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Ulrich Chaussy

Das Oktoberfest-Attentat und der Doppelmord von Erlangen

Wie Rechtsterrorismus und Antisemitismus seit 1980 verdrängt werden

Ch. Links Verlag, Berlin

Die Fotos auf der Einbandrückseite stammen von Oswald Baumeister und aus dem Archiv von Ulrich Chaussy:

26. September 1980, ca. 22.30 Uhr, München, Eingang zur Festwiese: Nach der Detonation der Bombe versorgen Helferinnen Verletzte des Oktoberfest-Attentats.

6. August 1977, ca. 12.15 Uhr, Nürnberg, Am Hauptmarkt: Rabbiner Shlomo Lewin spricht auf der Kundgebung gegen den von Neonazis geplanten »Auschwitz-Kongress«.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage, September 2020
entspricht der 3., aktualisierte und erweiterte Auflage vom September 2020
© Christoph Links Verlag GmbH, 2014
Prinzenstraße 85 D, 10969 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de
Den Seiten 17–199 dieses Buches liegt die 1985 bei Luchterhand erschienene Ausgabe »Oktoberfest. Ein Attentat« zugrunde. Die Seiten 200–249 gehen auf die Ausgabe »Oktoberfest. Das Attentat« von 2014 zurück.

ISBN 978-3-96289-100-8

eISBN 978-3-86284-487-6

INHALT

1980–2020. Einzeltäter. Immer wieder Einzeltäter

Das Paket. Wie mit einer Aktenlieferung alles begann

Nachtschicht 22.19 Uhr. Die Bombe, die Opfer, die Helfer und die Politiker

Augen-Blicke. Zeugen gegen die Einzeltäterschaft

Noch einmal. Hinweise auf Komplizen

Wiesnbummel. München verdrängt, Opfer erinnern

Spuren nach rechts. Der verdächtige Tote

Chef-Kommandos. Die »Wehrsportgruppe Hoffmann«

Akte Lauterjung. Der Tod des unerwünschten Hauptzeugen

Schlüssel und Schloss. Die Soko ermittelt in Donaueschingen

Manöver hier und dort. Wehrsportler packen aus

Panorama. Lauterjungs Angst und Tod

Memento mori. Von der Unwilligkeit, zu trauern

Flötenstunde. Das Krisenpsychogramm von Gundolf Köhler

Seismograf. Lauterjungs Demontage und Tod

Der Unfall. Die Situation der Opfer

Interrail. Besuch bei einer Freundin Gundolfs

Generalprobe? Rechtsanwalt Dietrichs Kampf für die Opfer

Positiver Verfassungsschutz. Langemanns Machenschaften

Donaueschingen. Gundolf Köhlers Umfeld

Tübingen. Köhlers Kontakte ins rechtsextreme Netz

Bruder Gundolf. Die Familie Köhler

Kein rechtes Maß. Rebmanns Nachermittlungen 1984

Epilog 1985. Prolog 2014

Blut und Spucke. Neue Spuren aus alten Beweismitteln

Die unbekannte Hand. Wie ein Verdächtiger fast spurlos verschwindet

Bermudadreieck Karlsruhe. Die Vernichtung der Asservate

Wolfszeit. Der rechtsextreme Waffenwart Heinz Lembke

Der Fall ist geklärt. Ein zweiter Besuch in der Bundesanwaltschaft Karlsruhe

Köhlers Profiler. Klaus Pflieger, ein nachdenklicher Ermittler

Kryptisches im Aktenlabyrinth. Hauptakten, Spurenakten und spurlos Verschwundenes

30 Jahre in 90 Minuten. Die Idee zum Spielfilm »Der blinde Fleck«

Eine Hinrichtung. Die vergessenen Morde an Shlomo Lewin und Frida Poeschke

Zwei Morde und ein Rufmord. Die Schüsse in der Erlanger Ebrardstraße und ihr Echo

Truppenschau. Ein Italiener reist durchs deutsche Nazi-Netzwerk

»Wir haben das Fürchten verlernt«. Der Jude Shlomo Lewin gegen die Holocaust-Leugner

Hoffmanns Erzählungen aus dem Morgenland. Die Erfindung der antisemitischen Verschwörungstheorie zum Oktoberfest-Attentat

»Rache für München«. Der Chef modelliert einen Einzeltäter und lässt ihn verschwinden

In dubio pro reo. Wie der Doppelmord von Erlangen vor Gericht ohne Sühne blieb

Der blinde Fleck. Ein fiktionaler Film und seine Weiterungen in die Wirklichkeit

Alte Akten, neue Fragen. Neustart der Recherche 2014

In der Gerichtsmedizin. Professor Eisenmengers Nachsuche

Schleusen der Erinnerung. Missachtete Zeugen

Alles auf Anfang. Die Wiederaufnahme der Ermittlungen

Mann ohne Hand. Neue Zeugen

Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Oktoberfest-Attentat und Geheimdienste

Vorhang auf, und alle Fragen wieder offen. Momentaufnahme November 2015

Kein Schlussstrich! Was ich noch immer wissen möchte

Anhang

Dank

Literatur- und Archivhinweise

Ergänzende Dokumentationen

Personenregister

Über den Autor – Ulrich Chaussy

1980–2020

Einzeltäter.
Immer wieder Einzeltäter

Killer des NSU leben zehn Jahre unentdeckt im Untergrund und ermorden Mitbürger aus Migrantenfamilien, weil sie keine Deutschen sind. Ein Neonazi exekutiert kaltblütig den CDU-Politiker Walter Lübcke, weil er sich für Geflüchtete einsetzt. Ein Antisemit scheitert nur knapp bei seinem Versuch, am Versöhnungstag Yom Kippur ein Massaker in der Synagoge von Halle anzurichten; er will die Gottesdienstbesucher töten, weil sie Juden sind. Ein Rassist erschießt in Hanau auf offener Straße und in verschiedenen Lokalen zehn Menschen, weil er nur »reinrassige Deutsche« in Deutschland dulden will.

Terror von rechts und mörderischer Antisemitismus und Rassismus sind in Deutschland im Jahr 2020 bittere Realität. Niemand kann das heute noch leugnen oder totschweigen. Aber das war nicht immer so. Es gab auch vor 40 Jahren solche Verbrechen, doch ihr Ursprung wurde verdrängt und uminterpretiert, mit fatalen Folgen. Sie wurden nicht aufgeklärt und sie wurden vergessen. Davon handelt dieses Buch, das auch vom allmählichen Lernprozess seines Autors über vierzig Jahre hinweg berichtet. Es führt bis in das Jahr 1980 zurück, zum Beginn meiner Recherchen, es protokolliert und aktualisiert diese in mehreren Etappen über vier Jahrzehnte hinweg bis in das Jahr 2020. Abgeschlossen sind sie bis heute nicht.

