeschlossen, die aus der Hauptstadt Delamer floh. Wochenlang hatten sie in einem notdürftigen Flüchtlingslager jenseits der Serpentine Hills gelebt. Die Erwachsenen hatten geflüstert und sich gesorgt. Die Kinder hatten mit beinahe krampfhafter Verbissenheit gespielt.

Die Rückkehr in die Normalität war abrupt und fremdartig gewesen. Niemand sprach über die Reparaturmaßnahmen am Konservatorium, um beschädigte Dächer und umgestürzte Statuen zu ersetzen. Niemand sprach über irgendetwas, das geschehen war.

Das eine Mal, als Iolanthe ein Mädchen getroffen hatte, das sie im Flüchtlingslager kennengelernt hatte, hatten sie sich betreten zugewunken und verlegen abgewandt, als ob etwas Schmachvolles in diesem Austausch gelegen hätte.

In den Jahren seither hatte Atlantis seinen Griff um das Reich verstärkt, den Kontakt mit der Außenwelt abgebrochen und die Reichweite seiner Macht mittels eines ausgedehnten Netzwerks an öffentlichen Kollaborateuren und verdeckten Spionen innerhalb der Domäne erweitert.

Von Zeit zu Zeit hörte sie Gerüchte von Unruhe nahe der Heimat: der Verlust des Lebensunterhalts eines Bekannten aufgrund des Verdachts von Aktivitäten, die für Atlantis’ Vorhaben von Nachteil waren; das Verschwinden eines Verwandten eines Klassenkameraden in das Inquisitorium; der plötzliche Umzug einer gesamten Familie aus der Straße in eine der entfernteren, abseits liegenden Inseln der Domäne.

Es gab auch Gerüchte, dass sich eine neue Rebellion anbahnte. Glücklicherweise zeigte Meister Haywood kein Interesse. Atlantis war wie das Wetter oder die Form des Landes. Man versuchte nicht, irgendetwas daran zu ändern; man kam damit zurecht, das war alles.

Sie ließ das Banner herab, faltete es zusammen und legte es beiseite, um Schaden zu vermeiden. Einen Moment lang fragte sie sich, ob sie sich tatsächlich in Gefahr bringen konnte, indem sie Kostproben von Feuer und Wasser zur Schau stellte. Nein, sie glaubte nicht daran. In den ersten beiden Jahren, nachdem Meister Haywood seine Professur am Konservatorium verloren hatte, hatten sie neben einer Familie von Kleinkollaborateuren gelebt, und er hatte nie Einspruch erhoben, als sie den Kindern Feuertricks gezeigt hatte.

Sie stieß den Kessel an, bis sein Metallbauch eng am Fahnenmast anlag, um den Blitzschlag besser aufnehmen zu können. Dann zählte sie fünfzig große Schritte vom Mast ab, zur Sicherheit.

Nur für den Fall.

Dass sie sich überhaupt darauf vorbereitete, dass etwas geschehen würde, verwunderte sie. Ja, nach gegenwärtigen Maßstäben war sie eine gute Elementarmagierin, aber sie war nichts im Vergleich zu den Großen. Was ließ sie denken, dass sie eine Heldentat erreichen konnte, von der man außer in Legenden noch nie gehört hatte?

Sie blickte hinauf in den wolkenlosen Himmel und nahm einen tiefen Atemzug. Sie konnte nicht sagen weshalb, aber sie wusste tief in ihrem Inneren, dass der anonyme Ratschlag in Der Vollendete Trank richtig war. Sie brauchte nur den Blitz.

Aber wie rief man einen Blitz?

»Blitz!«, schrie sie, den Zeigefinger gen Himmel stoßend.

Nichts. Nicht, dass sie etwas beim ersten Versuch erwartet hätte, aber dennoch war sie ein wenig ernüchtert. Vielleicht würde Visualisierung helfen. Sie schloss ihre Augen und stellte sich einen Pfeil aus Knistern vor, der Himmel und Erde verband.

Wieder nichts.

Sie schob die Ärmel ihrer Bluse zurück und zog ihren Zauberstab aus ihrer Tasche. Ihr Herz schlug schneller; sie hatte ihren Zauberstab noch nie zuvor für Elementarmagie verwendet.

Ein Zauberstab war ein Verstärker der Macht eines Magiers; je größer die Macht, umso weiter wurde sie verstärkt. Wenn sie erneut scheiterte, würde es ein niederschlagendes Scheitern sein. Aber wenn es ihr gelang …

Ihre Hand zitterte, als sie den Zauberstab hob, um ihn direkt über sich zu richten. Sie atmete so tief ein wie möglich.

»Zerschmettere diesen Kessel, wärst du so freundlich? Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit!«

Das erste Leuchten erschien außergewöhnlich hoch in der Atmosphäre und scheinbar einen Kontinent entfernt. Eine Linie weißen Feuers schwirrte über den Bogen des Himmels, wölbte sich anmutig gegen das tiefe, wolkenlose Blau.

Sie stürzte ihr entgegen – sengender, strahlender Tod.