Die Recherche zu diesem Buch begann für mich als Radiojournalist, der über den ersten und bis heute schwersten rechtsextremen Terroranschlag in der deutschen Nachkriegsgeschichte berichtete, dem Oktoberfest-Attentat in München. Zwölf Menschen starben, der dreizehnte Tote war einer der Attentäter. 213 Menschen wurden verletzt, über 60 von ihnen schwer.

Dieses Buch handelt auch vom ersten judenfeindlichen Gewaltverbrechen in Deutschland nach dem Ende des Nationalsozialismus. Es fand nur drei Monate nach dem Anschlag von München in Erlangen statt und ist, anders als das Oktoberfest-Attentat, weitgehend vergessen. Getötet wurden der jüdische Rabbiner und Verleger Shlomo Lewin und seine Lebensgefährtin Frida Poeschke. Zu den vorerst letzten Jahresringen meiner vier Jahrzehnte umfassenden Recherchen gehört, dass sich mir der enge inhaltliche und personelle Zusammenhang dieses Verbrechens mit dem Oktoberfest-Attentat erst in jüngster Zeit erschloss. Das Bindeglied ist eine antisemitische Verschwörungstheorie aus der Feder des faschistoiden Milizenführers Karl-Heinz Hoffmann. Sie induzierte den tödlichen Hass im Kopf des mutmaßlichen Erlanger Täters Uwe Behrendt und trieb ihn zu seinem Mord an dem ihm unbekannten jüdischen Opfer Shlomo Lewin und seiner Lebensgefährtin Frida Poeschke an.

Der Doppelmord von Erlangen blieb auch nach einer jahrelangen Gerichtsverhandlung ungesühnt. Das Oktoberfest-Attentat ist mittlerweile, nach den kurz vor Redaktionsschluss dieses Buches beendeten zweiten Ermittlungen, als rechtsterroristische Tat eingestuft und trotzdem bis heute nicht wirklich aufgeklärt. Ich fürchte, dass es dabei in beiden Fällen bleiben wird, aus guten, schlechten Gründen. Sie sind im polizeilichen, justiziellen und geheimdienstlichen Umgang mit rechtextremistischen Tätern und Taten zu finden. Zu meinen irritierenden Erfahrungen gehört, dass einige derjenigen, die für die Aufklärung der Verbrechen und für die Bestrafung der Täter zuständig waren, voreingenommen dachten und nicht ergebnisoffen nachforschten. Darauf bin ich in meinen Recherchen immer wieder gestoßen. Über die Jahre und Jahrzehnte, jeweils nach den Jahrestagen und nach Veröffentlichungen im Rundfunk, in Buchform, in der Printpresse, im Fernsehen untermauerten und ergänzten Zeuginnen und Zeugen dieses Bild. Viele Hinweise kamen auch von ehemaligen Mitarbeitern von Ermittlungsbehörden. Für mich völlig unerwartet hat das fiktionale Format des Spielfilms »Der blinde Fleck« im Jahr 2013 eine Lawine von Hinweisen ausgelöst. Es war dieser interaktive Input, der mich zur Fortführung meiner Recherchen antrieb – und der auch den Opferanwalt Werner Dietrich zur Formulierung seines endlich erfolgreichen, dritten Wiederaufnahmeantrags verhalf.

Im Dezember 2014 verfügte Generalbundesanwalt Harald Range die Wiederaufnahme der Ermittlungen. Damit kam die von der Bundesanwaltschaft 1982 festgezurrte Version des Geschehens beim Oktoberfest-Attentat vom Tisch: Den flugs eingestellten Ermittlungen des Generalbundesanwalts zufolge – damals Dr. Kurt Rebmann – hatte der Attentäter von München mit der von ihm gelegten Bombe gar keinen politisch motivierten Terroranschlag im heißen Bundestagswahlkampf 1980 verübt. Nein. Gundolf Köhler, aktiv bei der völkischen Wiking-Jugend und der von dem Rechtsextremisten Karl-Heinz Hoffmann geführten Wehrsportgruppe, soll aus privater Verzweiflung am Eingang zur Theresienwiese Selbstmord begangen haben. Nicht in den eigenen vier Wänden, nicht auf dem Marktplatz seiner Heimatstadt Donaueschingen, sondern inmitten der auf dem Heimweg befindlichen, zufällig vorbeiströmenden Oktoberfestbesucher. Der Typus des Einzeltäters wurde von den deutschen Ermittlern, Staatsanwälten bei den Ermittlungen zum Oktoberfest-Attentat wie ein Golem aus Aktenpappmasche geformt, mit Vulgärpsychologie verkleistert und auf die Terrorbühne gestellt. Solch ein Einzeltäter mag gelegentlich rechtsextrem schwadroniert und sich sogar engagiert haben. Wenn er aber eines Tages in Aktion tritt, so tut er dies vor allem als allein vor sich hin tickende Zeitbombe mit unberechenbarer emotionaler Selbstzündung. Den ideologischen und organisatorischen Netzwerken, in denen jene Einzeltäter sozialisiert und beeinflusst wurden, wird keine oder eine vernachlässigbare Bedeutung zugemessen.

Der rechtsextreme Einzeltäter ist von Polizisten, Kriminalisten und Juristen auf wundersame Weise als Komplementärmodell zum linken Attentäter à la RAF erschaffen worden, mit dem sich Polizei, Justiz und Politik zuvor in den siebziger Jahren zu befassen hatten. Was immer der einzelne linke Terrorist tat, ein jeder und eine jede wurde als ein ideologischer Klon all seiner Genossen begriffen. Nach dieser Logik war, wer einer Gruppe zugerechnet werden konnte, Teil eines kollektiven Hirns, gleichermaßen am Tatentschluss beteiligt, Teil eines Netzwerks und – vor den Schranken eines Gerichts gelandet – im gleichen Maß dafür verantwortlich gemacht.

Ganz anders wurde verfahren, als parallel zum in den siebziger Jahren dominierenden Linksterrorismus auch erste Gewalttaten von Rechtsextremisten begangen wurden. Das gilt zum Beispiel für den Mordanschlag auf den Studentenführer Rudi Dutschke am 11. April 1968. Schon der Dutschke-Attentäter Josef Bachmann wurde 1969 vor Gericht als Einzeltäter eingestuft und seine Einbindung in die rechtsextreme Szene Niedersachsens verschleiert. Ausgerechnet jener Jugendfreund, der Bachmann jahrelang mit Waffen und Munition versorgte, wahrscheinlich auch mit der Tatwaffe für das Dutschke-Attentat, ist nicht vor Gericht geladen worden, obwohl Bachmann seinen Namen genannt hatte. 1968 war jener Wolfgang Sachse noch in der NPD, ein paar Jahre später baute er Bomben für die rechtsterroristische Braunschweiger Gruppe.

Dieses Muster wird seit dem Aufflammen des Rechtsterrorismus im Jahr 1980 immer auf Neue wiederholt: Weisen Verdachtsmomente nach einer Gewalttat auf einen Täter aus der rechten Szene, soll es stets ein allein verantwortlicher Einzeltäter gewesen sein, so auch im Dezember 1980 beim Mord am ehemaligen Vorsitzenden der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg und seiner Lebensgefährtin Frida Poeschke. Dabei war der mutmaßliche Mordschütze Uwe Behrendt bis zum Verbot der Wehrsportgruppe des Rechtsextremisten Karl-Heinz Hoffmann dessen rechte Hand in der WSG und wohnte bei seinem Chef. Der monatelang in die falsche Richtung ermittelnden Polizei konnte Behrendt mit Hoffmanns Hilfe in den Libanon entfliehen; er wurde nie gefasst und beging dort angeblich Selbstmord.

Im geschichtsträchtigen Schwurgerichtssaal 600, einst Schauplatz der Prozesse gegen die Nazi-Hauptkriegsverbrecher, pulverisierten die Richter des Landgerichts Nürnberg-Fürth die Anklage der Staatsanwaltschaft gegen Karl-Heinz Hoffmann wegen Anstiftung zum Mord an Shlomo Lewin. Aus Uwe Behrendt, dem mutmaßlichen ausführenden Mordschützen, den Karl-Heinz Hoffmann, kaum war er selbst in Verdacht gekommen, als alleinigen Täter benannt hatte, modellierten die Richter einen außer Kontrolle geratenen todbringenden Zauberlehrling, an dessen Entschluss, Plan und Mordaktion sein Herr und Meister Hoffmann keinen Anteil gehabt haben soll, und wovon dieser rein gar nichts wusste. Folglich befand das Gericht nach 185 Verhandlungstagen, dass der rechtsextreme Uwe Behrendt den Doppelmord von Erlangen ganz allein zu verantworten habe. Vor dem Gericht in Nürnberg Stellung nehmen, leugnen, gestehen und am Ende Sühne leisten konnte auch dieser Einzeltäter nicht, er soll sich schon vor dem Beginn des Prozesses in Nürnberg im Hoffmann’schen Wehrsportcamp im Libanon selbst getötet haben.

Der Mythos vom Einzeltäter begleitet die halbherzige polizeiliche, juristische und politische Bekämpfung des Rechtsextremismus seit den Anfängen der deutschen Nachkriegsgeschichte bis heute. Als Gegengift hilft nur unbeirrte Recherche, die Schicht für Schicht freilegt, nicht nur Tat und Täter und ihr Umfeld genauestens betrachtet, sondern auch hinter die Kulissen schaut. Das begann für mich mit dem unbefangenen Nachvollzug der polizeilichen Ermittlungen. Welche Indizien und Zeugenaussagen wurden als wichtig erachtet, welche ließ man fallen? – Meine Recherchen und Veröffentlichungen generierten immer wieder neue Zeugenhinweise, die mir zugetragen wurden, mich weiterführten und mir eindringlich vermittelten, dass die Geschichten des Oktoberfest-Attentats und des Erlanger Doppelmordes nicht zu Ende erzählt sind. Im Fall des Oktoberfest-Attentats ist das kein Wunder. Es ist in München eine offene Wunde, das Ereignis hat die Stadt geprägt, abertausende Münchnerinnen und Münchner haben den 26. September so ähnlich vermerkt wie später Millionen den 11. September 2001. Kaum jemand hat je die offizielle Einzeltäterthese geglaubt.

Seit der Selbstenttarnung des NSU im November 2011 wird Verharmlosungen, Individualisierungen und Personalisierungen der Art, wie sie beim Oktoberfest-Attentat und beim Erlanger Doppelmord standardmäßig verlautbart wurden, mit wacher Skepsis begegnet. Die kritische Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit nimmt allmählich zu, organisiert und verstetigt sich in bürgerschaftlichen Projekten wie dem apabiz – Archiv in Berlin, dem a.i.d.a. – Archiv in München oder Projekten wie der NSU-Watch. Polizeiliche Ermittler vermeiden heute meist den traditionellen Reflex, sich frühzeitig auf einen Einzeltäter festzulegen. Und allmählich schärfen Polizistinnen und Polizisten ihre Aufmerksamkeit gegenüber rassistischen und antisemitischen Motiven bei Angriffen auf migrantische, jüdische oder muslimische Mitbürgerinnen und Mitbürger – nicht immer, aber immer öfter. Nur auf der Ebene der Justiz halten Staatsanwaltschaften inklusive der Bundesanwaltschaft, aber auch Gerichte wo immer möglich am Einzeltätermythos fest. Im spektakulären Fall NSU haben die Bundesanwaltschaft und das Oberlandesgericht München das Schema variiert: Aus dem Einzeltäter wurde ein verschworenes, angeblich abgeschottetes Trio: Mundlos, Bönhardt, Zschäpe. Nur einige der dem Trio besonders nahen Helferinnen und Helfer standen mit vor Gericht und kamen mit geringen Strafen davon. Alle weiteren Strukturen wurden von der Bundesanwaltschaft und dem Gericht vollständig ausgeblendet, deren Gefährlichkeit am Fall NSU im öffentlichen Bewusstsein so deutlich wie nie zuvor realisiert worden ist: Das hatte mit dem rechtsextremen, ausländerfeindlichen Kameradschaftsnetzwerk mit dem harmlosen Namen Thüringer Heimatschutz begonnen. Aus ihm rekrutierte sich, in ihm radikalisierte sich das spätere Trio zum Mordkommando, das, unterstützt von einem großen Umfeld, ein Jahrzehnt, vom Jahr 1998 an im Untergrund leben konnte. Zu dritt planten Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt Banküberfälle und Morde; mit logistischer Hilfe des Umfelds, das Waffen beschaffte und Tatfahrzeuge besorgte, gingen sie zu Werk. Die beiden Uwes raubten 15 Banken und Geschäfte aus und begingen drei Sprengstoffanschläge. In der Reduktion der terroristischen Vereinigung NSU auf das Trio, dem die Bundesanwaltschaft die gesamte Täterschaft zuordnete, offenbarte sich dann auch im Fall NSU, dass rechte Netzwerke auch weiterhin nicht ernst genommen und konsequent bekämpft werden. Dabei war die bundesweite Mordserie der aus der Ferne anreisenden Mörder auch nicht denkbar ohne Hilfe vor Ort. Mundlos und Böhnhardt erschossen mit der immer gleichen zeichenhaften Mordwaffe neun Mitbürger aus Migrantenfamilien und eine deutsche Polizistin. Die Polizei war den NSU-Tätern nach ihrem Abtauchen in den Untergrund und noch vor dem Beginn ihrer Mordserie auf den Fersen, aber fasste sie nicht. Verfassungsschützer finanzierten den Aufbau des Thüringer Heimatschutzes und hatten damit von Anfang an V-Leute auch im Umfeld der später untergetauchten NSU-Aktivisten. Anstatt sie ausfindig zu machen und sie der Polizei zu melden, warnten sie die Szene und behinderten die polizeilichen Ermittlungen gegen das Trio, anstatt ihren Erfolg zu befördern. Man muss sich nicht wundern, dass der NSU weiter existiert.

Kurz vor Redaktionsschluss dieses Buches stellte Bundesinnenminister Horst Seehofer mit Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang den Verfassungsschutzbericht 2019 vor. Rechtsextremistische, rassistische und antisemitische Straftaten haben erneut deutlich zugenommen. »Dieser Bereich ist die größte Bedrohung für die Sicherheit in Deutschland«, verkündete Bundesinnenminister Horst Seehofer mit für ihn ungewöhnlich deutlichen Worten.

In den selben Julitagen mehrten sich flankierend beunruhigende Nachrichten: Nicht nur die Rechtsanwältin Seda Basay-Yildiz hat schon vor Monaten mit »NSU 2.0« unterzeichnete Mails mit Morddrohungen erhalten, das Gleiche gilt inzwischen auch für die Fraktionsvorsitzende der Partei DIE LINKE im hessischen Landtag, Janine Wissler, und ihre Kolleginnen, die Fraktionschefin im Berliner Abgeordnetenhaus Anne Helm und die Bundestagsabgeordnete Martina Renner. Sie alle sind Politikerinnen, die sich klar gegen Rechtsextremismus, Rassismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit positionieren. Die dabei verwendeten persönlichen Daten der Betroffenen in Hessen haben die Drohbriefschreiber aus einem Frankfurter Polizeicomputer. Damit wird ein weiteres rechtsextremes Netzwerk sichtbar, dass sich in einer für unsere Sicherheit und die Aufrechterhaltung des Rechtsstaates fundamental wichtigen Institution eingenistet hat: in der Polizei. Kurz davor hatten sich die Erkenntnisse über rechtsextreme Netzwerke im Kommando Spezialkräfte (KSK) der Bundewehr so verdichtet, dass die Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer die Notbremse zog und sich veranlasst sah, mit der Auflösung des gesamten Verbandes zu drohen, in dem sich Zellen miteinander verschworener Rechtsextremer gebildet haben, die Waffen, Munition und Sprengstoff horten und für den Tag X des Aufstands planen.

Die zu Grunde liegende Ideologie erinnert an die Träume der rechtsextremen Wehrsportgruppenbewegung der 80er Jahre, wie sie mir die Mitglieder der nach dem Vorbild der WSG Hoffmann in München gebildeten »Jungen Front« am Anfang meiner Recherchen 1979 darlegten: »Wir bereiten uns vor für die Auseinandersetzung nicht nur mit dem politischen Gegner, auch mit dem Staat, weil wir damit rechnen, dass in absehbarer Zeit eine ziemliche Krise auftreten wird in der Wirtschaft, dass der Kapitalismus zu Grunde gehen wird – und das wird nicht reibungslos ablaufen.« Dass ihre Vorstellungswelt und die Handlungskonzepte heute fortleben und eingewandert sind in den Kernbereich der Institutionen, die die innere und äußere Sicherheit unseres demokratischen Rechtsstaates garantieren sollen, ist alarmierend. Es ist nur ein schwacher Trost, dass in diesen Fällen heute begriffen wird, dass wir es tatsächlich mit vielen zu tun haben, die sich in schlagkräftigen Netzwerken organisieren und radikalisieren. Die Einzeltäter, sie gibt es auch und zusätzlich immer noch, Einzeltäter neuen Typs. Sie müssen nicht mehr vor einem operettenhaften selbsternannten Wehrsportgeneral exerziert und sich dessen krude Verschwörungserzählungen angeeignet haben. Diese gibt es heute auch frei Haus per Internetanschluss, samt Bauanleitung für Waffenteile aus dem 3D-Drucker.

DAS PAKET

Wie mit einer Aktenlieferung alles begann

Der Postbote schnaufte, als er mir das Paket heraufbrachte. Format kleine Umzugskiste, braunes Packpapier, verschnürt, kiloschwer. Zwei zwanzig Zustellgebühr. Ich schaute auf den Absender: K. Rebmann, Karlsruhe, Herrenstraße. Keine Ahnung, warum mir der Generalbundesanwalt ein Paket schicken sollte. Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, dass Herr Rebmann an irgendjemand ein Paket mit seinem Namen darauf einfach so schicken würde. Der wirkliche Absender bewies allein schon mit der Namenswahl einen gewissen Sinn für Humor, und das weckte meine Neugierde auf den Inhalt. Ich gab dem Postboten die Gebühr und nahm mir das Paket.

Es war nicht schlampig gepackt und auch nicht so akribisch, wie das die Poststelle einer hohen Behörde erwarten ließe. Der Wellpappkarton war vollgepackt mit Fotokopien, zwei Stapel nebeneinander, ohne erkennbare Ordnung, ohne Begleitschreiben. Ich blätterte die Papiere durch, sah Amtsnamen, Aktenzeichen, ausgefüllte Formulare, Skizzen, Fotos, Stempel und Unterschriften. Dieses Paket hätte tatsächlich von Herrn Rebmann stammen können, denn er, der Generalbundesanwalt, war der Leiter des Ermittlungsverfahrens, dessen Akten ich – in Kopie, auszugsweise – in Händen hielt. Die Tat, die darin untersucht wurde, hatte im Herbst 1980 für einige Tage die Republik erschüttert. Die Aufregung hatte einige Wochen lang in Schlagzeilen und Leitartikeln nachgebebt und war dann in Kurzmeldungen verebbt.

Beim Auspacken und Sortieren des Aktenstapels kam mir in den Sinn, wie ich einige Zeit zuvor meine Erinnerung mit ein paar leicht vergilbten Zeitungsausschnitten aus dem Archiv im Bayerischen Rundfunk aufzufrischen versucht hatte:

»Gundolf Köhler dürfte als Alleintäter gehandelt haben. Für eine Mittäterschaft oder auch nur Mitwisserschaft anderer an dem Sprengstoffanschlag auf das Münchner Oktoberfest ließen sich keine konkreten Anhaltspunkte erkennen. Zu diesem abschließenden Ergebnis kam jetzt die ›Sonderkommission Theresienwiese‹, acht Monate nach dem Bombenattentat, das am 26. September vergangenen Jahres 13 Menschenleben und über 200 Verletzte forderte.« So stand es am 2. Juni 1981 im Münchner Merkur und ähnlich in anderen Zeitungen. Meine Archivrecherche zwei Sommer später war Auftragsarbeit. Ein Rechtsanwalt hatte die Ermittlungen im Fall Oktoberfest-Attentat öffentlich kritisiert; seine Kritik fand das Interesse eines Rundfunkredakteurs, der schickte mich zum Interview mit dem Anwalt.

Ich fuhr in seine Kanzlei. Der Anwalt war vorsichtig und knapp mit seinen Auskünften gegenüber dem unbekannten Reporter. Er habe zwei Mandanten, erzählte Werner Dietrich, beide Opfer des Oktoberfest-Attentates. In ihrem Namen habe er öffentlich Protest erhoben, weil Generalbundesanwalt Kurt Rebmann im Dezember 1982 die Ermittlungen in Sachen Oktoberfest-Attentat offiziell eingestellt hatte. Er habe Akteneinsicht gefordert, um sich über das Ergebnis der Ermittlungen ein genaues Bild machen zu können. Über diesen Protest hätten im Januar 83 die Zeitungen berichtet – und dann sei Merkwürdiges geschehen. Zeugen meldeten sich. Sie alle seien sehr erstaunt, mit welchem Ergebnis der Fall zu den Akten gelegt worden sei: Da habe ein einzelner Mann, der Student Gundolf Köhler aus Donaueschingen, allein diese Bombe gebaut, nach München gebracht und gezündet. Sie selbst hätten der Polizei doch schon in den Wochen danach ganz andere Beobachtungen berichtet. Verschiedene Beobachtungen an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten seien das, sagte Dietrich, doch eines sei ihnen allen gemeinsam: Gundolf Köhler sei nicht alleine in München gewesen. Um diese Angaben überprüfen zu können, müsse er mehr kennen als die Abschlussberichte der Ermittler, er fordere, es müsse ihm Einblick gewährt werden in alle Spuren- und Ermittlungsakten.

Ich schaltete mein Tonband ab und ging. Von der Redaktion aus rief ich die Bundesanwaltschaft an. Kein Kommentar, hieß es da. Herr Rechtsanwalt Dietrich solle erst mal seine geheimnisvollen Zeugen präsentieren. Aus all dem wurde ein Dreieinhalb-Minuten-Radiobericht im »Abendjournal« des Bayerischen Rundfunks.

Diese Recherchen und der daraus entstandene Radiobeitrag am 9. Mai 1983 waren der unverhofften Zustellung des Aktenpaketes vorausgegangen. Ich machte mich daran, dessen scheinbar amorphem Inhalt mit Aktenlocher, Heftstreifen, Büroklammern und Hängemappen eine Art innerer Ordnung abzutrotzen. Das Herumlesen und Bündeln ließ mit der Zeit eine klare Hierarchie des Materials erkennen. Die zahllosen kleinen, dünnen Bündel bildeten das Rohmaterial; es bestand aus Zeugenaussagen, Gutachten und Aktenvermerken der Ermittlungsbeamten. Es gab offenkundig viel mehr von diesem Stoff als das wenige, was vor mir lag und vielleicht drei Aktenordner füllte. Denn die Zeitungen hatten berichtet, es sei die letzte Amtshandlung der Sonderkommission Theresienwiese gewesen, 26 Ordner mit Ermittlungsakten zum Generalbundesanwalt nach Karlsruhe zu schaffen. Aus diesem Material hatten die Polizisten und Staatsanwälte die Bausteine ihres Puzzlebildes jener Nacht auf dem Münchner Oktoberfest zusammengesucht. Die beiden dicksten Papierbündel, die bei meiner Sortierarbeit am Ende übrigblieben, enthielten dieses Puzzlebild in zwei leicht unterschiedlichen Versionen. Da war zunächst der »Schlussvermerk« des Bayerischen Landeskriminalamtes vom Mai 1981, 187 Seiten und sechs Fotoanlagen stark. Gemessen daran, nahm sich das letzte Wort der höchsten Justizbehörde in der Sache eher schmächtig aus: Der Schlussbericht des Generalbundesanwaltes vom 23. November 1982 in Sachen »Ermittlungsverfahren gegen 1. Karl-Heinz Hoffmann aus Ermreuth u. a., 2. Unbekannt, wegen Mordes, Vergehens nach § 129 a StGB und anderer Straftaten« ist gerade 96 Seiten lang.

Mit diesen beiden Dokumenten hielt ich in der Hand, was als offizielle Wahrheit über das Oktoberfest-Attentat ermittelt und doch nie vollständig, immer nur in der matten Blaupause kurzer Pressetexte veröffentlicht worden war, Nadelöhre, durch die nur noch dünnere Presseberichte dringen konnten. Ich nahm mir vor, die Spuren der Ereignisse jener Nacht aufzunehmen und ihnen zu folgen.

NACHTSCHICHT 22.19 UHR

Die Bombe, die Opfer, die Helfer und die Politiker

Freitag, der 26. September 1980, war der Tag, an dem der Zivildienstleistende Michael Angerer zum ersten Mal seit seiner Sanitäterausbildung Nachtschicht im Rettungsdienst hatte.

»Der Nachtdienst ging bei uns um 22 Uhr los. Wir hatten gleich einen Verkehrsunfall ins Schwabinger Krankenhaus zu bringen und kamen dort kurz nach zehn an. Ich habe den Patienten zur Nothilfe gebracht; mein Kollege blieb im Fahrzeug. Als ich zurückging, hörte ich, dass er das Martinshorn kurz laufen ließ. Das ist vollkommen ungewöhnlich und ein Zeichen, dass etwas Schweres im Anrollen ist. Ich lief zurück zum Fahrzeug. Mein Kollege, eigentlich ein älterer, ruhiger Typ, war einigermaßen aufgeregt. Er sagte nur: ›Explosion beim Brausebad.‹ So hieß die Einsatzmeldung. Das ist die Stelle an der Theresienwiese, wo der Haupteingang zum Oktoberfest ist.

Auf unserer Funkfrequenz ging es sehr hektisch zu. Polizei- und Feuerwehrfahrzeuge hatten sich auf unseren Rettungsdienstkanal zugeschaltet. Ein Feuerwehrmann sagte: Er hätte sieben Tote gesehen und jede Menge Verletzte. Um kurz vor halb elf waren wir da. Wir kamen in einen richtigen Konvoi von Feuerwehrautos und Notarztwagen. Es war Polizei da, aber niemand, der sagte: Geht dorthin, fangt da an. Also bin ich ausgestiegen. Und ich kam auf das Areal am Haupteingang – vielleicht 100 Meter lang und 30 Meter breit. Das war abgesperrt. Dort stand ein Haufen Polizisten, die hatten ein Seil in den Händen. Mit dem Seil haben sie provisorisch die Menge, die von der Wiesn zum Ausgang drängte, zurückgedrängt. Sie konnten die Leute nur mit Mühe zurückhalten. Die standen dort zu zehnt mit ihrem Seil und hinter ihnen eine Wand von Menschen, die gafften und guckten. Im Vordergrund lag eine große Menge Leute auf dem Boden. Und um jeden, der da lag, standen ungefähr drei, vier, fünf Leute – Passanten, die irgendwie versuchten zu helfen, andere, die hilflos herumstanden, die man aber auch nicht mehr hinter die Absperrung bringen konnte. Ich vergesse das Bild nicht, ich habe es oft später geträumt. Im Vordergrund die Toten, die Schwerverletzten am Boden, im Hintergrund die Menschenwand mit den Polizisten, und ganz im Hintergrund ging der Betrieb auf dem Oktoberfest weiter. Das Riesenrad drehte sich, die übliche Oktoberfest-Musik war zu hören, und das Jauchzen und Kreischen der Leute in der Achterbahn, die ihren Spaß hatten. Im Vordergrund die Leute am Boden, die haben gestöhnt, sie waren verletzt und hatten Schmerzen. Und wenn hundert Leute stöhnen, dann gibt das einen eigenartigen Klangteppich. Das mischte sich mit der Musik und der Volksfeststimmung. Ich dachte: Hier ist ein Schlachtfeld; so sieht Krieg aus.«

Fast alle, die in der Geschichte des Attentats eine Rolle spielen sollten, drängten in den ersten Minuten und Stunden nach der Explosion zum Tatort. Ein Polizeiposten an der Zulieferstraße, 50 Meter westlich des Wiesneingangs, hörte um 22.20 Uhr eine gewaltige Detonation und verständigte über sein Handfunkgerät die Wiesnwache der Polizei. Von dort ging die Meldung weiter an die Rettungsleitstelle. »Vermutliche Bombenexplosion am Haupteingang Oktoberfest. Fahren Sie mit Notarzt und zwei/drei Rettungswagen hin.«

In dem zunächst stationierten Wagen bei der Chirurgischen Poliklinik Pettenkoferstraße, kaum mehr als einen Kilometer von der Theresienwiese entfernt, saß Oberarzt Dr. Wischhöfer. Er war als erster Notarzt zur Stelle. »Zuerst fielen die vielen taumelnden und über graue Gegenstände stolpernden Menschen auf, von denen man nicht wusste, ob sie nun verletzt, schockiert oder einfach betrunken waren«, so berichtete er ein Jahr später bei einem Kongress über Katastrophenmedizin: »Als sich das Auge an dieses Chaos gewöhnt hatte, entpuppten sich die zuerst grauen Gegenstände als amputierte Gliedmaßen und Körper von Toten. Über dem ganzen Geschehen lag in den ersten Minuten eine unheimliche Stille des Entsetzens, die nur vom schrillen Sirenengeheul der Schaubuden unterbrochen wurde. Es galt für die kurze Zeit, bis genügend Kräfte zur Verfügung standen, die Individualmedizin hinter der Massenmedizin anzustellen. Dies geschah durch eine sofort angestrebte Sichtung. Wie schon erwähnt, stand ein Großteil der erwachsenen Verletzten unter Alkoholeinfluss. Nicht zuletzt hierdurch wurde die Feststellung der Dringlichkeit der Behandlung im Sinne der Triage erschwert.«

Mittlerweile jedoch waren im Laufschritt die etwa 30 Polizeibeamten von der Wiesnwache mit ihren Absperrseilen angekommen, und auf dem provisorisch abgeriegelten Platz trafen Minute für Minute neue Rettungswagen ein. In kurzer Zeit kümmerten sich etwa 220 Sanitäter und 30 Ärzte um die Verletzten. Die Helfer schafften es, die 213 registrierten Verletzten binnen einer Stunde notdürftig zu versorgen und in die Krankenhäuser in und um München zu transportieren. Für 13 Menschen kam jede Hilfe zu spät. Fünf Männer und zwei Kinder lagen tot am Tatort; drei Männer, zwei Frauen und ein Kind sind auf dem Transport oder in den Krankenhäusern in den nächsten Tagen gestorben.

Während sich die Sanitäter und Notärzte noch um die letzten nicht versorgten Verletzten bemühten, trafen immer mehr Polizisten ein. Die Uniformierten stellten Sperrgitter auf, leiteten den Verkehr um und schickten die schaulustigen Wiesnbesucher heim, die jetzt zur Sperrstunde um 23 Uhr aus den Bierzelten strömten. Sie waren einfach nur guter Laune oder angeheitert oder betrunken. Ohne Ahnung, was geschehen war, führte sie ihr Heimweg über die Wirtsbudenstraße ganz zwangsläufig direkt auf den Tatort am Wiesneingang zu. Das innere, immer hermetischer abgeriegelte Gebiet war jetzt von Scheinwerfern grell erleuchtet. An einem Bus, einer fahrbaren Einsatzzentrale für Katastrophenfälle, trafen sich die leitenden Polizei- und Justizbeamten. Münchens Polizeipräsident Manfred Schreiber war aus einem Bierzelt herbeigeeilt. Mit dem Staatsanwalt Hanreich und dem LKA-Kriminaldirektor Wöbking wurde eine Arbeitsteilung vereinbart. Das Landeskriminalamt, zuständig für Sprengstoffdelikte, übernahm den Fall, und das hieß: die Spurensuche am Tatort, die Vernehmung von Zeugen des Geschehens. Die Münchner Polizei sollte sich um die Identifizierung der Leichen und die Personenfeststellung der Verletzten kümmern. Um 23.15 Uhr wurde bei dieser Besprechung die Sonderkommission Theresienwiese gegründet, für die zunächst 50 Beamte des Landeskriminalamtes eingeteilt wurden. Sprengstoffexperten kämmten das Gelände durch. Polizeifotografen dokumentierten das Gebiet, fotografierten die Lage der Toten und ihre zerschundenen Körper. Andere Beamte sammelten den Sprengschutt im Umkreis von einhundert Metern ein. Die Kleiderfetzen, Splitter, Handtaschen, Schießbudenblumen, die Geldbörsen und alles andere, was lose herumlag, wurden in Tüten gesteckt und auf Listen verzeichnet. Die Beamten arbeiteten bis in die Morgenstunden des Samstags.

Während die Ärzte und Operationsschwestern in den Krankenhäusern Münchens und Umgebung um das Leben der Verletzten kämpften, aus ihren Wunden die Splitter der Bombe schnitten und aussichtslos zertrümmerte Gliedmaßen amputierten, versammelten sich wichtige Persönlichkeiten am Ort der Bombenexplosion. Sie trafen sich in der fahrbaren Einsatzzentrale. Während ein paar Meter weiter draußen die Ermittlungsbeamten Spur um Spur aufnahmen, Detail an Detail zu setzen versuchten, gab man hier Einschätzungen ab. Minister der christsozialen bayerischen Staatsregierung waren gekommen, der sozialdemokratische Bundesminister der Justiz, schließlich der bayerische Ministerpräsident persönlich und später auch der Oberbürgermeister der Landeshauptstadt München.

Es war Wahlkampfzeit in der Republik, und wenn auch noch keineswegs klar war, woher dieser Ausbruch von Gewalt kam und auf was oder wen dieser Anschlag zielte, so erfasste doch einige Teilnehmer der nächtlichen Runde die Versuchung, das Geschehene in die großen Linien der Tagespolitik einzuordnen. Ein Bekannter des bayerischen Ministerpräsidenten Strauß, der Rechtsanwalt Dr. Franz Dannecker, begann dieses Spiel, als er einen Münchner Stadtrat eben jener liberalen Partei erblickte, die in Bonn den für die Sicherheitslage der Republik zuständigen Innenminister Gerhart Baum stellte. »Das habt ihr von eurer linken Politik«, schnauzte Dannecker den FDP-Mann Manfred Brunner an, der sich als Verwaltungsbeirat der Feuerwehr mit um den laufenden Katastropheneinsatz kümmerte. Der bayerische Finanzminister, aus einem Bierzelt herbeigeeilt, setzte nach. »Die FDP ist doch mitverantwortlich für das, was hier passiert ist.«

Der Kandidat selbst, der in diesen Wochen mit der Parole »Freiheit oder Sozialismus« das Amt des Bundeskanzlers anstrebte, witterte eine Chance gegen seinen amtierenden Rivalen, der, obgleich Sozialdemokrat, im öffentlichen Ansehen als die personifizierte Staatsautorität galt. Die Berater des Kanzlers Helmut Schmidt hatten dieses Image in die Wahlkampfparole »Sicherheit für Deutschland« gegossen. Noch nicht in der kleinen nächtlichen Runde am Tatort, erst am Vormittag des kommenden Samstags, für das Millionenpublikum Deutschlands größter Sonntagszeitung Bild am Sonntag packte Franz Josef Strauß aus:

»Es gibt keine Sinngebung des Sinnlosen. Das sind perverse Gehirne, morallose Menschen. Sie sind aber auch ein Zeichen dafür, wohin es kommt, wenn politische Verbrechen entmoralisiert werden« – ein noch dunkler Satz, den zu klären erst eine einfühlsame Zwischenfrage des Reporters half.

Bild am Sonntag: »Sprechen Sie damit Bundesinnenminister Baum (FDP) an, dem die Union das schon seit einigen Wochen vorwirft?«

Strauß: »Ja. Herr Baum hat schwere Schuld in zweierlei Hinsicht auf sich geladen. Erstens durch die ständige Verunsicherung und Demoralisierung der Sicherheitsdienste, die sich ja heute nicht mehr trauen, im Vorfeld aufzuklären und den potenziellen Täterkreis festzustellen. Zweitens durch die Verharmlosung des Terrorismus. Für mich ist Herr Baum als Innenminister eine Skandalfigur. Er hat zwar keine unmittelbare Verantwortung für dieses Attentat. Er ist aber als Innenminister fehl am Platz.«

Als der Kandidat diese Worte sprach, hatten die Arbeiter der Münchner Stadtreinigung bereits das eingetrocknete Blut der Bombenopfer von der Straße geschrubbt, hatte der Oberbürgermeister der Stadt beschlossen, dem Terror mit dem Weiterfeiern der Wiesngaudi zu trotzen – und das feierfreudige Volk strömte in Bierzelte und Buden und verschaffte den Wirten und Schaustellern einen neuen Einnahmerekord.

AUGEN-BLICKE

Zeugen gegen die Einzeltäterschaft

Ich hatte keine Rückblende im Sinn, als ich mich in den Aktenstapel über das Attentat hineinlas – bis mir aufging, dass in meiner persönlichen Erinnerung diese Tage im September 1980 in München fehlten.

Damals hatte ich einen Rucksack gepackt, war in ein Flugzeug gestiegen und genau am Nachmittag dieses 26. September in die Ferien nach Griechenland geflogen. Da sei etwas passiert, eine Bombe sei hochgegangen auf Münchens Oktoberfest, schnappte ich am Abend darauf in Athen aus der Unterhaltung zweier deutscher Gäste auf, die sich neben mir auf dem Dach eines überfüllten Rucksacktouristen-Hotels zum Schlafen hinlegten. Im Reisetagebuch verzeichnete ich diese Unterhaltung nicht, auch nicht die Schlagzeilen der Bild-Zeitung, die in den Tagen darauf an den griechischen Zeitungskiosken prangten. Nur eine Nachricht aus der Ferne, heute vernommen, morgen vergessen.

Ein halbes Jahr nach der Reise rückte ich per Zufall ganz nah an den Ort des Geschehens. Wir fanden eine Wohnung am Rand der Theresienwiese. Die Treppe herunter, aus dem Haus heraus rechts gerade 100 Meter die Pettenkoferstraße entlang, die dort schon in den Bavariaring einmündet, diesen nach rechts 200 Meter entlang – dort ist der Haupteingang zur Oktoberfest-Wiese. Fast jeder Spazier- oder Einkaufsweg seither führte mich dort vorbei. Es gibt Plätze, die dabei ihre Geschichte erzählen, man hat sie oft gehört, von irgendwem. Dieser Platz erzählte seine Geschichte nicht.

Wenigstens gab der Aktenstoß präzise Auskunft darüber, woraus die Polizisten noch in der Nacht auf den 27. September ihre Schlüsse auf den mutmaßlichen Täter zogen. Aus ersten Zeugenaussagen und den Verwüstungen am Ort ging hervor, wo die Bombe explodiert war: auf der rechten, westlichen Hälfte der Wirtsbudenstraße, zwischen dem riesigen, mit Fichtenreisig bezogenen Willkommensbogen und der Einmündung der Wirtsbudenstraße in den Bavariaring. Dort, mit einer Kette an einem Verkehrszeichen befestigt, stand ein Papierkorb der Stadtwerke aus Eisendrahtgitter und Blech auf dem Boden, von dem aus um 22.19 Uhr zunächst für ein paar Sekunden eine zischende, meterhohe Stichflamme aufstieg. Erst danach folgte eine ohrenbetäubende Detonation. Diesen Papierkorb zerriss die Bombe in ungezählte, scharfkantige und nagelähnliche Metallsplitter, die die grauenhafte Wirkung der Bombe auf die Opfer noch erhöhten.

14 Meter östlich des Explosionszentrums fanden die Polizeibeamten den Toten, den die Bombe am schlimmsten verstümmelt hatte. Beide Arme waren ihm an den Ellenbogengelenken abgerissen, das linke Bein war am Oberschenkel abgetrennt, der Brustraum eine einzige aufgerissene Wunde, das Gesicht verbrannt, zertrümmert, ausgelöscht. Kein anderer Toter, kein Schwerverletzter wies ein vergleichbares Verletzungsbild auf. Keines der registrierten 213 Opfer des Anschlags hatte wie der zunächst unbekannte Tote seine Hände oder Arme verloren. Der Verdacht kam auf, dass der tote junge Mann im Augenblick der Explosion beide Hände an der Bombe gehabt hatte. Die Obduktion im Gerichtsmedizinischen Institut am Samstagmorgen erhärtete diesen Verdacht. Die Mediziner und die Sprengstoffexperten lasen aus der Art, dem Umfang und der Verteilung der Wunden, der Splittereinschläge und Verbrennungen ab, in welcher Körperhaltung der noch nicht sicher identifizierte junge Mann exakt im Augenblick der Detonation verharrt haben musste, die ihn erfasste, tötete und zu dem Torso entstellte, der nun vor ihnen auf dem Sektionstisch lag: Kopf und Oberkörper über den Abfallkorb gebeugt, so verbrannte und zerbrach ihm die Bombe das Gesicht, schoss Garben von Splittern in den Brustkorb. Mit den Händen griff er gerade in den Korb, so riss ihm die Bombe die Arme ab.

Den Bauch in der Beuge nach vorne eingeknickt, so blieb der Unterleib zwischen Nabel und Scham von Splittern fast unversehrt. Das linke Bein zur Balance des vorgebeugten Oberkörpers nach vorne nahe zu dem Papierkorb gestellt, so trennte es die Bombe vom Rumpf. Sprengstoffschmauch haftete dem Toten am Hals und an den Stümpfen der Oberarme; ihn gibt es nur in unmittelbarer Nähe der Explosion. Nur dort reißt der Druck die Kleider in Fetzen vom Leib, der Leichnam des jungen Mannes aber war bis auf einige Reste seiner Hose nackt. Rücken und Gesäß waren unverletzt; sie waren der Bombe abgewandt.

Zeige deine Wunde. Kein Gericht hätte den Obduktionsbericht der Gerichtsmediziner als Schuldbeweis für den Toten angesehen. »Im Zweifel für den Angeklagten« hätte es eingeräumt, dass sich der Tote ohne Arme mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in der von den gerichtsmedizinischen Gutachtern beschriebenen Position direkt über dem Detonationszentrum der Bombe befunden hat. Aber für den Beweis, dass der Getötete selbst der Bombenleger und nicht etwa ein Opfer der Bombe wie alle anderen auch ist, hätte das hohe Gericht den Vertreter der Anklage aufgefordert, mehr zu präsentieren. Indizienbeweise. Zeugen.

Die Bundesanwaltschaft hätte den Zeugen Frank Lauterjung aufgerufen, dessen Aussage sie in ihrem Schlussbericht »besondere Bedeutung« zumisst.

Frank Lauterjung war etwa um Viertel nach 9 Uhr abends kurzentschlossen zu einem kleinen Wiesnbummel aufgebrochen. Er wollte Luft schnappen und Leute beobachten. Von seiner Wohnung in der Schwanthalerstraße hatte er zu Fuß nur ein paar Minuten zu gehen. Ab halb zehn flanierte er dort auf und ab, wo beständiges Kommen und Gehen war, am Eingang zur Wirtsbudenstraße. Es war Viertel nach zehn, als er einen jungen Mann wiedersah, der ihm gleich nach seiner Ankunft unten an der Brausebadinsel schon aufgefallen war und den er deswegen für ein paar Minuten aufmerksam beobachtet hatte. Jetzt stand Frank Lauterjung ziemlich genau in der Mitte der Wirtsbudenstraße vor dem Willkommensbogen.

Schlussvermerk: »Vom Standpunkt 6 aus sah ich, dass der bereits früher von mir beobachtete Mann mit dem Wuschelkopf sich in südlicher Richtung bewegte. Ich sah ihn, als er sich etwa auf der Höhe des Fahrbahnrandes befand, und zwar nicht weit von dem jetzt in der Skizze eingetragenen Detonationszentrum entfernt.

Ich hatte freie Sicht auf ihn.

In seiner linken Hand trug er das Köfferchen, in der rechten Hand die Plastiktasche. Ich habe seine Augen wiedergesehen, er hatte schreckhafte, angstvolle Augen.

Ich dachte mir: jetzt kommt er daher; ich lass ihn erst mal vorbeigehen. Ich dachte mir, jetzt schaust einmal, was auf dich zukommt, vielleicht geht er vorbei, vielleicht sucht er Kontakt.

Der Mann blieb aber plötzlich stehen. Ich sah dann, wie er sich linksseitig bückte, wobei er sich um die Körperachse nicht drehte. Die Bewegung ließ eindeutig schließen, dass er etwas absetzte. Mich befiel bei dieser Beobachtung ein ungutes Gefühl.

Zeitgleich mit dieser Beobachtung sah ich, dass meist links von mir viele Personen die Wiesn verließen. Ich erinnere mich an eine Familie mit Kindern. Die Passanten versperrten mir dann die Sicht auf den jungen Mann mit dem Wuschelkopf.

Ich erinnere mich deutlich daran, dass ich von dem Ort ausgehend, wo sich der junge Mann befand, ein deutliches, schrilles, scharfes, langgezogenes Zischen vernahm.

Als nächste konkrete Beobachtung ist mir erinnerlich, dass ich die helle Plastiktüte hochgehen sah. Ich sah auch zwei Hände. Dann sah ich eine große Stichflamme, hörte Schreie. Mit dem etwa zeitgleichen Knall erfasste mich eine ungeheure Druckwelle. Ich verlor die Besinnung. Im Unterbewusstsein nahm ich noch wahr, dass ein Körper über mich hinwegflog. Als ich wieder zur Besinnung kam, war ich 15 bis 20 Meter von meinem letzten Standort entfernt.

Nach der Explosion sah ich eine entstellte Leiche, die in der Skizze mit L 6 (der später identifizierte Gundolf Köhler) bezeichnet ist. Die Leiche lag auf dem Rücken, das Gesicht lag mit der linken Seite am Boden. Als ich ihn so liegen sah, erkannte ich in ihm die Person wieder, die ich bisher als den Mann mit dem Wuschelkopf bezeichnet habe.«

Frank Lauterjung konnte sich an das eierschalenfarbene Hemd, die Jeans und die Jacke erinnern, die dieser Junge mit der schweren Plastiktüte in der einen und dem kleinen Koffer in der anderen Hand trug. Der Vernehmungsbeamte wollte wissen, warum sich Frank Lauterjung all dies so genau gemerkt hatte, auffällig genau für einen Zeugen. Der gab zurück, er mustere als Homosexueller einen Mann, der ihm gefalle, genauso sorgfältig wie andere Männer attraktive Frauen. Er hatte seinen Blick gesucht. Er sagte nicht: Der hatte krauses Haar, sagte fast zärtlich »Wuschelkopf« zu dem Mann, dem er nachgeschaut, der ihm gefallen hatte.

Kein Augenzeuge hat die letzten Minuten und Sekunden vor dem Attentat so präzise und aus solcher Nähe schildern können wie Frank Lauterjung. Dass er ausgerechnet im Augenblick der Zündung keine Sicht auf den mutmaßlichen Bombenleger hatte, hat ihm wahrscheinlich das Leben gerettet.